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VI. Die Geheimnisse des Serails

Ein eigentümlicher Trompetenton ließ das buntfarbige Leben, welches sich in Konstantinopel ständig um die mohammedanisch gewordene Sophienkirche bewegt, wie mit einem Zauberschlage erstarren.

Ein geschlossener Zug von Menschen war es, der die allgemeine Aufmerksamkeit fesselte.

Voran gingen einige Männer, gleichmäßig mit alttürkischen Gewändern kostümiert, in den Händen lange Bambusstäbe, mit denen sie zögernde Passanten von dem Fahrdamm wegtrieben. Dann folgte der Trompeter, der seinem silbernen Instrumente einen solch drohenden Ton zu entlocken wußte. Hierauf kamen einige Reihen Türken, die sich sämtlich durch Fettleibigkeit auszeichneten, und zu diesem Körperbau wollte gar nicht recht passen, daß ihre Gürtel mit Säbeln, Dolchen und Pistolen gespickt waren. Ihnen nach watschelte ein älterer Mann, dessen Kleidung von Gold- und Silberstickereien förmlich starrte. Jedenfalls war er der Erste in diesem Zuge, ihm galt auch die allgemeine Ehrerbietung der türkischen Straßenpassanten, er war sicherlich der Offizier der bewaffneten Bande, und dennoch zierte ihn keine Waffe, sondern nur eine mächtige Peitsche stak in seinem Gürtel. Er ging vor einer kostbaren Sänfte, die von sechs herkulischen Negern getragen wurde, und dieser folgten wiederum zwei Reihen jener dicken, bis an die Zähne bewaffneten Muselmänner.

»Der Kislar-Aga, Allah segne ihn!« murmelten die mohammedanischen Straßenpassanten, neigten ihr Haupt, küßten ihre Fingerspitzen und führten diese schnell und gewohnheitsmäßig nach Stirn und Brust.

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Die christlichen Europäer, reich oder arm, hielten keine Ehrfurchtsbezeugung für nötig.

»Wieder eine,« sagten sie, und dann setzten sie ihren Weg fort, zum Teil mit Hast, um die verlorenen Sekunden wieder einzuholen, noch ehe der Zug passiert war. Nur die allgemeine Stockung hatte auch sie einmal stutzen lassen. Beim Anblick des goldstrotzenden Peitschenmannes und der Sänfte aber ließen sie sich nicht mehr im Geschäft oder Vergnügen aufhalten.

Dann gab es aber auch Fremde, Reisende, die Konstantinopel besichtigten, nur einer genügte, welcher an eine religiöse Zeremonie der Mohammedaner dachte und es für besser hielt, seinen Hut abzunehmen, so etwa, wie man auf dem Lande dem Leichenzuge Ehrerbietung erweisen soll, wie auch jeder Protestant in einer katholischen Gegend dem Hostienträger – und auch alle anderen Fremden, für die die Sophienmoschee einer der Hauptanziehungspunkte Konstantinopels ist, ahmten ihm nach, auch sie entblößten den Kopf.

Etwas abseits von der sich stauenden Menge standen zwei Männer. Der eine war sehr klein und sehr dick und ganz sicher ein reisender Engländer oder Amerikaner, er hätte gar keine Bartkoteletten und einen schwarz und weiß karierten Anzug mit Kniestrümpfen zu tragen brauchen, der andere mit dem rumänischen Gesicht war ebenso ganz sicher ein ›Dragoman‹, ein Reiseführer, der aus seinen Sprach- und Ortskenntnissen Kapital zu schlagen weiß.

Auch der kleine Dicke schwenkte seinen niedrigen Zylinder aus weißem Strohgeflecht mit Nackenschleier und verbeugte sich wiederholt, so weit das sein Schmerbauch zuließ.

»Gu–guten Tag, guten Tag, ehrt mich sehr, ehrt mich sehr, Cerberus Mo–jan ist mein Name,« komplimentierte er, und dann wandte er sich an seinen Begleiter.

»Wa–was ist denn da–das?«

»Das war der Kislar-Aga, der Hauptmann der Eunuchen oder richtiger der Hauptmann der Mädchen, er hat ein neues Weib in Empfang genommen, das wahrscheinlich auf dem Seewege gekommen und für den Harem des Sultans bestimmt ist.«

»A–a–ach nee. Da ist wohl eine von den Frauen des Sultans gestorben?«

»Weshalb?«

»Nu wei–weil der Sultan doch nur sieben Frauen haben darf.«

»Ja, nur sieben legitime Frauen. Aber sonst – um Gottes willen! Da kommen vor allen Dingen die sechzig Odalisken in Betracht, welche zu den besonderen Diensten des Sultans bestimmt sind, aber auch mit den Kadinen, das sind die rechtmäßigen Frauen, die Gunst des Gebieters teilen, und dann sind im Serail noch fünfhundert andere Haussklavinnen, die dem Sultan natürlich ebenfalls zur Verfügung stehen. Jetzt kommt wieder eine hinzu.«

»Da–das ist also die fünfhundertundeinste.«

»O, so genau ist das nicht zu bestimmen. Der Vorschrift nach, der auch der Sultan unterworfen ist, sollen ja nur fünfhundert Sklavinnen zur Bedienung der Kadinen und des Sultans selbst im Serail sein, aber das wird nicht eingehalten. Da sind vielleicht tausend drin. Genau weiß das niemand, nur die Serailbewohner, und die verraten nichts. Eingehalten wird die vorgeschriebene Zahl auf keinen Fall. Alle Beamten bemühen sich doch, den Harem des Sultans mit den schönsten Weibern zu füllen. Wenn in der fernsten asiatischen Provinz ein hoher Beamter so ein hervorragend schönes Mädchen sieht, so bestimmt er es sofort für den Harem des Sultans, schickt es nach Konstantinopel, und dem Mädchen wie den Eltern kann ja gar keine höhere Ehre geschehen. Jeden Donnerstag nachmittag bringen alle Väter, die eine besonders bezaubernde Tochter haben, diese nach dem Markte von Buschki-Bekr, weil in der dortigen Kirche die oberen Beamten des Serails ihr Gebet verrichten, in der Hoffnung, daß einer von ihnen mit Wohlgefallen auf die Tochter blickt und sie für würdig hält, den Sklavinnen oder gar den Odalisken einverleibt zu werden. Dann nur ein Wink, und mit stolzer Freude folgt ihm die Auserlesene, um nie wieder hinter den Mauern des Serails zum Vorschein zu kommen.«

»A–ach nee! Tau–tausend Frauen! Ha–hat's der aber gut! We–wenn der Sultan also so mal spazieren geht, und er sieht so ein recht hübsches Mädel, da braucht er bloß zu winken – he, du da, kokomm mal mit – und da geht sie gleich mit?«

»Selbstverständlich.«

»We–wenn sie aber nu nich will?«

»Die will schon. Wie gesagt, das ist doch die höchste Ehre.

»Soooo? Gegesetzt aber nun den Fall, ich hätte vor zwanzig Jahren gegeheiratet; gegesetzt den Fall, ich wäre Vavater von einer erwachsenen Totochter: daß die sehr schön wäre, ist bei meiner Vavaterschaft gaganz selbstverständlich; und ich gegehe hier mit meiner Totochter in Kokonstantinopopopel spazieren, und der Sultan kommt gegegangen oder gegegeritten, und er sieht meine Totochter, und nun winkt er mit dem Fifinger – he, du da, kokokomm mal mit – i drrr Deiwel, i drrr Deiwel!! – dedenken Sie etwa, ich lalalasse mir das gegegefallen? Da gigibt's aber gleich einen Tritt in den Baubaubaubauch!«

Der Dragoman führte diesen Fremden schon seit einigen Tagen in der türkischen Hauptstadt herum, er kannte ihn schon, verzog bei der Stotterei, die sich Mr. Cerberus Mojan seit neuester Zeit – wahrscheinlich nur aus Liebhaberei angewöhnt hatte, keine Miene mehr; dieser Armenier mit dem listigen Spitzbubengesichte lachte überhaupt nur, wenn er Geld bekam, und weinte nur, wenn er Geld verlor.

»O nein, so jedes Weib kann freilich nicht im Serail verschwinden. Ich sprach vorhin ja nur von mohammedanischen Weibern. Allerdings sind ja auch genug Europäerinnen im Serail, ist doch auch der jetzige Sultan der Sohn einer Österreicherin, aber Gewalt darf jetzt nicht mehr angewendet werden. Wird ein schönes, weißes Mädchen für würdig befunden, in den Harem zu kommen, so wird ihr eben der Antrag gestellt, sie muß sogar schriftlich auf ihre Freiheit verzichten. Oder aber ... ja, es kommen noch gewaltsame Entführungen vor. Ich kenne solch einen Fall.«

»Wawas für einen Fafall?«

»Es war eine junge Französin, ein Stubenmädchen in einem französischen Hotel. Die war auch eines Tages verschwunden. Nun war aber ihr Vater schon seit langen Jahren Portier in diesem Hotel, der kannte also alle die Verhältnisse, hatte schon verdächtige Gestalten bemerkt, die seiner Tochter nachstellten, er ging zum Konsul, den einen Türken hatte er festgenommen, der gestand, das Mädchen für einen Beamten entführt zu haben, der sie ins Serail geliefert hatte – und da gibt es ja nun nichts, das Mädchen kam wieder heraus, es wurde höflichst um Entschuldigung gebeten, man habe geglaubt, es sei eine mohammedanische Griechin gewesen, sie wäre sowieso in den nächsten Tagen wieder freigelassen worden, und das Mädchen oder der Vater erhielt 300 Francs Reugeld. Darauf hatte es der Mann ja auch nur abgesehen, der Gauner, der hatte die Entführung erst ruhig geschehen lassen, wobei er sich schmunzelnd die Hände rieb.«

»Wewenn aber nun niemand rereklamiert?«

»Ja, geehrter Herr, wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter! Man sieht sich auch die betreffenden Europäerinnen an, die man hinter den Mauern des Serails verschwinden läßt, d. h., man vergewissert sich, daß sie ohne Anhang sind, daß kein Hahn bei und nach ihrem Verschwinden mehr kräht, und wer dann einmal hinter den Mauern ist, der kann auch sicher sein, niemals wieder herauszukommen.«

Dieses Gespräch hatte begonnen, als der Zug erst in Sicht gewesen war, jetzt kam er vorbei, jetzt konnte Mojan die Gestalten richtig unterscheiden.

»Das ist eine zukünftige Odaliske,« erklärte der Dragoman weiter, »sonst würde sie nicht mit solch einem Gepränge und persönlich vom Kislar-Aga abgeholt. Sicher ist es eine Tscherkessin.«

»Weweshalb glauben Sie das?«

»Die Tscherkessinnen sind doch die schönsten Frauen der Erde, sie hauptsächlich bevölkern das Serail wie alle Harems der türkischen Großen.«

»Die schönsten Weiweiber der Erde?« begann der kleine, dicke Sünder jetzt zu spannen. »Wiwirklich? Hahabe noch keine gegesehen.«

»O, da sind Weiber darunter!« sagte der Armenier mit Zungenschnalzen. »Besonders aus dem Tale von Tiflis – o, diese Weiber spotten jeder Beschreibung!«

»Wawas ist denn das für ein Kerl, der wie ein Affe in goldnen Pumphosen aussieht?«

»Das ist eben der Kislar-Aga, der Hauptmann der Mädchen.«

»Wawarum hat der denn so eine lalange Lelederpeitsche?«

»Mit der hält er Ordnung unter den Weibern.«

»Er hauhaut sie doch nicht etwa?«

»Wie es im Serail zugeht, weiß kein Mensch, der nicht ein für allemal zum Hausstand gehört, aber der Mann wird die Peitsche wohl sehr nötig haben; denn Gott weiß, wie es zwischen diesen zahllosen Weibern, die alle eng zusammen leben, manchmal zugehen mag.«

»Kakann man sich das nicht einmal ansehen?«

»Nein, das ist nicht möglich, da kommt niemand hinein.«

»Warum denn nicht, wenn ich bezahle, und mir kommt es auf ein paar Huhuhuhundert ...«

»Nicht für alles Geld der Welt! Das Innere des Serails wäre ja in der Tat die größte Sehenswürdigkeit von Konstantinopel, aber selbst wenn der Sultan von fremden Fürsten besucht wird, die doch gewiß die Gastfreundschaft im weitesten Maße genießen, denen sonst alles offen steht, wo sie sich nur amüsieren können – aber auch dem fürstlichen Besuch, ob nun König oder Kaiser, ob Christ, ob Mohammedaner – die Pforten des Serails bleiben ihm unwiderruflich verschlossen.«

»Kakann man nicht hinüberklettern?«

»Hören Sie, das würde Ihnen schlecht bekommen. Hinter der ersten Mauer liegen Janitscharen, welche nur darauf lauern, jemanden aufspießen zu können. Aber Sie würden nicht einmal an die erste Mauer herankommen, auch diese ist schon von außen von Janitscharen bewacht. Nein, von Männern sind im Serail nur Eunuchen angestellt.«

»Wawas, also auch Männer gibt's in dem Harem?« fing Mojan jetzt zu staunen an.

»Jawohl, eben Eunuchen.«

»Eu – eunuchen, was ist denn das?«

Wußte es der weitgereiste und ziemlich gebildete Amerikaner wirklich nicht? Vielleicht verstellte er sich nur, er wollte den Einheimischen durch vorgebliche Unwissenheit nur aushorchen, es konnte aber auch sein, daß er es tatsächlich nicht wußte. Denn die Bildung des ehemaligen Schmierölhändlers war in gewissem Grade außerordentlich einseitig, ein Fall, den man bei allen Engländern und Amerikanern findet, die ihre ganze Geisteskraft nur auf ihren eigentlichen Beruf, auf die Existenzfragen konzentrieren. Findet man doch in England zum Beispiel genug Ingenieure, achtzehnjährige Jungen, welche Gehälter beziehen wie bei uns Bankdirektoren, und mit Recht, sie leisten in ihrem Fache Außerordentliches, solch ein Bürschchen macht im Handumdrehen differentiale Berechnungen, vor denen es einen alten Mathematik-Professor schaudert – aber was die Hauptstadt von Ungarn ist, das weiß er nicht. Sein Beruf – weiter existiert nichts für ihn.

Der konstantinopolitanische Fremdenführer aber hielt es für selbstverständlich, daß jeder Mensch wisse, was für eine Bewandtnis es mit einem Eunuchen hat. Er erklärte nur die Funktion der kaiserlichen Eunuchen, die im Serail angestellt sind.

»Nun, das sind eben die männlichen Diener und Arbeiter im Serail. Jede Kadine hat schon ein ganzes Heer von Eunuchen für sich allein, dann die vielen Beamten im Serail, der erste Imam und seine Sekretäre, der Großalmosenier, der Hekim-Baschi, der Basch-Kiatibi mit seinen zahllosen Untersekretären – die müssen doch alle männliche Bedienung haben, denn die Weiber gehören nur dem Sultan. An zweitausend Eunuchen reichen nicht, die im Serail wohnen, und das ist doch auch ein ganzes Stadtteil für sich. O, die Eunuchen sind sogar gesucht wie Goldkörner.«

Mojan machte ein überaus pfiffiges Gesicht. Sicherlich hatte er soeben wieder eine geniale Idee gefaßt, er vergaß sogar ganz sein Stottern.

»Gesucht?!« frohlockte er. »Kann denn jeder Eunuche werden?«

»Gewiß, warum denn nicht? Wenn sich nur recht viel meldeten, die gewillt sind, sich der Zeremonie zu unterziehen.«

»Was für einer Zeremonie?«

»Nun eben der, durch welche man Eunuche wird.«

Der Dragoman glaubte, hiermit genügend angedeutet zu haben, um was es sich handelte. Der Dragoman hatte manchmal auch Damen zu führen, und da mußte er sehr vorsichtig sein.

»Also jeder kann Eunuche werden?«

»Wenn er gesund und kräftig ist, gewiß.«

»Aber Christen werden nicht angenommen?«

»Ach, da wird gar nicht danach gefragt.«

»Und da kommt man wirklich zu den Weibern hinein?«

»Natürlich. Die Eunuchen verkehren mit den Odalisken und Sklavinnen wie Brüder und Schwestern.«

Jetzt kam der geniale Gedanke offenbar zum Durchbruch, Mojans Gesicht verklärte sich vor Seligkeit.

»Sie – da werde ich Eunuche! Weiß Gott, ich tu's! Wo meldet man sich denn da an? – Na, was haben Sie denn da zu lachen, Sie Stinkvieh, mistiges?!« setzte er noch hinzu, den Dragoman anschnauzend.

Die beiden standen noch immer allein in einer Außennische der Kirche, in ziemlicher Entfernung von ihnen flutete der Menschenstrom vorüber. Auf der anderen Seite der Straße hatte sich wieder ein Menschenknäule gebildet, dessen Ursache der neugierige Armenier seine Aufmerksamkeit widmete. Er hatte den letzten Fragen des Amerikaners nur wenig Interesse geschenkt, er hatte den verrückten Yankee in den letzten Tagen ja schon zur Genüge kennen gelernt, er ging immer auf alles ein, war auch schon daran gewöhnt, bei Gelegenheit so eklig angehaucht zu werden, und eben deshalb ging er immer auf alles ein. Aber diesen letzten Vorwurf durfte er nicht auf sich sitzen lassen.

»Ich habe nicht gelacht.«

»Was, Sie stinkiger Wiedehopf hätten nicht gelacht?! Die Mauern haben ja hier gedröhnt!«

»Ein Vorbeigehender hat gelacht.«

»Was?! Hier dicht neben mir war's! Sie sind's gewesen. Sie Borstenvieh elendigliches. Na, was gibt's denn da zu lachen? Denken Sie, ich könnte keinen Eunuchen vorstellen?! Und ich tu's! Wo meldet man sich denn da an?«

Wir verlassen die beiden vorläufig und folgen der Sänfte, und wir wollen dabei Augen besitzen, um den Begleiter des Zuges zu sehen, den kein anderer Mensch sehen konnte.

Der geneigte Leser bedarf weiter keiner Erklärung. Es war Nobody, der einmal sein Tarngewand angelegt hatte.

Seitdem die Sänfte aus einem Boote, das an einer Brücke am Goldenen Horn angelegt, ausgeladen worden war, hatte er sich immer neben ihr gehalten und war so noch mit keinem der Straßenpassanten in Kollision geraten.

Nur als er zu einer Überraschung vorhin seinen alten Freund in der Nische hatte stehen sehen, hier in Konstantinopel, hatte er einmal seinen Posten verlassen, hatte die letzten Worte der Unterhaltung vernommen – der dicke Cerberus Mojan wollte Eunuche werden! – da hatte er sich eines lauten Lachens nicht erwehren können, und dann war er schnell nach seinem sicheren Platze neben der Sänfte zurückgekehrt.

Enthielt diese denn eine Person? In den silbergestickten Vorhängen war noch kein Schlitz entstanden, durch den Nobody hätte spähen können.

Nun, Nobody ließ sich nicht so von ungefähr auf dieses Abenteuer ein, welches ihn in das Allerheiligste des heiligen Serails führen sollte. Nobody hatte gewußt, daß heute eine neue Odaliske dem Harem des Sultans einverleibt werden sollte, er hatte gewußt, wie und wann und wo sie an Land gebracht werden würde, und er war zur Stelle gewesen, schon in seinem unsichtbar machenden Kostüm, um diese Gelegenheit zu benutzen, mit dem Zuge in das Serail zu schlüpfen. Bemerkt sei aber, daß die Mission, die er sich selbst gestellt, oder mit der ein anderer ihn betraut hatte, nicht etwa mit dieser neuen Sklavin zusammenhing. Von dieser wußte er nur, daß es eine Tscherkessin war, absolut nichts weiter, wie ja, wie schon erwähnt, zu erwarten gewesen. Für diese hegte er auch gar kein Interesse. Etwas anderes führte ihn in den Harem des Sultans. Dies hier war also nur eine Gelegenheit, um gleich bis ins Innerste der geheimen Gemächer zu dringen, was sonst selbst einem unsichtbaren Geiste gar nicht so leicht gelungen wäre. Mindestens hätte er dann erst lange spionieren müssen, bis sich ihm eines der kleinen Türchen weit genug öffnete, um mit hineinschlüpfen zu können.

Von der Sophienkirche, richtiger Sophienmoschee, führt eine breite Straße direkt auf das Haupttor des Serails zu, genannt Babi-Humajun, d. i. hohe Pforte.

Dreizehn Meter hoch ist die Mauer, welche ein Areal von 700 000 Quadratmetern umspannt. Oben ist sie, ganz wie bei uns, wenn der Eigentümer eines ummauerten Grundstücks mehr praktisch als schönheitsliebend ist, mit Glasscherben gespickt. Ob das die Muselmänner von uns oder wir erst von den Muselmännern abgesehen haben, mag dahingestellt sein. Jedenfalls weiß jeder biedere Leser, der als Junge Äpfel gemaust hat, wie unangenehm solche Glasscherben auf einer Mauer sind. Das sollte überhaupt gar nicht erlaubt sein, man kann sich dabei nur die Finger zerschneiden und sogar die Hosen zerreißen.

Außen an dieser ersten Mauer sind in gewissen Zwischenräumen Schilderhäuser angebracht, vor denen Soldaten promenieren, die sich von Zeit zu Zeit eine Zigarette drehen oder ihren kurzen Tschibuk frisch stopfen, und wenn sie keinen Tabak haben, so betteln sie deswegen einen Vorübergehenden an.

Die Schilderhäuser gleichen ganz den unsrigen, nicht aber die Soldaten, was mit der Bettelei auch schon zur Genüge angedeutet ist, ganz abgesehen von der Raucherei.

Wir in Deutschland haben noch Janitscharenmusik, aber in der ganzen Türkei gibt's keine Janitscharen mehr, auch nicht ohne Musik. Als sich diese wilde, verwegene Bande, der nach alter Tradition statt einer Fahne ein großer Kochtopf mit Rührlöffel vorangetragen wurde, im Jahre 1826 weigerte, sich nach europäischem Muster organisieren zu lassen, als sie deswegen Revolution machte, sogar das Serail stürmen wollte, da rief der damalige Sultan alle Gläubigen unter der grünen Fahne Mohammeds zusammen, und nach furchtbar blutigen Kämpfen hatte er endlich seine sämtlichen Soldaten niedergemacht, erschossen, verbrannt, gehenkt. In einer einzigen Kaserne allein wurden 8 000 Janitscharen verbrannt, ohne sie erst zu fragen, ob sie es wünschten oder nicht, d. h., ohne erst wegen einer Kapitulation anzufragen.

Seitdem hat die Türkei regelrechte Soldaten, Askeri Muhamedije, bei denen nur der rote Fez etwas auffallend ist. Die rothosigen Franzosen sind einem deutschen Auge noch viel auffallender.

Und doch gibt es noch Janitscharen, ganz echte, vom alten Schlage. Alles, was mit dem Serail zusammenhängt, muß alttürkisch sein, alles ganz echt. Die an der Außenmauer postierten Soldaten, eine Truppe für sich, und zwar eine Ehrentruppe, eine Elitegarde, haben noch die lange Luntenflinte, die auf einen Gabelstock gelegt wird, haben noch im Gürtel einen kurzen, krummen Säbel und ein langes, gerades Messer ohne Scheide, und haben statt des Revolvers eine solide Pistole mit Pulverhorn und Kugelsack.

Es sind gar gefährliche Kerls! Wenn sie den neugierigen Fremden um eine Zigarette anbetteln, und man gibt sie ihnen nicht – rrrrrtsch! – spucken sie einem ins Gesicht. Und wie können diese Türken spucken! Man kann gleich ersaufen!

Doch wirklich, es ist nicht zu spaßen mit diesen letzten Janitscharen! Man soll lieber gar nicht hingehen und die Mauer anstarren! Ihre Vollmacht geht gar weit, noch weiter die ihrer Offiziere, und es sind eben Türken und Mohammedaner, die etwas Heiliges zu bewachen haben, was schon mit einem Blick zu beleidigen ist, und die Luntenflinten gehören nicht zu denjenigen, welche egal nicht losgehen, auch in solchen Luntenflinten und Räderpistolen hat sich der Fortschritt der modernen Technik bewiesen. -

Neben dem Haupttore befand sich die Wache, sie wurde herausgerufen und präsentierte vor dem Zuge, den der Kislar-Aga anführte, indem die Mündungen der Flinten nach unten gehalten wurden.

Das auf Rädern gehende Riesentor öffnete sich nicht weiter, als um den Zug eben durchzulassen, und schloß sich hinter dem letzten Mann wieder – Nobody befand sich innerhalb der ersten Ringmauer, vielleicht außer dem Sultan der erste Mann, der jemals nur dieses erste Tor passiert hatte!

Aber europäische Frauen sind doch schon oft genug im Serail gewesen! In die eigentlichen Geheimnisse des Haremslebens freilich sind auch sie nicht gedrungen, sie kommen doch nie weiter als in die Empfangszimmer der Haremsweiber. Immerhin, sie können etwas erzählen, und nur ihnen verdanken wir die Beschreibungen des Serails.

Nobody erkannte auf den ersten Blick, daß die meisten dieser Beschreibungen falsch sind, und es kann sich ja auch jeder selbst überzeugen, wie sehr sich die verschiedenen Schilderungen des Serails widersprechen, wenn er sie miteinander vergleicht.

Da heißt es in der einen, zwischen der ersten und der zweiten Ringmauer befände sich ein herrlicher Park, geschmückt mit Monumenten, Springbrunnen und Kaskaden; nach einer zweiten Beschreibung ist dieser Platz zwischen der ersten und zweiten Ringmauer nur mit weißem Sand bestreut; eine dritte Schriftstellerin will hier wiederum eine waldige Wildnis gesehen haben.

Es ist nicht gesagt, daß die Damen gar nicht im Serail gewesen sind und nur so aus der Phantasie herausschreiben. Da haben sie nur die einzelnen Ringplätze miteinander verwechselt, was recht wohl möglich ist, denn man muß nur bedenken, in welcher Aufregung man sich befindet, wenn man diesen wichtigen Schritt tut, wenn man in das intimste Familienleben des Sultans eingeführt wird, und was für Zeremonien da für solch eine fremde Dame dabei sind, welche ihr vollends die klare Beobachtungsgabe rauben! Die, welche eine Wildnis gesehen haben will, hat recht, doch auch die, welche von einem Parke spricht, ist nicht zu verurteilen.

Nobodys ungetrübtes Auge erkannte auf den ersten Blick einen total verwilderten Park, und ein starker Johannisbrotbaum, dessen Stamm eine Steinbank zur Seite gedrängt hatte, sagte ihm sofort, daß dieser Park schon seit mindestens fünfzig Jahren der Natur überlassen worden war. Gleich linkerhand sah er das marmorne Becken eines einstigen Springbrunnens, aber auch hier hatte die Vegetation zerstörend eingewirkt, auf eine Weise, daß Nobody gleich nochmals fünfzig Jahre zugab.

»Weshalb ist dieser Park, der doch mit Leichtigkeit in Ordnung gehalten werden kann, seit mindestens hundert Jahren der Verwilderung preisgegeben worden?«

Das war Nobodys erste Frage, die er sich beim Betreten des Serails stellte. Noch keine der europäischen Damen, die hier Zutritt gefunden, hat dieses ›Weshalb‹ nur mit einem Worte berührt. Nobody aber witterte hier sofort ein Geheimnis, und – er würde wohl auch recht haben!

Das zweite, was unserem Detektiv Nobody auffiel, war ein starker, verzinkter Eisendraht, welcher in einer Entfernung von etwa drei Metern von der Mauer nicht sehr hoch über den Boden entlanglief, und zwar im Zickzack, und um ihn in dieser Gestalt festzuhalten, war jede einzelne Zacke, allerdings jede wohl einen Meter von der anderen entfernt, an einem in den Boden gerammten Eisenpflock befestigt, und nur auf dem Wege, den man passieren mußte, war der Draht zu Boden gelegt worden, so daß man nicht erst darüberzusteigen brauchte, aber auch hier waren die Ecken noch im Pflaster befestigt, so daß die Zickzackform durch nichts gestört werden konnte.

Die meisten Besucher hätten diesem Drahte gar keine Beachtung geschenkt. Eben eine Umzäunung, nichts weiter. Nobody aber hatte gleich ein energisches ›Wozu das?‹ bei der Hand.

»Weshalb ist der Draht auch über den Weg gelegt worden? An einen Blitzableiter darf man gar nicht denken. Weshalb ist die Zickzackform gewählt worden, und weshalb ist man so ängstlich darauf bedacht, daß die Zickzacklinie nicht unterbrochen wird, daß die Ecken möglichst scharf hervortreten? Das hat unbedingt etwas Besonderes zu bedeuten! Nun, ich werde es zu erfahren wissen.«

Auch hinter dem Tore befand sich ein Wachtgebäude, von dem aus Soldaten zur Bewachung der Innenseite der Ringmauer auf Posten gesandt wurden, ebenfalls Janitscharen nach altem Muster, aber auch der ungeübte Blick mußte gleich erkennen, daß diese inneren Soldaten ganz andere waren als die draußen, überhaupt ganz andere Menschen – alle besaßen Anlage zur Korpulenz und hatten eine Fistelstimme, Nobody hörte ein Kommando, welches wie beim Kinderspiel klang.

Wir können es ganz ruhig aussprechen. Wir haben ja eine Oper, bei der das Wort auf dem Theaterprogramm zu lesen ist. Diese Soldaten hier drin waren schon Verschnittene, während das bei denen außerhalb der Mauer noch nicht der Fall war. Jene Janitscharen, welche die Außenwache haben, heißen Sulaki und haben mit dem Serail eigentlich gar nichts zu tun. Die inneren Wächter führen den Namen Peiki, und diese gehören als kaiserliche Eunuchen schon mit zum Hofhalt, also zum Serail, dürfen dieses nicht anders als in geschlossenem Trupp verlassen, und auch das nur ausnahmsweise, wenn der Dienst ruft, so wie in diesem Falle, wo sie eine neue Odaliske abholen und in das Serail geleiten mußten.

Die Posten nun, welche diese innere Wache zu stellen hatten, promenierten auf dem schmalen Wege, den die Mauer und der Zickzackdraht begrenzte, hin und her, sie unterschieden sich von ihren draußen befindlichen Kollegen außer durch Körperbeschaffenheit und Stimme noch dadurch, daß sie statt mit einer Luntenflinte mit einer mächtigen Hellebarde bewaffnet waren, die gerade die beste Form hatte, um einen Menschen, der von der Mauer herabsprang, aufzuspießen.

Vierundachtzig kurze Doppelschritte, jeden zu einem Meter, zählte Nobody bis zu der nächsten Ringmauer. Das war hier also eine Wildnis, umfangreich genug, daß ein Rinaldo Rinaldini darin sein Handwerk ausüben konnte!

Auch diese zweite Ringmauer wurde von solchen verschnittenen Janitscharen bewacht, aber, wie gleich vorausgeschickt werden soll, nur auf dieser einen Seite. Und ebenfalls zog sich hier solch ein Eisendraht in ununterbrochenem Zickzack an der Mauer entlang, auf dem Wege war er nicht abgebrochen, sondern nur auf den Boden gelegt, und der Raum zwischen diesem Draht und der Mauer war für die patrouillierenden Wachtposten bestimmt.

»Wozu nur dieser Zickzackdraht?« fragte sich Nobody immer wieder. »Das muß eine religiöse Bedeutung haben, obgleich mir doch gar nichts bekannt ist, daß im Mohammedanismus die Zickzacklinie eine Rolle spielt, so etwa wie bei uns das Dreieck als Symbol der Dreieinigkeit.«

Orta-Kapussi, das Tor der Gerechtigkeit, öffnete sich vor dem Zuge. Dieser Zwischenraum bis zur nächsten Mauer war nur schmal, und dieser hier war wirklich nur mit weißem Sande bedeckt, künstlich bestreut, und mit schrecklicher Deutlichkeit ward jedem Auge gezeigt, wozu dieser Hofraum diente.

Gleich links und rechts war je ein Holzgerüst aufgeschlagen, ganz einfach, eine Stiege führte hinauf, und oben war ein Block, gerade so hoch, daß ein kniender Mensch bequem seinen Kopf darauflegen konnte – und ringsum war der sonst weiße Sand rot gefärbt!

»Links für die Entführte, rechts für den Entführer, oder umgekehrt,« kombinierte sich gleich Nobody, ganz kaltblütig, »aber auch Einzelhinrichtungen finden statt, dort zeigt der Sand eine ganz frische rote Färbung. Na, mich sollen sie nicht draufkriegen.«

Aber auch noch einen anderen Zweck hatte dieser mit feinem Sand bestreute Hof. Nicht umsonst war der Sand so sauber geharkt. Nobody drehte sich noch einmal um und gewahrte, daß sich auf der zweiten Mauer in gar nicht so großen Zwischenräumen kleine Häuschen befanden, und an jeder Oeffnung sah er ein schnurrbärtiges Gesicht – und mit einem Sprunge befanden sich Nobodys Füße in den Spuren seines Vorgängers, die dieser in dem feinen Sande zurückließ.

Das dritte und letzte Haupttor heißt Babi-Snadet, d. i. Pforte der Glückseligkeit.

Noch während sich dieses auf den kleinen Rädern bewegte, ward Nobody Zeuge, wie die Überwachung gehandhabt wurde, wenn nur eine oder einige wenige Personen aus- und eingingen.

Neben jedem Tor befanden sich noch zwei kleine Pförtchen, mit kastenähnlichcn Verschlügen, deren Zweck sich Nobody erst nicht recht hatte erklären können.

Jetzt, da er die Vorrichtung in Tätigkeit sah, war es ganz einfach. Ein Eunuche, einen großen Tragkorb auf dem Rücken, wollte hindurch. Für ihn ward das große Tor nicht geöffnet, er durfte es nicht einmal jetzt benutzen, da es schon offen war.

Zunächst wies der Mann einen geschriebenen Paß vor, der sorgsam geprüft wurde. Dann mußte er seinen Korb abnehmen, sich völlig entkleiden, und so sich splitterfasernackt in eine Abteilung des vierteiligen Kastens stellen. Dieser begann sich zu drehen, auf diese Weise wurde der Mann durch die Mauer bugsiert – eine ähnliche Vorrichtung, wie man sie auch bei uns findet, an Orten, wo starkes Gedränge stattfindet und jeder auf den Besitz eines Billetts oder sonst etwas hin kontrolliert werden soll.

Dann wurde der Korb hinausgedreht, nachdem dieser mit einer lächerlichen Gründlichkeit daraufhin untersucht worden war, daß sich nichts darin befand, und ebenso gründlich hatte man natürlich auch die Kleidung visitiert, die der Eunuche draußen wieder anlegen durfte.

Dabei war der Kastenverschlag nur so groß, daß der Mann eben hineingegangen war. Fürwahr, da wurde es selbst einem unsichtbaren Geiste, der aber nicht zugleich wesenlos war, unmöglich gemacht, hier unbemerkt durchzuschlüpfen – und dann wären in dem Sande Fußstapfen entstanden, was die Wächter auf der Mauer sofort bemerkt hätten.

Da aber geschah etwas, was dem Zwecke all dieser Vorsichtsmaßregeln Hohn zu sprechen schien.

Ein kleiner, dicker Türke kam gelaufen, mit allerhand Flittertand herausgeputzt, doch nicht kostbar, auch sonst einen recht schmutzigen, heruntergekommenen Eindruck machend.

Er wollte das offene Tor benutzen, um hinauszueilen, ein Soldat hielt ihn zurück, doch es war sichtbar, wie er dabei nur eine ganz sanfte Gewalt anwendete.

»Bleibe hier, Mufti, du hast dort draußen nichts zu suchen. Ich bitte dich, bleibe hier.«

Aber der kleine Dicke riß sich los, er rannte durch das Tor – doch nur, um sich gleich an den Boden zu werfen, mit Händen und Füßen zu scharren und wie ein Hahn zu krähen.

»Ja, ja, Mufti, ich weiß schon, du bist ein Hahn. Geh doch hinein zu deinen Hühnern, die warten auf dich.«

Mehr hörte Nobody nicht, das Tor schloß sich wieder, er hatte auch schon genug gesehen, um sich alles erklären zu können.

Schon in einer früheren Erzählung, wie Nobody das wahnsinnige Weib an dem Brunnen der Libyschen Wüste fand, ward auch der Irrsinnigen in der Türkei gedacht. Moslem heißt der Heilige; der Muschlin, der Irrsinnige, steht an Heiligkeit noch über ihm; in ihm offenbart sich der Geist des rätselhaften Gottes am wunderbarsten und augenscheinlichsten. In der Türkei läßt man den Wahnsinnigen frei herumlaufen, man bringt ihm die größte Ehrfurcht entgegen, und nur wenn er gefährlich wird oder die Straßenpassanten gar zu sehr belästigt, sperrt man ihn ein, doch nicht in ein Irrenhaus, in dem es Zwangsjacke und kalte Dusche gibt, sondern man füttert ihn in einer komfortablen Polsterzelle sanft zu Tode.

Das galt also selbst hier im Serail. Natürlich, ist doch das Serail die Hochburg des mohammedanischen Papstes. Da war einmal ein Eunuche wahnsinnig geworden, man ließ ihn frei herumlaufen, so lange er keinen Schaden anrichtete. Ganz hinaus kam er natürlich nicht.

So befand sich jetzt Nobody hinter der letzten Ringmauer, welche das Allerheiligste umschloß, von dem wir so viel wie gar nichts wissen.

Eine Schilderung des Gesamteindrucks ist nicht möglich. Wolle der Leser vor allen Dingen niemals an ein einzelnes Haus denken, und sei dies auch noch so groß. Das Serail ist ja nicht etwa nur der Harem des Sultans, sondern Serail heißt seine Residenz, in der er wohnt, von der aus er regiert, es ist eine ganze Stadt für sich, mit zahllosen Palästen – zahllos insofern, als sie eben noch von keinem Fremden gezählt worden sind – mit eigenen Moscheen, mit Bädern, von deren Umfang und Einrichtung sich derjenige, der überhaupt noch kein türkisches Bad gesehen hat, gar keine Vorstellung machen kann, dann mit den eigentlichen Haremshäusern, mit Marställen, mit Wohnungen für Beamte, Diener, Handwerker und Gott weiß was – eine Stadt auf einem halben Quadratkilometer, deren Einwohnerzahl man auf 10–12 000 schätzt, und all diese Gebäude, wenigstens die vornehmeren, zerstreut inmitten eines prachtvollen Parkes liegend.

Nobody befand sich am Ziele seiner Wünsche. Eunuchen, Haremswächter, laufen genug in Konstantinopel herum, aber Nobody hatte keinen einzelnen gesehen, der sich durch Goldborten als kaiserlichen Seraildiener kennzeichnete, nur in geschlossenen Trupps waren sie marschiert, und einen einzelnen mußte er doch unter vier Augen vornehmen, um ihn auszufragen, um ihn zu hypnotisieren.

Ging es draußen so streng zu, so hier um so freier. In jenem großen Hause dort waren gewiß Weiber untergebracht, aber kein Wächter war an der Tür sichtbar, durch welche Weiblein und Männlein unbelästigt ein- und ausliefen.

Schweigend bewegte sich der Zug mit der Sänfte auf ein riesiges Gebäude zu, welches mit seinen düsteren, fensterlosen Mauern unheimlich von den architektonisch schönen Palästen und von der ganzen, grünen, in reichem Blumenschmuck prangenden Umgebung abstach. Dieser mächtige, viereckige, fensterlose Steinkasten, das war so ein richtiges Gefängnis für tausend Haremsweiber, wie es sich die Phantasie nur ausmalen kann.

Vor dem großen Tore, ebenfalls unbewacht, hielt der Zug, schien sich auflösen zu wollen. Die Sänfte wurde abgesetzt, vor allen Dingen begab sich der Kislar-Aga zunächst in das Haus.

Was ging Nobody die neue Sklavin an? Mit der hatte er nichts zu schaffen. Aber der Kislar-Aga begab sich jetzt jedenfalls an einen Ort, der den Dienern sonst verschlossen war, er suchte wahrscheinlich einen Vorgesetzten auf, dem er Meldung zu erstatten hatte, Nobody bekam vielleicht vertrauliche Gespräche zu hören, die ihn tiefer in die Geheimnisse des Serails einweihten – kurz, Nobody folgte dem Kislar-Aga.

Es ging eine Treppe hinauf, die durch Öllampen erhellt war. Begegnende Diener erwiesen ihrem Hauptmann keine ehrerbietige Begrüßung, aber sichtlich war die ängstliche Scheu, mit der sie ihm auswichen.

Auf dem ersten Korridor näherten sich ihm zwei herkulische, schwarze Eunuchen mit vertierten Gesichtern, welche im Gegensatz zu den anderen Dienern Dolche und Pistolen im Gürtel trugen und ebenfalls noch eine lange Peitsche.

Der eine von ihnen überreichte dem zurückkehrenden Gebieter ein großes Schlüsselbund und eine mit Gold ausgelegte Pistole, welche von dem Kislar-Aga flüchtig untersucht wurde, worauf er mit den beiden Fingerzeichen wechselte. Taubstumm!

Nur einige Schritte weiter, da schloß der Kislar-Aga eine Tür auf, und da auch die beiden Eunuchen mit eintraten, war es für Nobody ein leichtes, ebenfalls mit hineinzuschlüpfen.

Es war ein enges Gemach, ohne jedes Möbel, aber die Wände mit Polsterung bedeckt, jedenfalls dazu bestimmt, keinen Laut von dem hinausgelangen zu lassen, was hier gesprochen wurde – oder aber auch, um jeden Schmerzensschrei zu ersticken. Denn wozu waren dort, wo der dicke Teppich einen viereckigen Ausschnitt zeigte, die Ringe in die Wand eingelassen, gerade in solcher Höhe, daß man einen Menschen mit Händen und Füßen daranschließen konnte?

Vorläufig kauerte sich der Kislar-Aga, nachdem er die innen ebenfalls gepolsterte Tür wieder abgeschlossen hatte, auf den Teppich nieder, zog unter seinem Kaftan eine beschriebene Rolle hervor und begann zu lesen. Leider war die Stellung eine solche nahe an der Wand, daß Nobody unmöglich wagen durfte, in die Rolle zu blicken. Jede zufällige Handbewegung des Lesenden hätte ihn verraten können. Die beiden Eunuchen blieben unterdessen neben der Türe stehen.

Es dauerte nicht lange, so wurde gegen die Tür geklopft. Der Kislar-Aga erhob sich, steckte die Rolle wieder ein und zog dafür Pistole und Peitsche aus dem Gürtel. Aber auf das Klopfen hin ward nicht die Tür geöffnet, sondern einer der Eunuchen schlug unten an der Wand ein viereckiges Stück des Polsters, welches aus vielen Teilen bestand, herab, und in der Wand zeigte sich eine Öffnung.

Da hörte Nobody auch schon den taktmäßigen Schritt von acht Männern, denselben Takt, den die Träger der Sänfte auf der Terrasse eingehalten hatten, und da zeigte sich auch schon vor der Öffnung dieselbe Silberstickerei jener Sänfte. Sie ward draußen niedergesetzt, der Vorhang ging hoch, und Nobody sah ein starkes Gitterwerk.

Also die Sänfte war eine Art von Käfig gewesen, oder vielmehr ein richtiger Käfig!

Jetzt ging auch das Gitterwerk vor der Oeffnung in die Höhe, und die drei Männer, jeder in der rechten Hand die Peitsche, in der linken die schußbereite Pistole, waren bereit, das gefährliche Raubtier zu empfangen, das im nächsten Augenblick sich auf sie stürzen konnte.

»Komm heraus, Suleima!«

Nicht auf türkisch, sondern auf arabisch hatte es der Kislar-Aga gesagt.

Der Kopf des Raubtiers, welches Suleima hieß, erschien – ein Frauenkopf. Aber das war keine Tscherkessin, das war das tiefschwarze Gesicht einer Vollblutnegerin, nur dadurch von den Schwestern ihrer Rasse eigenartig verschieden, daß das Haar nicht wollig, sondern lang und schlicht war.

Gebückt folgte die ganze Gestalt des Weibes nach, in einen blauen Schal gehüllt, und ... Nobody stand einige Augenblicke zur Statue erstarrt da!

Wenn er es beim Anblick der Gesichtszüge und des schlichten Haares dieser Negerin nicht für möglich gehalten hatte, hier im Serail eine alte Bekannte wiederzufinden, oder vielmehr gleichzeitig mit ihr seinen ersten Einzug zu halten, so mußte er es jetzt glauben, da sie in ihrer ganzen Größe dastand, und diese Negerin konnte auch als Gefangene und Sklavin ihre angeborene Majestät nicht verleugnen!

Wahrhaftig, sie war es! Nobody fühlte sich plötzlich in ein fremdes Land versetzt. Doch er mußte seine Sinne wachhalten.

Das Polster war von selbst vor die Oeffnung wieder zurückgefallen.

»Ich gehorche dir nur, weil ich hoffe, endlich zu erfahren, wo ich mich eigentlich befinde,« sagte die tiefe, wohllautende Frauenstimme.

Ebensogut hätte sie sagen können: ich bin die Herrin, du bist mein Sklave, du hast mir zu gehorchen und alles zu beantworten, was ich dich frage! – Denn so hatte es geklungen, oder vielmehr so stand sie da, in ihrer Haltung lag der königliche Stolz.

Auf den dicken Kislar-Aga, dessen unumschränkte Macht Nobody erst noch richtig kennen lernen sollte, machte das freilich nicht den geringsten Eindruck. Dennoch kam er ihr entgegen, freilich ohne sie aus den Augen zu lassen, wie auch die beiden Wächter die Pistole immer schußbereit hielten.

»In Konstantinopel.«

»Wo da? Ich bin eine Gefangene, ich weiß es. Ich habe mich meiner Feinde nicht genügend zu erwehren gewußt, deshalb unterlag ich, so ist es meine Schuld, daß ich jetzt Gefangene bin, und deshalb füge ich mich. Und auch in meinem Lande verkauft man die im Kampfe Gefangenen als Sklaven, die erbeuteten Frauen und Mädchen als Sklavinnen. Und ich weiß, daß ich jetzt eine Sklavin bin – ich füge mich, denn ich habe es selbst verschuldet.«

Donnerwetter, dachte Nobody, die hat Logik im Leibe! Das ist sogar eine Art von höher entwickelter Moral! Das hätte ich meiner alten Freundin gar nicht zugetraut!

Auch der Kislar-Aga machte bei diesem Entgegenkommen ein sehr zufriedenes Gesicht, seine Waffe und Peitsche senkten sich schon etwas.

»Ich freue mich, daß du so vernünftig bist,« sagte er.

»Aber,« fuhr sie fort, »in meiner Heimat ist es Sitte, daß man dem Sklaven wenigstens sagt, wer sein Herr ist. Wessen Sklavin bin ich?«

Gleich wurde das fette, grausame Gesicht des Verschnittenen wieder hart und hochmütig.

»Die meine!«

»Und wer bist du?«

»Ich – bin – der – Kislar-Aga!!« kam es so protzig wie möglich heraus.

»Kislar-Aga, was ist das? Ist das nicht nur ein Titel, kein Name?«

»Ich bin der Gebieter über alle Weiber der Erde, und alle Weiber der Erde, ob Frauen oder Jungfrauen, gehören dem Padischah, welcher ist der Beherrscher aller wahrhaft Gläubigen.«

Blitzte es da nicht in den schönen, edlen Zügen, die mit denen einer Negerin nichts anderes gemein hatten, als nur die schwarze Farbe, wie freudig auf?

»Du bist ein Diener des Sultans der Türkei, den ihr Padischah nennt?«

»Du sagst es, und ich bin seine rechte Hand.«

»Ich befinde mich im Harem des Sultans?«

»Nein.«

»Wo sonst?«

»Erst im Vorraum zum Harem.«

»Ich bin aber für den Harem des Padischah bestimmt?«

»Höre mich an, Mädchen,« begann jetzt der Kislar-Aga in anderem Tone, etwas geschäftsmäßig. »Du bist von Piraten gefangen worden, in irgendeinem Räuberneste am Meere wurdest du an einen Händler verkauft, der verkaufte dich weiter, bis du zuletzt Eigentum von Papapopulos wurdest, der mir für den Harem meines Gebieters bisher immer die schönste Ware geliefert hat. Er bot dich mir an. Was du zuerst gekostet hast, weiß ich nicht, auch nicht, wieviel Papapopulos für dich gezahlt hat, ich weiß nur, daß ich ihm für dich zweiundfünfzig Beutel Ein Beutel achtzig Mark. gegeben habe, und das ist eine enorme Summe für ein Weib, bekommt man doch die Tscherkessin, Georgierin und Frankin – verflucht sollen alle Franken sein, Allah lasse den ungläubigen Hunden Steine wachsen im Bauche – für vierzig Beutel. Aber du gefielst mir, als ich dich im Bade beobachtete, du bist schlank und voll und fest, du hast auch ein recht hübsches Gesicht, und vor allen Dingen bist du eine Seltenheit, indem du als Negerin langes Haar hast, und Seltenheiten liebt mein Gebieter. So kaufte ich dich, auf die Gefahr hin, siebenundvierzig Beutel aus meiner Tasche bezahlen zu müssen, denn noch weiß ich nicht, ob du auch würdig bist, als Odaliske aufgenommen zu werden, welche bekanntlich alle Jungfrauen sein müssen, weil unter ihnen die Walide-Sultana für ihren Sohn, den Padischah, die Beischläferinnen auswählt. Findet dich aber der Hekim Baschi, der dich untersuchen wird, nicht als Jungfrau, so kannst du nur einfache Arbeiterin werden, und für eine solche ist mir nicht mehr als fünf Beutel auszugeben erlaubt, so daß ich also siebenundvierzig Beutel zuzulegen habe. Ein Glück war es nur, daß ich ein Gespräch belauschte, worin Papapopulos einem anderen erzählte, daß du gegen die Piraten wie eine Teufelin gekämpft hast, wobei du auch eine Wunde an der rechten Brust und am linken Schenkel davongetragen hast, was auch erst richtig heilen muß, ehe ich weiß, ob ich ein Geschäft gemacht habe oder nicht – und weiter, daß du auch schon einmal gleich deine beiden Wächter ermordet hast, um zu entfliehen. Wäre das nicht gewesen, so hätte ich dich gar nicht für zweiundfünfzig Beutel bekommen, denn Papapopulos forderte zuerst hundert und wollte nicht unter vierundsiebzig herabgehen, bis ich ihm eben bewies, daß ich sein Gespräch belauscht habe, daß du solch eine widerspenstige und gefährliche Teufelin bist, und eine solche ist natürlich viel billiger als ein sanftes, demütiges Wesen. – Hast du mich nun verstanden?«

Immer dunkler war das an sich schon pechschwarze Gesicht der Negerin geworden – das Blut stieg ihr in die Wangen ob der Worte, die sie da zu hören bekam, ob des Gedankens, so wie eine Ware behandelt zu werden.

Doch sie beherrschte sich.

»Nein, ich habe dich nicht verstanden. Was meinst du mit alledem?«

»Daß du gegenwärtig noch mein unbeschränktes Eigentum bist, und ich – ich werde bestimmen, ob du vor die Augen des Padischah kommst oder nicht.«

Stolz richtete sie sich auf.

»Du? Du?!« stieß sie verächtlich hervor. »Du elender Verschnittener, der du deinem Herrn wie ein Hund zu Füßen kriechst?«

Der elende Verschnittene nahm diese Worte durchaus nicht übel, er ließ nur einmal seine Peitsche durch die Luft pfeifen.

»Du sollst bald anders von mir sprechen.«

»Ich verlange, augenblicklich vor den Sultan geführt zu werden!!« begehrte sie jetzt auf.

Dafür brach der Eunuche in ein schrilles Gelächter aus, und eines anderen war er mit seiner Fistelstimme ja auch nicht fähig.

»O Mädchen, Mädchen, wüßtest du, was für eine Närrin du bist, wenn du hier solche Forderungen stellst! Du hast ja gar keine Ahnung, was das Serail zu bedeuten hat, und wie es darin zugeht!«

»Und du ahnst nicht, mit wem du sprichst. Weißt du, wer ich bin?«

»Du bist ein hübsches Mädchen, das mich zweiundfünfzig Beutel gekostet hat.«

Die Negerin richtete sich zu ihrer ganzen, stolzen Höhe empor.

»Ich verlange sofort den Padischah zu sprechen! Auch ich bin eine Fürstin.«

Auf der anderen Seite nicht der geringste Eindruck.

»Du bist ein hübsches Mädchen und hast mich zweiundfünfzig Beutel gekostet,« erklang es zum zweiten Male.

»Ich bin Theodora, die Fadinah von Godscham!!«

Mit ihrer ganzen Majestät, welcher diese Abessinierin fähig war, hatte sie es gerufen – und da zeigte sich bei dem Kislar-Aga doch wenigstens eine Spur von Neugier. Aber was für eine Neugier das nun war!

»Godscham, was ist das?«

»Ein Fürstentum in Abessinien.«

»Abessinien, was ist das?«

O weh, dachte Nobody gleich, wenn der so fragt, dann schlägt bei dem auch so etwas nicht an!

»Ein Kaiserreich, so groß wie das Land, über welches dein Padischah gebietet, und noch viel größer.«

»Kenne ich nicht. Und du willst da drin eine Fürstin sein?«

»Die Schwester des Negus Menelik bin ich, des Kaisers dieses Landes!«

»So. Hast du da auch viel Geld?«

»Ich bin reich, unermeßlich reich!«

»So,« echote der Eunuche wiederum. »Und da hast du den Piraten kein Lösegeld geboten? Das hast du den Piraten nicht selbst gesagt, damit dich dein kaiserlicher Bruder einlöse? Hast es nicht Papapopulos, nicht den anderen Agenten gesagt? Da läßt du dich erst für zweiundfünfzig Beutel in das Serail verkaufen, aus dem es kein Wiederherauskommen gibt? Nun reime mir das zusammen.«

»Warum ich kein Geld bot? Weil ich bis zur letzten Minute versuchen wollte, mich aus eigener Kraft zu befreien, und ich befand mich auf jenem Schiffe unter einem anderen Namen, ich hatte einen Grund, mich nicht als die Fadinah von Godscham erkennen zu geben, erst jetzt, da es sein muß ...«

»Spare deine Worte,« wurde sie verächtlich unterbrochen. »Und ich sage dir zum dritten und letzten Male: Du bist ein schönes Weib, welches mich zweiundfünfzig Beutel gekostet hat. Das heißt mit anderen Worten: was du gewesen bist, ist mir ganz gleichgültig, und auch in Wirklichkeit bist du jetzt nichts anderes als meine Sklavin, mit der ich meinem Gebieter eine Freude zu bereiten hoffe. Gelingt mir dies nicht, so habe ich an dir mindestens siebenundvierzig, im schlimmsten Falle, nämlich wenn du etwa Selbstmord begehst oder auch nur krank wirst, zweiundfünfzig Beutel in Gold verloren. Und nun frage ich dich: willst du gefügig sein? Willst du wie ein braves, artiges Kind sein, welches dann dem guten Doktor Hekim Baschi, wenn er es verlangt, die Zunge zeigt?«

»Nein!!!« stieß die Abessinierin hervor, und da plötzlich begann in den großen, schwarzen Augen etwas zu funkeln, was an den beutegierigen Panther ihrer Heimat erinnerte.

Auch der Kislar-Aga sah dieses Funkeln, und er hob die Pistole gegen sie.

»So werde ich dir erst einmal zeigen, wer und was ich eigentlich bin, und wie es im Serail zugeht, wie man hier widerspenstige Weiber zu zähmen weiß.«

Nur ein Wink mit der Peitsche in der linken Hand, und die beiden Eunuchen zogen Ketten hervor, welche sie an den Ringen befestigten.

»Fürs erste wird dir eine Lektion mit der Peitsche guttun. Entblöße selbst deinen Rücken, sonst müssen es fremde Männerhände tun, welche nicht zart anzufassen gewohnt sind.«

Nobody staunte. Nämlich darüber, wie der Kislar-Aga so etwas wagen durfte. Denn daß es ihm Ernst war, die Negerin durchpeitschen zu lassen, im Grunde genommen ganz ohne Ursache, nur um sie seine Macht fühlen zu lassen, das sah ihm Nobody gleich an.

Gesetzt aber nun den Fall, diese Negerin kam dann doch noch vor die Augen des Sultans, er fand Wohlgefallen an ihr. Diese Negerin konnte noch das Lieblingsweib des Sultans werden, eine große Macht auf ihn ausüben, führt im Serail doch überhaupt nicht der Mann, sondern das Weib das Regiment, nämlich die Sultan-Mutter. Würde es nicht das erste der Gemißhandelten sein, sich an dem Kislar-Aga furchtbar zu rächen?

Daß nun der Kislar-Aga trotzdem sofort zu einer Züchtigung schritt, das zeigte deutlich, wie erhaben dieser Mann hier über Haß und alle Intrigen war, seine Stellung hier als Hauptmann der Mädchen war aus irgendeinem Grunde eben unerschütterlich, und dieses brutale Selbstvertrauen war es, worüber Nobody staunen mußte.

Und er sah die Katastrophe schon kommen! Dieses Weib ließ sich doch nicht peitschen, und der Kislar-Aga setzte seinen Willen durch.

»Entkleide dich.«

»Nein!«

»Sage ja!«

»Nein!«

»Sage das Wörtchen ja, und es soll dir kein Haar auf deinem Haupte gekrümmt werden. Nur trotzig darfst du dich nicht zeigen. Sage ja!«

Da war Nobody an ihrer Seite. Nur einen Augenblick hatte er zu dem Entschlüsse gebraucht, und dennoch war dieser reiflich überlegt. Er wußte genau, was er tat.

»Sage ja!« hauchte er ihr ins Ohr.

Auch das Flüstern ist eine Kunst, die ausgebildet werden kann. Ein anderer Mensch hätte dicht daneben stehen können, er hätte nicht das Leiseste vernommen, während es die Negerin ganz deutlich hören mußte.

Und sie hatte es gehört! Was mochte sie denken? Wahrscheinlich, daß sich hinter ihr ein Vorhang befand, hinter dem jemand verborgen stand.

Wohl zuckte sie leicht zusammen, doch sie hatte sich außerordentlich in der Gewalt. Sie wandte den Kopf auch nicht um eine Linie seitwärts.

»Sage ja. als Zeichen, daß du ein gehorsames Mädchen sein willst!« wiederholte der Hauptmann.

»Sage ja!« hauchte auch die Stimme des unsichtbaren Mannes weiter. »Füge dich in alles! Es sind ja gar keine Männer, sie können dich durch nichts entehren. Der Retter ist dir nahe, ich befreie dich, nur mußt du dich erst fügen!«

»Und nun zum letzten Male: sage ja!«

Nobody sah ihr ins Gesicht, und er erkannte, welch furchtbarer Kampf jetzt im Innern dieses Weibes vor sich ging, und er wußte, warum.

Wer war es denn, der ihr das zuflüsterte? Konnte das nicht ein abgekartetes Spiel sein, welches hier stets getrieben wurde, um eine neue Sklavin kirre und gefügig zu machen? Hinter ihr stand eben jemand, extra dazu angestellt, um ihr etwas von Befreiung zuzuflüstern.

Unbedingt mußte ihr Nobody ein Zeichen geben, daß der Unsichtbare irgend etwas wußte, was hier im Serail unmöglich bekannt sein konnte.

»Theodora, Fadinah von Godscham, der Besieger der Udlindschis ist dir nahe – sage ja!«

»Ja!!!«

Wie ein Jauchzen hatte es geklungen. Der Kislar-Aga schöpfte kein Mißtrauen, wie sollte er auch! Es war eben die Folge der Sinnesänderung, und er war schon mit dem Erfolge seiner Drohungen zufrieden. Die beiden Eunuchen hörten auf seinen Wink auf, mit ihren Ketten zu klirren.

»Du willst artig sein?«

»Ja.«

»Willst mir gehorchen?«

»Ja.«

»So knie nieder!«

Nur noch einmal ein wildes Aufflammen der Augen – sie beherrschte sich, sie kniete nieder.

.

»Küsse meine Hand.«

Jetzt war es vorbei, sofort küßte sie ohne Zögern die ihr hingehaltene Hand, und dieser Hauptmann der Mädchen hatte die Weiber doch zur Genüge studiert, er erkannte sofort, daß hier jeder Widerstand wirklich gebrochen war, diese Demut war ungekünstelt, hier war eben eine Sinnesänderung eingetreten.

»So ist es recht, so bist du brav,« lobte er, ihren Kopf tätschelnd, »und wenn du so bist, dann sollst du es auch gut haben, und warte nur, wenn dich der Padischah erst sieht, was aus dir noch alles werden kann, und dann wirst du mit Liebe auch des Kislar-Aga gedenken. Jetzt wirst du von Frauen gebadet werden, dann kommst du vor den Hekim Baschi.«

– – – – – –

Eine Stunde später schritt der Kislar-Aga durch einen Korridor der zweiten Etage, blieb vor einer Tür stehen, nahm das Schlüsselbund vom Gürtel und schloß sie auf.

Er hatte die Klinke der halbgeöffneten Tür noch in der Hand, als er stutzte, sich zurückbeugte und hinter die Tür blickte.

War es ihm doch gerade gewesen, als habe jemand die Tür noch weiter nach außen gezogen. Nein, niemand war zu sehen, es war nur Einbildung gewesen.

»Ich werde alt,« murmelte der Eunuche, »immer häufiger werden die Visionen, die mich plagen; schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen, und aus den Punkten werden manchmal Ratten und Mäuse. Ich muß wieder Medizin nehmen, die mir Allah geschenkt hat.«

Das schmale, langgestreckte Zimmer, dessen Fenster nach dem inneren Hofe führte, war äußerst kostbar nach orientalischer Art möbliert. Der Kislar-Aga hatte die Tür hinter sich wieder geschlossen, schob auch noch den mächtigen Riegel vor, dann traf er Vorbereitungen zum Gebet.

Der abgenutzte Teppich wurde ausgebreitet, der Türke entledigte sich seiner roten, spitzen Pantoffeln und kniete nach den üblichen Verbeugungen, wobei er die Hände hinter die Ohren legte, nieder.

Es war die sechsundsechzigste Sure aus dem Koran, die er betete – jene Sure, in welcher der fromme Mohammedaner den Ungläubigen, also besonders den Christen, nach dem Grundsätze eines Dichters, der da sagt: ›Ich denk', ein gutes Fluchen, ist auch kein schlecht Gebet‹, verflucht, und zwar hauptsächlich deshalb, weil er den vom Propheten verurteilten Wein trinkt. Alle Strafen des Himmels werden auf den weinsaufenden Christen herabgewünscht.

»... und das Wasser des Teufels soll seinen Magen in einen feurigen Höllenpfuhl verwandeln, Amen!« schloß der Kislar-Aga sein Gebet, stand auf, zog seine Schuhe wieder an und rollte den Teppich zusammen.

Ein kleines Wandschränkchen war sein nächstes Ziel. Schon hatte er den Schlüssel in der Hand, als es noch einmal über ihn kam. Er legte die Finger zusammen, verklärt blickte er zur Decke empor, und inbrünstig erklang es:

»Allah, ich danke dir, daß du dem wahrhaft Gläubigen die Medizin gabst, die ihn davor bewahrt, daß er von dem höllischen Weine der Franken versucht wird.«

Nun schloß er auf und entnahm dem Schranke zwei große Medizinflaschen. Beide hatten Etiketten. Die eine verkündete, daß die eine Medizin in der Münchener Hofbrauerei hergestellt wurde; der Name der zweiten Medizin lautete: Echter Getreide-Doppel-Kümmel.

Diese zweite Medizinflasche war schon zur Hälfte geleert, die erste mußte zuvor entkorkt werden. Der Hauptmann der Mädchen bediente sich hierzu eines merkwürdigen Instrumentes, eines starken Drahtes, der schlangenartig gewunden war und oben einen Griff hatte. Der türkische Name dieses seltsamen Instrumentes ist Skugala, was auf deutsch etwa Korken- oder Propfenzieher bedeuten würde. Der Türke bohrte den Draht in den Kork hinein, klemmte die Medizinflasche in eigentümlicher Weise zwischen die Beine und konnte auf diese Art mit Leichtigkeit den Pfropfen aus dem Flaschenhalse ziehen.

Ein Glas brauchte der gläubige Mohammedaner zum Einnehmen der Medizin nicht, auch keinen Löffel, es schien überhaupt gar nicht so genau darauf anzukommen, wieviel er von der Medizin zu sich nahm. Er trank gleich aus der Pulle. Nur war es wohl zur günstigen Wirkung der beiden Medizinen nötig, daß sich dieselben mischten. Die Mischung geschah erst im Magen.

Doch Spaß beiseite. Der Prophet Mohammed hat vergessen, seinen Anhängern den Genuß von Bier und Schnaps zu verbieten, einfach aus dem Grunde, weil zu Mohammeds Zeiten Bier und Schnaps noch nicht erfunden waren, und von diesem ›glücklichen‹ Umstand machen die Mohammedaner den ausgiebigsten Gebrauch. Man verlasse bei den heute üblichen Orientfahrten nur einmal das Hotel und die breite Heerstraße, welche der Reiseführer weist, man suche in Konstantinopel und Kairo die Spelunken auf, wie da gekümmelt wird! Tatsächlich, neben dem einheimischen Mastika wird Kümmel bevorzugt, den die Bessersituierten sogar aus Deutschland beziehen. Und die türkischen und arabischen Studenten leisten heute schon etwas im Biervertilgen, woran jeder deutsche Burschenschafter seine Freude haben muß. Der strenggläubige Mohammedaner muß schon auf einer sehr hohen moralischen Stufe stehen, welcher diese ›Vergeßlichkeit‹ des Propheten nicht zu seinem Vorteile ausnützt. Und die Weiber in den Harems vertilgen in Masse hohle und dennoch gefüllte Bonbons, welche sie schon hier auf Erden ins siebente Paradies versetzen, und diese Füllung besteht ebenfalls meistenteils aus flüssigem Kümmel, alias gezuckertem Kornschnaps.

Kein Wort ist so unbedeutend oder trivial, daß es für den ernsten Mann nicht wert ist, seiner Entstehung auf den Grund zu gehen. Woher kommt das Wort ›Kümmeltürke‹? Sollte das nicht wirklich durch die Liebe des Türken für den süßen Getreideschnaps entstanden sein? Eine andere Erklärung hierfür hat der Schreiber dieses noch nicht erlangen können.

Also daher bei dem biederen Kislar-Aga vor den Augen öfters die schwarzen Punkte, die sich manchmal schon in Ratten und Mäuse verwandelten. Der Kerl nahm zur Bekämpfung der Ratten und Mäuse so viel Medizin ein, daß er bereits Anfälle von Delirium tremens bekam. Eine rote Nase braucht man deswegen nicht immer zu haben.

Doch Allah und sein Prophet lassen sich auf die Dauer nicht verhohnibeln. Diesmal sollte der Kislar-Aga zur Strafe eine Vision haben, die ihm noch etwas ganz anderes zeigte als nur schwarze Punkte und Ratten und Mäuse.

Eben hatte der dicke Eunuche, die Kümmelflasche am Munde, sich hintenübergeneigt und gulkste – da plötzlich sahen seine vergnüglich blinzelnden Augen über sich einen menschlichen Kopf, zwei flammende Augen, die sich ihm wie Feuer bis ins Herz brannten ... mehr wußte er nicht von sich, die Besinnung verließ ihn.

Schnell nahm ihm Nobody, der nur seinen Kopf enthüllt hatte, die Pulle vom Munde, denn der Hypnotisierte hätte sie sonst, jetzt nun einmal beim Schlucken, gleich ausgegulkst. Dann jener Kunstgriff in den Nacken, und er konnte den Mann, dessen Augen nicht einmal mehr verdreht waren, in seine aufrechte Stellung zurückbringen, und so blieb er stehen, ein willenloser und doch selbstständig denkender Automat.

»Wie heißt du?«

»Omar ben Namu.«

»Omar ben Namu, du wirst mir gehorchen!«

»Ich gehorche.«

»Mir auf alle meine Fragen der Wahrheit gemäß antworten.«

»Der Wahrheit gemäß.«

»Voriges Jahr, als das Ramadanfest gefeiert wurde, bot dir Papapopulos eine Frankin zum Kaufe an, du bezahltest für sie sechzehn Beutel. Erinnerst du dich?«

Nein, es schien nicht so, wenigstens blieb die Antwort aus, und selbst in der Hypnose sah man es dem fetten Gesicht an, wie der Eunuche überlegte.

»Bedenke,« kam Nobody dem Gedächtnis zu Hilfe, »es war gerade am Ramadan, während welcher Zeit ihr eigentlich keine gewinnbringenden Geschäfte verrichten dürft, am wenigsten einen Sklaven kaufen. Du aber kehrtest dich nicht daran, du kauftest das dir angebotene Weib, in der ersten oder zweiten Woche des heiligen Monats. Fünfundzwanzig Beutel forderte Papapopulos, bis auf sechzehn handeltest du herab. Es war eine Frankin mit ...«

Zu einer Beschreibung des Weibes kam Nobody nicht, das Geld war bei dem Kislar-Aga der beste Gedächtnissporn.

»Ich entsinne mich.«

»Wie hieß sie?«

»Fatme.«

»Den Namen hast du ihr jedenfalls erst gegeben.«

»Ja. Fatme Nummer Neun.«

»Wie aber hieß sie als Frankin?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hast du den Namen Madame oder Mademoiselle Eugenie Lefort gehört?«

»Nein.«

»Hast du etwas über das frühere Schicksal dieses Weibes vernommen?«

»Nein.«

Nobody glaubte ihm seine Unkenntnis hierüber. Hatte der Kislar-Aga doch auch von dem Namen und dem Range jener Negerin gar keine Ahnung gehabt, sich gar nicht darum gekümmert. Das Serail ist eine Welt für sich, bei deren Betreten jedes Weib, jeder Mensch einen neuen Namen erhält und ein neues Leben beginnt. Was hinter ihm liegt, ist alles gestorben.

»Erinnerst du dich, wie dieses Weib damals ausgesehen hat?«

»Ja, ganz deutlich.«

»Nun, wie sah sie aus?«

»Ihre Haut war weiß und ihr Haar schwarz, sie war sehr hübsch, klein und zierlich und geschmeidig wie eine Schlange; nur hatte sie am Halse auf der rechten Seite eine häßliche Narbe, die man aber durch ein hohes Nackenband verdecken konnte.«

Nobody konnte sich über das Gedächtnis dieses Eunuchen nur wundern. Freilich brauchte der es ja auch mit nichts anderem zu belasten als nur mit seinen Weibern.

Und die Beschreibung stimmte, sie war es, derentwegen Nobody in das Serail gedrungen war.

»Wo befindet sie sich jetzt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Was, das weißt du nicht?!«

»Nein, das kann ich nicht wissen.«

»Weshalb nicht?«

»Ich kaufte sie als Odaliske.«

»Nun, und? Erzähle ausführlicher, ich befehle es dir!«

»Die Sultan-Walide fand kein Wohlgefallen an ihr und sie besonders wegen der Narbe nicht würdig, ihrem Sohne zugeführt zu werden, den Allah segnen möge. Auch wollte die Sultanin gerade damals nichts von den Franken wissen, denen Allah Steine wachsen lasse im Bauche.«

Auch in der Hypnose mußte der biedere Kümmeltürke noch solche Zusätze machen.

»So hast du sie aus dem Range der Odalisken entfernt?«

»Ja.«

»Wohin ist sie da gekommen?«

»Zu den Sklavinnen.«

»Welchen Namen führt sie da?«

»Fatme.«

»Jedes Mädchen behält den Namen, der ihr einmal gegeben worden ist, auch wenn sie von den Odalisken zu den Sklavinnen kommt und umgekehrt?«

»Ja.«

»Aber die Nummer ändert sich wohl?«

»Ja.«

»Welche Nummer hat diese Fatme als Sklavin?«

»Das weiß ich nicht.«

Daß der Eunuche auch mit dem vorzüglichsten Gedächtnisse nicht alle Namen und Nummern der tausend und einiger Weiber wissen konnte, das glaubte Nobody, das wäre zu viel verlangt gewesen.

»Lebt sie denn überhaupt noch?«

»Das weiß ich nicht.«

.

»Wer ist der Vorsteher über die Sklavinnen?«

»Der erste Kislar.«

Wenn der Kislar-Aga also der Erste über sämtliche Weiber des Serails war, gewissermaßen der Oberstleutnant, so war jener Kislar als Oberst über die Sklavinnen sein erster Untergebener, und an diesen hatte sich Nobody jetzt zu wenden, von dem Kislar-Aga selbst konnte er hierüber nichts mehr erfahren.

Es sei nur erwähnt, wie auch schon im vorigen Kapitel angedeutet, daß Nobody für diese Sache fast ein ganzes Jahr geopfert hatte, bis ihn die Spur, die er verfolgte, zuletzt nach Konstantinopel und ins Serail geführt, und da kam es ihm nun nicht mehr darauf an, auch noch andere in die Hypnose zu nehmen; jetzt, da er gleich am Ziele sein mußte, verlor er seine Geduld erst recht nicht.

Zunächst aber wollte Nobody von dem Kislar-Aga, der doch in alle Geheimnisse des Serails eingeweiht sein mußte, noch etwas anderes erfahren.

»Zwischen der ersten und zweiten Ringmauer, welche das ganze Serail einschließen, befindet sich doch ein verwilderter Park, der auf beiden Seiten mit einem im Zickzack laufenden Draht eingezäunt ist, ohne daß es eine wirkliche Umzäunung ist. Was hat dieser Draht zu bedeuten?«

Auch in der Hypnose, in der ihm unbedingter Gehorsam auferlegt worden, war der Eunuche bei dieser Frage eines Zögerns fähig.

»Antworte, ich befehle es dir! Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem Zickzack-Draht? Wozu dient er?«

»Das ist – das ist – ein – ein – Tfakassi.«

So sehr Nobody die türkische Sprache auch beherrschte, dieses Wort war ihm doch fremd.

»Was ist das, ein Tfakassi?«

»Das ist – ein – ein – Abführmittel!«

»Ein Zaubermittel,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.

Der Hypnotisierte hätte wohl gern eine Bewegung der erschrockenen Abwehr gemacht, wenn er dazu fähig gewesen wäre. So legte er die Abwehr nur in den Ton.

»Allah stehe mir bei! Tfakassi ist ein Abführmittel!«

Ein Abführmittel? Richtig, jetzt entsann sich Nobody doch, dieses Wort schon einmal gehört zu haben, in einer türkischen Apotheke, und es ist tatsächlich ein kräftiges Abführmittel.

Davon konnte hier natürlich keine Rede sein. Übrigens brauchen auch wir das Wort ›abführen‹ doch noch in einem ganz anderen Sinne als nur in medizinischem, sogar in verschiedener Weise – der Polizist führt den Gefangenen ab, der Student führt seinen Gegner ab – und Nobody brauchte seinen Scharfsinn nicht besonders anzustrengen, um gleich herauszufinden, was hier vorlag.

Das Kind durfte nur nicht beim richtigen Namen genannt werden. Mohammed verbot den Gläubigen im besonderen siebenerlei: Das Weintrinken, Glücksspiele, den Genuß von Schweinefleisch und ersticktem Vieh, Wucher, Wahrsagerei und Zauberei; bei letzterem ist noch ausdrücklich hinzugefügt, daß auch das Anwenden von Formeln und Mitteln gegen vermeintliche Zauberei verrucht sei.

Schon aus diesem Verbot ersieht man, wie sehr der Türke zum Glauben an Zauberei, Gespenster usw. geneigt ist, was ja auch schon in der träumerischen Natur des Türken liegt, der engverwandt ist mit dem phantasievollen Araber, dem Schöpfer von Tausendundeiner Nacht und anderer Märchen, bei denen Zauberer immer die Hauptrolle spielen.

Natürlich hat dieses Verbot gar nichts genützt. Man hat dem Kinde eben nur einen anderen Namen gegeben. Außerdem hat man zur Astrologie zurückgegriffen, die zu verbieten der Prophet vergessen hat, die Wahrsagekunst aus den Sternen steht im Orient in höchster Blüte, im Serail ist ein besonderer Astrolog angestellt, der im Grunde genommen nichts weiter ist als ein ›guter‹ Zauberer, welcher die Einflüsse der Bösen unschädlich zu machen weiß und natürlich noch allerhand Hokuspokus treibt.

»Dient der Draht als Tfakassi dazu, um Geister auf ein Gebiet zu beschränken, daß sie dieses nicht verlassen können? Antworte der Wahrheit gemäß, ich befehle es dir!«

»Ja, so ist es,« erklang es jetzt ängstlich.

Nobody hatte also unterdessen das richtige von ganz allein herausgefunden. Es war auch gar nicht so schwer. Die Zickzacklinie hatte ihn darauf gebracht. Auch bei uns in der guten, alten Zeit malte der Hausvater auf die Türschwelle ein Dreieck, die Spitze nach innen gekehrt, die breite Seite nach außen. Da konnte kein böser Geist ins Haus kommen, das heilige Zeichen wirkte wie ein Schloß. Und jener ganze Draht bestand doch aus solchen Dreiecken, wenn man sich auch bei jedem eine Linie hinzudenken mußte. Jedenfalls war das hier in der Türkei wirksam, und da man nicht einmal das Wort Zauberei in den Mund nehmen darf, war das Ding Abführmittel genannt worden – gar kein so schlechter Ersatz – die Geister wurden durch die Zickzacklinie abgeführt.

»Was für Geister sind das, welche in den verwilderten Park gebannt werden sollen?«

»Es ist nur einer.«

»Und welcher Art ist dieser?«

Wieder mußte Nobody an den unbedingten Gehorsam erinnern, auch in diesem willenlosen Zustande hatte der Eunuche Angst, das Geheimnis zu verraten, bis Nobody es endlich aus ihm herausbrachte.

Wir wollen es hier nur mit wenigen Worten wiedergeben, wozu Nobody zahlloser Fragen bedurfte.

Sultan Achmed Köprili, d. i. der Zornige, der vor zwei Jahrhunderten regierte, hatte in diesem Parke, damals noch wohlgepflegt, der Sultan-Walide, also seiner eigenen Mutter, bei einem heftigen Wortwechsel das Messer in das Herz gestoßen. Mit einem Fluche gegen den Muttermörder war sie verschieden. Seitdem spukte der Geist dieser Sultan-Walide in dem verwilderten Parke.

Das war der Inhalt einer halben Stunde, in der zwischen Fragen und Antworten keine Pause eintrat.

Nobody hatte doch etwas ganz Überraschendes zu hören bekommen. Ehe er sich nach der Türkei begeben, hatte er unter anderem auch nochmals die Geschichte dieses Landes gelesen. Auch des Sultans Achmed Köprili konnte er sich noch recht wohl besinnen. Aber da hatte nichts davon gestanden, daß dieser seine Mutter ermordete, was der Chronist sicher nicht vergessen hätte, wenn es ihm bekannt gewesen, denn hierbei ist zu bedenken, welches Ansehen die Sultanmutter in diesem Lande genießt, sie ist ja eigentlich die Hauptperson im ganzen Reiche; in der Türkei herrscht Weiberregiment, ebenso wie in China, und nicht in der Pforte, d. h. im Ministerrate, sondern im Harem wird die türkische Politik gemacht!

Von diesem Morde konnte aber auch im ganzen Volke nichts bekannt sein, ebensowenig wie überhaupt etwas von dem Spuke und seinem Gegenmittel, dem Zickzackdrahte, und hieraus ließ sich wiederum erkennen, wie aus dem Serail absolut nichts herausdrang, was hinter diesen Mauern passierte.

Hierüber mußte Nobody sich noch einmal vergewissern.

»Ist denn das allgemein bekannt, daß Achmed Köprili seine Mutter ermordete?«

»O nein.«

»Aber hier im Serail ist es bekannt?«

»Ja – nein – ich weiß nicht.«

»Es ist wohl bekannt, aber niemand wagt darüber zu sprechen.«

»So ist es.«

»Von wem hast du es denn erfahren?«

»Von Hamid Scheitan.«

»Wer ist das?«

»Das war der Kislar-Aga, als ich nur ein Kislar über die Sklavinnen war.«

Natürlich, so war das eben unter Vertrauten von Mund zu Mund weitergegangen, zwei Jahrhunderte lang.

»Wie konnte das dem Volke verheimlicht werden?«

Der Eunuche verstand diese Frage gar nicht.

»Mußte die Leiche nicht öffentlich ausgestellt werden?«

»Statt der Walide wurde die Leiche einer alten Sklavin aufgebahrt, die eben verstorben war, und der Walide sehr ähnlich sah.«

»Und was geschah mit der Leiche der Ermordeten?«

»Der Sultan hat sie selbst verscharrt.«

»In dem Parke?«

»Ja.«

Aha, jetzt bekam die Sache ein ganz anderes Aussehen! Jeder rechtmäßige Moslem, der es sich nur irgendwie leisten kann, bestimmt, daß seine Leiche nach Skutari gebracht wird, Konstantinopel gegenüber auf asiatischer Seite, auf daß er die letzte Ruhe im Lande seiner Väter findet. Und die Sultan-Walide war nun gar in völlig ungeweihter Erde ohne Sang und Klang eingescharrt worden! Da freilich konnte man es ihr nicht verdenken, wenn sie als Geist ihr Grab verließ!

»Ist es im Volke bekannt, daß die Walide in dem alten Parke spukt?«

»Nein.«

»Aber hier im Serail weiß man davon?«

»Ja – nein – ich weiß nicht.«

Wieder dasselbe. Es durfte nicht darüber gesprochen werden.

»Wie äußert sich der Spuk?«

»Die Walide irrt umher.«

»Warum wird sie so gefürchtet? Was für einen Fluch hat sie ausgesprochen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hat man denn von dem Spuke schon einmal etwas wahrgenommen?«

»Oft genug.«

»Was denn?«

»Ein Stöhnen und Ächzen.«

Einem Spuke, welcher ächzt und stöhnt, stand Nobody viel sympathischer gegenüber. Er ahnte schon, daß er als Detektiv, der schon so manchem Geiste das Handwerk gelegt hatte, hier etwas zu tun bekommen würde. Nur wollte er es noch nicht recht glauben.

»Hast du selbst den Spuk schon stöhnen und ächzen hören?«

»Oft genug, auch gesehen habe ich ihn.«

»Was hast du gesehen?«

»Wie der Kiosk erleuchtet war.«

»Welcher Kiosk?«

»In dem Achmed Köprili die Walide ermordete.«

»Wann hast du diesen Kiosk erleuchtet gesehen?«

»Gestern nacht, vorgestern – er ist fast jede Nacht hell erleuchtet.«

Jetzt wurde die Sache also doch handgreiflich. Nur noch ein Rätsel bestand für Nobody.

»Ist denn diesem Spuke noch niemand auf den Grund gegangen?«

»Ja, der Basch-Kiatibi.«

»Wer ist das?«

»Der in den Sternen zu lesen weiß.«

»Also der Astrolog. Was hat er getan?«

»Er hat dem Geiste Tfakassi eingegeben.«

Nobody mußte lächeln. Abführmittel hatte der Zauberer dem Spuke eingegeben! Doch Nobody wußte sofort, daß dies nichts weiter als eine Umschreibung war. Der Astrolog hatte eben verbotene Zauberformeln und deren Hokuspokus angewendet, um den Geist zu bannen.

»Ist es ihm denn gelungen, das Serail von dem Spuke zu befreien?«

»Nein, gar nicht.«

»Sonst hat niemand den Versuch gemacht, dem Geiste zu Leibe zu gehen?«

Wieder ein langes Zögern, der Hypnotiseur mußte seinen Befehl erneuern.

»Erst vor drei Wochen.«

»Wer?«

»Der Padischah selbst.«

»Ah, der Padischah selbst! Wie hat er es angefangen?«

»Er hat eines Nachts, als der Kiosk hell erleuchtet und das Stöhnen laut zu hören war, den Tfakassi überschritten und ist in den Park gegen den Kiosk vorgedrungen.«

»Allein?«

»Ganz allein.«

»Nun, und was bekam der Padischah zu sehen?«

»Das weiß nur der Padischah allein und Allah und sein Prophet. Er war dann acht Tage lang krank und hat sich eingeschlossen, die Walide machte ihm die heftigsten Vorwürfe.«

»So hat er etwas Seltsames erlebt?«

»Ich habe ihn gesehen, als er zurückkam. Der furchtlose Held zitterte an allen Gliedern und sah selbst aus wie ein Gespenst.«

Immer interessanter wurde die Sache doch für Nobody. Der Eunuche hatte seinen Gebieter einen Helden genannt. Nobody hatte von dem damaligen Sultan, Abdul Medschid, schon genug gehört, um dem nicht widersprechen zu können. Wenn Abdul Medschid selbst dem Geiste zu Leibe rückte, so war das etwas ganz anderes, als wenn der Hofzauberer ihn bannen wollte.

Jetzt lag eine andere Frage sehr nahe, wenigstens für den scharfsinnigen und in dergleichen Dingen bewanderten Nobody.

»Hat denn Allah dem ruchlosen Achmed, der seine Mutter ermordet hat, keine Strafe zudiktiert?«

»Gewiß doch.«

»Welche?«

»Auch seine Seele hat im Paradiese keine Aufnahme gefunden, nicht einmal für immer in der Hölle, er muß sie zeitweilig verlassen, um immer von neuem das Entsetzen zu empfinden, das einen befällt, wenn man zum ersten Male die Hölle betritt.«

»Also auch er muß als Geist umherwandeln?«

»Manchmal.«

»Wann?«

»Jedesmal, wenn Neumond ist.«

»Wo zeigt er sich da?«

»Hier im Serail.«

»In einem Hause?«

»Hier in diesem, in welchem er gestorben ist.«

»Er ist zu sehen?«

»In jeder Neumondnacht.«

»Was tut er da?«

»Er schleicht als weißer Geist durch die Korridore und löscht die Lichter aus.«

Also auch das eigentliche Serail hatte seinen eigenen Spuk! Und die Lichter löschte er aus? Das ließ tief blicken!

»Richtet er sonst Unheil an?«

»Nein, gar keinen.«

»Geht er auch in andere Gemächer?«

»In keines, in dem sich ein Gläubiger befindet, der am Abend sein vorgeschriebenes Gebet gesprochen hat.«

»Hast du selbst ihn denn schon gesehen?«

»Oft genug.«

»Wie sieht er aus?«

»Es ist Achmed Köprili, so gekleidet und bewaffnet, wie er es damals war, als er die Walide ermordete, nur daß er eben wie ein Geist aussieht.«

»Hat man auch diesen Geist zu bannen gesucht?«

»Man hat das Zimmer, in dem er gestorben ist, vermauert und ebenfalls mit einem Tfakassi umgeben, Aber bei dem nützt nichts, er tritt durch die Wand.«

»Hast du das selbst einmal gesehen?«

»Zweimal.«

»Daß der Geist durch die Wand trat?«

»Ja, und ich sah auch, wie er durch die Wand wieder in das Zimmer zurückschwebte.«

Nobody machte einmal ein interessantes Experiment. Er überzeugte sich, daß es doch noch eine größere seelische Macht gibt als die Hypnose: nämlich die Einbildungskraft. Der Hypnotisierte mußte unbedingt die Wahrheit sprechen, aber er blieb bei seiner Behauptung, daß er mit eigenen Augen gesehen habe, wie der Geist durch die Wand getreten sei.

Nobody ließ sich genau die Lage jenes Sterbezimmers beschreiben, dann stellte er die Frage, ob der Kislar-Aga jetzt eine Pflicht zu erledigen habe. Ja, um vier Uhr müsse er bei der Walide sein, um ihr Bericht über die Odalisken zu erstatten.

Es war ein Viertel auf vier, Nobody wollte das Verhör abbrechen. Er hatte auch schon genug erfahren, jetzt mußte er sich eben nach anderen hypnotischen Objekten umsehen.

Noch zögerte er, die Formel auszusprechen, die den Hypnotisierten erinnerungslos erwachen ließ.

Nobody fuhr einmal mit der Hand nach seiner Kehle. Suchend blickte sein Auge in dem Zimmer umher. Es blieb auf einem Wasserhahn haften, der über einem marmornen Waschbecken angebracht war.

Er ging hin und probierte, der Hahn spendete wirklich Wasser.

Seine zweite Untersuchung galt dem Wandschranke, dem der durstige Eunuche die beiden Flaschen entnommen hatte. In dem unteren Teile des Schrankes gewahrte Nobody noch eine ganze Batterie von solchen Medizinflaschen, sämtlich direkt aus München bezogen. Nicht alle waren verkorkt, die Hälfte davon, deren Inhalt eine helle Färbung zeigte, hatte Patentverschluß, und Nobody zog helle Medizin der dunklen vor.

Sechs Patentverschlüsse öffnete Nobody, sechs Flaschen setzte er an die Lippen, sie aber immer nur bis zur Hälfte leerend – und dann füllte er sie am Wasserhahn wieder nach und setzte die verschlossenen Flaschen fein säuberlich in den Schrank zurück.

Die Kehle war ihm schon lange genug trocken gewesen, und nachdem dies beseitigt worden, machte sich ein anderer Appetit bemerkbar. Auch Nobody nahm Medizin ein, jene süße aus der vierkantigen Flasche, und gar nicht so teelöffelweise, es war gar nicht mehr so viel drin in der Flasche, als er ihr Inneres unter dem Wasserhahn wieder so weit ergänzte, wie sein darangelegter Finger markiert hatte.

Dann noch einige vorbereitende Worte für das erinnerungslose Erwachen, und Nobody beugte den Körper und Kopf des Hypnotisierten zurück und setzte ihm, nachdem er sich selbst die Tarnkappe übergestülpt hatte, den Flaschenhals vor den Mund, daß es gleich wieder zu laufen begann.

»Erwache!!!«

Gulk gulk gulk gulk gulk – der ganze Inhalt der Flasche lief in den Schlund hinein, während der Eunuche immer mit weit aufgerissenen Augen zur Decke emporblickte. Dann, als kein Tropfen mehr herauskam, ließ er die Flasche fallen, und er selbst fiel auf die Knie nieder.

»Das war keine Ratte, das war keine Maus – Allschallah, ich habe das Antlitz des Propheten gesehen!!«

Doch lange währte die Ekstase nicht. Er stand wieder auf, leckte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, hob die Flasche auf und brachte sie nochmals vor den Mund. Ein Tröpfchen war doch noch drin, und wieder ein mißtrauisches Kopfschütteln.

»Hm. Schmeckt jetzt ganz anders. Viel dünner. Da hat der Franke Wasser hineingetan. Allah lasse ihm Steine wachsen im Bauche.«

Er verschloß seinen Medizinschrank und verließ das Zimmer. Draußen rasselte das Schlüsselbund.

Nobody hatte sich einschließen lassen, mit Absicht. Ein Blick auf das Türschloß hatte ihn belehrt, daß ihm dieses keinen Widerstand bieten könne, und er wollte hier, im Heiligtume dessen, der Macht besaß über alle Eunuchen und Weiber, vielleicht über den Sultan selbst, erst einmal nähere Umschau halten. Besonders eine Art von Schreibpult, vor das man sich aber beim Schreiben kauern mußte, reizte seine Neugier.

Allein seine Erwartungen wurden getäuscht. Wohl fand er Geschriebenes, doch nichts, was ihn interessiert hätte.

So benutzte er sein Universaltaschenmesser, um die Tür zu öffnen, und er befand sich wieder auf dem Korridor.

– – – – – –

Wir wollen unserem Helden nicht auf der Wanderung durch das ganze Serail mit seinen verschiedenen Gebäuden folgen. Es kann dem Leser nicht mit der Beschreibung gedient sein, wie Nobody die Haremsweiber in ihren Boudoirs auf Polstern herumlungern sah, rauchend und Konfekt naschend und sich putzend. Hierüber gibt es andere Bücher, welche sich die Schilderung des Haremlebens zur Spezialität machen – natürlich alles freie Erfindung.

Wir aber wollen solche Szenen nur schildern, wenn sie wirklich für uns in Betracht kommen, weil Nobody handelnd mit eingreift.

Sein eigentliches Ziel erreichte er heute noch nicht, kam ihm aber doch bedeutend näher, indem er bei günstiger Gelegenheit einen der Unterkislars oder Hauptleute, welche über Diener und Sklavinnen gesetzt waren, in die Hypnose nahm und gleich von diesem erfuhr, daß die Fatme Nummer Neun, welche vor einem Jahre aus den Reihen der Odalisken entfernt worden war, noch lebe und als gewöhnliche Arbeitssklavin den Namen Fatme Zenide führte. Auch wo er sie bei ihrer Arbeit aufzusuchen hatte, erfuhr er, doch war heute keine Zeit mehr dazu.

Überhaupt hatte der unsichtbare, aber nicht wesenlose Geist oft mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, mußte immer auf günstige Gelegenheiten warten, so doch z. B. schon, wenn er eine Tür öffnen, nur einen Vorhang zurückschlagen wollte. Es gab aber auch noch andere Hindernisse. So setzte ihm ein schmaler Gang, der mit feinem Sand bedeckt, glatt geharkt war, eine unübersteigbare Schranke entgegen, die ihn von einem anderen Gebäude trennte, dem er gern einen Besuch abgestattet hätte. Denn hier war einmal ein nach außen führendes Fenster, an diesem saß eine alte Frau, welche nicht wanken und weichen wollte, und der unsichtbare Geist durfte doch nicht wagen, in dem geharkten Sande sichtbare Spuren zu hinterlassen.

Doch war das Hauptgebiet Nobodys, auf dem er zu bleiben hatte, jedenfalls dieses mächtige, vierstöckige Gebäude, mit Keller und Obergeschoß, ein wahres Labyrinth von Korridoren, mit wirklich unzählbaren Gemächern, denn ein Hausmeister, der alles kennen mußte und der von dem unsichtbaren Geiste ebenfalls unter Hypnose genommen wurde, konnte wirklich nicht genau angeben, wieviele Zimmer es eigentlich seien, und das fand Nobody bei seiner Durchwanderung dann später begreiflich, denn da gab es noch so viel Türme und Türmchen und Erker und Nischen und Winkel und geheime Kabinetts, von denen man nicht wußte, ob man sie als besondere Zimmer aufzählen oder sie noch zum Korridor rechnen sollte, und als Nobody in den Keller gedrungen war, fand er immer noch tieferführende Treppen, und dieser kolossale Steinkasten umschloß einen Hof, so groß, daß man darin noch eine ganze Villenkolonie hätte aufbauen können.

Hier war des Sultans eigentliche Residenz, hier wohnten auch seine Mabeindschi, d. h., alle die hohen und unteren Beamten, auf deren Schultern die Staatslast ruhte, doch natürlich nur die Verschnittenen, die das eben sein müssen – es gibt noch andere Beamte genug, vor allen Dingen die allerhöchsten Würdenträger, die aber nicht ins Serail kommen dürfen – hier waren auch die sieben Kadinen oder eigentlichen Frauen untergebracht, wenn sie nicht die Erlaubnis erhalten hatten, den eigenen im Serail liegenden Palast zu beziehen, dann aber mußte jede einzelne auch hier ihren ganzen Hofstaat haben, hier wohnten ständig die sämtlichen Odalisken, jede mit zwei Zimmern und den nötigen Sklaven und Sklavinnen zur Bedienung, und so hauste hier denn auch das hauptsächlichste Heer dieser dienstbaren männlichen und weiblichen Geister – und auch jene weiße Sklavin, auf deren Ermittelung es dem Detektiven ankam.

Wir glauben, daß diese Beschreibung des Serails, welche wir in kurzem Auszuge Nobodys Tagebuch entnehmen, dem ernsten Leser willkommener ist als die Beschreibung eines Gemachs, in dem ein paar Haremsweiber unnütze Dinge treiben. Und auch solch eine Szene wird kommen, nur muß es angebracht sein. Jedenfalls hat der Leser doch nun ein Bild vom ganzen Serail gewonnen.

Zunächst stattete der unsichtbare Geist der im Kellergeschoß liegenden Küche einen Besuch ab, oder vielmehr einer der vielen Küchen, und die schlechteste hatte sich Nobody nicht ausgesucht, und die Türken kochen auch nicht schlecht, besonders in Ragouts und Pasteten leisten sie etwas, was man ihnen in Paris nicht nachmachen kann, und Nobodys Spürnase wußte die besten Töpfe auf dem Feuer zu finden und ihnen in unauffälliger Weise zu entnehmen, was sein Magen brauchte.

Hierauf begab sich Nobody in die vierte Etage hinauf, in der sich das ›Spukzimmer‹ – wie wir es gleich nennen wollen – befand, in welchem Achmed Köprili vor zweihundert Jahren seinen Geist ausgehaucht hatte.

Wir haben die Schilderung des hypnotisierten Kislar-Aga ja nicht ausführlich vernommen. So hatte Nobody auch gefragt, welches Todes denn der Sultan gestorben sei. Der Teufel habe ihn ganz plötzlich geholt. Jedenfalls ein Schlaganfall. Denn wie konnte der Sultan sonst in der vierten Etage verschieden sein, da sich die Gemächer der Sultane, wenn sie sich hier aufhielten, seit Menschengedenken in der ersten Etage befunden hatten?

Doch was heißt seit Menschengedenken? Nobody glaubte schon herausgefunden zu haben, daß über die Vorgänge im Serail keine Chronik geführt wurde, und zwei Jahrhunderte ist eine lange Spanne Zeit, da kann vieles vergessen werden oder sich verändern, was von Generation zu Generation mündlich überliefert wird.

Jetzt diente die vierte Etage ausschließlich als Warenmagazin. Was hatte der Kaiser der Türkei hier oben zu suchen gehabt? Nun, es konnte ja sein, daß Sultan Achmed Köprili seinen Haushalt manchmal persönlich inspizierte, in einer der schmalen Kammern, in denen Vorräte aller Art aufgespeichert waren, darunter auch ungeheure Quantitäten von Stoffen und Geweben, wie sich Nobody hier und da mit Hilfe seines Universaltaschenmessers überzeugte, hatte ihn der Schlag getroffen. Sein Körper war hinausgetragen worden, sein Geist war hier geblieben und sollte von hier aus in Neumondnächten Rundreisen durch dieses Gebäude machen.

Nobody hatte sich die Lage des betreffenden Zimmers genau beschreiben lassen, bald hatte er es gefunden. Deutlich war an der Wand zu sehen, daß hier eine Tür vermauert worden war, und dasselbe sollte mit den nach dem Hofe führenden Fenstern geschehen sein.

Doch was sollte Nobody jetzt hier? Er hatte sich erst nur einmal orientieren wollen, um die Ortsverhältnisse kennen zu lernen. Neumond war erst in vier Tagen, so lange hatte er noch Zeit, und hoffentlich stellte sich dann der Geist des seligen oder unseligen Sultans auch pünktlich ein, mit all seinem Spuk, den sich Nobody ebenfalls genau hatte beschreiben lassen.

Der Geist der ermordeten Walide sollte ja nicht an den Mondwechsel gebunden sein, die spukte jede Nacht in dem verwilderten Parke herum, der hätte Nobody gleich heute zu Leibe gehen können. Aber er hatte schon eine schlaflose Nacht hinter sich, dann einen aufregenden, arbeitsvollen Vormittag, und der Parkgeist würde ihm wohl nicht gleich davonlaufen.

So zog er es vor, sich nach einem Nachtlager umzusehen. Draußen wurde es dunkel, nur durch einen nach dem Hof gehenden Korridor drang in den Hauptgang noch etwas Licht herein, gleich mußte es hier stockfinster werden, und Nobody durfte nicht wagen seine Benzinlampe zu benutzen – er hätte dem Geiste des Sultans Konkurrenz machen können, woran ihm nichts gelegen war.

Sein Dietrich öffnete das Vorhängeschloß der nächsten Tür. Schwarz gähnte es ihm entgegen. Der Raum hatte kein Fenster. Mit Licht und Ventilation war es in diesem Gebäude überhaupt schlecht bestellt. Es gab sogar Wohnräume ohne Fenster. Deshalb braucht der Mensch allerdings noch nicht zu ersticken, durch jede Mauer kommt immer noch genug Luft hindurch, nur mit Papier darf sie nicht tapeziert sein, und das war hier nirgends der Fall, die Wandverhüllung bildeten immer Teppiche, die aus Maschen bestehen.

Nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte, durfte er sorglos seine Benzinlaterne mit magnetelektrischer Zündung aufflammen lassen. Sie beleuchtete ein ganzes Lager von männlichen Kostümen, berechnet für einen Maskenball, dessen Besucher die Vorschrift hatten, als Türken aller Zeiten zu erscheinen. Denn Nobody erkannte auf den ersten Blick, daß diese Kostüme nicht aus ein und derselben Zeit stammten. Auch die Mode der türkischen Kleidung war ständig Wandlungen unterworfen, für das Auge des Kenners sah ein Türke aus Harun al Raschids Zeiten ganz anders aus als ein heutiger – von den heutigen Jungtürken im schwarzen Gehrock ganz abgesehen – und auch für den Unkundigen zeigte sich das besonders an den verschieden geformten Stiefeln, Schuhen und Pantoffeln.

Das war ganz offenbar eine Sammlung von historischen Kleidungsstücken! Nur herrschte keine Ordnung, alles lag bunt durcheinander, auf der einen Seite bis an die Decke aufgetürmt, an der hinteren Wand bis zur Hälfte der Höhe, und der rote Pantoffel mit der Schnabelspitze vertrug sich mit dem grünen Turban des Hadschi, der in Mekka am Grabe des Propheten gebetet hat.

Nobody wählte als Lager die hintere Seite, kletterte den Stapel hinauf, breitete einige zusammengeknaulte Kleidungsstücke aus, wickelte andere als Kopfkissen zusammen, wollte dieses gegen die Wand legen – und griff dabei in ein Loch, welches an der Wand durch ein Stück Tuch zufällig verdeckt war.

Wie Nobody in seinem Tagebuch wiederholt von sich selbst sagt, hatte jedes Loch für ihn eine ganz besondere Anziehungskraft. Es war jedenfalls nur eine kleine Ventilationsöffnung, aber er hätte unmöglich schlafen können, hätte er nicht zuvor dieses Loch untersucht, wenigstens den Arm hineingesteckt, und wenn der Kopf bis zu den Schultern hineinging, so auch diesen. Es ist ja auch schon zur Genüge erörtert worden, welche Vorliebe dieser Felsenmaulwurf, wie er sich selbst nannte, für Löcher und alles, was hohl war, besaß, diese Leidenschaft hatte er schon als Knabe gehabt, und dann später führte ihn das Schicksal auch immer dahin, wo es irgend etwas Hohles zu untersuchen gab, sei es ein natürlicher Felsen mit Höhlen oder ein Gebäude mit Tunnels, sei es über oder unter der Erde, sogar bis auf den Meeresgrund ging es deswegen hinab.

Nobody hatte also nichts Eiligeres zu tun, als das verdeckende Tuch wegzunehmen. Das Loch war gar nicht so klein, Nobody konnte sogar – o welche Wonne! – seinen ganzen Kopf hineinstecken!

Ehe er dies aber tat, leuchtete er erst einmal mit einem Blendstrahl hinein.

»Drei Meter tief, dann hört es auf. Ja, wozu ist dieses Loch aber da? Irgendeinen Zweck muß doch jedes Loch haben! Ei der Deiwel, da muß ich doch einmal hinein, das muß ich untersuchen, ich muß wissen, wozu dieses Loch in der Wand ist!«

Jetzt also steckte er schleunigst, um das Versäumte nachzuholen, seinen Kopf in die Mündung des runden Kanals. Wo aber Nobodys Kopf hineinpaßte, da gingen auch seine Schultern hinein, obgleich der athletisch gebaute Nobody Schultern besaß, deren sich vielleicht Atlas nicht geschämt hätte, der nach der griechischen Mythologie bekanntlich die ganze Erde auf seinen Schultern trug. Aber derselbe athletisch gebaute Nobody konnte ja, wenn er wollte, sich auch als dekolletierte Dame präsentieren, und zwar, wenn es gewünscht wurde, als reizende Chansonette, denn dieselbe Beweglichkeit wie seine Gesichtszüge besaß sein ganzer Körper, und so konnte er auch seine Schultern herunterrutschen lassen, wie der Elefant seine Nase, bei ihm Rüssel genannt, bewegen kann.

Nobody klappte also seine wohlproportionierte Gestalt zum Lineal zusammen und schob sich hinein in seine Sehnsucht, in das Loch. Es soll ja nicht gerade gesagt werden, daß sein Kopf nur so eben in die Oeffnung hineingegangen wäre – nein, das wäre etwas zu viel behauptet. Jedenfalls aber machte ihm das kein anderer nach, höchstens ein indischer Gaukler, mehr Schlange denn Mensch, der sich von zarten Kindesbeinen an für diese Kriecherei speziell ausgebildet hatte.

Wie er eigentlich vorwärts kam, auf welche Weise er sich bewegte, das kann nicht beschrieben werden. Mehr Regenwurm als Schlange. Er zog sich zusammen, zog sich wieder auseinander, und dann war er wieder ein Stückchen vorwärts gekommen. Als er erst die Füße mit hinein hatte, ging es bedeutend leichter, da wirkten die Zehen als schiebende Hebel.

Hierbei sei noch einmal des Tarngewandes Erwähnung getan, damit der Leser nicht fürchtet, dasselbe könne während dieser Rutschpartie in Trümmer gehen.

Nobody wußte von dem Wesen dieses unsichtbar machenden Gewebes jetzt so viel wie zuerst – gar nichts. Aber seine äußerlichen Eigenschaften hatte er inzwischen näher geprüft, besonders seine Haltbarkeit, und dabei hatte er wiederum Erstaunliches entdeckt.

Das spinnenartige Gewebe konnte natürlich mit Leichtigkeit mit der Schere, mit dem Messer zerschnitten, auch mit der Hand zerrissen werden – vorausgesetzt, daß man mit dem Zerreißen an einer Kante anfing. Sonst, wenn man damit in der Mitte anfangen wollte, war es unzerreißbar wie ein zusammengelegter Papierbogen, und auch in seiner sonstigen Festigkeit ähnelte es ganz dem besten Papier, wie es nur die Japaner herzustellen wissen.

Der Leser wird hierin keinen Widerspruch finden. Bekanntlich kann zusammengepreßtes Papier nur mit dem Diamanten bearbeitet werden, oder mit Schleifsteinen, welche in der Sekunde die denkbar größte Anzahl Umdrehungen machen.

So diamantenhart war auch dieses unsichtbare, schmiegsame Spinnengewebe. Nobody hatte es am Schleifstein ausprobiert. Er konnte sein ganzes Leben lang auf dem Bauche rutschen, da nützte sich nichts ab, so wenig wie unten die geschlossenen Hosenbeine, die also gleich die Stelle von Strümpfen vertraten.

Nobody hatte natürlich die Arme ausgestreckt, und jetzt fühlten seine Hände eine Kante, einen Absatz in dem Mauerwerk, an den er sich klammern und so sich schnellstens vorwärtsziehen konnte.

Seine erste Ansicht, der Schacht sei hinten geschlossen, war ein Irrtum gewesen. Das hatte er im Scheine des Blendlichtes nicht unterscheiden können.

Dieser Schacht lief vielmehr in einen zweiten hinein, der von der Seite kam, niedriger und auch höher, so daß sich Nobody, als er erst einmal drin war, hinknien konnte.

Und war das dort rechts nicht ein Lichtschein? Wahrhaftig, ein Licht! Und das konnte jetzt überhaupt nur künstliches sein, das heißt, das Licht einer Lampe.

Also wohnte doch auch hier oben in der Spuketage jemand? Ja, und war denn hier nicht rechts gleich nebenan das Sterbezimmer des Sultans?

Es läßt sich denken, von welcher Erregung Nobody befallen wurde. Da verlöschte das Licht wieder, die schwärzeste Finsternis starrte ihm entgegen. Doch er kroch weiter und betastete nach kurzer Zeit den Rand des Schachtes, der nur in der Außenmauer angebracht sein konnte.

Als er den Kopf hinaussteckte, hatte er das bestimmte Gefühl, in ein geräumiges Zimmer zu blicken. Außerdem war der Sinn für Entfernungen und Ortsverhältnisse bei diesem Detektiven, der keine Treppe hinaufsteigen konnte, ohne die Stufen zu zählen, dermaßen entwickelt, daß er mit mathematischer Genauigkeit hätte bestimmen können, wie hier nichts anderes als jenes vermauerte Spukzimmer beginnen konnte. Er hatte eben selbst während dieses Rutschens und Kriechens immer die Entfernung berechnen können, die ihn von dem Spukzimmer noch trennte.

Was für ein Licht war das gewesen? Es sollte nicht wiederkommen, und Nobody durfte nicht wagen, seine Blendlaterne in Tätigkeit zu setzen, um das Dunkel zu lüften. Es konnte sich doch jemand darin befinden, denn irgendein Mensch mußte vorhin das Licht doch erst erzeugt haben.

Wohl eine Viertelstunde verging. Nichts regte sich. Da plötzlich wurde der Raum von einem fahlen Lichte erfüllt, und dieses blieb andauernd.

Nobody, frei von allem Gespensterglauben, steckte vergebens den Kopf weiter aus der Öffnung heraus, um sich nach der Quelle dieses eigentümlichen Lichtes, das einen Schein ins Grünliche hatte, umzusehen. Er konnte die Quelle nicht erblicken. Das weißgrüne Licht war da, erfüllte den ganzen Raum, ohne scheinbar von irgendwo auszugehen.

Da es nun einmal so war, hielt sich Nobody auch nicht mit Kalkulationen auf, sondern er benutzte die Beleuchtung, um sich gründlich in dem Raume umzusehen.

Es war ein schmales, langgestrecktes Zimmer, und dort war ja auch die vermauerte Tür! Ebenso konnte man noch erkennen, daß hier einst zwei Fenster gewesen, jetzt ebenfalls vermauert.

Eine türkische Bibliothek! Türkisch oder überhaupt orientalisch insofern, als in den Wandregalen keine Bücher standen, sondern Rollen lagen, aus Pergament oder Seidenstoff, jede mit einer grünen Schnur zusammengebunden, daranhängend ein Pergamentstreifen, auf welchem der Titel stand.

Gleich links vor Nobodys Nase hing solch ein Streifen, mit arabischen Schriftzeichen bedeckt, und Nobody übersetzte:

»Brief Mohammeds des Propheten an die aufrührerischen Assassinen,

Oho!!! Wenn das wirklich das Original war, woran Nobody nicht zweifelte, wieviel würde wohl das britische Museum dafür zahlen? Und so ein reicher englischer Bibliophile oder schon mehr Bibliomanist, kein Bücherfreund, sondern schon mehr Bücherwahnsinniger, hätte nun gar für so etwas gleich sein halbes Vermögen geopfert.

Auch rechts von ihm war solch ein Pergamentstreifen sichtbar.

»Die Wanderungen Haluns des Weisen durch Palästina im Jahre 593–589 vor der Hedschra.«

Eine heilige Ehrfurcht erfüllte Nobody.

Hedschra heißt die Flucht – und im besonderen wird darunter verstanden die Flucht Mohammeds aus Mekka vor seinen Feinden, am 15. Juli 622 nach Christi Geburt. Mit diesem Tage beginnen die Mohammedaner ihre Zeitrechnung.

So war Halun der Weise also ein Zeitgenosse von Jesus Christus gewesen, hatte sich in Palästina gerade während dessen Wirkens- und Leidensperiode aufgehalten, und daß diese den Hauptinhalt des Manuskriptes bildete, das war doch ganz selbstverständlich; für Juden und Römer war damals die Hauptsache doch die politische Rolle, welche Christus spielte oder die man ihn doch spielen lassen wollte, und nun hier ein arabischer Historiker, den man den Weisen nannte, also ein ganz anderer Geschichtsschreiber als ein jüdischer Fischer oder Teppichweber, alles mit unparteiischen Augen betrachtet – die Bedeutung und der Wert dieses Manuskriptes waren ja gar nicht zu taxieren!

Der Kislar-Aga hatte nichts von einer Bibliothek gesagt. Wußte er nichts davon? Allerdings sind zwei Jahrhunderte eine lange Zeit, und der Eunuche hatte kein Interesse für so etwas. Aber vergessen konnte dieser Manuskriptenschatz unmöglich sein. Er lag nur brach, niemand wagte sich in diesen Raum, weil es darin spukte. Man hatte, als das Sterbezimmer zugemauert wurde, sich nicht einmal Zeit gelassen, die Manuskripte erst herauszunehmen.

Sonst enthielt das Gemach nichts weiter als einige Polster. Besonders auf und neben dem einen lagen einige Rollen zum Teil geöffnet. Auf diesem Polster beim Lesen von Pergamenten war Sultan Achmed Köprili jedenfalls vom Schlage getroffen worden.

Wenn Nobody nur gewußt hätte, woher dieses eigentümliche, geisterhafte Licht kam! Er mußte doch einmal weiter ...

Da plötzlich verlöschte das Licht abermals, und da bekam Nobody etwas zu hören und zu sehen, was doch etwas zu viel auch für seine Nerven war!

Völlig finster war es noch nicht, das schien nur so im Gegensatz zu vorhin. Ein schwacher Dämmerschein herrschte noch immer, so konnte Nobody z. B. noch die Umrisse der Wandregale erkennen, wozu allerdings seine Luchsaugen gehörten.

Da mit einem Male zitterte durch den Raum ein Seufzer, ein ächzendes Stöhnen folgte, und aus der gegenüberliegenden Wand, aus den Regalen heraus trat eine weißleuchtende Gestalt.

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Nobody gesteht ganz offen, daß sich vor Entsetzen seine Haare gesträubt haben. Doch lange währte dies nicht. Nobody dachte über Gespenster und dergleichen sehr vernünftig. Er war schon manchem Geiste begegnet, aber noch immer hatte er alles auf natürliche Weise zu erklären gewußt, meistenteils handgreiflich. An Geister konnte Nobody also nicht glauben. Aber er war bereit, daran zu glauben, wenn er davon überzeugt wurde. Doch wenn dies wirklich einmal geschah, dann war er noch lange nicht willig, einem Geiste das Feld zu räumen.

»Die Erde gehört dem lebendigen Menschen, Geister haben darauf nichts zu suchen, und wenn sie es tun, so begeben sie sich auf ein fremdes Gebiet, sie begehen Landfriedensbruch, und dann muß der Mensch gegen sie kämpfen, und wer siegen will, der muß zuerst den Charakter und die Kampfweise seines Feindes studieren. Ruhig Blut, Alfred – Prügel hast du schon als Junge oft genug bekommen, aber ausgerissen bist du niemals – ausreißen gibt's nicht!«

Mit dieser Betrachtung, die sich mancher hinter die Ohren schreiben sollte, hatte Nobody schnell seine völlige Ruhe wiedergefunden. Er betrachtete die Erscheinung mit demselben Interesse wie einen originellen Menschen, der ihm zum ersten Male in den Weg lief. War es ein Geist – gut, dann wurde das Wesen dieses Geistes gründlich studiert.

Ja, und ein Mensch aus Fleisch und Blut war das nicht! Dort in der Wand war keine Öffnung entstanden, die Regale hatten sich nicht beiseite geschoben oder so etwas Ähnliches, das hatte Nobody nun ganz deutlich beobachtet! Die Erscheinung war ›ganz einfach‹ direkt aus der Wand oder aus den mit Rollen vollgepropften Regalen herausgetreten.

Auch sonst hatte die Erscheinung nichts Menschliches, nichts Irdisches an sich. Doch erst sei ihr Äußeres beschrieben.

Es war ein Mann, ein hochgewachsener Türke mittleren Alters, mit schönen, edlen, aber finsteren Zügen, zwischen den Augen eine tiefe Falte des Zorns, quer über das Gesicht eine furchtbare Narbe, der langherabhängende Schnurrbart unter der Adlernase dem Ganzen noch mehr den Ausdruck von trotziger, vor nichts zurückschreckender Kühnheit gebend.

Prächtig gekleidet, trug er im Gürtel nur einen krummen Dolch, der von Diamanten starrte. Doch hierzu gehörte das Auge dieses Detektivs, um das alles beurteilen zu können.

Es war eben alles ganz geisterhaft. Gewiß, der Dolch war mit Diamanten besetzt, aber diese leuchteten nicht. Das Kostüm war aus bunten Stoffen zusammengesetzt, aber alles strahlte ein grünlichweißes Licht aus, so daß es zuerst farblos erschien. Wie das gemeint ist, kann man sich wohl leicht vorstellen.

Geisterhaft war nun erst recht das Gesicht, fahl wie der Tod, und noch mehr galt das von den Augen, welche wie feurige Kohlen funkelten und dennoch glanzlos ins Leere stierten.

Ebenso schwer sind die Bewegungen zu beschreiben. Das war kein Gehen, das war auch nicht gerade ein Schweben, sondern das war ... jedenfalls waren es nicht die Bewegungen eines Menschen von Fleisch und Blut, so etwas konnte sich auch kein lebendiger Mensch einüben, und hätte er in den Beinen auch die Elastizität einer Primaballerina gehabt. Gegen diesen Geist wäre sie ein Holzstock gewesen.

Und daß es wirklich nur ein Phantom war, konnte Nobody sogleich ganz deutlich beobachten. In der Mitte des Gemaches stand ein Diwan, und die Erscheinung ging, ohne einen der diamantenbesetzten Schnabelschuhe zu heben, durch denselben hindurch, wie ein Sonnenstrahl im dunklen Zimmer durch eine Glasscheibe geht.

So schwebte die leuchtende Gestalt, immer seufzend und stöhnend, in dem Gemache auf und ab, blieb auch einmal vor einem Regale stehen und griff nach einer Pergamentrolle, um sie herauszunehmen.

Hierbei aber zeigte sich deutlich, daß dies tatsächlich ein wesenloser Geist war, mit dem sich Nobody in seiner Unsichtbarkeit nicht vergleichen konnte.

Es blieb immer nur bei dem Versuche, die Rolle herausnehmen zu wollen. Die Hände faßten nichts, sie drangen in die Substanz hinein, sie bestanden eben aus keiner Materie.

Jetzt schwebte der seufzende Geist nach dem in der Mitte stehenden Diwan zurück, um sich daraufzulegen. Damit hatte es seine Schwierigkeiten. Er rutschte gewissermaßen immer durch, sein ätherischer Leib durchdrang das Polster.

Schließlich aber war es ihm doch gelungen, sich so daraufzulegen, wie sich auch ein Mensch von Fleisch und Blut daraufgelegt hätte, und so lag er langausgestreckt darauf, den einen Ellbogen auf das Polster gestemmt, das beturbante Haupt in die Hand gestützt und ... blickte mit seinen glanzlosen Augen starr gerade dorthin, wo Nobodys Kopf aus der Öffnung schaute.

Wieder gesteht Nobody ganz offen, daß es ihm eiskalt den Rücken hinabgerieselt sei, als diese geisterhaften Augen ihn so unverwandt anstarrten. Und nun dieses entsetzliche Ächzen dazu!

Doch wiederum währte das nicht lange. Da bekam Nobody eine Idee, würdig eines Forschers, dessen Wißbegier überhaupt vor nichts zurückschreckt – wie z. B. Goethe seinen Faust charakterisiert, der den hinter dem Ofen hervorkriechenden Teufel mit der größten Freude als längstersehnten Besuch begrüßt, und wie in unserem Zeitalter die furchtlosesten Helden doch wohl die Forschungsreisenden sind, die sich aus Liebe zur Wissenschaft in Gefahren begeben, denen jeder vernünftige Mensch doch eigentlich aus dem Wege geht.

»Ob der Geist mich unter der Tarnkappe wohl sehen kann?«

Das war die Frage, welche Nobody aufwarf, welche er unbedingt lösen mußte, und hätte es seine Seligkeit gekostet, und sofort begann er, aus der Öffnung zu schlüpfen und geräuschlos an dem nächsten Regal hinabzuklettern.

Dabei ist zu bedenken, daß Nobody auf dem Punkte stand, daran zu glauben, daß es verstorbene Seelen gibt, welche auf der Erde noch umherwandeln müssen, zeitweilig sichtbar werden.

Was sollte er auch anders denken? Für diese Erscheinung gab es gar keine andere Erklärung! Da konnte man nicht eine versteckte zzzttyyy Laterna magicazzz/ttyyy oder dergleichen vermuten. Vor allen Dingen nämlich gehörten der Ätherleib und die Stimme zusammen, das Seufzen und Stöhnen kam direkt aus dem etwas geöffneten Munde des Geistes, das konnte Nobody ganz, ganz deutlich unterscheiden!

Und trotzdem verließ Nobody sein Versteck, er ging dem Geiste zu Leibe!

Nein, die starren Augen konnten ihn nicht sehen. Denn Nobody wendete sich seitwärts, aber die Geisteraugen folgten nicht seinen Bewegungen, sie blieben auf die Öffnung an der Wand gerichtet.

Nobody näherte sich ihm von hinten. Was war das? Eben eine weißliche Lichtgestalt. Er griff hinein, griff durch sie hindurch – genierte den Geist gar nicht, ebensowenig, wenn Nobody dasselbe Experiment von vorn machte.

»Nun brate mir aber einer 'nen Storch!«

Was nun, wenn sich Nobody für das menschliche Auge sichtbar machte, ob ihn dann das Geisterauge sah?

Schon war Nobody entschlossen, sich des Tarngewandes zu entledigen, als plötzlich mit einem Zuck die Lichterscheinung verschwunden war, völlige Finsternis herrschte in dem Raume, daß man auch nicht mehr die Hand vorm Auge sehen konnte.

Und Nobody? Der stand in der Finsternis, und wir wollen diese durchdringen können, um den eigentümlichen Ausdruck zu erkennen, der sich in seinem Antlitz widerspiegelte, und dann verwandelte sich der Ausdruck des spannenden Staunens in ein spöttisches Lächeln, und dann schien es, als hätte er gar zu gern laut aufgelacht. Aber er beherrschte sich.

»Aha, also das ist des Pudels Kern!!«

Er sagte es nicht, flüsterte es nicht – davor hütete er sich. Er dachte es nur.

Ja, er hatte sich diese Geistererscheinung im letzten Augenblick doch noch auf natürliche Weise zu erklären gewußt, das Verschwinden des Spuks hatte ihn die Wahrheit erkennen lassen! Und sein innerliches Lachen verwandelte sich in Scham über sich selbst, daß er bald an Gespenster geglaubt hätte! Doch auch dies währte bei ihm nicht lange an.

»Auf Wiedersehen, mein lieber Geist, du ruhelose Seele des Sultans Achmed Köprili – und hoffentlich nicht erst draußen auf dem Korridor, wenn du bei Neumond durch die Wand trittst, sondern schon hier drinnen, wo du ja zu jeder Zeit herumspuken darfst!«

An eine weitere Untersuchung des Zimmers ging Nobody jetzt nicht, so nötig diese auch war. Er hatte seinen guten Grund dazu, solch eine eingehende Untersuchung bis später aufzuschieben, da mußte er sich erst noch über verschiedenes andere orientieren. Er trat sofort den Rückweg an, schlüpfte in sein Loch, so geräuschlos, wie er gekommen, und fünf Minuten später lag er weichgebettet in der Kleiderkammer und schlief den Schlaf des Gerechten, ohne daß Geister ihn im Traume geängstigt hätten.


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