Hermann Kurz
Gesammelte kleinere Erzählungen, 3. Teil
Hermann Kurz

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Die blasse Apollonia.

Die wandelnde Chronik, die lebendige Sage, die Hand in Hand mit mir an schönen Sonn- und Feiertagen spazieren ging, kurz und gut mein alter Buchdrucker hatte mich eines Abends an der Einfahrt seines Hofes erwartet, wohin ich in meinen Freistunden immer zuerst gesprungen kam, und munter zuschreitend verließen wir miteinander die hohen Stadtmauern, in deren Umkreis schon die Nacht eingebrochen war und Lichter aus den Fenstern blinkten, während draußen vor dem Tor noch alle Vögel sangen und die Sonne, nach den westlichen Hügeln zu Golde gehend, mit sanft gebrochenen Strahlen durch das volle Laub der Bäume drang. Wir schlenderten zwischen Gärten, die von Stachelbeerhecken begrenzt waren, auf schmalem Pfade hin, bis wir einen freien Platz erreichten, der, öde und reichlich mit Unkraut überwuchert, gegen das Flüßchen zu gelegen war. In der Mitte dieses Platzes erhob sich ein seltsames Ding. Es war ein runder Bau, eine Plattform, niedrig aus Steinen aufgeführt. Ich war nie zuvor hier gewesen, konnte mir auch nicht erklären, was diese Erscheinung bedeuten sollte, und die wilde Einsamkeit der brachliegenden, von des Menschen tätiger Hand gemiedenen Stätte flößte mir eine unheimliche Empfindung ein. Aber eine Knabenseele, die den Schulstaub hinter dem räucherigen Stadttore gelassen hat, ist nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, und lachend sagte ich zu meinem Mentor: »Ich will Hans heißen, wenn das Ding da nicht aussieht wie ein steinerner Käselaib;« eine Vergleichung, welche durch irgend einen Anblick am Fenster eines Kaufladens, wo wir vorübergekommen, geweckt worden sein mochte.

»Ja, davon hat es auch den Namen,« erwiderte er nickend, und mit dem verständigen Lächeln, das ihm so eigen war, unterbrach sich aber in seiner Rede, da er mich plötzlich gleich einem Wilde stutzen sah und folgte mit den Augen meinem Blicke. Der war auf ein altes Weib gefallen, welches gebückt, wie eine Kräuter suchende Zauberfrau, um das Gemäuer schlich und eben jetzt in unsern Gesichtskreis gekommen war.

»Treffen wir uns hier, Frau Nachbarin?« rief ihr der Buchdrucker, gleichfalls ein wenig betroffen, entgegen. »Was machen Sie denn?«

»Ihr seht's ja, Erdbeeren such' ich,« erwiderte sie und richtete sich empor, indem sie ein paar rote Beeren in ihre Schürze warf. »So ein altes Weib, das zum Schaffen nicht mehr brauchbar ist, muß doch sehen, wie es seine Zeit herumbringt. Und in dem Revier gibt's söllich schöne; auch hat der Platz das Gute, daß mir die Buben nicht so ins Handwerk pfuschen.«

»Das glaub' ich,« sagte der Buchdrucker, »aber Sie, scheuen Sie das Blut nicht?«

Die Alte lachte. »Bin nicht so dumm.«

Ich horchte hoch auf. Blut, das war mir ein besonderes Wort, hinter diesen Reden mußte irgend ein Geheimnis sein.

»Das ist längst vertrocknet,« fuhr die Alte fort. »Wie lang' ist's her, daß hier das letzte Blut geflossen ist? Ihr werdet etwa ein, zwei Jahre jünger sein als ich; nun rechnet einmal; sie war gerade in meinem Alter, und wenn sie noch lebte, so müßte sie gerade so ein altes steifes Scheit Holz sein, wie ich; aber ich seh' sie noch so deutlich vor mir, als ob's erst gestern gewesen wäre. Nun, Ihr wart ja auch dabei, werdet Euch an das blasse Appele noch wohl erinnern können.«

»Jawohl, die arme Apollonia! sie haftet fest in meinem Gedächtnis,« versetzte der Buchdrucker, welcher sich seinen eigentümlichen hochdeutschen Stil gebildet hatte. »Sie besaß die feinste Gesichtsbildung, die man je bei einem fünfzehnjährigen Mädchen sehen konnte, und diese seltsame rührende Blässe – ich werde sie nie vergessen.«

»Ja, fünfzehn Jahr', Ihr habt recht, so alt war sie, und ihr Gesicht, ja, das war auch so. So viel ist gewiß, daß es ein Wunder bleibt, wie sie unter das grobe Bauernvolk hineingekommen ist, deren Gesichter wie mit der Holzhape geschnitzelt sind. Wie nur die dumme stille Gans so etwas tun konnte!«

»Was hat sie denn getan?« rief ich.

»Ein Kind umgebracht.«

»Kindsmörderin mit fünfzehn Jahren! So jung und so schlecht!« rief ich mit der ganzen Strenge eines unerfahrenen Richters aus. »Es war nicht ihr eigenes Kind,« bemerkte der Buchdrucker mit seiner sanften Stimme, »und überhaupt liegt etwas Seltsames in der ganzen Begebenheit.«

Bei diesen Worten bereitete ich mich, eine Geschichte zu hören; denn die Art und Weise, wie der Buchdrucker seine Erzählungen einleitete, war mir wohl bekannt. Die alte Frau zog ihre Schürze höher, warf einen liebäugelnden Blick hinein und setzte sich am Fuße des Gemäuers auf etwas, das wie verfallene Stufen aussah. Der Buchdrucker stützte sich auf einen Dornstecken, den er unterwegs geschnitten hatte, und begann:

»Da drüben, wo der grüne Kirchturm etwas über die Bäume ragt – das Dorf war uns zuzeiten der Reichsstadt untertänig – da erwuchs das Mädchen, von dem die Rede ist, als das jüngste Kind armer Bauersleute, von den frühesten Jahren an das blasse Appele genannt. In diesen Familien pflegt man nicht viel Umstände miteinander zu machen, und so wuchs auch die Apollonia unter gleichgültig kühlen Umgebungen heran; doch hatte sich in dem Kinde früh ein eigener Geist entwickelt.«

»Ja, ein dummes Ding war sie,« fiel die Alte ein. »Ich hab's nachher oft gehört. Weil sie das Jüngste war und schwach dazu, so mußte sie oft tagelang die Schafe hüten, und sie freute sich auch immer darauf; wenn aber Leute durch das Eichenwäldchen kamen, wohin sie ihre Herde trieb, so sah man sie meistenteils in bitteren Tränen sitzen, und wenn dann die Leute hingingen und fragten, warum sie weine, so sagte sie, sie wisse es nicht. Kann es etwas Einfältigeres geben?«

»Bei einem großen Hange zur Einsamkeit,« ergriff der Buchdrucker wieder das Wort, »empfand sie doch beständig die schmerzliche Sehnsucht nach den Ihrigen. Wenn sie abends nach Hause kam, so war's, als wenn sie von einer weiten, vieljährigen Reise heimgekommen wäre; da sprang sie zu ihren Eltern und Geschwistern hin und wollte sie vor Freude fast erdrücken. Natürlich hieß es da nur: ›Dumme Appel, mach' dich fort, laß mich in Ruh'!‹ Und gelegentlich bekam sie für ihre Zärtlichkeit auch noch einen Puff. Dann grämte sie sich wieder, bis sie zu ihren Schafen kam und bei ihren Schafen hatte sie abermals keine Ruhe, bis die Abendglocke zum Einfahren läutete.

»In ihrem fünfzehnten Jahre wurde sie nach der Stadt geschickt, um in einen Dienst zu treten. Da sie keine schwereren Arbeiten verrichten konnte, so kam sie als Kindsmädchen in ein wohlhabendes Haus, wo man, ohne sich sonst viel um sie zu bekümmern, mit ihr zufrieden war. Sie hatte ein sehr kränkliches Kind von etwa zwei Jahren zu hüten, das ihr viel Unbequemlichkeit und Mühsal verursachte. Ich erinnere mich, daß ich sie manchmal mit ihm sah, wie sie an sonnigen Abenden traurig auf den Kirchenstaffeln saß. Wenn ich da vorüberging, das Kind und das Mädchen anschauend, so wollte mir, obgleich ich kaum die Kinderlehre hinter mir hatte, das Herz beinahe vor Mitleid brechen; sie kamen mir vor wie zwei Blümlein, die man in einem Glase ohne Wasser stehen läßt.

»Aus diesem kümmerlichen Leben,« fuhr er fort, nachdem er sich über die scharfe Luft beklagt und die Augen gewischt hatte, »sog ihr angebornes sehnsüchtiges Wesen immer mehr Nahrung; ihr Heimweh, das früher gleichsam heimatlos gewesen war, nahm jetzt eine bestimmte Richtung, alle ihre Gedanken waren nach der Heimat, nach den Ihrigen gewendet.«

»Wohin sie eine Stunde und nicht einmal so weit zu gehen hatte,« fiel die Alte ein.

»Ja, Frau Nachbarin, aber allein zu gehen, dazu hatte sie keine Muße, und mit dem Kinde durfte sie sich nicht so weit entfernen. Die Ihrigen kamen auch nicht ein einziges Mal, um nach ihr zu sehen.« »Darum war es ja auch so einfältig,« rief die Alte, »solches Heimweh nach ihnen zu haben.«

»Das ist ja eben das Seltsame,« versetzte der Buchdrucker etwas ungeduldig. »Wenn alle Leute so gescheit wären, wie Sie, Frau Nachbarin, so würde gar nichts Merkwürdiges in der Welt vorfallen. Ja, seltsam ist es, aber wer je auf Reisen gewesen ist, wie ich, der begreift auch, wie die Abwesenheit nicht bloß das Herz, sondern auch die Einbildungskraft des Menschen umwandeln kann. So ging es dem armen blassen Mädchen, das bei seiner Herrschaft unbeachtet wie ein Schatten umherschwebte. Das ärmliche Häuschen, das schlechte Essen, das rohe Betragen der Ihrigen hatte sie vergessen; mit einem Worte, ihre Heimat war das Feenland ihrer Gedanken. Diese Empfindung gewann nach und nach die Oberhand über alle anderen, und es kam so weit, daß, wie man nachher erfuhr, Apollonia eines Abends heimlich ihre paar Habseligkeiten zusammenschnürte, um nach Hause zu fliehen. Aber die Furcht vor der Strenge ihres Vaters machte, daß sie ihren Entschluß wieder aufgab und das Bündelchen auseinander riß. Es scheint jedoch, daß sie von diesem Augenblicke an nicht mehr recht bei sich gewesen sei. Die vielen Anstrengungen, die ihr die Pflege des Kindes verursachte, der Kummer bei Tag und die schlaflosen Nächte untergruben ihre von Natur zarte Gesundheit; der Drang nach der Heimat, der immer wilder und heftiger wurde, während sie doch nicht den Mut hatte ihm zu folgen, zerrüttete ihren Geist. Sie sah das Kind, dessen tägliches Leiden ihr im innersten Herzen weh tat, doch als die Ursache ihres ganzen Elends an. In ihren ungeordneten Gedanken fiel sie darauf, wenn das Kind stürbe, so würde ihre Herrschaft sie als unnütz nach Hause schicken. So scheint es, daß nach und nach, nur wie dämmernd, der Wunsch in ihr aufgestiegen sei, es möchte das Kind und mit dem Kinde sie selbst erlöst werden.«

»Ja,« fiel die Alte wieder ein, »und wenn sie noch ein Wochener zwo gewartet hätte, so wäre das auch von selber geschehen, denn das Kind hätte keine vierzehn Tage mehr gelebt; das hab' ich seinen eigenen Vater nachher mehr denn einmal sagen hören. Aber wenn's einmal mit einem Menschen hinunter will, so ist der Teufel gleich bei der Hand und hält ihm die Leiter dazu.«

»Da hat Ihr Mund ein sehr wahres Wort gesprochen,« sagte der Buchdrucker mit feierlichem Ernst. »So ging es auch bei der armen Apollonia; denn in dem unglückseligen Gemütszustande, von dem ihre Herrschaft keine Ahnung hatte, wurde sie eines Tages, da eben Besuch im Hause war, in die Schenke gesendet, um eine Flasche Wein zu holen.«

»Jetzt aber laßt mich ans Brett,« unterbrach die Alte den Erzähler, »in dem Punkt weiß niemand so gut Bescheid wie ich. Ich bin ja dabei gewesen und hab' jede Silbe mit angehört; denn der Wirt war mein Vater, und wo das blasse Appele jenen Wein holte, das war meiner Eltern Haus, und ich kannte sie recht gut, obgleich wenig mit ihr zu haben war. Ich seh' sie noch vor mir, wie sie zu uns hereintrat und mit ihrer leisen Stimme eine Flasche Wein begehrte; nämlich ihr Herr hatte sie aus Stolz geschickt, weil seine Gäste behaupteten, mein Vater schenke einen besseren Wein, als er einen im Keller habe, und nun wollte er einen Vergleich anstellen. Es ist ihm aber übel bekommen. Wir hatten eben die Lichter angezündet, und etliche junge Gesellen saßen um den Tisch. Wie nun manches unnütze Wort unter den Menschen geredet wird, zumal beim Wein, so ging's auch selbigsmal. Es war nämlich kurz zuvor der Fall vorgekommen, daß mit Mausgift in einem Hause nahezu ein großes Unglück angerichtet worden wäre, und ein wohlweiser Rat, wie man dazumal sagte, hatte ein Verbot an die Apotheker und eine Warnung an die Bürgerschaft ergehen lassen. Das Verbot aber wurde nicht groß geachtet, und ich holte meinen Mäusen fort und fort ihr richtiges Futter, ohne daß mir jemand was in den Weg gelegt hätte. Von dem Verbot aber war selbigen Abend die Rede. Die jungen Bursche schlugen auf den Tisch und machten ein groß Geschrei; der eine meinte, das Ding sehe aus, als ob man die ganze Bürgerschaft für lauter Giftmischer hielte, der andere schrie, das gehe einen wohlweisen Rat einen Pfifferling an, und wieder einer sagte – das war der überzwerche Balthas, wißt Ihr, er hatte so eine große Warze auf der Nase – ›das ist alles für nichts,‹ sagte er, ›die gestrengen Herren können verbieten, Mausgift, Rattengift‹ – und da zählte er noch eine Menge Gift her – ›aber andere Sachen können sie nicht verbieten,‹ sagte er, ›und da gibt's noch genug Tränklein, die einen in die schwarze Schublade fördern können, ohne daß man sie für Gift ausgeben kann. Wenn mir einmal des Lindenwirts Roter nicht mehr schmeckt, oder wenn ich sonst Würmer im Hirn' hab', so geh' ich in die Apotheke 'und kaufe mir Vitriolöl‹«!

»Schwefelsäure!« unterbrach sie der Buchdrucker etwas indigniert, denn er hatte sich auch einige chemische Kenntnisse angeeignet.

»Meinetwegen also Schwefelsäure. ›Für einen Kreuzer,‹ sagte er, ›krieg' ich genug, um mit euch und der ganzen Kameradschaft abfahren zu können, ja vierspännig,‹ hat er gesagt, und was weiß ich, was alles noch, es ist schon gar zu lang' her. Die anderen trieben ihren Schabernack mit seinem Geschwätz; ich hörte aber wenig auf sie, sondern schaute ganz verwundert dem blassen Appele zu, wie es mit starren Augen drein sah. Ich meinte, es denke was ganz anderes und habe von all den gottlosen Reden schier gar nichts vernommen. Aber, o mein Herr und mein Gott! Wer hätt' sich das eingebildet, als meine Mutter aus dem Keller kam und nun das Mädchen mit seinem Wein von dannen ging! Es ist doch gar zu unglaublich, wenn ich wieder an das stille feine Kind mit dem blassen Gesichtlein denke. Aber dem Balthas ist's auch nicht gar wohl bekommen, ja wahrhaftig, es ist doch eigentlich der Grund, warum er das Leben lassen mußte; denn als es herauskam, was er mit seinem losen Maul für ein Unglück angerichtet hatte und ihn alles in der Stadt drum scheel ansah, so konnte er's am Ende selber nicht mehr aushalten und zog nach Holland und nach Amerika, und wenn er das nicht getan hätte, so könnte er heut' noch dasein; so aber hat er unterwegs Schiffbruch gelitten und ist ersoffen, obgleich er in meiner Stube mehr als einmal geschworen hatte, das Wasser sollt' ihm kein Leid antun.«

»Was tat denn aber das blasse Mädchen?« fragte ich.

»Was wird sie getan haben?« versetzte die Alte. »Aus dem Maul des jungen Burschen war der böse Geist in sie gefahren, und fort ging sie zum Apotheker. Nun, die Knochen will ich Euch zum Abnagen lassen, Nachbar.«

»Danke, will's aber kurz damit machen. Das verwahrloste, verlassene, unsinnige Mädchen rannte allerdings in die Apotheke, denn leider trug sie ein paar geschenkte Kreuzer bei sich. Bei jenen Worten war ihr alles Denken und Fühlen vergangen; sie hatte nur noch einen dunkeln gebieterischen Trieb. Eine Stimme, sagte sie nachher aus, habe ihr immer ins Ohr gerufen, sie müsse es tun. Leider war der Apotheker, wie es in solchen verhängnisvollen Fällen zu gehen pflegt, arglos verblendet, und ihr sonderbarer Blick fiel ihm nicht auf. Sie empfing das tödliche Mittel, brachte den Wein nach Hause, und während im Wohnzimmer fröhlich auf die Genesung des Kindes, auf das Gedeihen der Familie angestoßen wurde, eilte sie in die Schlafkammer, trat an das Bettchen und vollbrachte, ein kindischer Würgengel, ihr abscheuliches Werk. Ein durchdringender Schrei des Kindes, der aber alsbald verstummte, rief die Mutter herbei, die, mit dem Licht in der Hand sich dem Bette nähernd, schon von weitem ein gräßlich Bild erblickte. Die schwächliche Natur des Kindes, die sogleich unterlegen war, hatte die freilich unwissende Grausamkeit der bejammernswerten Mörderin vermindert. Man fand sie im entlegensten Winkel des Hauses. Die Starrsucht ihres Gemütes, denn anders weiß ich's nicht zu nennen, hatte nachgelassen. Sie lag auf den Knieen, drückte den Kopf an die Wand und schluchzte beständig: ›Du bist jetzt ein Engel, und wir kommen beide heim! Heim! heim!‹ antwortete sie auf alle Fragen, die man ihr tat. Vor den Mißhandlungen der Mutter schützte sie der Vater mit Mühe; er fragte sie: ›Wie hast du uns das antun können mit deinem unschuldigen Antlitz?‹ Sie gab nichts zur Antwort als ›Heim!‹ Den herbeieilenden Behörden gestand sie ihr Verbrechen mit leisem, demütigem Kopfnicken. Das Sonderbarste ist, daß bald, ja gleich nach der Tat eine völlige Verwandlung mit ihr vorging. Gegen die Gefangenschaft, gegen die Einsamkeit des Kerkers hatte sie gar keinen Widerwillen. Nach den Ihrigen hatte sie keine Sehnsucht mehr; auch kam keines von ihnen zu ihr, ihr Vater verstieß und verfluchte sie. Der selige Herr Hauptprediger hat nachher oft gesagt, es sei ein merkwürdiger Geist in dem Mädchen gewesen, der nach dieser Tat der Finsternis auf einmal zum hellen Tag erwacht sei. Sie habe nicht nur ihr Verbrechen vollkommen erkannt und bereut, sondern auch über viele andere Dinge klar, vernünftig und wie mit einer Erleuchtung gesprochen. Ihm selbst sei durch dieses Mädchen manches klar geworden, was er früher nicht begriffen oder an was er gar nicht gedacht habe. Dies sagte er häufig, aber er sprach sich nicht näher darüber aus. Nur das erzählte er, daß sie gegen ihn geäußert habe, sie erkenne nun deutlich, was es mit ihrem Heimweh gewesen sei.«

»Was ist ihr geschehen?« fragte ich leise und stockend.

»In ihrer Kindheit schon,« sagte das alte Weib, »als sie einmal wegen eines kranken Schafes zum Scharfrichter geschickt wurde, soll sein Schwert von selbst nach ihr gezuckt haben. So sagte man, ich weiß nicht, ob es wahr ist; aber die Herren vom geheimen Kollegium müssen es gewußt haben, denn die machten eine Wahrheit draus.«

»Das war die Regierung und zugleich das Blutgericht,« sagte der Buchdrucker und nickte bedeutend mit dem Haupte.

Ich blickte nach dem steinernen Bau, und ein unheimliches Licht begann mir aufzugehen. Die Alte, die auf den Stufen saß, zeigte mit dem Daumen über die Schulter rückwärts. »Hier,« sagte sie, »hat das Schwert zum zweitenmal nach ihr gezuckt, denn damals fuhr man mit den Mörderinnen nicht so säuberlich wie jetzt. Hat denn das junge Bürschlein nie was vom Käs gehört?«

»Dieses Gemäuer,« fügte der Buchdrucker hinzu, »war das Schafott in den späteren Zeiten der Reichsstadt. Den Reigen der Mörder und Übeltäter, die hier gerichtet wurden, hat die blasse Apollonia beschlossen.«

»Ja, und recht freudig ist sie gestorben,« sagte die Alte, indem sie mir gutmütig von ihren Erdbeeren anbot. Ich wies die rote Frucht, so herrlich sie duftete, mit Abscheu zurück und warf einen Blick der Neugier und des Grauens auf die Blutstätte. Längst ist das Gemäuer nun von der Erde verschwunden, und die Wildnis, die damals noch öd und traurig, ohne Baum, mit niedrigem Gesträuche bewachsen war, hat sich in blühende Gärten verwandelt, aus denen da und dort freundliche Gartenhäuser blinken.


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