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4. Wladimir Zwanowitsch.

»Ei, verflucht!« brummte Lord Hannibal Roger, als sein Freund Alfred ihn wirklich verlassen hatte, um nach den verschwundenen amerikanischen Goldfeldern zu suchen. »Das kommt davon, wenn man sich mit einem derartigen Menschen einläßt, der in aller Welt bekannt ist und den doch jeder für einen andern hält! Ich möchte wahrhaftig wissen, als was er dort in Kalifornien wieder auftritt!«

Der edle Lord schritt mehrmals in dem vornehm ausgestatteten Hotelzimmer auf und ab. In seinem Aeußern deutete nichts darauf hin, daß er erregter war als sonst oder gar ungehalten, aber in Wirklichkeit war das doch der Fall, wenn auch nur für kurze Zeit. Nicht daß Nobody ihn so ganz plötzlich verlassen hatte, kränkte Roger, denn das brachte der Detektivberuf so mit sich, sondern, daß Alfred ihm keine Anweisungen für die Zeit seiner Abwesenheit erteilt hatte. So sehr war also selbst dieser willenskräftige Engländer, für den es sonst nichts Unmögliches gab, durch Nobody beeinflußt worden, daß er nichts ohne ihn tun wollte. Lord Roger wußte eben bereits, wie sein Freund alle Pläne, die er auszuführen gedachte, bis in die kleinste Einzelheit im voraus erwogen hatte; gebunden erachtete er sich allerdings dadurch niemals.

»In Petersburg bin ich nun einmal,« fuhr Lord Roger in seinem Selbstgespräch fort, »und hergekommen bin ich wegen dieser Anita Urlewsky, die uns zu dem russischen Kriegsplan, betreffend die Mandschurei, verhelfen sollte. Hm, ich meine, da wäre es nicht so ganz dumm und auch nicht zwecklos, wenn ich diese Dame wenigstens kennen lernte. Ihren Lebenslauf hat mir Alfred in groben Zügen bereits geschildert, und es lockt mich, ein Weib zu sehen, das um des Gatten willen, den man in die Verbannung schickte, sogar die eigne Ehre opferte und doch nichts erreichte. Ich glaube, diese Gräfin ist die einzige Frau, die mir imponieren kann.«

Lord Roger trat an eins der Fenster und schaute hinunter auf die Straße, ohne jedoch das Treiben dort zu sehen. Er war noch mit seinen Gedanken beschäftigt. Doch plötzlich ward er aus denselben aufgeschreckt. Ein mit den in Rußland üblichen drei Pferden bespanntes Geschirr kam in voller Karriere daher, aber der dicke Kutscher parierte die Rosse trotzdem mit bewundernswerter Kunst unmittelbar vor dem Portal des Hotels.

Der Türsteher und mehrere Kellner eilten dienstbeflissen herbei und verbeugten sich tief vor der aussteigenden Dame, deren kostbare, elegante Toilette sie als Angehörige der vornehmen Gesellschaftsklasse kennzeichnete. Ihr Gesicht konnte der Lord nicht erblicken, weil es durch einen dichten Schleier verhüllt war, aber der Engländer war Frauenkenner und merkte sofort, daß die Unbekannte herrlich gewachsen war. Wenn das Antlitz dieser Figur entsprach, dann war sie eine Schönheit ersten Ranges.

»Merkwürdig, daß mich dieses Weib überhaupt interessieren kann,« sagte Lord Roger zu sich selber, als die Dame seinen Blicken entschwunden war, und eben wollte er sich wieder dem Problem zuwenden, das er ohne Nobodys Hilfe zu lösen gedachte, da ward diskret an die Zimmertür geklopft, und auf ›Entrez!‹ des Lords hin erschien ein Kellner vor diesem, entschuldigte sich demütig, daß er sich selbst Eintritt verschafft habe, es sei kein Diener mehr im Vorzimmer.

»Was gibt's?« unterbrach Roger den Redeschwall des Befrackten.

»Eine Dame wünscht Ew. Herrlichkeit zu sprechen und läßt um Gewährung einer Unterredung bitten!«

»Sie ist eben erst vorgefahren?«

»In der Tat! Ew. Herrlichkeit –«

»Wer ist sie? Wie nennt sie sich?« fragte der Lord.

»Verzeihung! Ihren Namen wollte sie nicht nennen.«

»So empfange ich sie nicht!«

»O – ach – bitte ergebenst – Ew. Herrlichkeit kennen sie nicht,« stammelte der Kellner.

»Richtig, und deswegen existiert sie nicht für mich,« entgegnete der Lord, sich wieder dem Fenster zuwendend, zum Zeichen, daß die Sache für ihn erledigt sei. Er handelte ja ganz korrekt, wenigstens den Anschauungen seiner Nation entsprechend. Ein echter Engländer verkehrt nur mit Leuten, die ihm in aller Form vorgestellt sind. Für andre hat er auch nicht ein Wort. Bei diesem Lord aber kam noch seine Weiberfeindschaft, oder besser, seine Weiberverachtung hinzu.

Der Kellner jedoch ging nicht. Er wand sich vor Verlegenheit wie ein getretener Wurm, endlich aber schien er doch einen Weg gefunden zu haben, der Dame zu der gewünschten Unterredung zu verhelfen.

»Ew. Herrlichkeit –« begann er.

Hoheitsvoll wendete Lord Roger sich ihm zu.

»Sie sind noch hier?«

Der Mann knickte noch mehr als bisher in den Knien zusammen.

»Die Dame – chch – die Angelegenheit sei sehr dringlich, sagte sie –«

»Wer?«

»Sie – die – nun, wenn Ew. Herrlichkeit mir Diskretion –«

»Bah! Gehn Sie!«

Hannibal wendete sich bereits wieder dem Fenster zu, da raffte der befrackte Ganymed all seinen Mut zusammen.

»Es ist die Gräfin Urlewsky!« stieß er hervor, aber wenn er sich von der Nennung dieses Namens eine besondere Ueberraschung versprochen hatte, dann hatte er sich geirrt, oder er hatte nicht mit dem Phlegma des Engländers gerechnet.

Ohne zu verraten, daß er gerade wegen dieser Dame nach Petersburg gekommen und eben im Begriff gewesen war, sie aufzusuchen, ohne das geringste Erstaunen darüber zu zeigen, daß sie von seiner Ankunft bereits wußte und selber zu ihm kam, fragte der Lord:

»Warum nannten Sie diesen Namen nicht gleich?«

»Ew. Herrlichkeit, sie hatte es mir verboten, nur für den äußersten Fall –«

»Lassen Sie die Gräfin doch nicht unnütz warten!« unterbrach ihn Roger, und der Kellner entfernte sich nun, insgeheim aber murmelte er vor sich hin: »Diese Engländer haben doch wahrhaftig alle einen Spleen, und bei dem rappelt's erst recht!«

Eine sonderbare, ihm selber unerklärliche Erregung hatte sich des Lords bemächtigt. Er wartete in höchster Spannung auf den Eintritt der Gräfin. Vielleicht war der gemeinsame Hang zu Abenteuern die Ursache dieses unvorhergesehenen Besuches. Die Urlewsky hatte von den Fahrten Lord Hannibal Rogers gehört, und da sie anscheinend die gesellschaftlichen Vorschriften mißachtete, kam sie einfach zu ihm, sobald sie seine Ankunft erfahren hatte.

Ah, das war faktisch eine Schönheit!

Die Tür hatte sich geöffnet. Die Dame, die eben vor dem Hotel vorgefahren war, war eingetreten, jetzt aber den Schleier gehoben und mit großen, nachtschwarzen Augen den englischen Aristokraten musternd.

Derselbe erkannte seinerseits auf den ersten Blick, daß dieser Frau die Furcht vor Menschen fremd war; aber er sah auch den schwermütigen Zug, den ein geheimer Kummer um ihren Mund gelegt hatte, dessen schwellende rote Lippen doch nur zum Küssen und Lachen geschaffen schienen. Die übrige Erscheinung der Gräfin entsprach dem Eindruck, den der Lord bereits von ihr empfangen hatte. Sie war so recht geeignet, Männerherzen in Brand zu setzen, und die Zahl ihrer Anbeter mochte Legion sein, trotzdem durchaus nichts Sinnliches in dem Wesen dieser Frau lag.

Auch Anita Urlewsky schien von dem Eindruck, den Roger auf sie machte, befriedigt. Das bewies sie dadurch, daß sie mit leichtem, vornehmen Neigen des Hauptes ihren Namen nannte. Dafür, daß der Lord sie empfangen, dankte sie ihm nicht. Das war selbstverständlich für sie gewesen.

Die beiden hatten einander gegenüber Platz genommen, und der welterfahrene Engländer suchte noch nach einer einleitenden Phrase, da begann die Dame selbst das Gespräch, nicht etwa mit einer Entschuldigung, daß sie ihn ohne Begleitung in seiner Hotelwohnung aufsuchte.

»Ich habe eine Frage an Ew. Herrlichkeit zu richten,« sagte sie, dabei ihre Augen nicht von seinem Gesicht verwendend. »Sie kennen meinen Ruf und meine Schicksale?«

Lord Roger verbeugte sich schweigend.

»Wem verdanken Sie diese Kenntnis?« forschte die melodische Stimme weiter.

»Dem – einem Freunde!«

»Dem Kapitän Flederwisch!« behauptete Anita.

Der Lord stutzte einen Moment, doch dann sagte er sich sofort, daß es ja allgemein bekannt sei, daß er mit Nobody und Flederwisch zusammen die Ausrottung der chinesischen Seeräuber anstrebe. Die Kunde davon mußte namentlich in Rußland hohes und berechtigtes Aufsehen erregt haben, und vermöge ihrer Beziehungen zu allerlei politisch hervorragenden Männern mußte die Gräfin ganz genau über die Zwecke und Erfolge dieses Dreibundes orientiert sein.

»Jawohl,« entgegnete Hannibal Roger daher ohne Umschweife, »der Kapitän Flederwisch erzählte mir von Ihnen!«

Daß es in Wahrheit Nobody gewesen war, brauchte sie nicht zu wissen.

»Der Kapitän ist Ihr Freund?«

»Gewiß! Ich schätze mir dies als eine Ehre!«

Einen Moment ruhten die Blicke Anitas zweifelnd auf dem Sprecher, sofort aber schwand ihr Argwohn. Der Lord sagte die Wahrheit.

»Stehn Sie mit dem Kapitän in Verbindung?« fragte sie.

»Vorläufig nicht.«

»Sie können aber durch den Telegraphen mit ihm verkehren?«

»Wenn ein triftiger Grund vorliegt.«

»Das ist der Fall. Sie müssen den Kapitän sofort nach Petersburg rufen!«

Die Gräfin sprach diese Forderung so entschieden aus, als hätte sie ein gutes Recht dazu.

»Er wird nicht fort können!«

»Warum nicht?«

»Weil – er ist allein auf den Inseln geblieben.«

»Ah!« entfuhr es der Gräfin. »Auch Nobody ist mit hier?«

»Nanu!« dachte der Lord. »Weiß denn die alles?«

Laut aber sagte er:

»Das ist Geheimnis!«

Anita Urlewsky nickte, sann schweigend eine Weile nach und murmelte endlich mit halblauter Stimme zu sich selber gewendet:

»Er könnte mir vielleicht, nein, ganz entschieden noch eher helfen als Flederwisch! Diesem Detektiv ist noch nichts mißlungen, was er einmal unternahm. Doch nein! Er würde alles bis in die kleinste Einzelheit in seiner Zeitung, in ›Worlds Magazine‹, veröffentlichen, und das darf nicht sein! Derartige Enthüllungen sind unmöglich!«

Lord Roger wartete gespannt auf die weitere Entwicklung der Dinge.

»Sie verstehn mich nicht,« begann da die schöne Gräfin wieder, »und ich kann Ihnen keine nähern Erklärungen geben, ich darf Ihnen nur sagen, daß mein Gatte jetzt um jeden Preis befreit werden muß, falls ich ihn überhaupt noch lebend wiedersehen will, und das muß ich! Sein Geheimnis darf nicht mit ihm verscharrt werden!«

»Ein Geheimnis?« fragte der Lord.

Anita Urlewsky achtete nicht auf diese Unterbrechung. Sie fuhr fort:

»Kapitän Flederwisch ist ein alter Freund von mir. Er hat schon einmal sein eignes Leben für mich, für meine Ehre eingesetzt. Ihm allein kann und will ich auch die Rettung meines unglücklichen Gatten anvertrauen! Wie ein Fingerzeig Gottes erschien es mir, daß Sie nach Petersburg gekommen sind. Sie, der Freund meines Freundes. Ich eilte sofort zu Ihnen und –« in plötzlicher Erregung sprang die schöne Frau auf und warf sich vor dem Manne auf die Knie – »Lord Roger, Sie sind ein Gentleman! Helfen Sie einem armen, schwachen Weibe, dessen Kräfte in jahrelangem, vergeblichem Ringen sich verzehrten. Rufen Sie sofort den Kapitän Flederwisch hierher – in meinem Namen! Er wird nicht eine Sekunde zögern, ich weiß es!«

Die dunklen Augen der Gräfin füllten sich mit Tränen, und in einer Gemütsstimmung, die ihm bisher fremd gewesen, hob Lord Roger die Kniende sanft empor.

»Seien Sie getrost, arme Frau! Sie sollen uns nicht umsonst vertraut haben!«

»Sie telegraphieren sofort?« stieß sie freudestrahlend hervor.

»Nein!« entgegnete er jedoch.

Anita erbleichte.

»Nicht?« hauchte sie tonlos.

»Nein, telegraphieren werde ich nicht, denn Flederwisch kann nicht fort, kann die Inseln nicht verlassen, die einzig seiner Obhut anvertraut sind. Es handelt sich um Hunderte von Menschenleben, die vernichtet werden könnten, wenn er seinen Posten verließe, um Ihrem Rufe zu folgen! Er kann nicht fort!«

Die Gräfin rang verzweiflungsvoll die weißen Hände, doch schon fuhr Roger fort:

»Ich bin nicht ermächtigt, Ihnen zu sagen, was mich hierher führte. Mein Freund Alfred, der Detektiv Nobody, den Sie vorhin erwähnten, war ebenfalls in Petersburg, aber durch einen Zufall hat sich der Zweck meiner Anwesenheit erledigt. Auch ich sehe darin einen Fingerzeig Gottes. Gräfin, ich werde noch heute, noch in dieser Stunde zurückreisen und meinen Freund Flederwisch vertreten, bis er oder Nobody mich wieder ablösen kann. Ich will ihn herschicken, und er wird gern kommen. Nur eine Frage erlauben Sie mir noch. Ich kann Ihren unglücklichen Gatten nicht befreien?«

Anita Urlewsky schaute den Lord nachdenklich an.

»Nein,« erwiderte sie nach kurzem Schweigen, »Sie können es nicht, denn Sie sind ein Glied der hohen englischen Aristokratie und dürfen sich nicht in politische Konspirationen einlassen. Das könnte zu Verwicklungen zwischen England und Rußland führen, und dies möchte ich vermeiden! Die Wohlfahrt zweier Völker soll um eines einzelnen willen nicht in Mitleidenschaft gezogen, nicht gefährdet werden, auch wenn er mein Gatte ist. Hilft mir aber Kapitän Flederwisch, dann ist nichts derartiges zu befürchten!«

»All right! Ich muß Ihre Einwände anerkennen,« versetzte der Lord. »Sie haben recht. Ich werde also meinen Freund senden. Doch ich –« Er brach ab.

Er hatte sagen wollen:

»Ich bitte zu bedenken, daß er erst seit kurzem verheiratet, daß seine Frau eine russische Fürstentochter ist –« Nein, das ging nicht, dann hätte die Gräfin Flederwischs Hilfe nicht mehr gefordert, und geholfen mußte ihr werden. Sie verdiente es.

Anita Urlewsky wartete, daß der Lord fortfahren sollte. Das geschah nicht, und so fragte sie:

»Was wünschen Sie von mir?«

»Ich wollte bitten, diese Unterredung als beendet betrachten zu dürfen,« wich er geschickt aus. »Die Zeit ist kostbar. Wir dürfen keine Minute ungenützt verstreichen lassen.«

Da reichte ihm die Gräfin wortlos die Hand, und der stolze, steifnackige Lord beugte sich vor der einstigen Kunstreiterin, vor der berüchtigten Abenteurerin, und küßte ihre Fingerspitzen.

Eine Sekunde darauf war er wieder allein, und nun fuhr er sich mit der Rechten über die Stirn. Aber er hatte nicht geträumt. Das diskrete Parfüm, welches das Zimmer erfüllte, bewies ihm, daß die Gräfin tatsächlich bei ihm gewesen war, und nachdem er den Kellner wegen der Zugverbindungen befragt und die Rechnung beglichen, bestieg Lord Roger die vor dem Hotel wartende Troika und fuhr nach dem Bahnhof. Hier gab er nur noch eine Depesche auf, und als er das Telegraphenbureau verließ, fauchte und rasselte schon der Eilzug in die Halle, der den englischen Aristokraten alsbald wieder dem fernen Osten zuführte.

 

Wie sich der geehrte Leser erinnern wird, ließ Nobody nach der Auffindung des geheimnisvollen Affenmenschen seine derzeitigen beiden Begleiter mit jenem allein, weil der undicht gewordene Luftballon kaum einen Menschen tragen konnte.

Erst voller Bewunderung, dann voller Begeisterung, endlich aber fast entsetzt, hatten August Hammer und der Ingenieur Mitchell beobachtet, wie Nobody mit dem halb entleerten Ballon die Höhe der Felswand zu gewinnen suchte, und wie er endlich, mit den Knien im Tauwerk hängend, die Gondel abschnitt und gleich darauf ihren Blicken entschwand.

»Er muß jenseits unbedingt ins Meer stürzen,« sagte Mitchell, als er wieder sprechen konnte.

»Natürlich,« entgegnete der dicke Hammer in größter Gemütsruhe.

»Mensch, das sagen Sie so phlegmatisch? Wenn er nun ertrinkt?«

»Das läßt er hübsch bleiben, und im übrigen werden Kapitän Flederwisch oder Mr. Zeel mittlerweile nicht blind geworden sein, daß sie den fallenden Ballon nicht bemerken. Sie fahren mit dem Dampfer hin und bringen Mr. Nobody mitsamt dem Ballon in Sicherheit.«

Der Engländer mußte das zugeben, aber nun kam er wieder auf etwas andres.

»Wir sitzen hier in einer schönen Falle,« knurrte er mißmutig.

»Mir gefällt's ganz gut,« versetzte August. »Ich will mir die Langeweile schon vertreiben. Kommen Sie, Mister, wir dürfen nicht faulenzen. Wenn der Herr uns abholt, wird er wissen wollen, wie dieser Affenmensch oder Menschenaffe auf dieses Eiland gekommen ist, und das festzustellen, dürfte uns einige Mühe kosten.«

»Ach was! Ich suche nicht mit.«

»'S ist eben ein Engländer,« dachte sich der Dicke. Dann nahm er sein Gewehr auf und ließ Mr. Mitchell einfach stehn. Der mochte sich mittlerweile mit dem gefesselten Wilden unterhalten.

Doch das war dem Ingenieur auch nicht recht.

»So warten Sie doch!« rief er August nach. »Ich komme ja schon!«

»Na, dann ein bißchen schnell!«

Sie ließen den einzigen menschlichen Bewohner dieses herrlichen Paradieses liegen und kehrten auf dem einmal gebahnten Pfade durch das hohe Gras und den dichten Wald einstweilen an den kleinern See zurück. August Hammer schritt voraus, und Nobody würde seine Freude an seinem Schützling gehabt haben, wenn er denselben jetzt hätte beobachten können. Der dumme August benahm sich wie ein erfahrner Pfadfinder, dessen scharfen Augen nichts entgeht.

Wieder staunten die beiden über diese Märchenwelt, in die sie wie durch ein Wunder versetzt waren, über diese seltsamen Tiergattungen, und so umschritten sie noch einmal den ganzen See; aber sie fanden nichts, was ihnen über die Herkunft des Waldmenschen Aufschluß zu geben vermocht hätte.

Mittlerweile erwachte jedoch auch allmählich das Interesse des Ingenieurs, derselbe hatte seine momentane Verstimmung überwunden, und nun kam er August Hammers praktischer Einsicht mit wissenschaftlichem Rate zu Hilfe.

Noch einmal suchten beide die ganze Felsenumfassung der Insel durch. Sie fanden jedoch nirgends eine Unterbrechung, einen Durchlaß oder ein Felsentor, durch das der Waldmensch gekommen sein konnte, und nun erklärte auch Mr. Mitchell, daß dann nur der Luftballon übrigbleibe. Es galt demnach nur noch, dessen Ueberreste zu suchen. Verloren und ganz verschwunden konnten sie nicht sein, wenigstens nicht die Taue, das Netzwerk, von dem der Ballon umspannt gewesen war, ebensowenig die Gondel, die ja meist aus Weiden geflochten wird.

Ja, das war schneller gedacht und gesagt, als getan. Am ersten Tage ihrer Gefangenschaft auf der Insel entdeckten die beiden auch nicht das geringste, was ihre Annahme hätte bekräftigen können, und vergebens versuchte August dem Waldmenschen ein Wort zu entlocken. Er durfte demselben nicht einmal den Strick abnehmen, den Nobody ihm um den Unterkiefer geschlungen hatte, um ihn am Beißen zu hindern. Der Gefesselte funkelte seine Bändiger bei der geringsten Annäherung so grimmig mit den Augen an, daß diese ihn lieber in Ruhe ließen, natürlich nicht etwa aus Furcht.

Hammer hatte mehrere hasenähnliche Tiere geschossen, die allerdings recht klein waren, hatte dann ein Feuer angebrannt und briet seine Beute über demselben am Spieße, den er aus einem Akazienschößling zurechtgeschnitzt hatte. Mr. Mitchell rauchte seine kurze Pfeife, und dann schmausten beide mit bestem Appetit, dabei die Tiere beobachtend, die durch den Feuerschein angelockt wurden, den sie ganz sicher noch nie gesehen hatten. Der Waldmensch lag etwas abseits und hatte die Augen geschlossen, als wenn er schliefe. Keinesfalls schien er auf die Unterhaltung der beiden zu achten, vielleicht verstand er auch nur kein Englisch, dessen sie sich bedienten.

»Eine abwechselnde Nachtwache ist zwar nicht nötig, da es keine Raubtiere, wenigstens keine großen auf diesem Eilande gibt und wohl kein zweiter Waldmensch sich irgendwo versteckt hält, um sich auf uns zu stürzen, sobald wir schlafen,« sagte der Ingenieur, »aber etwas zu viel Vorsicht ist stets noch besser gewesen als etwas zu wenig.«

August Hammer stimmte dem zu und sagte noch:

»Das wäre ein Spaß, wenn der Kerl ein Weibchen hätte! Ei verflucht, das müßte eine Schönheit sein!«

Er lachte in seiner breiten, behaglichen Weise, untersuchte dann sein Gewehr, stopfte sich eine neue Pfeife, und während Mr. Mitchell bald einschlief, hatte der Organist alle Muße, seinen Gedanken nachzuhängen, die sich naturgemäß hauptsächlich um den Waldmenschen drehten und wie derselbe auf dieses Eiland gekommen sei. Ganz entschieden war er nicht freiwillig hier. Dagegen sprachen verschiedene Umstände, und zwar zunächst schon der, daß er allein war. Es konnte höchstens der einzige Ueberlebende von einem Schiffbruch sein; aber mehr Wahrscheinlichkeit hatte für August Hammer die Annahme, daß jener ein Flüchtling sei, der auf abenteuerliche Weise der Gefangenschaft entflohen war, in die er irgendwie bei Chinesen, Japanern oder Russen geraten war. Das Rätsel lag nur noch darin, wie er zu dem Luftballon gelangt war, denn der mußte doch immerhin einen beträchtlichen Kubikinhalt besessen haben und in der Westentasche konnte man ihn nicht verstecken.

Daß der Mann schon jahrelang hier hauste, vielleicht schon jahrzehntelang, war klar, denn sonst hätte er nicht so vollkommen verwildern und zum Tiere herabsinken können.

»Wie vermag man wohl den Unglücklichen wieder zum Bewußtsein seines Menschentumes zu bringen?« fragte sich August Hammer, während der Engländer neben ihm laut zu schnarchen begann. »Der Master wird es wohl verstehn, aber ich möchte ihm gern hierin zuvorkommen. Hm, wenn Nobody aus einem Menschen Geheimnisse herauslocken will, dann hypnotisiert er ihn, das wird er vermutlich mit dem da auch tun. Es käme also nur darauf an, festzustellen, ob der Waldmensch sich dazu eignet, denn in magnetischen Schlaf versetzen kann ich ihn ebenfalls!«

Dieser Gedanke erregte den ›Organisten‹ derart, daß er aufspringen und mehrmals um das Feuer schreiten mußte, um wieder ruhiger werden zu können. Dabei schaute er ganz zufällig nach dem Gefangnen und merkte zu seinem größten Erstaunen, daß dieser ihn ebenfalls betrachtete. Der Mensch schlief also nicht, sondern hatte sich nur aus irgend einem Grunde so gestellt.

»Ich probier's!« murmelte August Hammer entschlossen, und schon stand er bei dem Unbekannten, blickte fest in dessen Augen und bemerkte zu seiner freudigen Genugtuung, daß derselbe tatsächlich für die Hypnose empfänglich war. Bald war er durch diese in vollkommene Willenlosigkeit versetzt worden, und nachdem Hammer sich noch schnell überzeugt hatte, daß Mr. Mitchell fest schlief und daß auch sonst keine Störung zu befürchten war, richtete er mit halblauter Stimme an den Waldmenschen die Frage, die am nächsten lag:

»Wie heißt du, und was für ein Landsmann bist du?«

August hatte sich der englischen Sprache bedient, die ja nun einmal die meistverbreitete internationale Verkehrssprache ist, doch der Waldmensch antwortete ihm nicht, demnach verstand er kein Englisch. Da fragte August ihn dasselbe auf französisch, spanisch, deutsch und schwedisch – mit demselben negativen Ergebnis, und von den übrigen Kultursprachen kannte der Organist nicht ein einziges Wort. Trotzdem sann er darüber nach, welcher Nationalität der Gefangne angehören könne.

Ach, da blieb noch eine ganze Reihe von Möglichkeiten. Er konnte ein Russe sein, ebensogut aber auch ein Türke, ein Ungar, ein Grieche, ein Italiener und wer weiß was sonst noch. Ratlos kratzte August Hammer sich erst hinter dem rechten, dann hinter dem linken Ohre.

»Da war es also doch nichts,« brummte er endlich. »Ich muß es dem Master überlassen, festzustellen, was für ein Landsmann der Kerl ist. Ich bin zu dumm dazu. Na, aber den Luftballon will ich wenigstens finden. Dann bin ich doch nicht ganz ohne Zweck hiergeblieben.«

Zunächst ließ er sich wieder am Lagerfeuer nieder und sann über das Problem nach, das hier zu lösen war. Er kam zu keinem Resultat, und so löste er, kurz ehe er Mr. Mitchell weckte, den hypnotischen Bann von dem Waldmenschen, der jetzt aber wirklich schlief. Dann übernahm der Ingenieur die Wache, und der Rest der Nacht verging ungestört. Erst beim Frühstück, das aus den Ueberbleibseln des Hasenbratens bestand, besann sich August Hammer darauf, daß er doch den Waldmenschen in der Hypnose zur Nahrungsaufnahme zwingen könne, und er beschloß, dies bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu tun.

Mr. Mitchell rechnete stark darauf, daß Nobody sie im Laufe des Tages mit dem wieder gefüllten Ballon abholen würde, und gerade er als Ingenieur und Techniker mußte doch wissen, daß dies ganz ausgeschlossen sei, da allein die Erzeugung des erforderlichen Gases mindestens einen Tag beanspruchte, und außerdem mußte er sich doch auch sagen, daß der Ballon Schaden gelitten haben konnte. Die zerschnittenen Taue mußten durch neue ersetzt und ebenso eine neue Gondel beschafft werden.

Der ›Organist‹ war kein Techniker, aber auch kein Optimist. Er sagte sich, daß sie vor Ablauf von zwei weitern Tagen nicht aus der Gefangenschaft erlöst werden könnten; auch er wußte freilich nicht, daß Nobody selbst bereits ein neues Unternehmen ins Werk gesetzt hatte, das ihn weit fortführte von dem Felseneiland, das ein kleines Paradies umschloß.

Das Umherstreifen auf der Wunderinsel aber war so recht nach dem Herzen August Hammers, und da kamen für ihn die mannigfachen Beschwerden, welche die Wanderung durch die Wildnis mit sich brachte, gar nicht in Betracht. Er bahnte dem ihm folgenden Mr. Mitchell den Weg und fand dabei immer noch Zeit, aufmerksam umherzuspähen.

»Sehen Sie dort, Mr. Mitchell!« rief er plötzlich diesem zu und deutete mit ausgestrecktem rechten Arm in eine bestimmte Richtung.

»Was soll ich denn sehen?« fragte der Ingenieur, ein etwas dummes Gesicht ziehend.

»Bemerken Sie denn nicht, daß dort von dem Aste ein langer Strick herabhängt?«

»I wo, das ist doch nur eine Schlingpflanze!«

»Ich werde Sie bald eines Bessern belehren,« entgegnete der Organist und drang mit neuem Eifer durch das gerade hier schier undurchdringliche Dickicht, bis er endlich den mächtigen Baum erreichte, der sein Ziel bildete. Es war ein Riese an Umfang und Höhe und schien eine Art Ahorn zu sein. Die Hauptsache aber war jedenfalls, daß August Hammer sich nicht geirrt hatte. Es hing wirklich ein Seil von einem Aste herunter, doch das Blattwerk war dort oben so dicht, daß man nicht feststellen konnte, was sich noch weiter dort befand. Trotzdem sagte August Hammer mit aller Bestimmtheit:

»Wir haben den Luftballon gefunden, in welchem der Waldmensch hierherkam. Auf jener Baumkrone hat er sich mit dem Schleppseil verfangen, und dieses ist es, was wir erblicken.«

Der Ingenieur zweifelte zwar offenbar noch, aber er sagte nichts weiter als:

»Beweisen Sie mir das, Mr. Hammer!«

»Sogleich!« antwortete dieser und untersuchte den Stamm. Derselbe mußte sich trotz seiner Stärke ziemlich leicht erklettern lassen, denn die Aeste setzten schon in Manneshöhe über dem Boden ein, und zudem rankten sich dazwischen allerlei Schlingpflanzen empor, so daß sie namentlich einem Seemann den Aufstieg bis zur Krone ganz wesentlich erleichtern mußten.

August gab dem Ingenieur das Gewehr zum Halten, warf Mütze und Jacke zu Boden, spuckte in die Hände und erreichte gleich darauf im Sprunge den untersten Ast, turnte sich mit großer Gewandtheit weiter empor und entschwand bald den Blicken des Mr. Mitchell.

Fast eine halbe Stunde verstrich, ohne daß der kühne Kletterer ein Lebenszeichen von sich gab, da endlich begann das herabhängende Seil zu schwanken, und schon tauchte zwischen den Blättern und Schlingpflanzen oben das dicke, gutmütige Gesicht des Organisten auf.

»He, Mr. Mitchell,« rief er in berechtigtem Triumph über seinen Erfolg herunter, »soll ich Ihnen den Luftballon des Waldmenschen vielleicht als Nachtmütze über den Kopf werfen? 'S ist noch alles da, sogar die ganze Gondel hängt noch hier in dem Gezweig fest!«

Da staunte der Engländer allerdings nicht wenig, aber er fragte doch sofort:

»Liegt denn nichts drin, was Aufschluß über den Besitzer des Luftschiffes geben könnte? Am Ballon muß doch ein Name stehn?«

»Ja, das muß er, aber, wenn Sie meinen, daß er noch mit Gas gefüllt ist, dann sind Sie schiefgewickelt: Das ist hier oben alles ein Wirrwarr. Sie täten am besten, wenn Sie heraufkämen und mir behilflich wären, das Gemüse loszukriegen.«

Nein, dazu hatte Mr. Mitchell keine Lust, und August wußte das im voraus. Er verschwand wieder im Laubwerk, und der unten Wartende hörte ihn mit dem Entermesser, das er mitgenommen, arbeiten. Das herabhängende Seil ward länger und länger, bis es endlich den Boden erreichte.

»Erfassen Sie es!« rief Hammer von oben. »Aber halten Sie ja fest, damit Sie nicht eine unfreiwillige Luftreise antreten müssen. Ich hänge die Gondel mit den Instrumenten an das andre Ende, und Sie lassen nicht eher los, als bis ich es Ihnen sage!«

Der Engländer packte zwar das Tau, zog aber vor, es um einen Baumstamm zu binden, anstatt es festzuhalten. Bald flog noch ein ganzes Bündel Seile hernieder. Dann verstrich wieder eine geraume Zeit, bis endlich August Hammer wieder am Stamme herniedergeklettert kam und neben dem Ingenieur zu Boden sprang.

Mit kurzen Worten berichtete er, daß der Ballon aus gefirnißter Seide bestehe, vermutlich aber durch die Zweige teilweise zerfetzt worden sei. Papiere und Bücher habe er in der Gondel nicht gefunden. Diese mußten entweder den Witterungseinflüssen zum Opfer gefallen sein oder der Einsiedler hatte sie mit sich genommen.

»So,« fuhr der Organist darauf fort, »jetzt wollen wir erst einmal das Seil verlängern. Sie halten es fest, während ich die andern Taue daransplisse. Es muß lang genug werden, daß wir die Gondel nicht aus beträchtlicher Höhe zu Boden fallen lassen müssen. Hoffentlich erkennen Sie aus der Bauart der Instrumente, aus welchem Lande dieselben stammen.«

»Made in Germany!« sagte Mr. Mitchell, und damit hatte er sicher recht. Mit dieser Hoffnung war es also wieder nichts. Trotzdem arbeitete August Hammer mit größtem Eifer und hatte nach einer Stunde die Genugtuung, daß das Seil nun lang genug war. Der Korb des verunglückten Luftballons kam zwischen dem Blattwerk oben zum Vorschein und schwebte dann langsam hernieder, näherte sich immer mehr dem Boden und stieß endlich mit dumpfem Geräusch gegen denselben.

Sofort eilte der Ingenieur hin. Der Organist aber band erst das Seil fest, damit es nicht etwa über den Ast gleiten könne, dann erst trat er zu Mr. Mitchell, der bereits die Instrumente untersuchte.

»Sie sind noch nicht so alt, wie ich annahm,« sagte er. »Dieser selbsttätige Barometrograph ist erst vor etwa neun Jahren erfunden worden. Er stammt allerdings aus einer deutschen Werkstätte; aber sehen Sie hier dieses kleine Messingblech! Was erkennen Sie darauf?«

»Das ist ein preußischer Adler – nein, der hat ja nur einen Kopf und der hier zwei – es ist das österreichische Wappen,« rief August Hammer.

»Nein, auch das stimmt nicht, schon die darunter eingegrabenen Schriftzeichen widerlegen das – das ist russisch, und der Adler ist der russische Doppeladler.«

»Jawohl, das ist russisch, denn lesen kann ich's nicht,« nickte August. »Da ist also der Waldmensch ein Russe.«

»Diese Annahme hat viel für sich, kann aber ebensogut auch falsch sein. Das Wappen und die Inschrift beweisen bloß, daß die Instrumente zur Ausrüstung des Ballons irgend einem kaiserlich russischen Institute entstammen, und daß die Auffahrt zu wissenschaftlichen Zwecken unternommen wurde!«

»Aha, daher das Thermometerbrett aus Teakholz! Na, das ist wenigstens etwas. Da will ich nur rasch noch einmal hinauf und sehen, daß ich den Teil der Seidenhülle herausschneiden kann, auf dem der Name des Ballons steht.«

Das festgebundne Seil ermöglichte dem Organisten einen bequemen Aufstieg zu dem Aste und von dort zu dem Ballon. Rasch turnte August sich empor und verschwand wieder hinter den grünen Laubmassen, bis er nach abermals einstündiger Arbeit zurückkam, um den Oberkörper ein Stück jenes Seidenstoffes geschlungen.

Unten angelangt wickelte er denselben ab und breitete ihn auseinander. Da erblickte Mr. Mitchell abermals den russischen Doppeladler und darunter einen Namen in fußgroßen russischen Buchstaben. Jetzt war also kein Zweifel mehr über die Herkunft des Ballons möglich.

»Den Korb mit den Instrumenten lassen wir einstweilen stehn,« sagte August Hammer dann. »Wir nehmen nur dieses Stück Seide mit. Wenn wir es unserm Gefangnen unversehens vor die Augen halten, wird er hoffentlich zum ersten Male den Schnabel auftun, und wenn er bloß ›maff‹ sagt!«

Der Ingenieur hatte noch einmal den Barometrographen untersucht.

»Dieses Instrument ist nicht in Tätigkeit gesetzt worden, denn wenn auch der wie bei einem Morsetelegraphen herausgleitende Papierstreifen durch die Witterungseinflüsse vollständig vernichtet worden wäre, dann müßte doch das Papier im Innern des Apparates noch die letzten Aufzeichnungen nachweisen, aber es ist noch ganz rein –«

»Daraus folgt, daß unser Waldmensch nicht der eigentliche Leiter der Ballonfahrt war!« bemerkte August Hammer, und Mr. Mitchell bestätigte das. Der Unbekannte war entweder der Diener des irgendwie schon vorher verunglückten Luftschiffers gewesen oder hatte sich auf irgend eine sonstige Weise in den Besitz des Ballons gebracht, den er nicht zu bedienen verstand.

Jedenfalls war der erste Schritt getan, das Geheimnis zu lüften, welches den einsamen Inselbewohner umgab, und die beiden Männer kehrten zu ihm zurück. Er schaute ihnen nicht mehr zornig, sondern nur mißtrauisch entgegen. Das war schon ein gutes Zeichen, und wenn einer von ihnen Russisch sprechen gekonnt hätte, dann wären sie vielleicht schon jetzt durch ihn über alles aufgeklärt worden, so aber mußte August Hammer sich damit begnügen, dem Waldmenschen plötzlich den Seidenstoff mit Namen und Wappen entgegenzuhalten und den Eindruck zu beobachten, den das auf ihn hervorbrachte.

Jawohl! Der Waldmensch stutzte zwar einen Moment, als wenn er aufs höchste erstaunt sei, das war aber auch alles. Sein haariges Gesicht nahm sofort den halb stumpfsinnigen, halb bösartigen Ausdruck wieder an, den es immer hatte.

August Hammer und Mr. Mitchell waren vorläufig am Ende ihrer Weisheit angelangt und ließen den Mann in Ruhe. Sie brannten abermals ein Feuer an. Diesmal sorgte der Ingenieur für einen Braten, und die Nacht verging wie die erste, nur mit dem Unterschiede, daß der Organist während seiner Wache den Waldmenschen wieder hypnotisierte und ihm dann Essen und Trinken einflößte, denn die Arme durfte er ihm doch nicht losbinden, das wäre zu gefährlich gewesen

 

Drüben auf der Felseninsel hatte sich inzwischen nicht viel geändert. Nobody war wieder einmal auf unbestimmte Zeit fort. Lord Roger befand sich in Schanghai, und so war Kapitän Flederwisch der Herr über die weißen und gelben Bewohner der Inseln, eines Reiches, wie er es sich zwar erträumt und auch zu gründen versucht, aber nicht zu halten vermocht hatte, durch jene Kolonisation der Gallopagos nämlich, die durch höhere Gewalten so fürchterlich beendet ward. Seitdem hatte Nobody sich den Kapitän nach seinem Geschmacke umgewandelt, d. h., er hatte dessen wirklichen Charakter zur Geltung gebracht, und wir wissen, eine wie innige Freundschaft diese beiden Männer verband, wie aber Flederwisch immer, auch wenn er ganz selbständig zu handeln glaubte, nur Nobodys Pläne durchführte. Er fühlte sich wohl dabei, und das kam wohl auch zum großen Teile daher, daß er als junger Ehemann mit seiner Turandot im siebenten Himmel schwebte. Diese war zwar im großen Ganzen noch die Alte geblieben, die sie in Monte Carlo war, aber die Liebe zu ihrem Paul hatte ihrem Wesen doch den Stempel weiblicher Würde aufgeprägt, und während sie zeitweise noch in alter Jungenart umhertollte, wäre sie doch unter keinen Umständen dazu zu bewegen gewesen, noch einmal in Männerkleidung sich in der Oeffentlichkeit zu zeigen. Ihr munteres Wesen verdrängte je länger desto mehr das schmerzliche Andenken der Schwester Pauls, das diesen oft ganz niedergebeugt hatte. Immas Zukunftstraum war bald erfüllt worden – sie ruhte nun in Frieden.

Vor seiner Abreise hatte Flederwisch von Nobody den Befehl erhalten, die als unfreiwillige Gefangene auf dem Felseneiland lebenden beiden Männer mittels Ballons abzuholen. Wie es drüben hinter dem himmelhohen Steinwall aussah, hatte Nobody nicht erst erzählt. Er hatte nur angedeutet, daß die Insel künftig den Wohnsitz der vorläufig noch hypnotisierten Japaner bilden sollte.

Die seidene Ballonhülle war zum Glück unversehrt, wurde aber trotzdem noch einmal sorgfältig gefirnißt, während gleichzeitig alles zur Herstellung des Gases vorbereitet wurde. Am zweiten Tage begann die Füllung und wurde die Nacht hindurch fortgesetzt. Der Wind blieb andauernd günstig, und so konnte am Morgen des dritten Tages der Aufstieg erfolgen. Flederwisch wollte allein fahren, schon deswegen, daß er nicht in eine ähnliche schwierige Situation gerate, wie Nobody, und nach zärtlichem Abschied von Turandot flog der kühne Mann über den schmalen Meeresarm und schwebte dann an der terrassenförmigen Felswand empor, höher und höher, bis der Grat erreicht war und Flederwisch das weltverlorne Paradies erblickte, das hinter diesen Steinwällen verborgen lag.

Das war ja fast genau dasselbe wie drüben bei den Gallopagos die Hauptinsel, auf deren Plateau Flederwisch seinerzeit das Archiv, und die Kasse untergebracht hatte, und die nun schon lange infolge der erneuten Eruption des erloschen geglaubten Vulkans im Ozean verschwunden waren.

Tiefe Wehmut überkam den Kapitän bei diesen Erinnerungen, und beinahe hätte er übersehen, wie die beiden unfreiwilligen Inselbewohner dort unten ihm durch Armbewegungen zusignalisierten, wo er landen sollte. Rasch bewirkte er den Abstieg, und da August Hammer und Mr. Mitchell den Ballon festhielten, so ging die Sache viel schneller und bequemer vor sich, als beim ersten Male.

»Na, Kinder,« sagte Flederwisch zu den beiden, »ihr seid mir wohl auch nicht gerade dankbar dafür, daß ich als Engel mit dem Flammenschwert bei euch im Paradiese erscheine, um euch daraus zu vertreiben?«

Da hatte er sich nun freilich geirrt, soweit es den Ingenieur anging, aber auch der Organist wollte wenigstens zunächst einmal dem Master seine Entdeckungen melden, dann – ja, dann konnte man ihn seinetwegen jahrelang in diesem Paradiese einsperren.

»Sagen Sie, Herr Kapitän,« begann er, während Mr. Mitchell den Ballon untersuchte und überwachte, damit derselbe nicht zu viel Gas verliere, »sagen Sie, können Sie Russisch?«

»Nein, mein Junge,« lachte Flederwisch. »Hast du vielleicht in diesem Paradiese eine Eva gefunden, die Russisch spricht?«

»Eine Eva nicht, aber einen Adam,« antwortete August. »Hat Ihnen der Master denn nichts erzählt?«

»Das hatte er doch nicht erst nötig, wenn er mich selber hierherschickte!«

»Und Sie können wirklich kein Russisch?«

»Wirklich nicht. Ein paar Brocken ausgenommen, wie Nitschewo, stoy usw.«

»Schade!« brummte Hammer, führte aber nun Flederwisch zu dem Lagerplatz und zeigte dem Erstaunten den behaarten Wald- oder Wildmenschen. »Hier ist unser russischer Adam,« sagte er, und als er sich dabei zu Flederwisch umdrehte, da riß er allerdings die Augen plötzlich ebenso weit auf wie dieser, nur daß Flederwisch den Gefangnen anstarrte, sich immer weiter vorbeugte, bis sein Gesicht dicht vor dem des andern war, und da verwandelten sich auch die grimmigen Züge des Waldmenschen.

»Ei der Tausend,« dachte August, »die beiden scheinen sich zu kennen!«

Und so war es!

»Wladimir Iwanowitsch!« kam es halblaut über Kapitän Flederwischs Lippen, und dann noch einmal: »Wladimir Iwanowitsch!«

Da hatte plötzlich der haarige Wilde ein ganz menschliches Aussehen bekommen. Seine Augen mußten das ausmachen, denn sie strahlten auf einmal gar so hell, aber sagen konnte er nichts. Flederwisch mußte ihm erst die um das Kinn laufenden Fesseln abnehmen, dann öffnete der Wilde den Mund und brachte leise und anscheinend mühsam einige Worte hervor, die August Hammer nicht verstand, aber es war vermutlich ein »Gott sei gelobt!« oder etwas Aehnliches gewesen.

»Warum habt ihr ihn gebunden?« fragte da Flederwisch.

»Weil er den Master hinterrücks überfiel und würgte.«

Der Organist erzählte kurz den Vorfall, half aber dabei schon mit die Stricke zerschneiden, mit denen die Glieder des Unglücklichen umschnürt waren. Jetzt war dieser seinen Befreiern nicht mehr gefährlich.

August Hammer mußte Wein und Nahrungsmittel herbeiholen, dann befahl Flederwisch ihm, mit Mr. Mitchell im Ballon nach der Insel zurückzukehren, von wo er verschiedenes holen sollte, was der Kapitän genau angab, und der Organist verstand, daß Flederwisch vorläufig mit dem Waldmenschen, den er kannte, allein bleiben wollte. Er ging, und Mr. Mitchell war froh, daß er wieder unter Menschen kam; er fragte nach gar nichts.

Was die Zurückbleibenden alles miteinander sprachen, kann und braucht hier nicht erzählt zu werden, nur so viel sei erwähnt, daß Wladimir Iwanowitsch, je mehr er sprach, desto gewandter im Sprachgebrauch wurde, und daß er, nachdem er seine Erlebnisse berichtet hatte, die wir später erfahren werden, den wiedergefundenen Freund mit vielen dringlichen Fragen bestürmte, die Flederwisch aber nur zum Teil beantworten konnte. Jedenfalls war der Einsiedler wieder zum Menschen geworden bis aufs Aeußere, und das wurde auch menschlich, nachdem August Hammer zurückgekommen war und alles von Flederwisch Bestellte mitgebracht hatte. Dieser selbst schor und rasierte den Russen, kleidete ihn an und redete dann wieder lange mit ihm in einer Sprache, die der Organist zwar auch nicht verstand, die er jedoch als Italienisch erkannte.

August mußte dem Geretteten seine Flinte abtreten, nachdem er ihm deren Mechanismus erklärt hatte, und auch sonst bekam derselbe alles, was der Ballon bei der ersten Reise auf das Eiland enthalten hatte. Dann drückte Flederwisch dem Russen die Hand, sie küßten sich sogar, und dabei standen die hellen Tränen in ihren Augen.

Schweigend zog der Kapitän August mit sich fort. Er sah nicht zurück, wischte sich einmal mit dem Jackenärmel übers Gesicht, und erst als sie wieder in der Gondel saßen, erfaßte er die Rechte seines Begleiters, schaute ihn lange und sonderbar an und sagte dann:

»Du schweigst jedem gegenüber von dem, was du gesehen und gehört hast, Junge, bis ich selber dir zu reden erlaube. Die Verantwortung trage ich natürlich.«

Und nach einer Pause fragte Flederwisch:

»Verstehst du, warum er nicht mit uns ging?«

Ja, das verstand August Hammer allerdings. Es mußte dem Waldmenschen schwer fallen, sich wieder unter Menschen zu mischen. Er mußte sich auch erst an die seit Jahren entbehrte Kleidung gewöhnen, an vieles andre ebenso, das konnte er am besten, wenn er allein blieb.

In Nobodys Reich war jede Aeußerung von Neugier aufs strengste verboten. Daher fragte niemand die Luftschiffer nach ihren Erlebnissen, und sie selbst schwiegen sich aus. So erfuhr keiner außer ihnen, daß dort drüben ein Paradies lag, in dem ein Mensch seit Jahren ganz allein gelebt hatte, und daß Flederwisch in diesem Manne einen alten Bekannten wiedergefunden hatte. Die Ereignisse gingen ihren gewöhnten Gang, nur Nobody bestand inzwischen seine Abenteuer als Baron Kata Nogi, schützte dann die Inselbewohner vor dem nächtlichen Angriff durch den gelben Drachen und verschwand darauf wieder, zusammen mit Lord Hannibal Roger.

Kapitän Flederwisch hatte reichlich zu tun bekommen. Er mußte die sieben gefangnen Japaner nach der Paradiesinsel bringen, desgleichen Sayadamona mit ihren zwei Dutzend Kindern, und dafür Wladimir Iwanowitsch mitnehmen. Am schwierigsten war die Aufhebung der Hypnose gewesen. Flederwisch hatte dies, schon im Ballon schwebend, ausgeführt, und er hatte noch die grenzenlose Verblüffung der Japaner gesehen, desgleichen das Glück der wiedervereinten Gatten. Im übrigen hatte Flederwisch bereits vorher das Paradies mit allem versorgt, was dessen künftige Bewohner zum Leben brauchten, und daß diese, trotz des Ballons, den sie natürlich sehen mußten, nicht wußten, wie das alles zusammenhing, war erklärlich. Wie sie sich zurechtfanden, das ging Flederwisch nichts an, aber Harakiri machte keiner. Da mußten sie doch erst erfahren, was mit ihnen geschehen war, und so bewahrte die Neugier sie vor dem Selbstmorde.

Da kam ganz unerwartet eines Tages Lord Hannibal Roger zurück und begab sich sofort zum Kapitän Flederwisch.

»Du kennst die Gräfin Urlewsky?« rief er diesem ohne weiteres zu.

»Nein,« entgegnete Flederwisch ruhig, »wenigstens nicht persönlich.«

»Aber, Mensch, du hast doch ihretwegen ein Duell gehabt, in Triest oder in Fiume oder wer weiß wo!«

»Das war wegen der Gattin eines russischen Polizisten.«

»Na ja, und das ist eben die gegenwärtige Gräfin Urlewsky. Du mußt sofort nach Petersburg und ihren Gatten befreien, damit Nobody den Kriegsplan bekommt, den er dem Kata Nogi geben will,« sagte der Lord etwas durcheinander.

»So?« machte Flederwisch. »Weiter nichts? Das werde ich hübsch bleiben lassen. Deswegen fahre ich nicht nach Petersburg. Wenn die Gräfin mich braucht, mag sie herkommen.«

Fassungslos starrte der Lord den Sprecher an.

»Bei dir rappelt's wohl?« fragte er endlich.

»Gerade wollte ich die Frage an Ew. Herrlichkeit richten,« entgegnete der Kapitän spöttisch.

»Mein Gott, und sie sieht in dir ihren Retter, den Befreier ihres Gatten.«

»Aha! Sie weiß also schon, daß er frei ist? Das wundert mich!«

Jetzt begann Roger wirklich an dem klaren Verstande Flederwischs zu zweifeln, das sah man ihm an.

»Anitas Gatte wäre schon frei? Durch deine Hilfe?«

»So halb und halb! Was ist denn daran so Sonderbares? He, Wladimir Iwanowitsch! Bitte, es ist ein Besuch da! Bringen Sie auch gleich meine Frau als Dolmetsch mit!«

Aus dem Nebenzimmer trat ein hochgewachsener, kräftig, ja, fast riesig gebauter Mann in eleganter Kleidung, verbeugte sich vor dem Lord, und dann erschien auch Frau Turandot.

»Das Gesicht!« lachte sie hell auf, als sie Hannibal Rogers verblüffte Mienen sah. »Hahaha! Das ist zu köstlich!«

Da raffte sich der Lord zusammen.

»Sie sind wirklich der Gatte Anitas, wollte sagen, der Gräfin, nein – ja –!«

»Ich bin der, den Sie aus den sibirischen Bergwerken retten sollten,« erwiderte der Riese auf italienisch, und das verstand Seine Herrlichkeit.

»Ja, sind Sie denn nicht mehr dort?« fragte Roger sehr geistreich.

Der Russe lächelte. »Ich entfloh bereits vor 9 Jahren.«

»Und sie – Ihre Frau denkt, Sie seien noch in Ustschunsk!«

»Dort war ich überhaupt nicht. Man hat mich sofort nach Nertschinsk gebracht!«

»Ei verflucht!« Lord Roger kratzte sich an der Stirn, sah ratlos bald auf Flederwisch, bald auf den Russen und fragte endlich: »Wie sind Sie denn nur hierhergekommen?«

»Laß uns wieder allein!« wendete sich der Kapitän an seine Frau, die schon in der Tür stand. Dann setzten sich die drei Männer, und Flederwisch erzählte dem staunenden Lord die wunderbare Geschichte seines Freundes Wladimir Iwanowitsch.

Am schlimmsten war natürlich der Weg bis zum Verbannungsorte Nertschinsk im fernsten Osten Sibiriens, am Stillen Ozean gewesen. Dann hatte man Wladimir wie üblich in das Bergwerk hinuntergebracht und ihm dort mittels Kette einen Fuß an eine Karre geschmiedet. So hatte er Tag für Tag, nur mit einer Hose bekleidet, aufs schwerste arbeiten müssen, hatte aber durch seine ruhige Ergebung sich die Gunst des Aufsehers derart errungen, daß dieser ein gutes Wort für ihn einlegte und bewirkte, daß der Verbannte wieder an die Erdoberfläche gebracht wurde und dort nicht nur eine leichtere Beschäftigung erhielt, sondern auch von der Kette befreit ward. Das war der erste Schritt zur Freiheit gewesen, und der Gatte Anitas hätte oft genug Gelegenheit zur Flucht gefunden, aber dann hätte er sich entweder nach Norden oder nach Süden einen Weg suchen müssen, und beides war gleich schlimm, im Norden die Sumpfwälder, im Süden die feindlich gesinnten Chinesen, die jeden Flüchtling aus den russischen Verbrecherkolonien massakrierten. Der einzig sichere Weg in die Freiheit lag auf dem Meere, aber wie sollte denn Wladimir Iwanowitsch ein Schiff finden, das ihn mitnahm, wie sollte er unbemerkt an Bord gelangen? Trotzdem verlor er die Hoffnung nicht. Er vertraute auf Gott und auf die Liebe seiner Frau, und schließlich ward diese Ausdauer belohnt, auf ganz unerwartete Weise allerdings.

Ein schwedischer Gelehrter sollte im Auftrage der russischen Regierung nach dem Verbleib einer Expedition forschen, die vor mehr als Jahresfrist nach der Quelle des Indigirka aufgebrochen und seitdem verschollen war. Der Schwede Knud Stevenson wollte seine Aufgabe lösen, indem er im Luftballon über die unwirtlichen Landstrecken dahinschwebte, und zwar wollte er die Fahrt am Meere bei Nertschinsk beginnen. Er kam, und als Wladimir Iwanowisch der Füllung des Ballons von weitem zusah, da stieg sofort in seiner Seele der Gedanke empor, daß hier das Mittel zur Flucht in seine Hand gegeben sei. Er mußte heimlich mit dem Ballon davonfahren, und dieser kühne Plan glückte.

Knud Stevenson wartete noch auf günstigen Wind. Der Ballon war bereits gefüllt – der tägliche Gasverlust ward immer wieder ersetzt – und schwebte, von Seilen gehalten, dicht über dem Boden. Bewacht ward er nicht, denn nur sein Eigentümer verstand mit ihm umzugehn, und die unwissenden, abergläubischen Russen betrachteten das Ungetüm mit furchtsamen Blicken, und auch das nur aus sicherer Ferne. In der Nacht aber schlich Wladimir Iwanowitsch sich zu den Seilen, schnitt sie unbemerkt zur Hälfte durch bis aufs letzte, das direkt am Korb befestigt war, stieg in diesen, sprach ein kurzes Gebet und schnitt entschlossen das Hauptseil durch. Der Ballon schwankte hin und her, dann erfolgte ein Ruck, und empor ging's in die Lüfte, erst ganz nach Süden, dann ostwärts, und gerade über der Paradiesinsel war er gesunken. Wladimir Iwanowitsch war der Gefangenschaft durch Menschen nur entronnen, um Gefangner der Natur zu werden, und er hatte alles erduldet und erlebt, was andre Robinsons vor ihm erlebt und erduldet haben. Die Einsamkeit hatte sich auch ihm als des Menschen schlimmster Feind erwiesen. Er war allmählich fast vertiert, hatte sich gegen seine Befreier gewehrt und war als Gefesselter von Kapitän Flederwisch erkannt worden. Das war alles.

»Und die geheimen Aufzeichnungen? Der Kriegsplan?« fragte Lord Roger, nachdem er sich von seinem Staunen erholt hatte.

»Die liegen wohlgeborgen als Depositum in der Bank von England,« antwortete Flederwisch. »Mein Freund hat sie bereits hierherbeordert, und du kannst nun seine Frau holen!«

So schnell ging das freilich noch nicht. Der Lord mußte erst erzählen, was er aus Anitas eignem Munde gehört hatte, und das war ein Evangelium der Liebe für den unglücklichen Gatten; aber am nächsten Morgen reiste Roger doch wieder nach Petersburg, und wie er dort von der Gräfin Urlewsky empfangen ward, das mögen die Leser sich selbst ausmalen. Hier braucht bloß noch erwähnt zu werden, daß die Wiedervereinten fortan in Nobodys Reich lebten, und daß dieser nach seiner Rückkehr aus Kalifornien Mittel und Wege fand, den Baron Kata Nogi, sowie dessen Genossen zu bewegen, sich nach Japan zurückzubegeben. Am meisten trug zu diesem Erfolge aber wohl bei, daß Nobody den alten Baron Monio Nogi mit nach der Paradiesinsel nahm und ihn dort stundenlang mit dem Sohne allein ließ. Daß Kata Nogi schließlich als Freund von Nobody schied, wird wohl jeder glauben. Dieser selbst aber konnte sich seinem Inselreiche natürlich nicht ungestört widmen. Er ward immer von neuem abberufen, um bald diesen, bald jenen Verbrecher zu entlarven oder ein unlösbar scheinendes Geheimnis zu enträtseln. Nachstehend wollen wir an der Hand seines Tagebuches noch mehrere seiner Abenteuer schildern.


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