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2. Titanenkämpfe.

Die Erzählung von der treuen Seemannsbraut, welche Nacht für Nacht die brennende Lampe an das Fensterchen setzt und auf den fernen Geliebten wartet und wartet, bis sie zur Greisin geworden und ihr der Tod die Augen bricht, ist zwar sehr schön, aber der Wirklichkeit entspricht sie nicht.

Unter den Küstenbewohnern, welche das Personal für die Fischerei und Seefahrt stellen, findet man keine Spur jener von Dichtern besungenen Poesie und Romantik.

Die Fischerstochter, deren Bräutigam wieder in die weite Welt zieht, verabschiedet sich von ihm nicht anders als ein Mädchen aus dem Binnenlande, das den erwählten Mann zur Geschäftsreise auf den Bahnhof bringt. Wird da erst viel über Entgleisungen, Eisenbahnzusammenstöße und was sonst noch alles droht, geklagt? Die Seemannsbraut wartet auf den Geliebten, und erhält sie die Nachricht von seinem Tode, oder läßt er so lange nichts von sich hören, daß er als verschollen gilt, dann – heiratet sie einen andern. Von einer Herzlosigkeit ist dabei keine Rede. Sie kennen es nicht anders. Das Meer fordert eben seine Opfer, nimmt man ihm doch auch sein Eigentum, die Fische – so hört man dort oft sagen, und das ist auch Poesie.

Dasselbe gilt von den Kapitäns- und Reederfamilien, von allen jenen, deren Existenz durch die Seefahrt bedingt ist. Wegen solch einer Spazierfahrt über den großen Heringsteich wird keine Träne vergossen. Alles ist eben Gewohnheit im Leben.

Ganz anders bei Imma. Früher hatte sie immer um den Bruder gebangt; jetzt verging sie in Sorge um den ihrem Herzen näherstehenden Mann, den sie lieben mußte, obwohl sie wußte, daß sie nie die Seine werden könnte, obwohl sie bereits auf seine Gegenliebe verzichtet hatte.

Selbst der Bruder, für den sie doch früher in Sorgen gebetet, trat in den sie Tag und Nacht verfolgenden Bildern als Schreckgespenst auf, das den Geliebten bedrohte – er war ja so wild – und der blinde Vollstrecker seiner Befehle war der furchtbare Manuel mit dem gehässigen Blick. Dieser Mulatte wieder wurde von seinem Herrn geliebt wie eine wertvolle Dogge.

Nein, das mußte Imma sich abgewöhnen! Von morgen an wollte sie nicht mehr solchen selbstquälerischen Grübeleien nachhängen. Und morgen erfand sie ein andres Bild.

So verging ihr unter Sehnen und Bangen die Zeit, während sie die Tante pflegte, welche ihrem Ende entgegensah und doch nicht sterben konnte. Da kam der erste Brief Flederwischs an. Ehe Imma ihn las, küßte sie das Papier – ein Kuß der Abbitte. Es war doch ein guter, lieber Bruder. Er hatte geheiratet. Also doch! Heiraten mußte bei den Seeleuten doch etwas recht Nebensächliches sein. Dem Bruder sah es jedenfalls ganz ähnlich, diese plötzliche Heirat! Nun, er war ja glücklich, er schwelgte in allen Himmeln. Und die Tante sollte noch immer nichts davon wissen! Da hätte Flederwisch bald eine Unmöglichkeit verlangt, denn wäre Lady Muggridge nicht so krank gewesen, daß sie sich nicht einmal mehr für ihres Lieblings Briefe interessierte – in dem an sie gerichteten mochte etwas ganz andres stehn – wie hätte Imma dieses vor ihr verheimlichen können!

Ah, auch Carmencitas Photographie hatte er beigelegt. Endlich! Das also war ihre Schwägerin, das war das Mädchen, welches das Herz ihres Bruders im Sturm erobert und ihn zu etwas verleitet hatte, was – was eben über ihre Begriffe ging! Schön war sie, wunderbar schön! Aber – wo hatte Imma doch nur dieses Gesicht und diese dekolletierte Büste schon einmal gesehen? Erst dachte sie an die Gemäldegalerie – nein, dort nicht – richtig, in Hamburg auf der Reeperbahn, in Castans Panoptikum zu Berlin, in London bei Madame Tussaud, in allen Wachsfigurenkabinetten war diese Spanierin eine Spezialität: ein wunderschönes Puppengesicht, die Haut schneeweiß bis auf die mit Karmin bemalten Wangen, der Mund mit den kirschroten Lippen staunenerregend klein, die schwarzen Augen dagegen wieder ungemein groß, darüber die wie mit einem Zirkel geschlagenen Brauen – und wenn man die schöne Puppe hinten im Rücken mit einem Schlüssel aufzieht, bewegt sie langsam den Kopf hin und her und wedelt mit dem Fächer.

So also mußte das Mädchen beschaffen sein, welches den stolzen Bruder gefangennahm?

In Immas Wangen stieg die Röte der jungfräulichen Scham auf, und sie wußte doch nicht, warum. Sie hatte schon manchmal daran gedacht, es müßte doch schön sein, mit dem geliebten Manne zusammen an Bord zu sein, für immer, vereint mit ihm in Sonnenschein und Sturm, in Freude, Not und Tod; sie wäre bereit dazu gewesen, wenn Alfred sie geliebt hätte, ihm auf das Schiff zu folgen. Aber in Gesellschaft dieser Schwägerin – niemals! Und dann schämte sich Imma wieder ihres Vorurteils und schalt sich leichtfertig.

Wieder waren zwei Wochen verstrichen, da traf ein Brief an Imma ein, der die Handschrift des ersten Steuermanns aufwies. Es war jenes Schreiben, das Alfred in Guayaquil zur Post gegeben hatte, nachdem er von der Fahrt nach den Gallopagos zurückgekommen war und erfahren hatte, daß Flederwisch sich inzwischen verheiratet hatte.

Zitternd vor freudiger Erregung und vor gespannter Erwartung, was der Heimlichgeliebte ihr schreiben konnte, öffnete Imma den Umschlag und entfaltete den Bogen. Sie las die förmliche Anrede, und dann hieß es:

»Leider ist es nichts Erfreuliches, was ich nach reiflicher Ueberlegung Ihnen, gezwungen durch meine Hochachtung vor Ihnen, mitteilen muß. Zu erschrecken allerdings brauchen Sie nicht. Ich kam heute von einer kurzen Reise zurück und fand Ihren Bruder verheiratet. Er selbst sagte mir, daß Sie um diese Absicht gewußt hätten! Er hat Ihnen dann auch eröffnen müssen, daß Carmencita eine Quadrone ist, und was das bedeutet, bedarf für Sie keiner Erläuterung. Nur den Makel, den dieses Wort in sich schließt, werden Sie nicht kennen. Ich kann es Ihnen leider nicht erklären, aber fragen Sie die Frau eines Kapitäns, der oft nach Südamerika fährt, sie wird es Ihnen jedenfalls sagen können. Nehmen Sie an, ein gebildeter Mann begegnet einer Zigeunerin, es ist ein hochbegabtes Mädchen, eine treffliche Violinspielerin, er läßt sie ausbilden – das ist edel von ihm gehandelt. Wenn er aber Liebe für die schöne Zigeunerin empfindet, so soll er fliehn, anstatt sie zu heiraten, und wäre ihre Vergangenheit auch noch so makellos, sonst würde er es bald bitter bereuen, sonst ist er kein Mann, sondern ein blinder, leichtsinniger Narr, der absichtlich in sein Unglück rennt. Denn eine Zigeunerin bleibt immer eine Zigeunerin, und Ihr Bruder hat eine geheiratet.

Und nun das Schlimmste! Ich kenne dieses Weib von früher her, ich weiß, daß es eine Unwürdige, eine Dirne ist, und ich konnte meinen Kapitän doch nicht warnen, denn ich stand nach meiner Rückkehr vor der vollendeten Tatsache. Ihr Herr Bruder ist noch derselbe tüchtige Seemann, der gute, prächtige Mensch, aber er ist noch nicht geläutert worden im Schmiedefeuer des Schicksals, und deshalb kann es vorläufig keine Gemeinschaft mehr zwischen ihm und mir geben. Dies Ihnen mitzuteilen, halte ich für meine Pflicht. Sie dürfen nie mit dieser Quadrone zusammenkommen. Ein Bruch zwischen mir und dem Kapitän ist nicht erfolgt.

In sechs bis acht Wochen werde ich mich persönlich bei Ihnen einfinden und Ihnen mehr berichten. Um Ihren Bruder aber bitte ich Sie sich nicht zu sorgen. Er steht unter mächtigem Schutze. Mehr kann und darf ich Ihnen nicht sagen.«

Der Brief schloß mit einer höflichen Wendung, aber Imma las dieselbe nicht. Sie verstand vieles von dem Inhalt nicht, wohl aber das eine, daß der Heimlichgeliebte bald nach London zurückkehren werde, daß sie dann wieder – o, törichtes, närrisches Menschenherz, kannst du denn nicht von deinem Lieben lassen?

Doch die Frist verstrich, und Alfred kam nicht, dagegen ein Brief mit Pauls Handschrift. Als Imma ihn las, erstarrte sie nicht so, wie es ohne Alfreds Warnung der Fall gewesen wäre. Flederwisch gestand alles. Nur einige Wochen hatte das Glück gewährt, dann hatte sie ihn betrogen, verlassen.

»Ich kann nicht mehr! Alle Himmel stürzen über mir zusammen! Arme Imma! Mein armes Schwesterchen! Ich kann nicht mehr! Laß es dir von der Tante erzählen!«

Das war der Schluß. Das Datum fehlte, sogar die Unterschrift hatte Flederwisch vergessen.

Imma fand keine Träne. Eine entsetzliche Ahnung schnürte ihr das Herz zusammen. Sie begab sich zu Lady Muggridge. Diese hatte noch keinen Brief empfangen, wäre auch gar nicht fähig gewesen, ihr etwas mitzuteilen. Imma sollte auf etwas Schreckliches vorbereitet werden, sie wußte es, und es würde doch noch kommen. – – –

Am Morgen hatte sie den Brief erhalten, am Nachmittage klingelte es. Rechtsanwalt Perkins ließ sich der Lady melden. Er wurde in das Krankenzimmer geführt und sah sich einer abgezehrten Frau gegenüber, die ihn nicht einmal mehr erkannte.

Ein Arzt war anwesend, er zuckte auf Perkins leise Frage die Achseln.

»Sie ist unzurechnungsfähig. Sie kann heute sterben oder auch noch jahrelang leben.«

Perkins entfernte sich. Auf dem etwas dunklen Korridor erwartete ihn Imma.

»Bitte, Herr Rechtsanwalt, kommen Sie hierherein!«

Er folgte ihr in das Zimmer.

Seit jenem Balle, an welchem Perkins geglaubt, er dürfe Hoffnung auf Immas Hand und Herz hegen, hatte er sie nicht wiedergesehen. Es war noch ganz dasselbe zarte, schüchterne Mädchen, wie sie jetzt vor ihm stand, nur sehr, sehr bleich war sie geworden – doch nein, das waren nicht mehr dieselben ängstlichen Augen, es lag etwas Starres darin. Oder sollte sie schon wissen? Flederwisch hatte ihm doch geschrieben, er sollte es erst Lady Muggridge mitteilen, diese möchte sie langsam vorbereiten, was freilich nicht möglich war.

»Bitte, setzen Sie sich, Miß!« sagte der hier fremde Rechtsanwalt, nach einem Stuhle eine einladende Bewegung machend, setzte sich selbst, und mechanisch ließ sich Imma ihm gegenüber nieder.

Schon jetzt trat eine Pause ein. Sie blickten einander schweigend an. Der Rechtsanwalt verstand das geschickte Vorbereiten nicht.

»Die Frithjof ist in einen Orkan gekommen und nach Guayaquil zurückgekehrt,« begann er leise.

Keine Antwort, keine Frage, keine Bewegung. Nur das Starre in ihrem Auge ließ etwas nach.

»Es fehlen vier Mann der Besatzung.«

Wieder eine lange, lange Pause.

»Auch der erste Steuermann ist darunter.«

Nochmals die lange Pause.

»Er ist über Bord gewaschen worden.«

Endlich öffnete sie den Mund.

»Alfred ...«

Perkins senkte den Kopf, und sie hob langsam die weißen Hände und legte sie vor ihre Augen. Sonst hatte sie kein Zeichen des Schmerzes.

Nach einer kleinen Weile, als sie sich nicht mehr bewegen wollte, schlich der Rechtsanwalt hinaus und schickte eine ihm begegnende Dienerin zu ihr.

 

Den 4700 Fuß hohen Vulkan von Albemarle erstieg eine kleine Gesellschaft von Männern, nicht durch ihre Hautfarbe, denn diese war fast schwarz gebrannt, selbst unter dem leichten Tropenanzug, nur durch ihre Gesichtszüge und zum Teil auch durch blondes Haar sich als Kaukasier kundgebend. Ihnen nach folgte die dreifache Anzahl fast nackter Chinesen, mit zusammenlegbaren Tischen und Stühlen, mit Leinwandballen, Zeltstangen, Instrumentenkisten und andern Sachen bepackt und unter ihrer Last dennoch nicht mehr schwitzend als jene Herren, denen der Schweiß in Strömen vom Gesicht lief und der Anzug am Körper klebte, trotzdem es noch sehr früher Morgen war.

Der Führer der Gesellschaft war auch nicht gegen die Hitze gefeit, aber er schien sich wenig daraus zu machen; bei jeder Gelegenheit hatte er einen trocknen Witz oder eine lustige Bemerkung zur Hand – und zwar bediente er sich nur des Deutschen – daß die Herren in aufrichtiger Herzlichkeit lachen mußten; seine gute Laune erstreckte sich auch bis auf den letzten Kuli, und wenn er den Gepäckträgern einige scherzhafte Worte in einem merkwürdigen Chinesisch zurief, so brachen diese aus chinesischer Höflichkeit erst recht in ein wieherndes Gelächter aus. Es war eine lustige, deutsche Picknickpartie, nur bei 40 Grad Celsius unter dem Aequator auf einen Vulkan versetzt, und dann fehlten die Damen.

4700 Fuß sind für einen Berg nicht viel. Bis zur Schneegrenze fehlen in dieser Zone noch über 12.000 Fuß. Dafür aber war hier direkt vom Meeresspiegel an zu rechnen und das Erklimmen keine leichte Arbeit, wenn auch keine Schuheisen und kein Bergstock dazu nötig waren. Man brauchte eine gute Stunde, um den tafelförmigen Gipfel des Vulkans zu erreichen. Er bestand durchweg aus grauschwarzem Basalt, welcher sehr leicht verwittert und eine der fruchtbarsten Erden liefert; aber auch in der Nähe erwies sich der Boden so nackt, wie der ganze Berg von weitem aussah; das machte, der durch Witterungseinflüsse zerbröckelnde Stein fand auf den schiefen Flächen keinen Halt, jeder Regenguß spülte alles zu Tal. Nur wo sich in tiefen Winkeln die Erde festsetzen konnte, wucherte üppig eine Vegetation, deren Wurzeln bloß einer dünnen Humusschicht bedürfen.

Die Picknickgesellschaft bewegte sich auf dem Rande einer vorspringenden und noch etwas erhöhten Felsmasse zu, eine Art Kanzel bildend, und diese war ihr Ziel.

»Erst das Zelt, dann die Bierflaschen auf!« kommandierte der Führer, und dann, dicht an den Rand der Kanzel tretend, von wo aus man den größten Teil dieser Insel überschauen und die andern Eilande erblicken konnte, sagte er nach einer kleinen Pause feierlich: »Dies ist der Tag des Herrn!«

Es hatte wirklich feierlich geklungen, sein Gesicht war auch verklärt, und trotzdem hatte in den Worten Kapitän Flederwischs beleidigender Spott gelegen.

Allerdings, es war ein Sonntag, aber kein Feiertag für hier. Dort unten in der Tiefe wimmelte es wie in einem aufgestocherten Ameisenhaufen, und richtete Flederwisch sein Taschenfernrohr nach Floreanu und Chatam, so konnte er dort dasselbe unruhige Durcheinander von winzigen Menschlein erkennen.

Nicht 3000, sondern 5000 Kulis waren aus China herübergeschafft worden, unter einem Heer von europäischen Beamten stehend. Auf Albemarle erhob sich eine ganze Zeltstadt, auf Floreanu und Chatam bildeten die weißen Zelte große Dörfer, und schon rauchten gemauerte Fabrikschornsteine. Die Kulis brachen Felsstücke und bearbeiteten diese zu Quadern, eine unerschöpfliche Lehmgrube lieferte Material zu den Ziegeln, die sie brannten; schon durchfurchten Ochsenpflüge den vom Unterholz befreiten Boden. Hier auf Albemarle wurden die Risse in den natürlichen Umfassungsmauern mit Steinen und Zement ausgefüllt, durch Treppen erreichbar gemacht; auf Floreanu wurde der Hafen durch Sprengungen erweitert; auf Chatam wurde Holz für die Ziegelöfen geschlagen, und ein großes Gebäude wuchs aus der Erde. Die kleinern Inseln blieben noch unbeachtet.

Der Kampf der Titanen oder vielmehr des einen Titanen gegen die Götter hatte begonnen. Die Frithjof lag bei Floreanu verankert und diente als Hauptquartier des Generalstabs. Zwei Segler fuhren zwischen den Inseln selbst und der Küste hin und her, kleinere Fahrzeuge kreuzten fortwährend um erstere, nur wenige unter Dampf, denn Flederwisch wollte sich von dem Kohlenbedarf unabhängig machen. Außerdem befanden sich jetzt zwei Beauftragte des Kapitäns in San Francisco, um noch mehr größere Segelschiffe zu chartern und Matrosen zu mustern.

»Nun, wie fühlen sich die Herren nach der Ersteigung dieses Berges in der Morgenröte?« wandte sich Flederwisch an seine Begleiter.

Alle versicherten einstimmig, den Kernpunkt seiner Frage erfassend, daß eine Bergpartie bei solcher Hitze in diesem Klima durchaus keine besondere Anstrengung erfordere, sie seien noch ganz frisch, könnten noch stundenlang klettern – obgleich sie alle wie aus dem Wasser gezogen waren.

»Ja, mit dem Klima werden wir schon fertig,« fuhr Flederwisch fort. »Hannibal und Hasdrubal waren auch Afrikaner, selbst aus dem heißen Indien sind gewaltige, energische Heroen hervorgegangen, das heißt in früherer Zeit, als Brahma und Buddha das Volk noch nicht in verdummende Mysterien eingelullt hatten. Die Hauptsache ist, daß hier kein Fieber herrscht, die Moskitos klatschen wir so nach und nach tot, und die Sonne allein soll uns nicht unterkriegen.«

Die Herren des Generalstabs lachten. Es war doch ein famoser Kerl, dieser Kapitän!

Kein einziger war in seine Pläne eingeweiht, selbst ihre eignen Ansichten gingen auseinander, obgleich doch eigentlich ganz klar war, um was es sich hier handelte. Im allgemeinen also hielt man ihn für einen über reiche Mittel gebietenden Mann, welcher von der Regierung von Ecuador die Gallopagosinseln auf fünfundzwanzig Jahre gepachtet hatte, zuerst von der Regierung noch kräftig unterstützt wurde, um später gut kolonisierte Inseln zu bekommen, während der Pächter sie für jenen Zeitraum ausbeuten konnte. Er durfte auf den Inseln frei schalten und walten, er besaß sehr große Amtsrechte, die Regierung hatte ihm nur einen einzigen Vertreter als Aufpasser zur Seite gestellt – den in südamerikanischen Staatsdiensten stehenden Helge Halfdan, unsern – Nobody.

Es war ein famoser Kerl! So lautete das allgemeine Urteil über Kapitän Flederwisch auf gut deutsch, die Chinesen hatten in ihrer Sprache einen ähnlichen, nur blumenreichern Ausdruck für ihn. Wie der mit den Leuten umzugehn wußte! Dieser unverwüstliche, alles mit sich fortreißende Frohsinn! Und dann dieses scharfe, berechnende Auge, diese Schneidigkeit, und vor allen Dingen diese kolossale, durch nichts zu lähmende Arbeitskraft, die in der schlanken, eleganten, ritterlichen Gestalt steckte, die allen imponierte!

Es waren manche verkommene Subjekte unter den lieben Deutschen, die sich da gemeldet hatten, und fast alle hielten sich für verkannte Genies. Deutsche Herbergen, sogenannte ›Pennen‹, gibt es in jeder großen Stadt auf der ganzen Erde, in Rom sowohl, als in Kairo und Kapstadt, vielleicht ist jetzt schon eine in Timbuktu entstanden, und da kann man die zerfetzten Handwerksburschen von ihren welterschütternden Plänen und von ihrem Genius reden hören. Es ist auch gar nicht so ohne Begründung. Wenn ein erzgebirgischer Leinewebergeselle nicht mehr mit sechs Mark Wochenlohn zufrieden ist, sein Arbeitgeber will den guten Arbeiter nicht verlieren, er bietet ihm sogar acht Mark – nein, er mag nicht mehr, er will in die Welt hinaus, die er nicht einmal aus Büchern kennt, er greift zum Wanderstabe – so ist er für die erzgebirgischen Weber ein Faulenzer und ein Vagabund, und wenn er hinter einem Zaune verreckt, dann nennt ihn die ganze Menschheit so – aber es beweist dennoch, wenigstens für den Psychologen, daß der Mann geistig bedeutend über dem Niveau seiner Kollegen gestanden hat.

Solche Individuen waren dem Rufe nach den Gallopagos gefolgt, zerrissen und verhungert waren sie gekommen. Der Kontrakt wurde ihnen vorgelegt, und die Bedingungen waren schwer: Zehn Jahre mußte man sich verpflichten, die Arbeitszeit war lang, Feiertage gab es nicht, die Inseln durften nicht ohne Erlaubnis verlassen werden, der Pächter besaß bis zu einem gewissen Grade richterliche Gewalt, köpfen konnte er nicht, wohl aber krummschließen lassen, der Lohn war sehr gering; sonst wurde alles geliefert, das Essen sollte ausreichend und gut sein – na, das kennt man, wenn die Bedingungen schon so lauteten. Aber was macht man nicht, wenn der Magen knurrt und die Sandflöhe ungehinderten Zutritt zu den Fußnägeln finden! Ausreißen konnte man immer noch.

Nun kamen sie einzeln vor den Pächter und wurden von diesem examiniert. Der junge Mann gefiel ihnen gleich, der wußte sich mit ihnen zu unterhalten, fragte nach keinen Papieren, ließ sich von ihren Reisen erzählen, ob sie außer ihrer Profession noch etwas andres könnten, wie dies und jenes da und dort gemacht würde – der tat ja gerade, als wäre er ihresgleichen, als ob er ihren Rat brauche, und nach ›In-Eisen-legen‹ sah der auch nicht aus. Dann wurde ihnen ihr Posten angewiesen. Nein, erst kam das Essen, das ist bei solchen Leuten die Hauptsache. Die Kost war besser, als sie sich vorgestellt hatten, und dabei blieb es. Was brauchte man einen Sonntag, wenn man die chinesischen Arbeiter nur zu beaufsichtigen oder sie in einer Profession, meist im Bauhandwerk, zu unterweisen hatte! Dabei konnte man sich bequem hinsetzen und aus einer gelieferten, sogar mit Silber beschlagenen Holzpfeife den gelieferten Tabak schmauchen, und man sah, wie der junge Kapitän selbst überall war, wie er schwitzte und kochte, und dabei doch immer voll heitern Spottes, und trotz dieses beißenden Spottes behandelte er den armen Kerl, den er gestern in Lumpen angenommen, genau so als Gentleman wie den Regierungsbeamten; es konnte vorkommen, daß er ihn um Rat fragte und diesen sogar befolgte, und daß er von Flederwisch heimlich beobachtet wurde, das wußte jeder, und nach und nach passierte es jedem, daß der Aufseher, wenn er einmal selbst mit zugriff, plötzlich den Arbeitgeber zur Seite stehn sah, die Arme über der Brust gekreuzt und schweigend beobachtend, und am Abend wurde dann dem Mann gesagt, daß sein Lohn erhöht, ja, oft gleich verdoppelt sei.

Flederwisch verstand eben die Menschen zu nehmen, darin war er ein Zauberer. Den armen, bisher so gehetzten Burschen ging das Herz auf, eine nie gekannte Ruhe kehrte darin ein, sie fühlten sich als wichtige Personen, und das war die Hauptsache. Man rechnete nicht nur noch mit zehn Jahren, sondern schon mit fünfundzwanzig und noch weiter. So kam es, daß der bereits als gestorben und verdorben betrachtete Leinewebergeselle jetzt stolz und dennoch gleichgültig, als wäre das ja vorauszusehen gewesen, nach Hause schrieb, er sei hier der erste Beamte in einem Steinbruch, habe dreihundert Arbeiter unter sich, tausend Taler im Jahre, Lebensstellung mit wachsendem Gehalt bis ins Unendliche, alles frei, alles, sogar diesen Briefbogen, komfortable Wohnung mit zwei Dienern – dies war die Wahrheit bis auf die komfortable Wohnung, die in einem Zelte bestand, und dann dichtete er noch dazu, daß er sich mit dem Inselkönig auf du und du stände und demnächst dessen Tochter heiraten würde.

Einmal erlaubte sich ein Beamter die Bemerkung, daß es doch gefährlich werden könne, die weißen Kolonisten so zu verwöhnen. Wo solle das denn hin?

»Das Starke steht, das Schwache stürzt von ganz allein, und was ich nicht gebrauchen kann, werde ich mit der Zeit erkennen und ausmerzen,« war Flederwischs Antwort gewesen.

Der Mann der Praxis verachtete dabei auch nicht Kunst und Wissenschaft. Aus Deutschland hatte er sich einen Geologen und einen Botaniker verschreiben lassen, direkt von der Universität weg; denn jung mußte bei ihm alles sein, alte Leute konnte er nicht gebrauchen, auch keine Verheirateten. In der ›Valparaiso-Post‹, einer deutschen Zeitung, bat ein junger Architekt mit dem Reifezeugnis der Chemnitzer Bauschule seine wohlhabenden Landsleute um Beschäftigung irgendwelcher Art, er sei auch flinker Adressenschreiber. Er wurde geholt, Flederwisch wollte ihn anlernen; es waren kuriose Baupläne, die er ihm vorlegte, der junge Mann begriff nicht, und als er einmal äußerte, er habe einen Freund in Berlin gehabt, der hätte auch immer solche phantastische Baulichkeiten entworfen, jetzt sei er Zeichner in einem Bureau, die Woche zwanzig Mark, da wurde diesem sofort überreichliches Reisegeld geschickt.

Natürlich nicht alle waren solche verkommene oder verkannte Genies. Flederwisch hatte auch tüchtige Kräfte um sich zu sammeln gewußt, sie aus guten, sichern Stellungen durch hohen Gehalt zu sich gelockt, diese bildeten seinen Generalstab. Aber sonderbar, gerade diese merkten nichts, während in den untern Schichten der zumeist deutschen Kolonisten eine Ahnung aufzudämmern begann, daß hier noch etwas andres bezweckt wurde, als nur eine einfache Urbarmachung der Inseln, welche auch etwas befestigt werden sollten.

Daß der einfache Handelskapitän über solche ungeheure Kapitalien gebot, daß ihm die Regierung so viel Recht einräumte, daß niemand die Insel verlassen, kein Kreole, kein Farbiger, kein Mensch von der Küste sie betreten durfte, daß er an Bord seines Schiffes eine schöne Frau wie eine Gefangene behandeln sollte – über dies alles wunderten sich ja die gebildeten, nüchtern denkenden Herren, doch in die Zukunft reichte ihre Phantasie nicht hinüber; Kapitän Flederwisch war für sie ein origineller Sonderling, der aber dabei etwas Tüchtiges konnte.

Hingegen jene, welche aus romantischer Abenteuerlust in die Welt gegangen waren, ahnten instinktiv, ihrem Charakter entsprechend, das Romantische des Unternehmens. Scheu blickten sie auf den finstern Mulatten mit der höhnisch herabhängenden Unterlippe, wenn sie ihn einmal zu Gesicht bekamen.

Auf jenem Schiffe dort – still, nicht so laut – in einer finstern Kammer, von den Matrosen bewacht, wird ein wunderschönes Mädchen gefangen gehalten. Wenn's nicht eine französische Prinzessin ist, dann ist's so etwas Aehnliches. Ob sie wirklich eine eiserne Maske vor dem Gesicht hat? Sieht das nicht fast gerade so aus, als ob dort auf die Mauern Kanonen kommen sollten? Dann brauchte er auch noch Soldaten, oder vielleicht gar Pira ...

 

Während das Zelt aufgeschlagen wurde, waren von den Dienern die einem Kasten entnommenen Flaschen mit kalifornischem Bier in eine Quelle gelegt worden, welche dem waldigen Krater entsprang und trotz der heißen Nachbarschaft ganz kühles Wasser besaß. Die Herren tranken und breiteten dann die Zeichnungen und Pläne auf den aufgeklappten Tischen aus, unter dem Zelte stehend, das die Sonnenstrahlen abhielt.

Ein Mann machte auf drei Segelschiffe aufmerksam, welche am westlichen Horizonte auftauchten, er meinte, es seien wohl Walfischfahrer, die noch nicht wußten, daß von den Gallopagos keine Schildkröten mehr zu holen seien; solche Schiffe erschienen öfters, und dann bekam man Flüche zu hören.

Die jetzt so belebten drei größten Inseln vermieden die Schildkröten natürlich, in desto größerer Anzahl versammelten sie sich auf den unbewohnten, um in Gesellschaft ihre Eier abzulegen und sich ein paar Monate von der Sonne durchbrennen zu lassen; man störte sie nicht. Später, bevor auch diese Inseln in Angriff genommen wurden, wollte Flederwisch sie schiffsladungenweise in die Welt verfrachten, ohne den Nachwuchs zu schonen, denn später hätten sich die Schildkröten doch ganz von den geräuschvoll gewordenen Gallopagos zurückgezogen. Er gedachte Millionen darauszuschlagen. Allein die Restauration ›Ship and Turtle‹ in der Leadenhallstreet zu London schlachtet täglich drei bis fünf Schildkröten, Riesentiere, welche einzeln auf Frachtwagen vorgefahren werden müssen, und Schildkrötensteak und Schildkrötensuppe – oder, wie man manchmal sagen hört und es sogar auf Speisenkarten lesen kann, echte Mockturtelsuppe – ist nicht billig. Es sind meist Chersinen, indische Landschildkröten; das Fleisch der Lederschildkröten schmeckt noch besser, und der Matrose auf dem kalifornischen Walfischfänger ißt sich diese Delikatesse zum Ekel, weil er sie immer essen muß.

Ja, sollte man da fragen, warum beuten denn die Ecuadorianer nicht selbst diese Goldquelle in verständiger Weise aus? Die Südamerikaner würden nie Rinder geschlachtet haben, wenn nicht fremde Schiffe gekommen wären und Häute und Hörner begehrt hätten, und sie würden noch heute das Fleisch von Hunderttausenden von Rindern jährlich verfaulen lassen, wie sie es von ungezählten Millionen verwesen ließen, hätte ihnen nicht ein deutscher Gelehrter gezeigt, Justus von Liebig, wie man es extrahiert und konserviert.

»Sie zeigen Flaggen,« sagte Halfdan, wie Flederwisch durch ein Fernrohr spähend.

»Es ist Bernhard, er kommt mit den Schiffen eher als sein Bericht,« ergänzte Flederwisch, und wie immer, wenn er sich in großer Aufregung befand, begann er mit kurzen, schnellen Schritten auf und ab zu gehn.

Die drei Schiffe bildeten den Anfang jener Flotte, die hier ihren Heimatshafen haben sollte und mit welcher der Kapitän dereinst den Seehandel der ganzen westlichen Hälfte der Erdkugel beherrschen wollte. Diese drei Schiffe brachten Kurzwaren mit, sie würden nach China gehn und mit Tee beladen nach San Francisco zurücksegeln. Das war der kleine Anfang der Verwirklichung von Flederwischs großen Plänen, und für einen einzelnen Mann dennoch an sich schon ungeheuer. Denn es war eigne Fracht, bar bezahlt, und weder Schiff noch Waren wurden versichert. Die Hinfahrt brachte schon das Geld ein, um das Schiff kaufen zu können – vorausgesetzt, daß es sich bewährte – mit der glücklichen Rückfahrt wurde schon das Geld für die nächste Fracht verdient, dann hätten also Schiff und Ladung verloren gehn können, es hätte keinen Verlust mehr bedeutet. So groß ist der Gewinn, wenn die Versicherung wegfällt. Aber so va banque zu spielen, das würde kein Kaufmann, noch weniger eine Gesellschaft wagen. Da ist beim Börsenspiel noch sicherere Aussicht auf Verdoppelung des Einsatzes. Diesmal aber spielte Flederwisch nicht va banque, er selbst war ja der Versicherer, außerdem spielte er mit fremdem Gelde, und von diesem geliehenen Kapital setzte er nur einen ganz kleinen Teil auf eine Karte.

Mit dem steifen Westwinde kamen die drei Segler schnell herauf. Die Herren sprachen ihre Verwunderung über das letzte, das kleinste aus. Obgleich keine Seeleute, fiel ihnen die sonderbare, plumpe, jedenfalls sehr starke Bauart auf, zu welcher die volle Takelung nicht passen wollte. Jetzt wurde, ganz seltsam, am Ende der Fockraa ein großes Faß in die Höhe gezogen.

»Glaubt denn Bernhard, wir können nicht unterscheiden, daß dies ein Walfischfänger ist, weil er noch solch ein Zeichen gibt?« lachte Flederwisch. »Kommt, Halfdan, wir müssen hinunter!«

Die beiden ließen sich dann nach Floreanu, dem jetzigen Frithjofshafen, übersetzen, in dessen Bucht die drei Segler schon vertaut lagen. Flederwisch schüttelte Bernhard die Hand, wechselte mit den drei neuen Kapitänen, darunter ein Walfischjäger, nur wenige Worte, nahm kurze Einsicht in die Papiere, dann inspizierte er flüchtig die Schiffe, und während er durch den Kielraum des tranduftenden Eisklippers kroch, biß er von einer Scheibe vertrockneten Cornedbeefs ab, sein Mittagsbrot. Flederwisch war ein seltsamer Reeder und Kaufmann; mehr Interesse, als für die kostbaren Schiffe und Frachten, schien er für die von Bernhard in seinem Namen gemusterten Matrosen zu haben. Es waren fast nur Deutsche und Skandinavier, und hatte der zweite Steuermann Instruktion gehabt, auch viel mit auf die äußere Figur zu sehen, so war es ihm leicht gewesen, in den Seemannsherbergen der Schweden und Norweger schöne, blauäugige und blondhaarige, kraftvoll und schlank wie die Tannen gewachsene Männer zu finden.

Flederwisch hielt eine Ansprache, und er verstand es ja, auch mit nüchternen Worten zu bezaubern und Begeisterung zu erwecken. Die Matrosen der Frithjof hörten zu, sie fühlten keine Eifersucht, denn vorläufig waren sie die Trainer, die Exerziermeister von jenen, und es lag nur an ihnen, diese Stellung zu behaupten.

Es waren doch Stunden mit der flüchtigen Musterung vergangen. Morgen wollte Flederwisch weiter mit den Kapitänen sprechen, heute nicht mehr. Ehe er ging, vertrat ihm Bernhard noch einmal den Weg.

»Kapitän, 's ist noch etwas, ich wollte es bis zuletzt aufschieben, 's ist ja nicht von Wichtigkeit, ich denke aber, Euch wird's interessieren ...«

»Schnell, schnell, sprich!« drängte Flederwisch mit nervöser Unruhe.

»Es hat sich jemand verstaut, wir fanden ihn gleich, als wir zwei Meilen vom Lande ab waren, in ein leeres Faß in der Proviantkammer hatte er sich versteckt, ein kleiner Knirps, wollte durchaus Seemann werden, behauptete steif und fest, es wäre ein Junge – aber ich konnte es ihr auf zehn Schritte ansehen, daß es ein Mädchen war. Sie hat etwas von dem Kapitän Flederwisch gehört und ist ihren Eltern heimlich durchgebrannt. Ihr Vater ist in San Francisco auf der Steuer und soll gut ab sein. Sally Marshall heißt sie. Ich ließ sie an Deck den Schiffsjungen spielen – na, wir haben ein Gaudium gehabt, und fix ist die kleine Kröte! – aber sonst habe ich gut auf sie gepaßt, Kapitän.«

Der blinde Passagier ward vor Flederwisch geführt. Es war ein hübsches, junges Ding von sechzehn Jahren, vielleicht schon zur Jungfrau gereift, sah aber in den viel zu langen Hosen wie ein achtzehnjähriger, dicker Junge und auch sonst drollig genug aus. Auf den Mund war sie auch nicht gefallen; Flederwisch bekam außer dem, was er schon wußte, stürmische Bitten und überschwengliche Worte genug zu hören. Sie wollte Seemann oder Seemädchen werden.

Lächelnd blickte Halfdan nach dem Kapitän, er wußte, was dieser tun würde.

»Halfdan,« wandte sich Flederwisch plötzlich an diesen, »Sie fahren doch heute noch nach Guayaquil? Nehmen Sie diese junge Dame mit und übergeben Sie sie einem Dampferkapitän, welcher bald nach San Francisco geht, bezahlen Sie die Fahrt, lassen Sie es sich von ihm schriftlich geben, daß er sie ihrem Vater persönlich abliefert. – Nein, Miß, ich bedaure, es war mein letztes Wort. Nein!«

Ehe sich die Kleine ihm zu Füßen werfen und seine Knie umklammern konnte, war er gegangen. Sein Charakter war eben unberechenbar. – – –

Warum aber hatte Nobody nicht Wort gehalten und war, wie er der Schwester Kapitän Flederwischs versprochen, nach London zurückgekehrt?

Die Verhältnisse hatten sich eben in einer Weise geändert, die selbst er nicht voraussehen konnte. Nobody erfuhr erst spät den ganzen Inhalt und die Bedeutung des Vertrags, den Flederwisch durch Mrs. Lewis mit deren Hintermännern geschlossen hatte, und da erkannte er, was dem Kapitän entging – daß derselbe zu einem Werkzeuge Englands werden sollte, das man wegwerfen würde, sobald es seinen Zweck erfüllt hatte. Dafür aber war Flederwisch doch zu gut, und so hatte Nobody insgeheim mit dem wirklichen Helge Halfdan ein Abkommen getroffen, laut dessen der Schwede vorläufig auf unbestimmte Zeit nach Kolumbia ging und dort von einem bedeutenden Gehalt lebte, das Nobody ihm aussetzte. Auf den ersten Ruf sollte der Schwede sich jedoch zur Rückkehr bereithalten, dann konnte er ohne weiteres wieder in seine frühere Stellung einrücken.

Einen ganz besondern Plan aber hatte Nobody mit einer kleinen Insel vor, welche die Klosterinsel genannt worden war, auf die er deswegen Kapitän Flederwischs Aufmerksamkeit lenkte, und dieser beugte sich, ohne daß es ihm zum Bewußtsein kam, dem stärkern Willen seines ehemaligen ersten Steuermanns, den er noch immer für tot hielt. Nobody aber hatte auf der Klosterinsel bereits geheimnisvolle Vorkehrungen getroffen, von denen niemand etwas ahnte, noch viel weniger natürlich von ihrem Zweck. Im übrigen benahm sich Nobody ganz – als Helge Halfdan.

 

Flederwisch begab sich in seine Arbeitskabine, deren Schlüssel er gerade in der Hand gehabt, er hatte nur durchgehn und sich in dem angrenzenden Toilettenraum waschen wollen. Der Schreibtisch war mit Schriftstücken bedeckt, noch mehr ein zweiter Tisch, welcher vor das Schlafsofa gerückt war, und es war, als ob Flederwisch nicht vorbeigehn könne, er stützte sich erst auf den Tisch und fiel dann schwer auf das Sofa.

»Ach, wie müde bin ich!« kam es seufzend über seine Lippen, klagend und schmerzlich; er schloß die Augen und blieb zurückgelehnt sitzen.

Er wußte nicht, daß schon lange der Mulatte, der überhaupt etwas Schattenhaftes an sich hatte, bewegungslos vor ihm stand. Er besaß die Schlüssel zu den Kabinen seines Herrn, doch jetzt hereingekommen war er nicht.

Flederwisch seufzte auf mit geschlossenen Augen.

»Massa!« klang es da neben ihm.

Erschrocken schlug der Träumende die Augen auf, wahrhaft entsetzt blickte er den Schwarzen an.

»Manuel! Wie kommst du hierherein?«

»Ich war schon drin, als Ihr kamt; dort in der Ecke vor dem Schubfach kauerte ich. Ihr saht mich nur nicht. Ihr hattet doch gesagt, ich sollte einmal die Laden aufräumen, da war ich gerade dabei, hatte hinter mir zugeschlossen – – Massa!«

Es lag etwas in den Augen des Mulatten, die Stimme aus der sonst so rauhen Kehle klang heute so weich, daß Flederwisch stützte, es war etwas zu Ungewöhnliches.

»Was willst du? Aber verschone mich mit Bitten, es gibt keinen Urlaub, bitte auch nicht für andre – denn ich bin in der Stimmung, alles, alles zu gewähren! Nun, was gibt's?«

»Ihr dauert mich, Massa!« begann die heute so weiche Stimme leise. »Das geht mit Euch so nicht weiter. Ihr schreibt hier manchmal die ganze Nacht durch, ich weiß es wohl, und länger als vier Stunden schlaft Ihr nie. Das hält auf die Dauer kein Mensch aus. – Das ist's nur, was ich Euch sagen wollte. Kommt, Massa, duscht Euch kalt ab, ich frottiere Euch tüchtig, trinkt noch ein paar Glas Grog, und dann schlaft einmal zehn Stunden durch.«

Unverwandt blickte Flederwisch in das schwarze, brutale Gesicht, und immer mehr leuchtete es in seinen Augen auf.

»Manuel, du bist doch ein guter Kerl!« rief er dann mit einem Anflug von Zärtlichkeit.

»Unsinn, Kapitän, ein Satan bin ich!« entgegnete der Mulatte, schon wieder heiser knurrend. »Aber, wahrhaftig, das kann ich nicht mehr mit ansehen! Und dann, Massa, schafft Euch doch dieses Weib vom Halse! Leiden könnt Ihr sie nicht mehr, und mit dem Liebhaber habt Ihr Euch auch verkalkuliert, das ist ein lumpiger Indianer. Warum geht Ihr denn da noch jeden Tag hinein zu Ihr? Wißt Ihr, was ich glaube? Soll ich's Euch sagen? Ich glaube, Ihr habt Euch in eine fixe Idee verrannt, Ihr hofft sogar, daß sie Euch noch einmal von hinten in den Rücken sticht, der Gedanke daran macht Euch gerade solches Vergnügen, wie dem indischen Fakir der Schmerz, wenn er sich langsam am Feuer röstet. Laßt das, Massa, solche dumme Gedanken reiben den Menschen auf, und man hat nicht einmal etwas davon gehabt. Laßt das Weib laufen!«

Finster schüttelte Flederwisch den Kopf.

»Es ist zu spät! Sie hat etwas Böses im Auge! Ich fürchte eine Teufelei! Wenn ich sie laufen ließe – und sie ginge zu – Manuel – Manuel,« immer unsicherer wurde Flederwischs Stimme, »ob ich sie kommen lassen – kann? Manuel – du bist ein – guter Mensch – aber – ach, Manuel! – weißt du, was mir fehlt? – ich möchte einmal – eine weiche Hand – die sich auf meine Stirn legt – ich möchte – daß jemand einmal zu mir sagte: mein lieber Paul!«

Die unsichere Stimme war immer weicher geworden, und plötzlich entstürzte ein Tränenstrom den Augen des Kapitäns, er weinte wie ein Kind. Der Mulatte war ja solche Gefühlsausbrüche seines reizbaren Herrn gewöhnt, diesmal jedoch sah er nicht höhnisch, wie sonst bei derartigen Gelegenheiten, auf ihn herab, diesmal war es ein besorgter Blick.

»Ihr solltet doch einmal ausschlafen, Massa!«

Schnell, wie sie gekommen, waren die Tränen wieder versiegt, trotzig warf Flederwisch den Kopf zurück und sprang auf.

»Ach was, Unsinn! Ich brauche keinen Schlaf, ich schlafe mit offnen Augen! Was ist für Wind? Ein prächtiger West! Jetzt weiß ich plötzlich, was mir fehlt! Hallo, Manuel, mach die kleine Jolle klar, nimm Trinkwasser und Proviant für ein paar Tage mit! Das ist's, was mir fehlt! Ich muß mich wieder einmal auf den Wellen schaukeln können, Salzwasser muß mich einweichen. Wir wollen auf den Inselchen herumstromern; hoffentlich gibt's ein kleines Abenteuer. Ich habe auch noch einen speziellen Zweck dabei, ich erzähl's dir dann im Boot. Los, die Jolle klar! – Halt, nimm auch ein Dutzend Lichte und eine Laterne mit!«

»Wozu denn eine Lat ...«

»Willst du schwarzer Hund gleich, ohne zu fragen, gehorchen?!« schrie Flederwisch, nach dem Lineal greifend.

Der Mulatte schlüpfte hinaus und schmunzelte vergnügt. Wenn sein Herr ihn mit solchen Schmeichelnamen belegte, dann war er wieder »all right«.

Nach einer Viertelstunde meldete er die Jolle klar; sie enthielt alles, um den Weg zwischen Untiefen auszupeilen und auf hoher See das Land außer Sicht verlieren zu dürfen. Flederwisch hatte unterdessen Anordnungen getroffen, daß man ihn einige Tage entbehren konnte; er sprang in das Boot, Manuel mußte sich ans Steuer setzen, er selbst richtete den Mast hoch und setzte die Segel und gab sich ganz dem Sportvergnügen hin; dann griff er auch noch, obgleich es gar nicht nötig war, zu den Riemen und ruderte mächtig, er wollte sich ausarbeiten. Es war ein schöner Spätnachmittag, der ziemlich starke Westwind feucht und daher die tropische Hitze mildernd; lustig hüpften die schäumenden Wellen am Bug des tanzenden Bootes. Flederwisch fühlte sich so jung und übermütig wie damals, als es dem Seekadetten das höchste Vergnügen war, mit dem Boote zu kentern und auf dem Kiele zu reiten.

Nach und nach aber legte sich das Interesse für Windabfangen und Kenterexperimente. Jetzt setzte Flederwisch sich ans Steuer, und der vor sich hinbrummende Manuel, der ganz unnötig schon bis auf die Haut durchnäßt war, mußte die Segel bedienen und rudern, wenn das Umgehn einer Klippe gegen den Wind es erforderte.

Zwei der kleinen Inseln hatte das Boot schon hinter sich, als der in Gedanken versunken gewesene Kapitän sich wieder seines Begleiters erinnerte.

»Manuel, du kannst doch Chinesisch. Was heißt – die Geisterinsel?«

Der nasse Mulatte war getrocknet, die Segel konnten stehn bleiben, das Wasser war frei, daher durfte er seine Pfeife rauchen und befand sich wieder bei guter Stimmung.

»Da verlangt Ihr von mir zuviel, Kapitän. Ich weiß vom Chinesischen nur alles, soweit es das Trinken, Essen, Rauchen und die Mädchen anbetrifft. Fluchen können die Kulis nicht gut, sonst hätte ich das auch gelernt. Fragt einen Chinesen, aber wenn Ihr das Wort nachsprecht, und Ihr trefft nicht ganz genau die Betonung und die Melodie der Silben, dann heißt's vielleicht Katzenschwanz oder sonst etwas, nur nicht Geisterinsel. Singen und Musikmachen tun die Chinesen greulich, aber beim Sprechen haben sie ein wunderfeines Ohr. Wie kommt Ihr denn gerade auf dieses kuriose Wort?«

»Hast du schon davon gehört, daß ich heute die achtundzwanzig Chinesen wegen Widersetzlichkeit entlassen habe? Wie ich sie aber hier behalten werde?«

»Haha, Kapitän, da habt Ihr einen raffinierten Gedanken gehabt! Meine Hochachtung – wenn Euch an der etwas gelegen ist. Zuerst dachte ich nämlich selber, Ihr wäret nicht recht bei Sinnen. Als die kalifornischen Segler in Sicht kamen, fuhr ich schnell hinüber, um Euch zu holen, traf Euch aber nicht mehr. Da hörte ich die entlassenen Chinesen jammern, dann hörte ich auch zwei Ingenieure sich unterhalten – zehn Jahre wolltet Ihr die Kerls durchfüttern, gleich tausend Chinesen, wenn's sein müßte. Was? dachte ich. Ist der Kapitän verrückt? Nein, er hat nur – Spaß gemacht, so wie immer. Da hörte ich die Kulis wieder schnattern und winseln, und plötzlich fiel mir's wie Schuppen von den Augen. Hahaha! Die braucht Ihr nicht lange zu füttern, die haben sich in drei Monaten tot gewinselt. Faul zusehen zu müssen, wie andre arbeiten und viel Geld verdienen, und sie könnten es auch so haben, wenn sie nicht so dumm gewesen wären – das kann der Chinese nicht vertragen! Auf allen Inseln ist's schon herum ...«

»Schweig!« herrschte ihn Flederwisch an. »Ich kann es nicht dulden, Pläne, die ich mir schon längst sorgfältig in allen Einzelheiten zurechtgelegt habe, aus einem geschwätzigen Munde mit alberner Wichtigkeit vorgetragen zu hören. Deshalb ist mir auch dieser sonst ganz gediegene Halfdan manchmal so zuwider, weil er immer und immer seine alten Projekte auskramt, wie er dies und jenes hätte schaffen wollen. Rate mir, wie ich meine Pläne am schnellsten verwirkliche, pack mit zu – aber die Grundlage gebe nur ich an. Ueberdies beweist du jetzt wieder, was du für ein nachplappernder Dummkopf bist. Denkst du denn, die Chinesen werden zehn Jahre aushalten? Kein einziger. Nun, Manuel, nun zögere nicht mit deinem weisen Rate! Mir liegt daran, diese meine ersten Arbeiter festzuhalten, ich habe keine Lust, immer wieder neue herbeizuschaffen und sie immer wieder neu anzulernen. Wie halte ich sie fest?«

»Sehr einfach! Zahlt ihnen die Ersparnisse doch nicht aus, erst nach zehn Jahren, das ist doch überhaupt als Regel eingeführt, daß ihnen der Lohn nur in ihr Buch eingetragen wird.«

»Nein, Manuel, so wie du es dir denkst, geht es nicht. Der Mensch hat das Recht, das, was ihm gehört, zu fordern. Es würde auch meinen Kredit untergraben. Denn ich werde dereinst doch noch mehr Arbeiter aus China holen müssen. Das aber, was hierbei unter China zu verstehn ist, sind nur einzelne Distrikte, nur schmale Küstensäume. Es wird immer Ausreißer geben, sie gehn zurück, schnell verbreitet sich die Kunde: Der Pächter der Gallopagos zahlt nicht, hat kein Geld, er will uns betrügen – dort gehn wir nicht hin. Einen andern Vorschlag!«

»Legt die Unzufriedenen in Eisen, laßt die Arbeiter gut bewachen, laßt sie in festen Gebäuden schlafen ...«

»Ah, du willst Sklaverei einführen? Nein, ich bin kein Tyrann.«

»Na, Kapitän, da will ich Euch den letzten Rat geben, und wenn Ihr den nicht befolgt, dann sollt Ihr mir auf der Stelle den Kopf abschneiden.«

»Her damit! Du spielst leichtsinnig mit deinem Kopfe, du hast ihn schon verloren.«

»O, keineswegs, Kapitän,« grinste der Mulatte. »Also: befolgt Eure eigne Idee, die Ihr schon gefaßt habt, und verschont mich mit Fragen!«

Flederwisch lachte beifällig. Sein Bootsmann hatte das Richtige getroffen und es gut auszudrücken gewußt.

»Manuel, fürchten sich die Chinesen nicht recht vor Gespenstern und Geistern?«

»Wie vorm Regen! Wenn Wölkchen am Himmel sind und es gar noch donnern könnte, geht der Chinese nicht ohne Regenschirm und ein Amulett in der Tasche über die Straße. Abergläubisch ist der Chinese schrecklich.«

»Hast du schon von dem verlassenen Kloster auf der Insel gehört?«

Manuel hatte seinen Kalkstummel stopfen wollen; mitten in der Bewegung hielt er inne und blickte den Frager mißtrauisch von der Seite an.

»Mit dem eingemauerten Mönche? Ha, Kapitän, Ihr wollt doch nicht etwa jetzt auf diese Insel?«

Vorläufig beantwortete Flederwisch die Frage nicht; er offenbarte seine weitern Pläne, und wieder zeigte sich seine seltsame Anschauungsweise. Eine direkte Sklaverei hätte er nie eingeführt, das verstieß gegen die Menschenrechte. Aber die Unzufriednen, die ihr Geld verlangten, peitschen, das hätte er gekonnt, nicht etwa, um sie zu bestrafen, sondern nur, um die andern abzuschrecken, daß sie nicht schon jetzt sein Kapital schwächten, und dabei hatte er nach ehrlichster Ueberzeugung nur das Glück der Gepeitschten wie der Eingeschüchterten im Auge.

Es waren ganz merkwürdige Ansichten. Das heute so beliebte Wort ›Uebermensch‹ war damals noch nicht populär, sonst hätte es Flederwisch jedenfalls sehr häufig angewandt. So nannte er sich den Lehrer, den Erzieher derer, die sich unter sein Kommando stellten, und wer seine Kinder wirklich liebhat, züchtigt sie, damit es dereinst brave Menschen werden. Flederwisch tat es, und nun wollte er auch noch den schwarzen Mann und den Popanz einführen.

Manchmal zeigte er ein eigentümlich zartfühlendes Gewissen. In diesem Falle hatte er so lange philosophiert, bis er wußte, daß er das, was er tun wolle, auch verantworten könne. Er wollte die Geisterinsel als Erziehungsmittel benutzen; dorthin sollten die Unzufriedenen geschafft werden; die Gespensterfurcht mußte auf alle mögliche Weise gefördert werden, sofort; wenn die Mißtrauischen ihr Geld nicht in die Hände bekamen, wurden sie hinübergeschafft, und nicht nur der nachtwandelnde Mönch, schon der bloße Name der Geisterinsel mußte auf sie als Schreckgespenst wirken, daß sie es auch nach zehn Jahren nicht wagten, das Geld zu fordern, sondern stillschweigend darauf warteten. Das alles aber waren abermals Ideen, die Nobody ihm eingeimpft hatte.

Weiter erklärte Flederwisch, wie er daran dächte, auch Carmencita auf dieser Insel unterzubringen. Während der ganzen fünf Monate hatte sie ihre Kabine noch mit keinem Schritt verlassen, Spaziergänge an Deck schlug sie ab, so konnte es allerdings nicht weitergehn. – Flederwisch wollte kein Zuchthausaufseher sein, wie er sich ausdrückte. Einige Räume des Klosters wurden für sie eingerichtet, die ganze Insel stand ihr zur Verfügung; Chinesen waren ihre Diener, die sie kujonieren konnte. Die Oberaufsicht sollten zwei Matrosen der Frithjof übernehmen. Die besten Wächter der Insel aber würden die Haifische sein, es brauchte nur ein einziges Boot unter sicherm Verschlusse gehalten werden, und Wasser, wenn man solches nicht noch fand, konnte für die paar Menschen leicht hinübergeschafft werden.

Manuel hatte für die Ausführungen seines Herrn wenig Interesse gehabt, sonst würde er Bemerkungen gemacht haben; er hatte nur immer vor sich hingebrummt, nach einer vorn auftauchenden Insel gespäht und argwöhnische Blicke teils nach der tiefstehenden Sonne, teils nach dem sprechenden Kapitän geschickt.

»Wo werden wir eigentlich übernachten?« meinte er dann, als Flederwisch schwieg, und er brachte es so recht gleichgültig heraus. »Ich denke, wir verankern uns wo, legen uns auf die Segel, wickeln uns in die wasserdichten Decken ein und schnarchen friedlich.«

»Und ich denke, wir werden uns in dem Kloster Betten machen, daß wir morgen in aller Frühe gleich an Ort und Stelle sind, um dasselbe und die Insel in Augenschein zu nehmen.«

»Aber Ihr wolltet doch wegen Eurer Gesundheit ...«

»Still, du sollst mir nicht immer widersprechen! Es bleibt dabei, wir landen auf der Geisterinsel und schlafen in dem Kloster mit dem spukenden Mönche. Ich brauche ja eben ein Abenteuer zur Wiederherstellung meiner Gesundheit.«

»So, so – hm, hm – meinetwegen – mir soll's recht sein,« brummte Manuel unwirsch, und so knurrte er immer weiter vor sich hin.

Flederwisch weidete sich heimlich an des schwarzen Bootsmanns Verlegenheit. Während vieler Jahre hatte er ihn ja gründlich kennen gelernt, wußte, daß Manuel voller Aberglauben steckte, und das war eigentlich ganz selbstverständlich; denn einmal war er ein Seemann, zweitens ein Mulatte, und Rechenkunst und Sprachkenntnisse haben so wenig wie Schlauheit etwas mit aufgeklärter Bildung zu tun. Aber daß der furchtlose Mulatte sich auch vor spukenden Mönchen und andern Geistern scheue, das war Flederwisch neu; er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, dies zu erkennen.

»I, Manuel, sage mal, du fürchtest dich wohl recht vor Gespenstern?«

»Nein, ich glaube an keine Gespenster,« entgegnete der Bootsmann jetzt mit Entschiedenheit, »bin noch keinem Geiste begegnet und habe noch keinen Toten wiederkommen sehen, deshalb glaube ich nicht daran; es sind nur Ammenmärchen. Aber hört, Kapitän, gesetzt den Fall, es gäbe Geister, und man wüßte, wo man einen sehen kann, dann wäre es doch eigentlich dumm von einem klugen Manne, der gar nicht an so etwas glaubt, wenn er hinginge, denn der Geist könnte ihm vielleicht doch etwas antun, und dann müßte man doch daran glauben, wo man doch weiß, daß es gar keine Geister gibt, und darum soll ein kluger Mann lieber nicht hingehn. Habe ich recht oder unrecht, Kapitän?«

»Bravo!« lachte Flederwisch hell auf. »An dir ist ein Professor verloren gegangen! Uebrigens steckt in deinen konfusen Worten eine verborgne Weisheit, von der du selbst nichts ahnst. Es gibt nämlich heutzutage sehr wenig Menschen, die an Gespenster glauben; aber noch weniger Menschen gibt es, die sich nicht vor Gespenstern fürchten.«

Flederwisch brach das Gespräch ab und nahm mit dem Sextanten die dicht über dem Horizonte stehende Sonne auf. Nach der Berechnung war jene bewaldete Insel dort die gesuchte mit dem Kloster, von dem von hier aus allerdings nichts zu sehen war, und man mußte sich mit der Landung beeilen, wollte man dann nicht im finstern Walde umherirren.

Die Küste war frei von Riffen, senkte sich allmählich ins Meer, deshalb konnte das Boot nicht am Ufer landen, und ein Aussteigen und Schieben hätte hier verhängnisvoll werden können. Halfdan hatte recht, die Haifische schienen diese Insel als ihr Eigentum zu betrachten, wie die Schildkröten die andern; überall sah man dreieckige Flossen aus dem Wasser ragen, ab und zu ertönte ein Schnappen und ein klatschender Schlag.

»Wir wollen es dort an dem einsamen, dicht am Wasser stehenden Baume versuchen,« meinte Flederwisch, »der sieht gerade aus, als hätten schon vor Jahrhunderten die Mönche ihr Boot an seinen Wurzeln befestigt.«

Wirklich, dort fand das Boot bis dicht an das trockne Land tiefes Wasser; die noch in das Meer reichenden Wurzeln des Küstenbaumes, ein Tummelplatz für Krabben, bildeten eine Art Treppe, das Aussteigen erleichternd, und als Flederwisch oben stand, sah er in einiger Entfernung hinter Buschwald graue Mauern emporragen.

Manuel knüpfte die Segel los, rollte sie zusammen und reichte sie, wie den ganzen Inhalt des Bootes, zuletzt auch ein Gewehr, einzeln dem Kapitän hinauf, der einstweilen alles an den Boden legte.

»Dort ist das Spukhaus, in dem wir diese Nacht schlafen. Na, was werden wir da alles erleben!«

»Laßt doch den Spott, Kapitän, ich verdiene ihn wahrhaftig nicht. Oder habt Ihr mich schon einmal vor etwas zittern sehen? Ladet mir lieber schnell die Segel auf den Buckel, in ein paar Minuten ist's finstre Nacht!«

Flederwisch war damit beschäftigt, dem Mulatten die ganz gewichtigen Segel um Rücken und Brust zu schlingen, die spitzen Nocken, die Enden, auf den breiten Schultern befestigend, als Manuel krampfhaft Flederwischs Arm packte.

»Da – da – Kapitän – seht Ihr das Weiße dort?«

»Kommt es schon?« lachte Flederwisch, gar nicht nach der Richtung der ausgestreckten Hand blickend.

»Unsinn, eine Ziege ist's, die uns zuguckt. Ziegenbraten schmeckt gut, und Ihr wollt doch ...«

Jetzt hatte sich Flederwisch schnell herumgedreht, schon langte seine Hand vorsichtig nach dem am Boden stehenden Gewehr- und Patronenkasten. Ja, das war etwas für ihn, hier in der Wildnis, auf der einsamen Insel, ein großes Feuer und eine ganze Ziege darüber am Spieß – da wurde er trotz seines an Abenteuern schon so reichen Lebens gleich wieder der für Indianer- und Jagdgeschichten schwärmende Knabe.

Er sah den weißen Schein zwischen grünem Laubwerk, ehe er aber die Büchse heben konnte, verschwand er, Zweige knackten, das Tier floh.

»Die leben hier nicht mehr in paradiesischer Unwissenheit, die haben schon von den Donnerbüchsen der Bleichgesichter einen Geschmack bekommen. Schade, Ziegenbraten wäre mir lieber gewesen als die faden Konserven!«

»Wartet doch, noch ist nichts verloren,« tröstete Manuel, »ein Weib bleibt immer ein Weib und eine Ziege immer eine Ziege. Weit kann sie nicht davongelaufen sein. Paßt auf, ich locke sie, und wenn sie mich mit dem Buckel sieht, denkt sie, ich bin ein Kamel, das hat sie noch nie gesehen, und da vergißt sie vor Neugierde alle Vorsicht.«

Und der Mulatte, mit den umgewickelten Segeln frei stehn bleibend, begann wie ein Ziegenbock zu meckern, dann fing er auch noch an, hin und her zu hüpfen, während sich Flederwisch, mit dem Gewehr im Anschlag, hinter dem Baume hielt. Aber schießen hätte er jetzt nicht dürfen, er konnte vor unterdrücktem Lachen den Lauf nicht stillhalten; die neugierige Ziege sollte also glauben, die dort herumtanzende Gestalt mit dem bepackten Rücken wäre ein meckerndes Kamel, das sie noch nie gesehen hätte.

Aber die plumpe List wirkte wahrhaftig. Ohne Geräusch verursacht zu haben, erschien der weiße Schimmer zwischen dem Gebüsch wieder, jetzt streckte sich der behörnte Kopf der verwilderten Hausziege hervor, zwei große, grünleuchtende Augen waren neugierig auf den meckernden und tanzenden Mann geheftet.

Der Schuß donnerte, das Tier sprang aus dem Gebüsch und brach zusammen.

Trotz seiner schweren Last eilte der Mulatte leichtfüßig darauf zu.

»O je,« sagte er in kläglichem Tone zu dem nachkommenden Flederwisch, »da müssen wir erst ein kleines Stück davon zur Probe braten, und das dürfte etwas stinkig schmecken. Getroffen habt Ihr die Ziege gut, gerade zwischen die Augen, aber, Kapitän, Ihr habt einen Bock geschossen, und noch dazu einen uralten!«

»Daran bist du schuld,« lachte Flederwisch, »du hast wie eine Ziege gemeckert, du hättest etwas mehr männliche Sehnsucht in dein Meckern legen sollen, dann wäre eine jugendfrische Ziege gekommen. Na, Manuel, wenn wir so dabeibleiben, dann wird uns heute nacht der gespenstische Mönch nicht besuchen, das Lachen können die Geister nicht vertragen.«

Flederwisch ging noch einmal zum Boot zurück, um sich mit Lichtern und der Blendlaterne zu versehen, dann suchten sie gemeinschaftlich den bequemsten Weg durch das dichte Buschwerk, das hier keinen Baumwuchs aufkommen ließ, kletterten über eine zerfallene Mauer, auf der auch schon eine üppige Vegetation Fuß gefaßt hatte, kamen in den Klosterhof, der sich aber im Laufe der Jahrhunderte in einen Urwald verwandelt hatte, und als sie eine Oeffnung sahen, welche die an den Mauern wuchernden Schlingpflanzen von einem Portale noch freigelassen hatten, drangen sie durch diese in das Innere des Gebäudes.

Fast nur in dem einzigen Augenblick, als er eben eintrat, konnte Kapitän Flederwisch einen Eindruck vom Ganzen bekommen. Einen sehr großen, hohen Raum, Bogengewölbe, dicke Pfeiler, große Bogenfenster – mehr sah er nicht – dann war es, als ob man ein Licht ausblase. Statt der noch alles deutlich erkennen lassenden Helle herrschte plötzlich eine undurchdringliche Finsternis. Der schnelle Wechsel von Tag und Nacht in dieser Zone trat hier in dem an sich schon düstern Räume noch schärfer als sonst hervor.

Das spanische Kloster konnte sich aber nicht viel von andern seinesgleichen unterscheiden. Der große Raum war das Refektorium, der Speisesaal, und da er wahrscheinlich das ganze Grundgeschoß einnahm, zugleich auch der Konvent. Dann befanden sich im zweiten Geschoß die Zellen der Mönche. Die Klosterkirche mußte an die Klausur grenzen, das ist die Außenmauer, und stand mit dem eigentlichen Kloster durch einen Kreuzgang in Verbindung.

»Hier riecht's ekelhaft modrig!« brummte der Mulatte.

Flederwisch brannte eins der Stearinlichter an. Die Luft war recht feucht. Die Flamme verbreitete nur einen ganz kleinen Lichtschein, der sich wie ein Nebel verlor. In die mit Reflexspiegel versehene Laterne gesetzt, durchdrang das Licht zwar die feuchte Luft, beleuchtete aber immerhin nur die nächste Umgebung. Man konnte auf einmal immer nur einen kleinen Teil derselben erkennen. Auch hier im Innern waren die Wände und Pfeiler mit einer Vegetation bedeckt, die zum Gedeihen nur eines geringen Lichtes bedurfte.

»Die Basaltquader haben die Jahrhunderte überdauert, das ist die Hauptsache, und im übrigen sollen tausend Kulis in einer Woche alles hier ändern. Die werden dabei gleich auf Geister dressiert, daß sie dann haarsträubende Geschichten erzählen können. Manuel, kannst du gut Gespenst spielen?«

»Das ist Ziegenmist,« umging der Gefragte die Antwort, mit der Fußspitze im weichen Boden wühlend. »Wir wollen doch lieber draußen kampieren, ich mache Euch ein hübsches Lagerfeuer ...!«

»Nichts da! Nun bleiben wir gerade hier! Vorwärts, hole die andern Sachen herein!«

Achselzuckend entfernte sich der Mulatte, der die Segel schon abgeworfen hatte, durch die Maueröffnung. Auch draußen herrschte finstere Nacht, der Mond ging erst in einigen Stunden auf; aber Manuel sah im Dunkeln, und im Freien schien er unbekannte Mächte weniger zu fürchten als drin.

Nachdem Flederwisch sich im Kloster überall orientiert und auch des weitern nichts entdeckt hatte, was seine Phantasie reizen konnte, nicht einmal eine verschlossene, geheimnisvolle Tür, ging er wieder zurück. Für ein ängstliches Gemüt wäre der Aufenthalt in dem verlassenen Kloster doch ungeeignet gewesen; die Schritte hallten unheimlich auf der Treppe, der stärker werdende Wind brachte seltsame Töne hervor, dort in der Ecke heulte es, in jener Zelle klang es wie ein Winseln, trockene Blätter raschelten – und dazu beschäftigten sich die Gedanken mit dem eingemauerten Mönch, welcher, jetzt frei vom irdischen Körper, die früher versäumte Leibesbewegung durch nächtliche Spaziergänge nachholte.

Aber dem Mulatten war von Flederwisch großes Unrecht geschehen. Manuel hatte nicht nur dreimal den finstern Weg allein durch den Wald gemacht und alles in das Refektorium getragen, er hatte sich auch, mit den Sachen beladen, an der Wand entlanggetastet, bis er ein offnes Fenster erreicht, weit im Hintergrunde, und hier war ihm noch dazu etwas passiert, was wahrscheinlich auch den starknervigsten Mann über den Haufen geworfen hätte. Aus einer dunklen Ecke war ihm ein gehörnter Teufel direkt entgegengesprungen, und der starke Manuel hatte den Ansturm nicht nur ausgehalten, sondern hatte den Spuk auch noch mit einem raschen Griff am Bocksbein erwischt, ihn zu Boden geworfen, und im nächsten Moment war auch schon sein haarscharfes Schiffsmesser über die zottige Kehle gefahren.

Als Flederwisch eintrat, sah er hinten in einem nebligen Lichtkreise den Mulatten hantieren. Schon hatte er mit den Segeln zwei Lager hergestellt, jetzt öffnete er dem von Flederwisch geschossenen Bock den Leib.

»Ja, was ist denn das?« staunte der Kapitän. »Der Bock hat doch einen ganz andern Gesichtsausdruck bekommen – und – und – Euter?«

Der Mulatte erzählte ihm, wie er die noch junge Ziege hier gefangen und abgetan habe, und zwar ohne jede Renommage.

»Du bist doch ein ganzer Kerl, Manuel,« bewunderte Flederwisch ihn aufrichtig. »Ich denke, der kauert mit klappernden Knochen hier unten, und derweile fängt er Ziegenböcke wie die Fliegen mit der Hand weg!«

Der mit Blut bespritzte Mulatte erhob sich.

»Soll ich Euch was sagen, Kapitän? Ihr glaubt mehr an Gespenster und fürchtet Euch tatsächlich viel mehr davor als ich.«

Mit großen Augen blickte Flederwisch den Sprecher an. Er faßte die Worte nicht lächerlich auf, er schien betroffen zu sein, obgleich er lachte.

»Was? Ich? Na, Manuel, da müßtest du mich doch besser kennen. Ich wandre hier durch das ganze Kloster und suche den spukenden ...«

»Jawohl, eben darum! Warum seid Ihr denn ganz versessen darauf, gerade hier in dem stinkigen Ziegenstalle zu kampieren? Weil es hier so schön gruselig ist! Und warum ist das so schön? Weil Ihr immer an den spukenden Mönch denkt. Ach, ausreißen würdet Ihr nicht, wenn er kommt, das weiß ich – wenn er nur käme – ach, das gruselt einem so schön! Und darum glaubt Ihr auch an Gespenster. Das ist's.«

Anstatt diesen Verdacht entrüstet zurückzuweisen oder durch Spott zu töten, schüttelte Flederwisch langsam und ernst den Kopf.

»Manuel, Manuel, dein schwarzer Schädel ist heute mit Weisheit angefüllt, wie ein Ei mit Dotter. Ja, du hast recht. Das ist's. Ich glaube an nichts, es geht gegen meinen gesunden Verstand – und – dennoch! Dafür fehlen eben die Worte! Es liegt etwas im Menschen – etwas Geheimnisvolles – wie eine schauerliche Ahnung des Unsichtbaren – und merkwürdig, daß gerade unsre größten Geister am wenigsten zweifeln an jenem Etwas. – Da siehst du wieder, Manuel,« fuhr Flederwisch dann in seinem leichten Tone fort, nicht beachtend, daß er sich widersprach, »wie bescheiden ich bin, ich glaube nun einmal an nichts, also rechne ich mich auch nicht zu jenen großen Geistern. Nein, fort mit allen bänglichen Träumereien! Am Tage scheint die Sonne, in der Nacht ist's dunkel, und wenn der Mensch tot ist, verfault er. Deine Weisheit aber soll nicht unbelohnt bleiben; packe noch einmal an, wir tragen alles hinauf, oben ist's doch gemütlicher. Schneide ein paar Ziegenkoteletts heraus, wir braten sie auf Spiritus.«

Der Umzug fand statt; Flederwisch legte mit Hand an, und bald wurde es in einer Zelle, deren Fenster einen Laden hatte, gemütlich. Ueber dem einen Loche des Spiritusofens siedete das Wasser für den Teegrog, auf dem andern brieten unter des Mulatten Aufsicht die Ziegensteaks in Butter, welche in flüssigem Zustande einer Präservedose entnommen worden war; pfeifend ordnete und öffnete Flederwisch die andern Dosen und Büchsen, wie auch ein halbes Dutzend Flaschen, welche verschiedene alkoholische Getränke nur in konzentriertester Form enthielten.

Jene paradiesischen Gegenden sind es nicht wert, daß der Nordländer so viel von ihnen schwärmt. Heiße Luft und Durst dabei, Qual und Sorgen mancherlei – wie z. B. Fieber und Moskitos, Schlaflosigkeit und Schlangen. Mit dem Trinken geht es ja noch. Münchener Bier gibt es heutzutage überall auf der Erde, wo nur eine Karawane hingelangen kann, aber es ist auch schon nicht das rechte, die Kater wachsen dort ins Riesenhafte und werden lebensgefährlich, und mit dem Essen wird es erbärmlich, wenn man sich etwas aus dem Bereiche einer Küche entfernt. Ein belegtes Butterbrot gibt es da nicht mitzunehmen, da hätte man bald etwas andres in der Tasche. Nur Eier können einige Tage den Anspruch machen, als frische Lebensmittel zu gelten, alles andre, womit sich ein Reisender versehen kann, ist eingemachtes Zeug, ausgekocht und eingepökelt, fade und dumpfig schmeckend, und der Oelsardinen und Anchovis würde man bald überdrüssig.

So war es hier mit dem Abendbrot bestellt. In einem deutschen Hotel wären es leckere Delikatessen gewesen, hier war es ein ewiges Einerlei. An Bord wurde jeden Tag frisch gebacken, erst vor einigen Stunden hatten sie das Schiff verlassen, und doch mußten Zwieback das Brot vertreten; waren es auch die feinsten Biskuits, ersetzen konnten sie das frische Brot doch nicht.

Trotzdem, es war einmal etwas andres, es wurde gemütlich. Die Mahlzeit war vorüber, Punschgläser und Pfeifen traten in ihre Rechte. Rauchend dehnten sich Flederwisch und sein Bootsmann auf den Segeln und lauschten, wie es in dem alten Kloster heulte und wimmerte, wie irgendwo ein Holzladen klapperte, und diese gespenstischen Töne konnten nur ein Gesprächsthema aufkommen lassen.

»Ja, 's ist merkwürdig mit uns Menschen,« philosophierte der heute geistreich gestimmte Mulatte, »man fürchtet sich nicht vor Gott und Teufel, man glaubt an nichts, wenn's darauf ankommt, hat man das Herz in den Fäusten und schlägt drein, aber vor eingebildeten Gespenstern hat man schreckliche Angst. Ja, nur die Einbildung ist's, vor der man zittert, nichts weiter. Wißt Ihr, Kapitän, wie ich das meine? Ich glaube, ich drücke mich zu dumm aus. Ihr könnt mich nicht verstehn. Paßt auf! Stellt Euch vor. Ihr sitzt allein in einer Stube, ob's nun Tag ist, oder ob die Lampe brennt, und Ihr lest so eine dumme Gespenstergeschichte. Ich will einmal sagen, da ist ein Mann, der auch so wie Ihr allein in der Stube sitzt, und wie er sich einmal umdreht, da liegt plötzlich hinter ihm auf dem Bette ein kleines, blutiges Kind, und das richtet sich plötzlich ganz allein und ganz langsam auf, guckt ihn mit ganz großen, unheimlichen Augen an – also, das müßt Ihr verstehn, so etwas lest Ihr nur. Herrgott, denkt Ihr da, wenn das hier auch so bei mir wäre, ich will doch einmal – und wie Ihr Euch umdreht, da liegt auf Eurem Bette plötzlich ein kleines, blutiges Kind, das richtet sich mit großen, unheimlichen Augen auf – stellt Euch das nur einmal vor, in Wirklichkeit ist's ja Unsinn. Kriegt man bei solchen Gedanken nicht eine Gänsehaut? Oder seht einmal dorthin, nach dem Vorsprunge dort – ich denke mir, ein Schornstein geht durch. Nun bildet Euch ein, wie Ihr so ganz harmlos hinguckt – da kommt plötzlich eine riesengroße, grüne Hand hinter der Ecke hervor, krallt ein paarmal in der Luft herum, macht Euch eine Faust und verschwindet wieder. Nanu, werdet Ihr denken, und ich kalkuliere, Euer Haar wird sich etwas sträuben. Und wie Ihr noch so hinstarrt, ob noch etwas käme – da kommt auch noch ein mächtiger, blutiger Menschenkopf hinter der Ecke hervor, einen Meter groß und nickt Euch ganz langsam zu, reißt das zahnlose Maul auf – jetzt brüllt er, denkt Ihr – nein, aus dem riesigen Maule wimmert es wie ein kleines Kind, und er nickt Euch immer zu – Kapitän, Hand aufs Herz, würdet Ihr aufspringen und hinter den Ofen gucken, was das für ein Kerl ist, und ihm, wenn's nötig ist, eins zwischen die Augen geben?«

Allerdings sprang Flederwisch auf und ging einmal durch die Zelle.

»Höre auf, Manuel, höre auf!« rief er, ärgerlich lachend und doch aufgeregt. »Bei Gott, in deinem wolligen Schädel steckt mehr, als ein Bootsmann braucht. Ja, du hast recht. Die eignen Phantasien sind es, vor denen sich der Mensch fürchtet, und der festeste Mann ist nicht dagegen gefeit, wenn er nur genügend Phantasie besitzt.«

»Dann laßt mich Euch noch etwas erzählen ...«

»Nein, nein, nichts mehr,« wehrte sein Herr ab, sich müde auf das Lager werfend, »genug nun dieses Unsinns. Du hast mir schon klarzumachen gewußt, wofür du vorhin nur konfuse Worte hattest. Ja, nur die Phantasie ist's, und ich glaube – das ist das Göttliche, was den Menschen vom Tiere unterscheidet.«

»Aber ich muß Euch doch noch etwas erzählen, etwas ganz andres, sonst wär's nur halb gewesen. Ich lag einmal ein paar Monate an Land in New Orleans – Ihr wißt, damals als die Schauerleute streikten – wohnte bei einem schwarzen Heuerbaas, der nur Nigger in Logis hatte. Es war überhaupt schon ein altes, winkliges Haus, hatte früher einer reichen, furchtbar geizigen Witwe gehört, die eines Nachts von ihrem Neffen ermordet war – Tatsache, der Kerl ist gehängt worden – und natürlich spukte nun die alte Hexe im Hause, suchte des Nachts nach ihrem vergrabenen Gelde. Trotzdem, die furchtsamen Nigger liefen nun gerade hin. Das liegt eben in der menschlichen Natur. Sie schliefen zu viert im Bett, zwanzig Mann in einer Kammer, und je mehr sie mit den Zähnen klapperten, desto schöner war's. Na, Kapitän, wenn wir schwarze Bande da abends zusammenhockten, da hättet Ihr etwas von Gespenstergeschichten hören können. Von Fürchten gab's natürlich nichts, einer prahlte mit seinem Mute immer mehr, als der andre. Ich war damals ein junger Kerl, noch ein bißchen unschuldig, hatte noch kein Blut an den Händen, und ich war eine schreckliche Bangbüxe. Seht, Kapitän, so etwas hätte ich in meinem ganzen Leben niemals einem Menschen gestanden – jetzt sag ich's, weil wir nun einmal dabei sind und Ihr so etwas versteht. Da mustert ein Schiff, und gerade alle meine Schlafkameraden, die mit mir auf derselben Stube liegen, gehn an Bord. Ich hätte ja Platz in einer andern Stube bekommen können, aber da ging es los: seht den Furchthasen, will nicht allein schlafen, glaubt an Gespenster – das konnte ich natürlich nicht auf mir sitzen lassen, jetzt mußte ich allein in der großen, leeren Dachkammer schlafen. Na, ich will Euch nicht schildern, wie mir's zumute war, als ich am Abend mit dem Licht hinaufging und ins Bett kroch. Wenn sie jetzt käme, wenn sie jetzt käme! – an weiter dachte ich nichts, und, wie's auch so komisch ist, anstatt den Kopf unter die Bettdecke zu stecken, blicke ich immer nach der Tür, ob die nicht aufgeht und der Geist der Ermordeten hereinkommt. Wenn sie jetzt käme, denke ich mit klappernden Zähnen – und da geht langsam die Tür auf, und herein schwebt eine weiße Gestalt, zuerst ganz klein, wird groß, wieder klein, und ächzt dabei wie ein Sterbender. So, da war sie! Und was werde ich tun, Kapitän? Um Hilfe schrein? Unter die Decke kriechen? Nein. Plötzlich faßt mich etwas wie eine furchtbare Verzweiflung – so oder so, denke ich, nun ist alles egal – ich springe drauflos, packe zu und haue der weißen Gestalt die Knochen im Leibe kaput. – Der Sam war's, ein blutiger Nigger, hatte mich bange machen wollen.«

Manuel klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie frisch und blickte dabei nachdenklich in das Licht der Stearinkerze.

»Seht, Kapitän, so war's,« sagte er nach einer Pause. »Ach, was war ich für ein Held bei den furchtsamen Niggerleins, wie haben sie mich angestaunt und bewundert, und ich habe auch danach geprahlt und geprotzt, tue es noch heute, wenn ich einmal die alte Geschichte auspacke, ich glaube an nichts, mir sollen die Gespenster nur kommen – und im Grunde genommen, war's doch nur die furchtbare Angst, die mich aus dem Bette springen und drauflosstürzen ließ. 'S ist merkwürdig. Ich habe einmal etwas in einem Buche gelesen, ich glaube sogar, es war ein recht gelehrtes, da hieß es ungefähr: nur der wird sich nicht vor Geistern fürchten, welcher ein ruhiges Gewissen hat. Was sagt Ihr dazu, Kapitän?«

»Es dürfte vielleicht ein gut Teil Wahrheit darinstecken,« meinte Flederwisch. »Nun, lassen wir aber endlich diese albernen Geistergeschichten, unterhalten wir uns über etwas Vernünftiges.«

Sie erzählten sich Abenteuer aus jener Zeit, da sie sich beide noch nicht gekannt, und sie kamen doch wieder auf das alte Thema zurück, ohne daß sie es merkten. Das Rascheln der Blätter, das Heulen und Jammern des Windes, das unheimliche, alte Kloster waren daran schuld.

»Da war ich einmal,« begann der Mulatte wieder eine seiner Geschichten, »auf einem Yankee-Schoner. Der Koch, ein alter Deutscher, war auch so ein Gespensterseher, sein ganzer Kopf steckte voll Geisterspuk, sogar Tote beschwören wollte er können, und ich ließ ihn nicht locker, bis er mir erzählte, wie er es mache. Es muß ein Toter sein, nach dem man sich sehnt, also ein guter Bekannter oder so etwas, sonst kommt er nicht. Die Hauptsache dabei ist die Zauberformel. ›Cyriax cum sulfato‹ – so fängt die Beschwörung an ...«

»Cyriax cum sulfato,« lachte Flederwisch, wie die Unterhaltung überhaupt einen viel weniger ernsten Ton angenommen hatte. »Wenn das einer Sprache angehört, so muß Schwefel dabeisein. Cyriax mit Schwefel.«

»Jawohl, Cyriax cum sulfato, so fängt es an, und dann weiter, recht feierlich: Im Namen Gottes, Beelzebubs und des roten Jägers – nun nennt man recht feierlich den Namen von dem, der erscheinen soll, also zum Beispiel – ich will jetzt lieber einen Lebenden wählen, gleich Euch – Kapitän Flederwisch, ich rufe dir, auf daß ...«

»Dich,« korrigierte Flederwisch, »ich rufe dich, heißt es.«

»Ich rufe dir,« behauptete der Mulatte.

»Aber, Manuel, du bist doch sonst in der deutschen Grammatik ganz sattelfest. Ich rufe dich, heißt es.«

»Jawohl, das stimmt schon, weiß es, das habe ich dem Koch damals auch geradeso gesagt, aber der sagte: ich rufe dir, muß es heißen, so lautet eben der Zauberspruch, und wenn der nicht ganz genau so Wort für Wort hergebetet wird, dann kommt der Tote nicht.«

»Na, und weiter?« lachte Flederwisch noch belustigter.

Der Bootsmann sagte die sinnlose Formel her und gab weitere Erklärungen, z. B., daß der Geisterbeschwörer für diesen Frevel dem Teufel seine Seligkeit opfere, und da jeder Mensch nur eine Seligkeit besitze, könne jeder Mensch auch nur einmal mit Erfolg diesen Zauberspruch anwenden.

»Du sprichst gerade, als ob du es einmal probiert hättest,« scherzte der Kapitän. »Ist er gekommen?«

»Nein, ich hab's gar nicht versucht, ich glaube nicht an solch dummes Zeug, und gesetzt den Fall, es könnte gehn, dann soll man solchen Unsinn erst recht nicht machen, denn wer weiß, wie's abläuft!« lautete Manuels konfuse Antwort, und dann setzte er noch einmal bekräftigend hinzu: »Ich glaub's nicht! Wenn der Mensch stirbt, ist er tot und singt nicht mehr.«

»Ja, sein Körper wird wieder zur Erde, das sehen wir mit unsern Augen. Aber die Seele, der Geist, wo ist der?« fragte Flederwisch, nur aus lustiger Neugierde, wie der Mulatte darüber dachte, und mit welchen drastischen Worten er sich wieder ausdrücken würde.

Manuel nahm eines der beiden brennenden Lichter und blies es aus.

»Dort ist er, wo jetzt die Flamme ist, die Ihr eben noch gesehen habt. Futsch! Und nun, Kapitän, könnten wir zur Koje gehn, es ist schon nach zehn Uhr, und den nötigen Schlaftrunk habt Ihr in Euch.«

Der Vorschlag wurde befolgt, die Blendlaterne verhängt, bald herrschte lautlose Stille in der kleinen Zelle. Der Sturm hatte sich gelegt, konnte in den Winkeln und Gängen keine Töne mehr erzeugen, aber desto mehr begann bei dem schwachen Winde jetzt der Fensterladen, oder was es sonst war, zu klopfen und zu klappen.

So vergingen zwei Stunden. Der Mulatte lag regungslos da, wie er auf das Segel gesunken war, wenn auch ganz unbequem. Flederwisch dagegen wälzte sich manchmal hin und her.

»Manuel, ob ich sie zu mir kommen lasse?«

Er hatte sich aufgerichtet und blickte nach dem andern Lager hinüber. Wenn Manuel wirklich geschlafen hatte, so mußte er fähig sein, jeden Moment die Augen groß aufschlagen und klar denken zu können, und mehr noch, der schwarze Sklave der Launen seines Herrn mußte mit diesem in einem geistigen Rapport stehn.

»Wir wollen ein andermal darüber sprechen. Schlaft doch, Kapitän!«

»Ich kann nicht schlafen!« kam es stöhnend aus Flederwischs Munde.

»Tut in ein großes Glas Arrak recht viel Zucker, das hilft mir auch immer, wenn ich einmal nicht schlafen kann. Wartet, Massa, ich will's Euch machen.«

»Nein – nein. Ich kann nicht schlafen! Kleine Männchen und Kobolde und weiße Gestalten tanzen vor meinen Augen – und zwischen den grinsenden Teufelsfratzen ein Gesicht – ein Antlitz – mit so traurigen Augen – ach, Manuel!«

»Das kommt von dem dummen Geschwätz,« sagte der Mulatte, der aufgestanden war und den betäubenden Schlaftrunk nach seinem Rezept bereitete.

»Und diese schreckliche Klapperei von dem Laden,« fuhr Flederwisch ächzend fort. »Bist du einmal wie ich fünf Tage und fünf Nächte auf der Eisenbahn gefahren? Die Räder rucken auf den Schienenschwellen – es wird ein Takt daraus – und im Kopfe entsteht dazu eine Melodie – man verstopft sich die Ohren – man windet sich wie ein Wurm – man schwatzt und lacht – alles vergebens, die Melodie geht Tag und Nacht im gleichen Takte weiter, bis man halb wahnsinnig den Zug verläßt. Hier ist's ein Vers, zu dem der verdammte Laden die Jamben klopft, und ich bring's nicht aus dem Kopfe, immer und immer wieder geht es los:

So sei'n verflucht die Weiber,
Weib ist, was falsch und schlecht,
Hier um zwei weiße Leiber
Verdirbt Burgunds Geschlecht.

Und immer wieder geht's von vorne los. Es muß ein Gedicht von Felix Dahn sein, ich muß es einmal gelesen haben. Wenn es wenigstens weiter ginge! Aber immer wieder von vorne. Es ist entsetzlich!«

»Wollt Ihr's von mir hören?«

Erstaunt blickte Flederwisch nach dem schwarzen Bootsmann, der noch immer den Zucker im Glase zerrührte. Er wußte allerdings, daß der Mulatte, wenn er einmal etwas las, was ihm gefiel, es für immer im Kopfe behielt, und er konnte ja jenes Gedicht zufällig gelesen haben.

»Du, Manuel?«

Ohne mit seiner prosaischen Beschäftigung aufzuhören, begann der Bootsmann zu deklamieren, und er deklamierte gut, ausdrucksvoll, und das schwarze, häßliche, höhnische Gesicht und die blutunterlaufenen Augen, die nach dem aufgeregten Manne schielten, paßten zu den düstern Worten:

»Und Fluch dem Wahngetriebe
Von Liebe, Pflicht und Recht,
Erlogen ist die Liebe
Und nur der Haß ist echt!
Die Reue ist der Narren –
Nur das ist atmenswert:
Bis zum Tode auszuharren
Beim Groll, beim Stolz, beim Schwert!

Da habt Ihr's, nun braucht Ihr nicht bei dem einen Verse zu bleiben,« schloß Manuel.

Und Flederwisch sprang auf, das Gedächtnis kam zurück, mit leidenschaftlichem Pathos wiederholte er die vorgesprochenen Verse.

»Wahrhaftig, das ist furchtbar schön – furchtbar prächtig, wie blutiger Nordlichtschein! Jetzt weiß ich, es ist Hagens Fluchgebet, ehe er Dietrich in die Hände fällt und vor Krimhilde kommt.«

Schnell hatte der Mulatte das Glas hingesetzt und war auf seinen Herrn zugetreten.

»Weiter, weiter! Es gibt noch einen hübschen Vers für Euch, vielleicht könnt Ihr dann ruhig schlafen, 's ist unser Nachtgebet,« flüsterte er mit seiner höhnischsten Stimme, und schallend fuhr er fort:

»Und käm', der Welt Entzücken,
Ein zweiter Siegfried her –
Ich stieß ihm in den Rücken
Zum zweitenmal den Speer!

Verflucht, ich tät's – euch zuliebe!«

Flederwisch war zurückgetaumelt, daß er auf sein Segellager sank.

»Und nun will ich Euch gleich die Frage beantworten, jetzt ist es Zeit,« fuhr Manuel fort. »Ihr sehnt Euch nach Eurer Schwester, Kapitän. Ihr stellt Euch vor, wie sie so allein ist und so weiter – Ihr liebt sie, Ihr wollt sie gern herhaben. Tut's nicht, Kapitän, laßt's Euch geraten sein! Schreibt ihr schöne Briefe und schickt ihr Geld und sorgt sonst für sie – aber nicht hierher! Ich war's, der den ersten Steuermann erstach – Ihr hättet's nimmermehr zugegeben, und doch mußte er aus der Welt – damals, und er stand uns im Wege zum Gold, das Ihr brauchtet. Ich verstand einst nicht, warum Ihr Euch den Mörder nanntet, dazu noch so stolz – dann verstand ich's. Kapitän, Ihr seid verflucht ehrgeizig, solcher Hochmut kommt manchmal zum Fall. Es sind auch Menschen, denen Ihr's gesagt habt. Ihr wißt, Kapitän, ich denke nicht besonders hoch von Frauenhaaren und Weiberköpfen – aber, aber! – wenn die Liebe dazwischenkommt – und dann der Haß! – Kapitän, holt sie nicht zu Euch, laßt's Euch raten!«

Flederwisch, die Hände auf den Knien, hatte stier zu Boden geblickt.

»Nein, ich könnte ihr nicht ins Auge sehen,« murmelte er.

»Possen!« knurrte der Mulatte, drehte sich um und griff nach dem Glase. »Hier, trinkt, jetzt ist's gut, dann könnt Ihr schlafen. Es ist schon Mitternacht.«

Flederwisch stand auf, streckte die Hand nach dem Glase aus und zog sie wieder zurück. Er lauschte den klappernden Tönen.

»Nein, das kann ich nicht aushalten. Wo mag es sein? Unten nicht, es klingt wie hier nebenan. Ich werde ...« er nahm die Blendlaterne von dem hohen Fenstersims, wollte gehn, blieb stehn und sah sich in der Zelle um. »Komm mit, Manuel!«

Dieser zuckte die Achseln und griff nach einem Lichte. Sein Herr ging nach der Tür, zögerte, ging weiter und blieb wieder stehn.

»Bleib nur hier, Manuel!« stieß er dann schnell hervor, den Kopf zurückwerfend.

»Aber warum denn ...«

»Es genügt doch, wenn einer geht.«

»Massa, nehmt mich lieber ...«

»Du bleibst! Gehorche! Weil ich an etwas dachte, wollte ich dich mitnehmen. Pfui, Flederwisch! Denke daran, Manuel, du hast deinen Kapitän einen Augenblick sich fürchten gesehen, denn daß ich dich mitnehmen wollte, war bei mir nur eine Anwandlung von Furcht.«

»Massa,« begann der Mulatte nochmals in bittendem Tone, das brennende Licht in der Hand, als jener schon die Türe aufstieß, »nehmt mich doch lieber mit. Was Gespensterfurcht ist, darüber sind wir uns doch einig, und daß Ihr Euch nicht wie ein kleines Kind im Dunkeln fürchtet, weiß ich doch auch. Aber 's ist gerade Mitternacht, man soll's nicht beschwören, wenn's nicht nötig ist.«

»Nun bleibst du gerade!«

Der Mulatte zuckte nochmals die Achseln und blieb, Flederwisch trat auf den Gang hinaus. Er hatte vorhin vor dem Schlafengehn die Stiefel ausgezogen und lief auf Strümpfen. Hier auf dem Korridor war das taktmäßige Klopfen viel weniger deutlich zu hören als in der Zelle. Der Kapitän ging in eine andre Zelle mit offnem Fenster, hier klang es wieder ganz laut, und als er, etwas zurücktretend, den Lichtstrahl der Reflexlaterne durch das ziemlich hoch angebrachte Fenster schickte, sah er eine Mauer, und von dort kam das monotone Geräusch.

Der Seemann, der immer mit Back- und Steuerbord und nach Himmelsrichtungen rechnet, der auch im Kielraum weiß, wo hinten und vorn im Schiffe ist – worin sich der eine Winkeltreppe hinabgehende Passagier fortwährend irrt – wußte gleich, auf welchem Wege er diese Mauer nur erreichen konnte. Als er heute abend das Refektorium verließ, um den Aufgang nach dem obern Stock zu suchen, war er in einen Gang gekommen, von dem aus die Treppe hinaufführte. Hier aber war der Gang noch nicht zu Ende gewesen, er führte weiter, ihn mußte er benutzen, um dorthinüber zu gelangen. Auf lautlosen Sohlen schritt Flederwisch durch den Zellenkorridor, die Treppe hinab und auf der andern Seite des Kreuzganges weiter.

Es machte ihm ein prickelndes Vergnügen, seinen Gemütszustand bis ins kleinste zu sondieren, selbst seinen Puls prüfte er manchmal. Die Wände des Kreuzganges waren mit Reliefbildern bedeckt, Szenen aus der heiligen Schrift darstellend; wenn das Blendlicht darüberhuschte, bekamen die aus dem Stein hervortretenden Figuren Leben. – Es ließ ihn kalt, er lächelte geringschätzig.

Wenn nun jetzt plötzlich dort aus der Ecke ein kleines, blutiges Kind hervorkäme – Flederwisch lachte. Manuel war doch originell.

Das Lachen schallte schauerlich in dem Bogengewölbe. War er über sein eignes Lachen erschrocken? Nicht im geringsten. Er lachte noch einmal.

Oder wenn nun plötzlich hinter dem Pfeiler ein ungeheurer Kopf hervorschaute! – Flederwisch lachte nur noch lauter.

Aha, am Ende des Kreuzganges die berühmte, geheimnisvolle Tür! Aber sie war nicht verschlossen – schade – doch er mußte sich anstrengen, sie aufzuziehen, und dabei ächzte sie schauerlich schön in den Angeln.

Flederwisch schickte den Blendstrahl voraus, und diesmal war das ›plötzlich‹ angebracht, denn plötzlich stand eine riesengroße, weiße Gestalt vor ihm, die Arme ausgebreitet, um ihn zu umfassen.

Wohl war Flederwisch zurückgefahren, doch nur einen Augenblick war er betroffen, nichts weiter, dann ließ er ruhig den Blendstrahl über die ganze Gestalt gehn, welche auch gar nicht so dicht vor ihm stand.

Es war Christus am Kreuz, in übermenschlicher Größe, aus einem weißen Steine an dunkler Wand, jedenfalls kein Basrelief, wahrscheinlicher aus weißen Steinen oder einer Masse zusammengesetzt und auf die Wand aufgetragen.

Echte Künstler hatten das Werk geschaffen. Das war das schmerzensreiche Antlitz des Heilands.

Der leichtfertige Flederwisch war sehr oft auch ernsten Gedanken zugänglich; er zeigte sich auch oft genug sentimental. Lange Zeit ließ er das Licht auf dem bleichen, edlen Antlitz mit den milden, schmerzlichen Zügen ruhen. Er hatte immer das Kruzifix gern betrachtet.

»Habe ich mich etwa gefürchtet? Bin ich erschrocken gewesen? Nein, nur etwas gestutzt habe ich. I, da soll der Teufel nicht stutzen, wenn plötzlich aus der schwarzen Nacht so eine große, weiße Gestalt vor ihm auftaucht! Ich bin geisterfest.«

Dort oben klopfte das wacklige Etwas in regelmäßigen Zwischenpausen.

Hallo, was war das? Hell – dunkel – hell – dunkel – fortwährend entstand am Boden ein heller Lichtschein oder ein ganzer Lichtstrahl, der gleich wieder verschwand, und die regelmäßigen Pausen hingen mit dem Takte des Klopfens zusammen.

Nun, das war ganz einfach zu erklären. Dort oben in der Wand befand sich eine Oeffnung, ein Fenster. Vor diesem hing ein Laden, ein Brett, irgend ein Verschluß, seine Schwerkraft drängte ihn vom Fenster ab, der Wind trieb ihn gegen die Wand, er fiel abermals zurück – dieses Spiel verursachte das Klopfen. Jetzt mußte der Mond aufgegangen sein, der Seemann wußte ganz genau, wo er um diese Zeit stand, der Raum, in dem er sich befand, hatte auf jener Seite wohl nur dieses eine Fenster, und bei dem Auf- und Zuklappen drang jedesmal ein Strahl des Mondlichtes herein.

Flederwisch freute sich, wie er so klar und vernünftig urteilen konnte.

Er hatte mit dem Blendlichte die Maueröffnung gesucht und gefunden, dabei hatte er noch verschiedenes andre entdeckt, z. B. einen großen, viereckigen Stein – kein Zweifel, er befand sich in der Klosterkirche mit dem Altar.

Um Mitternacht zur Geisterstunde allein in einer Kirche! Cyriax cum sulfato ...

Der einsame Mann lachte laut; das schallende Echo lachte noch lauter und länger nach.

Er richtete das Licht wieder nach der Christusgestalt.

Festen, wenn auch unhörbaren Schrittes ging er dann durch die Kirche auf den Altar zu, setzte auf dem Stein die Lampe nieder und drehte sich um, daß er mit dem Rücken den Strahl verdeckte.

Schade, daß in einiger Entfernung, die in dem sonst finstern Raum gar nicht zu taxieren war, immer der Lichtschein kam und wieder verschwand. Der gute Mond mag Teufelsbeschwörungen auf Kreuzwegen belächeln, in die Kirche gehört er nicht, da stört er bei solch nächtlichen Szenen.

Trotzig verschränkte Flederwisch die Arme über der Brust.

»Cyriax cum sulfato!« rief er mit schallender Stimme, feierlich und dennoch mit Spott gepaart. »Im Namen Gottes, Beelzebubs und des roten Jägers. Alfred – Werner! Ich rufe ...«

Der Mulatte saß in der einsamen Zelle. Seine Gedanken waren fast dieselben wie die seines geistersuchenden Herrn, auch bei ihm war es mehr Zwang als freier Wille, die Phantasie mit Fragen zu beschäftigen.

Wenn nun dort in der Ecke plötzlich ...!

Ein lautes Gelächter drang an sein Ohr.

»Jetzt lacht er sich Mut,« sagte Manuel.

Das Lachen wiederholte sich, es klang entfernter, war aber noch lauter und anhaltender.

»Jetzt lacht er sich noch mehr Mut. Ja, ja, das kennen wir!«

Dann hörte er eine lange Zeit nichts mehr als das regelmäßige Klopfen des Fensterladens. Wer wußte denn auch, wo Flederwisch sich jetzt befand.

»Verzeihe mir frivolem Erdenwurm ...,« begann es da wieder, und zwar recht deutlich für Manuels Ohr, daß dieser erstaunt nach dem Zellenfenster blickte. Allerdings mußte es sehr weit entfernt sein, es klang ganz merkwürdig, ganz schwach und dennoch klar. Von Akustik wußte der Mulatte nichts, er dachte aber doch im Augenblick an ein Sprachrohr.

»Nanu, wo kommt denn das her?« brummte er. »Auf jeden Fall von dort drüben. Was schwatzt er da von Erdenwürmern? Mit wem spricht er denn? Was? Lebende und Tote teilen? Wenn der Kapitän nur keinen Unsinn macht! Da – da – habe ich's nicht gedacht!«

Der Bootsmann hatte sich erhoben, gebückt und lauschend stand er da.

Der Anfang der Beschwörungsformel erklang.

»Alfred – Werner! Ich rufe ...«

Einmal klopfte der Laden – zum zweiten Male – zum dritten Male.

Ein blecherner Schall, Glas zerbrach.

»Steh, Alfred, steh!« heulte es da gellend. »Himmel und Hölle, ich fürchte dich nicht – steh, Alfred! Manuel, Manuel!« folgte es dann heiser nach.

Das mit den vor Furcht zu Berge stehenden Haaren ist nicht nur eine Redensart; der Mulatte fühlte, wie sich die seinen sträubten. Aber nur noch einmal klopfte der Laden, dann gab es für Manuel kein Zögern mehr.

Dort war ein Mann, der neben sich auf der Erde keine Geister anerkennen mochte, sich nicht vor ihnen beugte, sondern mit ihnen ringen wollte – und hier war ein Mensch, dessen ruchlose Treue größer als Geister- und Gottesfurcht war.

Das Licht in der Hand, stürzte er hinaus; auch er war sofort orientiert, mit drei Sätzen hatte er die Treppe erreicht, mit drei andern war er diese hinab – das konnte das Licht nicht vertragen, es erlosch, aber schon hatte er im Hintergrunde die Tür gesehen, wie ein Schatten flog er durch den Gang.

Da trat ihm aus dem Finstern die kolossale weiße Figur entgegen.

Das mußte für ihn zuviel sein. Er brach auf die Knie zusammen.

»Massa – o Massa!« ächzte er.

»Hierher, Manuel!« schrie eine heisere Stimme, Glasscherben klirrten. »Licht! Ich habe keine Streichhölzer!«

Der Schreck war vorbei. Der Mulatte hatte das Steinbild erkannt. Er eilte dorthin, wo er die Stimme seines Herrn vernahm, ein Streichholz flammte in seiner Hand auf, dumpfe Schritte rannten auf ihn zu, er sah Flederwisch im Scheine der jetzt brennenden Kerze, an allen Gliedern zitternd, aschfahl, die übermäßig erweiterten Augen wie Kohlen glühend.

Ja, er zitterte wie Espenlaub, selbst die Zähne flogen, aber merkwürdig, die Hand, die jetzt dem Mulatten das Licht, entriß und dieses hochhielt, zitterte nicht.

Dann sprang er dorthin, wo am Boden der Lichtschein kam und ging.

»Hier hat er gestanden!«

»Das ist der Mondschein, Massa, der dort durch das Fenster ...«

»In diesem Mondschein hat er gestanden!« schrie Flederwisch, sich niederbeugend und leuchtend. »Ich sehe nichts – du hast eine Spürnase – suche, Hund!«

Gehorsam kniete der Mulatte nieder, rutschte auf den Steinfliesen herum, Nase und Augen fast am Boden, schnüffelte wirklich und stand wieder auf.

»Es ist nichts, Kapitän. Hier hat kein Mensch gestanden.«

Flederwisch hatte das andre Licht, welches vorhin in der Laterne gesteckt, entzündet.

»Nichts? Himmel und Hölle, mach mich nicht wahnsinnig! Vorwärts, dortherum, laß keinen Winkel ununtersucht!«

Sie gingen nach zwei verschiedenen Seiten auseinander. Flederwisch gab das Suchen eher auf als Manuel, es war nicht einmal ein andrer Ausgang zu entdecken. Am Altar, vor dem am Boden die Laterne mit zerbrochenen Scheiben und Spiegeln lag, trafen sie wieder zusammen, und Flederwisch legte dem Mulatten die Hand auf die Schulter.

»Hier stand ich,« sagte er, und jetzt flüsterte die heisere Stimme. »Hier sprach ich die sinnlose Zauberformel. Ich höhnte: Alfred – Werner. Und da stand er dort.«

Der Mulatte wurde wieder der mit dem Kopfe schüttelnde Ungläubige.

»Ihr habt geträumt, Kapitän ...«

Wie von einer plötzlichen Wut erfaßt, packte ihn sein Herr an der Brust und schüttelte ihn heftig.

»Bin ich ein Geisterträumer?« schrie er. »Und da stand er, dort! sage ich.«

Manuel ließ sich schütteln, aber nicht einschüchtern, fest blickte er seinen aufgeregten Herrn an.

»Und Ihr habt doch geträumt, sage ich. Ihr seid krank, Kapitän, habt so lange nicht geschlafen, seid überarbeitet – Ihr habt eine sogenannte Vision gehabt.«

Flederwisch zog seine Hand zurück und seufzte:

»Ach, wenn es wahr wäre! Könnte es mir als eine Vision erwiesen werden? Nein!« Wieder fuhr er wild auf, beherrschte sich jedoch, blickte starr nach dem wechselnden Lichtschein. »Eins – zwei – drei – das sind drei Sekunden, und dreimal habe ich ihn gesehen, dreimal stand er da, die Hand nach mir ausgestreckt, und dreimal verschwand er wieder. Ist das eine Vision?«

»Wie sah er aus?«

Der Kapitän schien zu überlegen, er tastete mit der Hand an seine Stirn.

»Bleich – blutig – ich – ich – weiß es nicht. Aber Alfred war es!«

Seine Augen wurden noch stierer, als er den Mulatten wieder anblickte.

»Wenn Alfred noch ...«

»Lebte?« ergänzte Manuel den Stockenden, und selbst jetzt war er seines Grinsens fähig. »Mit einer spanischen Machete im Rücken? Durch und durch? Bei dem Sturz und Aufschlagen dahinunter? Kapitän, dann glaube ich lieber an Geister!«

Wieder seufzte Flederwisch tief auf, und dann stieß er den Mulatten heftig zurück.

»Fort – fort – geh dorthin, daß wir dich nicht sehen – geh hinaus – ich will es noch einmal probieren!«

»Gebt Euch keine Mühe, er käme nicht wieder, es geht nur einmal, wie ich's Euch sagte, obgleich ich gar nicht daran glaube. Jeder Mensch hat nur eine Seligkeit zu vergeben, Eure ist futsch!«

»Dann versuch du's, stelle du dich hierher ...!«

»Ich werde mich hüten!« wehrte der Mulatte erschrocken ab. »Einmal kommt der Tote nur, wenn man ihn liebgehabt hat, und das war bei mir nicht der Fall – wahrhaftig nicht, ich habe den Steuermann nie geliebt – und dann habe ich überhaupt keine Seligkeit, es gibt gar keine, ich glaube nicht daran – laßt mich, Kapitän, ich glaube nun einmal nicht an den ganzen Unsinn!«

Schrill lachte Flederwisch auf, vielleicht über den in seiner Angst doch so trotzigen Mulatten und über dessen konfuse Worte, vielleicht lachte er über sich selbst. Dann schritt er, in jeder Hand ein Licht, wieder in die Kirche hinein.

»Alfred!« rief er. »Ob tot oder lebendig – erscheine!«

»Erscheine!« gellte das Echo nach.

»Ob Geist oder Körper, ich suche dich, du bist mir willkommen, mit dir will ich teilen, denn zu fürchten habe ich dich nicht!«

»Nicht?« spottete das Echo mit fragendem Nachdruck.

»Laßt's gut sein, es nützt nichts mehr!« flüsterte Manuel hinter ihm, und Flederwisch wandte sich ihm zu.

»So komm, es war doch wohl nur eine Vision!« sagte er mit müder Stimme.

Sie schritten der Pforte zu. Aber erst sollte der Mulatte noch etwas ganz Wunderbares erleben. Als Flederwisch an dem Bildnis des Erlösers vorbeikam, stockte sein Fuß plötzlich, er blickte empor, sein Licht fiel zu Boden und er selbst auf das schräge Brett, auf welchem vor Jahrhunderten spanische Mönche in Reihen betend gelegen hatten.

»Ach, wenn es die Wahrheit wäre, daß es ein Jenseits und für den Menschen ein zweites Leben gäbe!« hörte Manuel ihn in jammerndem Tone rufen. Nichts weiter. So blieb Flederwisch stumm und regungslos liegen, das Gesicht in den Händen vergraben, wohl fünf Minuten lang, und wenn er wirklich vor dem Bilde des Erlösers betete, so sah der Mulatte es zum ersten Male, und er hätte so etwas nicht für möglich gehalten. Trotz aller seiner Schlauheit konnte er ja nicht ahnen, was jetzt in diesem Manne vorging!

Flederwisch erhob sich, und er konnte wohl nicht gebetet haben, oder er hatte keinen Trost gefunden, denn mit finsterm Blicke stierte er zu dem Heilande der Welt hinauf, und immer noch lag ein wilder Hohn in seiner Stimme.

»Dann gibt es auch keine Gerechtigkeit – und an der Vergeltung habe ich auch nie gezweifelt. Ich habe gelogen und betrogen – und bin's wieder worden. Ich habe getötet – und auch mich hat man ins Herz getroffen. Ich will keine Gnade haben, nur Gerechtigkeit, ich habe nichts zu fürchten, hier nicht und dort nicht – denn Rache habe ich nie gekannt! – Komm, Manuel, wir wollen die kostbare Zeit nützen; und um arbeiten zu können, muß man schlafen!«

Sie erreichten die Zelle, und gleich griff der Bootsmann wieder nach dem mit Arrak gefüllten Wasserglase, es seinem Herrn hinhaltend.

»Trinkt das, Kapitän, besauft Euch, dann könnt Ihr schlafen!« sagte er mit seiner frechen Treuherzigkeit, dann sah er stets aus wie ein Teufel, der seiner grimmigen Fratze gern einen gutmütigen Ausdruck geben möchte, und doch, dieser Ausdruck war der einzige, der ihm gut stand.

Aber mit einer verächtlichen Bewegung schob Flederwisch das Glas zurück.

»Trink du's, ich brauche es nicht. Ich will schlafen – ich will!«

Bald herrschte wieder Stille in der Zelle, auch der Laden klappte nicht mehr, knisternd verloschen die ausgebrannten Kerzen, ohne daß einer der beiden Schläfer erwachte. – – –

Langsam stieg aus einer anscheinend direkt in die Erde führenden dunklen Oeffnung ein Mann hervor. Der Mond bestrahlte voll das Gesicht des Einsamen und ließ es noch bleicher erscheinen, als es war, noch fürchterlicher sah die blutrünstige Stirn aus.

Einen Moment lauschte der Mensch vorsichtig und spähte nach allen Richtungen. Er hörte und sah nichts Verdächtiges. Da eilte er hinter einen großen Felsblock und barg sich im dunklen Schatten, den derselbe warf. Mehrere Minuten lang blieb er unsichtbar, dann trat er wieder hervor – er? – nein, das war ein ganz andrer – das war Helge Halfdan, der Schwede – das war Nobody!

»So,« murmelte er befriedigt. »Der erste Teil der Kur, der ich dich unterwerfen muß, mein lieber Kapitän Flederwisch, ist geglückt. Du hast die Banden gesprengt, die dich an ein unwürdiges Weib fesselten, du bist wieder frei! Du hast die Ratschläge befolgt, die ich dir, unerkannt, gab, und du glaubst dich nahe dem Ziele, das du dir gesteckt hast und das doch kein Sterblicher erreichen kann. Dabei aber ist die Reue über das, was du mir getan zu haben glaubst, bereits riesengroß in dir emporgewachsen – nein, die Reue darüber, daß du den von dir stießt, der dein einziger, dein wahrer Freund war – und heute bin ich deinem mahnenden, dich anklagenden Gewissen zu Hilfe gekommen. Haha,« fuhr Nobody nach kurzer Pause in gänzlich verändertem Tone fort, »die Einbildung tut alles, sagte, er – und deshalb hielt er mich, als ich in der Gestalt seines ersten Steuermannes vor ihm auftauchte, wahrhaftig für diesen. Meine Berechnungen stimmten. Die Klosterkirche war der einzige Ort, wo dieser Geisterspuk in Szene gesetzt werden konnte. Flederwisch, du wirst diese Nacht nie vergessen, denn sie hat dir gezeigt, daß du trotz aller Renommisterei doch nicht das Zeug zu einem Tyrannen, zu einem Verbrecher in dir hast, der göttliche und menschliche Gesetze mit den Füßen tritt, um seine phantastischen Ideen zu verwirklichen. Wenn du das willst, Flederwisch, dann mußt du die Hilfe eines Stärkern in Anspruch nehmen – meine Hilfe! Und wenn die Zeit gekommen, wenn auch der zweite und schwerste Teil deiner Prüfung vorüber ist, dann soll die Welt staunend zwei Namen nennen – Flederwisch und Nobody! Nobody und Flederwisch!«

Nach diesen halblaut gesprochenen Worten wandte sich Nobody, der jetzt wieder Helge Halfdan war, und verschwand im Schatten des Waldes. – – –

Als der Morgen anbrach, trug Manuel die Sachen ins Boot, während sein Herr noch einmal die Klosterräume durchschritt.

Die lachende Sonne ließ sie freundlicher erscheinen, so wie ein freundliches Lächeln auch das häßlichste Gesicht verschönt. Heute hatte nichts mehr etwas Spukhaftes an sich. Der Ziegenstall am Refektorium wurde zwar von den Sonnenstrahlen in seiner ganzen Unreinlichkeit gezeigt, aber etwas Unheimliches war nicht mehr dabei – die kleinen Zellen mit der herrlichen Aussicht auf Wald und Meer mußten sich ganz heimisch einrichten lassen, und die hohe, kühle Klosterkirche gab für die heißesten Monate einen schönen Saal zu ernstem Träumen ab.

Ebenso durchquerte Kapitän Flederwisch noch einmal die kleine Insel. Es war, wenn man nicht an die Mönche dachte, ein jungfräuliches Eiland, prangend im üppigsten Pflanzenschmuck der Tropen. Schade nur, daß gar kein Trinkwasser zu entdecken war! Trotzdem – hier wollte er einen Park anlegen. Die hierhergebrachten Chinesen sollten einen Zaubergarten schaffen, und wenn das für Springbrunnen und Kaskaden nötige Wasser in Röhren durch das Meer geleitet werden mußte. Vielleicht interessierte sich auch Carmencita dafür. Er wollte einmal nicht seinen eignen Plänen folgen. Vielleicht fand sie Geschmack am Erfinden und Schöpfen.

Noch einmal begab Flederwisch sich in das Kloster, und als er nach einer halben Stunde wieder ins Freie trat, waren seine Kleider mit Kalkstaub und Schmutz bedeckt.

Der Mulatte saß im segelfertigen Boot und wartete auf seinen Herrn.

»Ihr seht gerade aus, als ob Ihr auch in den Kellern herumgekrochen wäret.«

»Ich war überall!«

»Nichts gefunden?«

»Was soll ich finden? In einer Woche muß das Kloster wohnlich eingerichtet sein. Zieh den Klüver wieder ein!«

»Ja, wollen wir denn nicht ...?«

»Laß deine vorlauten Fragen und gehorche! Nordnordost ist der Kurs!«

Wie gewöhnlich bei solchen Gelegenheiten, zuckte der Mulatte die Achseln, als er den Befehl ausführte, der ihm nicht behagte. Es ging also nicht zurück, nicht um die Insel herum, sondern nach den Felseninseln, nach Teufelshausen.

Flederwisch bediente das Steuer, nahm oft die Sonne auf, rechnete und maß auf einer Karte, nach welcher Manuel schielende Blicke warf. Nackte, schwarze Felsenmassen tauchten auf, schon jetzt glühende Hitze ausstrahlend. Die beiden fuhren an dem äußersten Saume der Riffe entlang, bis gegen Mittag Flederwisch das Segel überschwenken ließ und das Steuer herumdrehte. Das Boot bog in eine breite Wasserstraße ein.

»Herrgott, gerade in der schönsten Mittagshitze,« brummte verdrießlich der Mulatte, an dessen schwarzer Haut der Schweiß schon wie Wasser herablief.

»Dafür ist in einer Viertelstunde die höchste Flut, du wirst wenig zu rudern haben.«

Sie passierten ein flaches Felsplateau, dessen gebogner Rand eine Bucht umfaßte. Aufmerksam blickte Manuel hinüber.

»Nun ist es schon ein halbes Jahr her – oder erst ein halbes Jahr, daß wir hier lagen, und was hat sich inzwischen nicht alles geändert!«

Flederwisch antwortete nicht, blickte nicht hin, er berechnete die geographische Lage.

Noch eine halbe Stunde, Manuel begann zu rudern und fluchend mit der Hakenstange zu schieben, er machte darauf aufmerksam, daß sie damals doch jenen Weg genommen hätten – Flederwisch wies ihn zur Ruhe, er suchte einen andern Weg nach der Felseninsel, und er fand ihn, seitwärts öffnete sich der halbe Kraterberg mit seinem amphitheaterartigen Aufbau.

Das Boot hätte jetzt bei der hohen Flut über die Riffe weg eindringen können; der Kapitän tat es nicht, er fuhr nur so nahe als möglich an die höher aus dem Wasser ragenden Felsen, verankerte es sorgfältig, und beide balancierten über die Klippen dem festen Ufer zu, auch einmal ins Wasser springend und ein paar Schritte watend, denn so gefährlich sind die Hyänen des Meeres doch nicht, wenn sie nicht gerade auf Beute lauern, wobei sie stets an den Flossen zu erkennen sind. Wenn das Boot aber hier eingedrungen wäre, und der Aufenthalt länger dauerte, würde es wahrscheinlich bis zur nächsten Flut in einer Falle sitzen.

Es war seit jener Katastrophe das erstemal, daß Flederwisch diese Insel wieder betrat. Er hatte keine Gelegenheit, es nicht nötig gehabt, er wußte seinen Hort hier sicher liegen, bis er ihn brauchte.

Sie kletterten über die Lavaspitzen und die Wrackstücke. Das rote Gold gleißte noch immer in der Sonne, vielleicht von noch mehr Barren ausstrahlend, denn das Holz der Fässer begann zu faulen, die Dauben fielen auseinander und schütteten ihren Inhalt aus. Die Menschenknochen waren noch weißer gebleicht.

»Da lacht einem das Herz im Leibe,« kicherte Manuel, ließ aber das Gold unberührt, viel mehr Interesse schien er für die weißen Knochen zu haben, und dasselbe galt von seinem Herrn.

»Hier, Kapitän, hier liegt er!«

Er hatte das Skelett gefunden, das von Nobody mit der Machete des Mulatten von hintenher durchbohrt worden war.

Eilends folgte Flederwisch dem Rufe, dann verzögerte sich sein Gang, bis er zuletzt mit festem Schritte nähertrat.

Wohl war es ein gräßliches Bild, das sich ihm bot, doch hier, zwischen den vielen menschlichen Gerippen, verlor es etwas von seiner Fürchterlichkeit, und er hatte ja gewußt, was er finden würde – ja, hatte es zu finden – gehofft.

Es war ein außergewöhnlich großes Skelett, sich von den andern noch dadurch unterscheidend, daß alle stärkern Knochen gebrochen waren, wie auch der Schädel, es lag auf der Gesichtsseite, viele Gebeine waren zerstreut, und von hinten ging durch den leeren Brustkasten mit zersplitterten Rippen ein langes Messer.

Schwer atmend stand Flederwisch daneben.

Der Mulatte bewegte sich zuerst, er zog die Machete aus dem Gerippe; das Messer war unversehrt.

»Ja, das ist noch alter, spanischer Stahl,« sagte er, die Klinge beliebäugelnd, »die bricht nicht so leicht wie Kalkknochen.«

Er bückte sich, um einen Schenkelknochen aufzuheben.

»Laß es liegen, faß es nicht an!« stieß Flederwisch heiser hervor.

Der Mulatte richtete sich wieder auf und hob die Schultern.

»Es fehlt verschiedenes, Geier und Möwen haben ...«

»Schweig! Kein Wort mehr hier aus deinem Munde!« herrschte ihn sein Herr furchtbar drohend an. »Suche in dem Wrack nach einer Schaufel oder nach sonst einem Instrument, mit dem man graben kann.«

Als Manuel zurückkehrte, sah er, wie sein Herr den Totenschädel in der Hand hielt. Bei des Mulatten Näherkommen legte er ihn schnell wieder hin. Manuel brachte zwei verrostete Enterbeile mit; geeignetere Werkzeuge habe er nicht finden können, und mit einem Grabe hier in diesem Felsboden würde es wohl auch so eine Sache sein.

»Entferne dich außer Gesichtsweite – geh dort oben hinauf, aber blicke nicht herab – ich rufe dich durch einen Schuß.«

Der Mulatte schlenderte davon, einen Weg nach oben suchend.

Hallo, wo waren denn jene Andenken vom Steuermann? Die Taubündel, Strickleitern, der Sextant und die andern Sachen mußten eigentlich noch hier liegen! Nein, es war auch nicht nötig! Ein tropischer Regenguß wäscht alles weg, was nicht angenietet ist.

Richtig, dort lag ja schon ein zusammengerolltes Tau, halb vermodert, es hatte sich zwischen Felsen eingeklemmt, und dann fand Manuel auch noch ein kleines, verrostetes und zerbrochenes Taschenfernrohr, sowie einen kleinen Kompaß ohne Magnetnadel.

Die Sachen wieder wegwerfend, bummelte der Mulatte etwas auf der Insel herum und suchte die Höhle auf, in welche er einst seinen bewußtlosen Herrn getragen hatte. Hier brannte er sich eine Pfeife an, zog die wiedergefundene Machete aus dem Hosenbein, beliebäugelte sie abermals von allen Seiten und begann den Stahl zu polieren, der nur wenig vom Rost gelitten hatte. Als er Durst verspürte, ging er nach jener Stelle, wo aus einer Felsenritze ein Wasserstrahl hervorgesprudelt war, fand aber die Quelle versiegt. Da fiel der Revolverschuß, und er eilte zurück.

Flederwisch hatte hier unten kein Grab unter der Erde herstellen können. Dort, wo die Flut nicht hinaufreichte, waren von seinen Händen lose Steine aufgetürmt worden, und unter diesen ruhten des gemordeten Steuermanns letzte irdische Reste.

»Ein Kreuz?« murmelte er, nachdenklich sein Werk betrachtend, als Manuel schon hinter ihm stand. Doch dann schüttelte er finster den Kopf.

Lauernd beobachtete der Mulatte die düstern Züge des Kapitäns.

»Manuel,« wandte sich dieser plötzlich an ihn, »ich hätte die größte Lust, dich auf diesem Grabe zu opfern.«

Der Mulatte grinste etwas unsicher, sein Herr machte so tiefernste Augen.

»Nein, du bist's nicht wert. – Manuel! Was ist schöner: Männerfreundschaft oder Frauenliebe?«

»Männerfreundschaft,« versicherte der Mulatte schnell, »natürlich Männerfreundschaft! Das heißt, so ab und zu ein hübsches ...«

Ein wuchtiger Faustschlag traf sein Gesicht, daß er das Begleitwort dazu nicht vernahm und ihm noch nach Tagen die Nase bei jeder Gelegenheit blutete.

 

Den achtundzwanzig außer Dienst gestellten Chinesen wurde erklärt, der gnädige Kapitän habe es sich anders überlegt. Bei der Kündigung bliebe es zwar, und zehn Jahre müßten sie auf den Inseln ausharren, aber wenn sie mit einem kleinen Lohne zufrieden seien, sollte ihnen wieder Arbeit zugewiesen werden, vielleicht auch, daß sie wieder mit vollem Lohne eingesetzt würden. Mit Freuden gingen die schon in wenigen Tagen ganz mürbe gewordenen Kulis darauf ein, sie wurden nach der Klosterinsel transportiert, ein Heer von andern Arbeitern folgte mit einer Schiffsladung von Möbeln und Hausgerät.

Nach acht Tagen kam das Heer von willigen Arbeitern zurück, sie erzählten ihren Kollegen haarsträubende Geschichten von der Gespensterinsel, was sie da alles erlebt hatten, und nun mußten jene Kulis, die ihr Geld gefordert hatten, für immer dort bleiben und sich von Geistern und Dämonen Tag und Nacht ängstigen lassen, und wenn sie auch für die Gärtnerarbeit bezahlt wurden, das war doch zu schrecklich, und ein Ausreißen gab es von dort nicht.

Flederwisch begab sich zu Carmencita. Würde sie auf den Vorschlag freiwillig eingehn, da sie jedenfalls schon von dem Kloster und seinen Sagen gehört hatte? Er war versöhnlich gestimmt, aus Mitleid, er gebrauchte auch wieder das vertrauliche Du.

»Willst du, Carmencita? Du liebst Blumen; lege dir einen Garten an! Die ganze Insel steht dir zur Verfügung, alles, was du brauchst! Schaffe etwas, du wirst immer mehr Freude daran empfinden, und auch ich werde mich freuen, wenn du mir etwas Schönes zeigen kannst.«

»Ich danke dir, Paul,« flüsterte sie, und wirklich, in ihren Augen blitzte es fröhlich auf. Dachte sie vielleicht an eine Annäherung? Das hatte Flederwisch sie nicht glauben machen wollen. Ihn dauerte das Kind des sonnigen Südens, wie er immer mit jedem Vogel im Käfig Mitleid empfand, und es konnte ja auch sein, daß sie sich nur über den Sonnenschein freute, der ihr wieder winkte.

»Kennst du denn die Klosterinsel?«

»Ich habe schon viel von ihr gehört.«

»Von ihren Sagen?«

»Ein eingemauerter Mönch soll darauf umgehn. Ich fürchte mich jedoch nicht; die bösen Mächte haben keine Gewalt über mich, ich trage eine geweihte Reliquie bei mir.«

»Ah so, dann ist's ja gut.«

»Paul,« begann sie nochmals, als er schon die Tür öffnete, »was hast du mit mir vor, daß du mich in ein Kloster tust?«

»Du sollst für mich büßen.«

Er hatte es nur gesagt, weil er gerade keine andre Antwort wußte, hatte sich nichts dabei gedacht. Sie aber mußte den Worten wohl eine tiefere Bedeutung geben; mit einem langen Blicke sah sie nach der Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte, und diesmal war sie es, die ein höhnisches Gesicht machte. –

Carmencita war übergesiedelt, Flederwisch hatte sie begleitet und sich von dem Komfort des Klosters überzeugt, das kaum wiederzuerkennen war. Dann nahm er den Bau der Drahtseilbahn auf den Krater in Angriff, wozu die Materialien schon beschafft worden waren.

Wenn Flederwisch solch ein spezielles Unternehmen vorhatte, dann konnte ihm nichts schnell genug gehn, dann mußte alle andre Arbeit liegen bleiben und die ganze Kraft nur auf das eine konzentriert werden.

Vielleicht hatte er auch recht. Die Ingenieure veranschlagten den Bau auf drei Monate, Flederwisch rechnete nur eine Woche heraus. 1500 Meter betrug die Länge der Bahn, 3000 Kulis mußten Hand anlegen, auf jeden Meter kamen also zwei Arbeiter. So entstand denn auch wie durch Zauberei der Weg in die Luft.

Die Fertigstellung in der vorgeschriebenen Woche neigte sich ihrem Ende zu, noch spät in der Nacht saß der Kapitän schreibend und rechnend in seiner Schiffskabine, die er noch immer nicht mit einer Landwohnung vertauscht hatte.

Es war Neumond, der Himmel auch noch bedeckt, der starke Wind wehte aus Nord mit einer kleinen östlichen Ablenkung. Woher der Wind weht, das ist ja den Landbewohnern sehr gleichgültig, während sich des Seemanns ganzes Interesse um den Wind dreht, jede Stunde ist er über die Richtung orientiert, er führt Buch darüber, und er tut es schließlich aus Gewohnheit, wenn er es gar nicht mehr nötig hat.

Es klopfte an der Tür. Der an Deck wachegehende Matrose trat ein und erstattete eine Meldung, die den Kapitän sofort aufspringen ließ; und sie war tatsächlich geeignet, auch einen starknervigern Mann als Flederwisch zu erschrecken.

Der Kapitän hatte von jenem nächtlichen Abenteuer in der Klosterkirche natürlich niemandem etwas erzählt, und daß der Mulatte nicht plauderte, verstand sich ganz von selbst. Kein Mensch außer ihnen konnte demnach auf den Gedanken kommen, daß der Geist des vermeintlich ermordeten ersten Steuermannes dort umgehe. Flederwisch aber hatte als Wächter für Carmencita und als Aufseher für die Kulis zwei seiner Matrosen mit nach der Klosterinsel geschickt, darunter den eingangs erwähnten dicken Holländer mit Schmerbauch und Glatze, und dieser ließ sich jetzt bei seinem Kapitän melden mit der Angabe, daß er eine wichtige Nachricht zu überbringen habe.

Sofort dachte Flederwisch an Carmencita, und daß sie entflohen sei, und in höchster Erregung erwartete er den Eintritt des Matrosen, der sich nachts halb zwei bei ihm einfand.

Der dicke Holländer trat ein. Sein Vollmondgesicht lächelte freundlich wie immer.

»Was bringt dich her? Doch nichts passiert?«

Nein, Schlimmes konnte wohl nicht passiert sein, der Mann sah zu vergnügt aus.

»Heute nacht zehn Minuten nach zwölf, als ich Wache hatte,« sagte der phlegmatische Holländer langsam mit fettiger Stimme, »haben ich und die Frau Kapitän in der Klosterkirche den Geist vom ersten Steuermann gesehen.«

Gerade von diesem Manne, aus diesem Munde so faul hergesagt, brachten diese Worte eine so gewaltige Wirkung auf Flederwisch hervor, daß er den Holländer fassungslos anstierte, als sei dieser selbst Alfreds Geist.

»Erzähle ausführlicher!«

Der Matrose brachte seine lakonische Meldung in breitere Worte. Um Mitternacht übergab ihm sein Maat die Wache. Alles war ruhig, alles schlief, nur die Frau Kapitän hatte oben in ihrer Schlafzelle noch Licht. Wie vorgeschrieben, ging der Holländer erst zu dem einzigen Boote der Insel und prüfte den sichern Verschluß. Alles in Ordnung. Wie der Wächter wieder zurück nach dem Hause geht, sieht er die Fenster der Klosterkirche schwach erleuchtet. Oben ist kein Licht mehr, da ist also die Frau Kapitän drin. Sie betet überhaupt recht viel in der Kirche; nun geht sie schon Nachts hinein, wenn sie nicht schlafen kann! Da ertönt ein gellender Schrei. Das ist die Frau Kapitän gewesen. Noch so ein Kreischen! Erst zieht der gewissenhafte Matrose die Uhr und überzeugt sich, daß es sechzehn Sekunden vor zehn Minuten nach zwölf ist, damit er's dann auch richtig ins Wachtbuch eintragen kann, dann beschleunigt er etwas seine Schritte und geht durch den Kreuzgang in die Kirche. Auf dem Altar steht der große Armleuchter mit neun brennenden Kerzen, lang davor liegt die Frau Kapitän, und wie der Holländer zur Seite sieht, steht da im dunklen Hintergrunde der Geist vom ersten Steuermann.

»Ich wollte ihn haschen, aber als ich hinkam, war er schon weg,« schloß der Mann langsam und bedächtig.

»Sein – sein – Geist – war es?« brachte Flederwisch mühsam hervor. »Woher weißt du das?«

»Na, Kapitän, Ihr habt ihn doch ... kchch,« sagte der Matrose gemütlich, das Wort ›getötet‹ mit einem schriftlich nicht wiederzugebenden Laute ausdrückend, »und der Steuermann war es, ich habe ihn mir ganz genau angesehen.«

»Wie – wie – sah er aus?«

»Schneeweiß von oben bis unten, sogar das Haar war ganz weiß. Ich habe ihn mir ganz genau angesehen.«

»Wenn der Steuermann tot ist – glaubst du denn an Geister, glaubst du, daß Tote wiedererscheinen können?«

»Na, Kapitän, bis jetzt habe ich nicht daran geglaubt, aber es hilft nichts, haschen ließ er sich nicht, und ich habe ihn mir ganz genau angesehen,« wiederholte der faule Holländer zum dritten Male.

»Hast du – hat Carmencita eine Beschwörung gebraucht? Was sagte sie überhaupt?«

»Erst lange gar nichts, sie war bewußtlos. Wir haben sie mit Senfspiritus eingerieben, jetzt geht's der Frau Kapitän ganz gut. Ja, die hat ihn auch gesehen. Sie will gebetet haben, und als sie einmal aufsah, da hat er dagestanden – und – und – Kapitän,« jetzt wurde der phlegmatische Mensch plötzlich doch ein andrer, er warf einen Blick um sich, dann beugte er sich etwas vor, begann zu flüstern: »sie fing zu schwatzen an – sie hätte für Alfred – das ist unser Steuermann – gebetet – sie hätte ihn ermorden lassen – durch Manuel – und Ihr wüßtet's wohl auch ...«

»Rufe Manuel! Wecke ihn!«

Lange blieb Flederwisch den auf ihn einstürmenden Gedanken nicht allein überlassen; noch ehe der Mulatte kam, meldete der Wachtmatrose wieder, ein Mann von der Küste wünschte den Herrn Kapitän zu sprechen, er hätte einen Auftrag von Mrs. Lewis.

»Von der Küste? Aus Guayaquil? Wie ist er auf die Insel gekommen?«

»Ein deutscher Aufseher, der dort die Wache hat, brachte ihn hierher. Ich wurde nicht klug aus seinen Reden, er sprach immer von einer Gondel. Die nennen alles, was schwimmt, eine Gondel.«

»Er soll hereinkommen.«

Der auf dem Korridor Wartende trat ein, hinter ihm schloß sich die Tür. Flederwisch, im amerikanischen Drehstuhle sitzend, wandte sich ihm nur halb zu. Er sah einen gutgekleideten, fremden Mann mit schwarzem Schnurr- und Kinnbart. Das Nächstfolgende spielte sich in wenigen Sekunden ab.

»Senor Paolo Müller?«

»Ich bin's.«

»Kennen Sie mich?«

Der Fremde riß den falschen Bart ab, Flederwisch blickte in das verwandelte Gesicht, und ehe er nur etwas denken konnte, wurde dicht vor seinem Kopfe ein Revolver abgedrückt. Der Meuchelmörder sprang zur Tür hinaus, hinter ihm stürzte der Kapitän vom Stuhl.

Der schon zu Bett gewesene Steward hatte die vielen Schritte gehört und war wieder aufgestanden, eben als er den Korridor betrat, hörte er den Schuß, sah einen Mann die zum Deck führende Treppe hinaufspringen, die Kabinentür war offen, er fand den Kapitän in seinem Blute am Boden liegen.

Zu gleicher Zeit trat der von dem Holländer geweckte Mulatte aus der Bootsmannskabine. Der scharfe Schuß krachte, auch Manuel sah noch den Mann die Treppe hinaufeilen, im Augenblicke dachte er noch, das müsse ein Fremder sein, die Kleidung fiel ihm auf.

»Mord! Der Kapitän ist durch den Kopf geschossen!« schrie da der Steward.

Als wäre er selbst getroffen worden, so heulte der Mulatte auf, flog durch den Korridor, an des Kapitäns Kabine vorbei und zur Treppe hinauf, oben rannte her Fremde über die Laufbrücke an Land, und Manuel, in der Faust plötzlich das kubanische Messer, hinter ihm her, immer noch wie ein verwundeter Tiger brüllend.

Die schwärzeste Nacht herrschte. Die Frithjof lag dicht am Land, die nähere Umgebung des natürlichen Hafens von Floreanu glich einem großen Werkplatz, hier Ziegelsteinhaufen, dort Holzstapel, dazwischen Wohn- und Güterschuppen, und wenn auch sonst auf der Insel viel gearbeitet und gebaut wurde, so war es doch immer noch eine mit Wald und Busch bedeckte Wildnis, durch welche Wege gehauen worden waren.

Mit langen Sätzen jagte der rätselhafte Fremde über diesen Werkplatz, zehn Schritte hinter ihm der Mulatte, und hätte sich jener nur umgedreht, um den Revolver zu gebrauchen, er wäre von der Machete durchstoßen worden, ehe er hätte abdrücken können, und hier gab es auch kein Verstecken mehr. Manuel brauchte gar nicht die Gabe zu besitzen, im Finstern sehen zu können, schon das Geräusch der eilenden Schritte hätten ihn auf der Spur bleiben lassen müssen, und die Wut verlieh ihm die Schwingen des Todesengels, aber eben, weil der Fremde diesen hinter sich wußte, schien auch er beflügelte Füße zu besitzen.

Zweige knackten – jetzt hatte der Fliehende den Buschwald erreicht.

Da erhielt der Mulatte einen heftigen Schlag vor die Brust, doch das war es nicht, warum er zurückprallte, den Stoß hätte er ausgehalten – das war ein Pferd! Das war ein schwarzes Roß, jetzt saß ein Mann darauf, Galoppsprünge, ein gellendes, höhnisches Gelächter – und fort war alles!

Und auf Floreanu wie auf den andern Inseln gab es kein einziges Pferd! Die Landung eines solchen wäre ein Ereignis gewesen, von dem Manuel sicher gehört hätte.

Doch jetzt war keine Zeit, um über dieses Wunder zu grübeln, und der Mulatte konnte von Glück sagen; nur eine Spanne weiter, und der Huf des anspringenden Pferdes hätte ihm den Brustkasten zerschmettert – und außerdem mußte dieser Huf unbeschlagen sein, sonst wäre es auch nicht so abgegangen.

»Haltet ihn! Es ist Pepe-Pepe, der Zambo! Er hat den Kapitän ermordet!«

Manuel ließ es nicht bei diesem zwecklosen Rufen, noch vernahm sein Ohr die Galoppsprünge, er jagte den durch den Wald gehauenen Weg weiter, der zur Küste führte.

Die schmale Insel erstreckt sich lang von Süden nach Norden, von hier bis an die östliche Küste waren es nur zwei Kilometer, der Mulatte durchflog sie in wenigen Minuten, schon hörte er den Wellenschlag ...

Da fiel wieder ein Schuß. Noch zehn Sekunden – Manuel stürzte über einen am Boden liegenden Pferdeleib, und dort schoß mit geschwelltem Segel ein Boot davon, zwei oder drei Männer darin.

Der Bootsmann raffte sich auf. Das Pferd war tot. Ja, jener Mann dort wußte, wie man Verfolger aufhält.

»Die Dampfpinasse klar. Feuer unter den Kessel! Dampf auf! Dampf auf!«

Unausgesetzt brüllte Manuel, während er den finstern Weg zurückrannte.

Am Hafen und auf den Schiffen herrschte eine unbeschreibliche Verwirrung. Alles war auf den Beinen, alles rannte durcheinander.

»Der Kapitän ist tot! Der Kapitän ist erschossen worden!«

Ueberall wurde es geschrien und geflüstert. Sonst aber wußte man noch gar nichts.

Da kam der nach der Dampfpinasse brüllende Bootsmann.

Kleine und große Dampfboote gab es genug, aber seit acht Uhr waren alle Feuer erloschen. Manuel meinte eine große Dampfpinasse, welche auch sehr gut segelte und als Depeschenboot diente, er schrie dem alten Matrosen, welcher als Kapitän derselben fungierte, etwas zu, was dieser gar nicht verstand, war mit einem Sprunge im Kesselraum, öffnete das Wasserstandsglas, verbrühte sich die Hand und jauchzte doch vor Freude auf, er goß eine ganze Gallone Petroleum über das Holz, die Flamme schlug ihm entgegen und verbrannte ihm die Haare, er beachtete es nicht, warf alles ins Feuer, was ihm Brennbares unter die Hände kam, dem Heizer riß er das Hemd vom Leibe und tränkte es mit Petroleum, dann war er wieder oben an Deck, und wäre der Kapitän nicht geflüchtet, er hätte ihn ermordet, weil noch keine Segel gesetzt waren, er tat es selbst, war wieder am Kessel, wieder an Deck, immer brüllend oder etwas von sechs, acht und zehn Knoten schwatzend, von dreißig Stunden Zeit und von Einholen.

Der Mulatte war ganz von Sinnen, wußte aber doch, was er tat, und schon nach fünf Minuten, nachdem er die Pinasse betreten, flog diese unter vollen Segeln durch die Inselstraßen, und sie hatte kaum das offne Meer erreicht, als die Schraube schon das Wasser zu peitschen begann.

Außer der kleinen Besatzung befanden sich noch einige Matrosen von der Frithjof an Bord, welche ihrem Bootsmann nachgelaufen waren. Aber noch immer wußte man nichts, erfuhr man nichts, denn obgleich sich die Pinasse in voller Fahrt befand, tobte der Mulatte noch immer. Er benahm sich wie ein vom Amok, von der Zerstörungswut befallener Malaie, der mit geschwungnem Dolch durch die Straßen rennt und alles Lebende niedersticht, bis er sich an einem Hause den Kopf zerschmettert, oder bis ihn eine Kugel trifft.

Das erste war, daß er an das Sicherheitsventil Gewichte hing, und als der Maschinist ihn wegen der Explosionsgefahr daran hindern wollte, entging dieser nur durch Zufall einem Messerstiche; als aber der Kapitän sagte, er habe wirklich keinen Scheinwerfer an Bord, die Pinasse sei nicht damit ausgerüstet, da jagte der Mulatte mit dem Dolche in der Faust den flüchtenden Mann mehrmals über Deck. Es wurde zuviel; die Matrosen warfen sich auf den Rasenden und bändigten ihn, und erst, als ihm schon die Stricke um die Arme geschlungen wurden, erklärte Manuel, ganz vernünftig sein zu wollen; der Mörder sei in einem Segelboote entflohen, ostwärts, natürlich der Küste zu, man müsse ihn einholen. Von nun an stand er unbeweglich vorn am Bug, in die durch keinen Stern erhellte Nacht hinausspähend, oder benutzte die neben dem Schornstein angebrachte Vorrichtung des Nachtfernrohres, aber nur selten, weil dazu die Schraube außer Betrieb gesetzt werden mußte, sonst ließ das in allen Fugen zitternde Boot keinen sichern Blick durch das Nachtglas zu.

Die Gallopagos sind 130 deutsche Meilen von der Küste entfernt, die Pinasse, welche diesen Weg schon oft gemacht, legte sie bei einer Fahrt von 14 Knoten in 30 Stunden zurück. Der Seemann hatte das kleine Segelboot ja gesehen, es konnte nicht die Hälfte der Knoten laufen. Zehn Minuten später war die Pinasse abgegangen, sie mußte das Boot bereits überholt haben. Aber welcher große Zufall gehörte dazu, um die winzige Nußschale auf dem Meere in finstrer Nacht überhaupt zu entdecken!

Manuel war sich selbst im unklaren darüber, was er wollte. Er verließ sich auf den Zufall. Dann war noch vielerlei dabei, was er nicht verstand. Sollte denn jener Mann die 580 Seemeilen in dem kleinen Boote zurückgelegt haben? Er glaubte es kaum. Und woher kam das Pferd? Schon begann in dem Mulatten eine Vermutung aufzusteigen, die sich später auch als richtig herausstellen sollte, und sogleich gab er Befehl, alle Lichter zu verlöschen.

Zuerst aber rechnete er doch noch mit dem Boote. Dieses mußte von dem Winde südlich abgetrieben werden, Manuel steuerte also Südost. Nach einer halben Stunde richtete er den Kurs direkt nach Norden. Der Kompaß und die Logleine waren jetzt die einzigen Hilfsmittel, nur ganz ungefähr berechnen zu können, wo man sich befinde, denn Mond und Sterne fehlten zur genauern Bestimmung der geographischen Lage.

Es war etwas nach drei Uhr, als ein Matrose auf Röte des westlichen Horizonts aufmerksam machte. Zuerst gehörte Einbildungskraft dazu, um die Röte überhaupt zu bemerken. Doch sie nahm schnell zu.

»Das ist Feuer,« entschied der Mulatte nach einigen Minuten. »Auf einer der Inseln brennt es.«

Das Rad wurde gedreht, es ging zurück, daß die Planken sich aus den Fugen zu lösen drohten. Wieder stieg in Manuel eine Ahnung auf; jetzt lauschte er nach Schüssen.

Mit doppelter Schnelligkeit nahm die blutige Röte am westlichen Himmel zu; denn die Pinasse näherte sich schnell, und die Flammen mochten wachsen. Auf 10 bis 25 englische Meilen taxierten die Seeleute die Entfernung, sonst fehlte jede Bestimmung, sie konnten nicht wissen, welche Insel es sei.

Die Zeit verstrich qualvoll langsam. Wie eine Statue stand der Mulatte am Bug, in die Nacht spähend.

Da stieg seitwärts von der Pinasse eine Funkengarbe empor, sie konnte nur aus dem Schornstein eines Dampfers kommen, der ebenso wie die Pinasse ohne Licht fuhr.

Man braucht kein Seemann zu sein, um das Unheimliche zu fühlen, was es heißt, in finstrer Nacht auf einem durch das Wasser schießenden Dampfer ohne Lichtzeichen zu sein. Die Frithjof-Matrosen waren dergleichen von ihren Schmuggelfahrten her gewöhnt, doch den andern hatte sich das klopfende Herz noch immer nicht beruhigt.

Mit dem lautlosen Sprunge eines Panthers schnellte der Mulatte an das Steuerrad, schleuderte den Matrosen zurück und drehte das Ruder seitwärts, daß die in voller Fahrt befindliche Pinasse zu kentern drohte und die schäumenden Wogen von beiden Seiten über ihr zusammenschlugen.

»Ist der Kapitän tot, kann alles krachen gehn,« zischte Manuel zwischen den Zähnen hervor.

Da flammten dort drüben plötzlich viele kleine Lichter auf, es waren die Bollaugen, der Dampfer war mit elektrischem Lichte versehen, jetzt konnte man seine äußern Umrisse unterscheiden.

»Verdammt, es ist eine Dampfjacht, die holen wir nicht ein.«

Und Manuel drehte das Ruder zurück. Niemand ahnte, was er vorgehabt. Nicht ausweichen hatte er wollen, denn daß der Dampfer in paralleler Richtung entgegenkam, hatte er gleich erkannt – er hatte vielmehr dem größern Dampfer in die Rippen rennen wollen.

Die Röte wurde heller, sie verwandelte die Nacht in Tag, jetzt sah man die Flammen emporschlagen, jetzt erblickte man den Herd des großen Feuers.

»Es ist auf der Klosterinsel! Das Kloster brennt!«

Noch eine Viertelstunde verging, dann fuhr die wenig tiefgehende Pinasse, von Manuels Faust gesteuert, auf den am Strande stehenden Baum zu bis der Kiel knirschte. Mit einem ausgelegten Brette konnte man das Land trocken erreichen. Der Dachstuhl brannte lichterloh, die nächsten Bäume hatten schon Feuer gefangen, der ganze Wald war dem Untergange geweiht.

Die Matrosen, den Mulatten an der Spitze, sprangen ans Ufer. Dort lag ein Chinese, hier ein zweiter, da ein dritter – alle tot, ermordet. Der Mulatte stieß ein heiseres Wutgeheul aus. Er hatte den zweiten Wächter gefunden, von Revolverschüssen siebartig durchlöchert, furchtbar verstümmelt.

Aber seine Faust umklammerte noch ein blutiges Enterbeil, und an dessen Schneide klebten Haare. Der Mann hatte sich nicht ohne mörderischen Kampf überrumpeln lassen.

Auf der Insel war kein lebender Mensch mehr, und Manuel brauchte auch keinen Bericht, er wußte alles.

Pepe-Pepe, der Zambo, hatte sich gerächt. Ein halbes Jahr hatte er zum Ueberlegen gebraucht, wie er seine verlorne Ehre wiederherstellte. Der Kapitän hatte ihm die Beute in seinem eignen Hause wieder abgenommen, hatte den stolzen Indianer furchtbar gedemütigt – der Indianer schoß den Kapitän an Bord seines Schiffes nieder, umringt von vielen Tausenden von Menschen, hatte sich nicht hingeschlichen, der Pampasindianer war hoch zu Roß hingeritten – wie das freilich geschehen konnte, das war ein Rätsel – und dann hatte er sich das weiße Weib ebenfalls wiedergeholt.

Der Tag war noch weit entfernt, als die Pinasse wieder in den Hafen einlief. Unterwegs waren sie einem andern Dampfboot begegnet, welches erst jetzt der brennenden Insel zusteuerte, es waren Worte von Bord zu Bord gewechselt worden, ohne die Fahrt aufzuhalten. Der Mulatte hatte wieder gebrüllt und sich wie sinnlos benommen, aber diesmal vor Freude.

»Der Kapitän lebt?«

Mit diesem jauchzenden Rufe sprang er ans Ufer und rannte der Frithjof zu.

Flederwisch lag im Schwebebett seiner Kabine, den Kopf mit Bandagen umwickelt, zwei Aerzte waren bei ihm, das ganze Schiff roch nach Jodoform und Karbol. Die Revolverkugel war dem Kapitän durch beide Backen gedrungen, hatte drei Zähne mitgenommen, aber glücklicherweise ohne Knochen und Zunge zu verletzen; die von dem nahen Schusse herrührende Brandwunde war ohne Bedeutung. Ob Flederwisch den Backenschuß einer schnellen Bewegung im Augenblick des Attentats zu verdanken hatte, oder ob es gar nicht in des Zambos Absicht gelegen, ihn zu töten, das konnte er nicht sagen.

Während Manuel schnellen Bericht erstattete – das Pferd, das Boot, die Dampfjacht, das brennende Kloster, alles tot, Carmencita weg – schüttelte Flederwisch erstaunt den Kopf, doch wohl nicht über diese Mitteilungen, denn er musterte dabei den Mulatten von oben bis unten. Dieser sah schrecklich aus und litt wahrscheinlich mehr Schmerzen als sein Herr; alles mit Blut beschmiert, das Gesicht mit Brandwunden bedeckt, Kopfhaare und Wimpern rein abgesengt, die rechte Hand eine einzige Brandblase.

»Es war Pepe-Pepe, der Zambo,« sagte Manuel zuletzt.

Flederwisch nickte, deutete an, daß er schreiben wollte, denn sprechen konnte er nicht; man gab ihm Papier und Bleistift, und mit seiner gewöhnlichen, festen Handschrift schrieb er:

»Laßt ihn laufen! Er hat gehandelt, wie ich es bei einem Indianer liebe.«

Das war wieder Kapitän Flederwisch gewesen. Dann schrieb er noch, daß man keine Meldung nach Guayaquil schicke, überhaupt nichts ausführe, wozu er nicht den Befehl gegeben.

»Und Carmencita?« flüsterte Manuel. »Er hat sie mitgenommen.«

Gleichmütig zuckte Flederwisch die Schultern und winkte, daß man ihn allein lasse.

Der Mulatte pflegte seinen Herrn Tag und Nacht unter Leitung zweier Aerzte. Wenn diese nicht anwesend, hatte Manuel mehrmals von Carmencita beginnen wollen, der dicke Holländer hatte ihm etwas gesagt – Alfreds Geist – Carmencita hätte gefährliche Aeußerungen getan ... aber Flederwisch deutete stets auf seinen Mund und drohte mit der Faust, einmal schrieb er auf: später!

Mochte er auch, was man seinen Augen ansehen konnte, finstern Gedanken nachhängen, ganz wurde er von diesen doch nicht beherrscht. So ordnete er schriftlich einen scharfen, strenggeregelten Nachtdienst an, einige Boote mußten von jetzt ab immer unter Dampf liegen.

Drei Tage später langte unversehens Mrs. Lewis auf ihrer Dampfjacht an, in Begleitung einiger Herren, die schon von weitem englische Citykaufleute verrieten. Es war das erstemal, daß sie eine der Inseln betrat.

Sie wußten bereits, wenigstens zum Teil, was vorgefallen, die Matrosen jener Jacht, dem Großkaufmann Agostino gehörend, der sie dem darum bittenden Zambo zu einer Vergnügungsfahrt geliehen, hatten geschwatzt, trotzdem ihnen der Mund mit Gold gestopft worden war.

Also der Kapitän war nicht tot? Gelobt sei Gott! Die Gesellschaft wurde in das Krankenzimmer geführt, auch Manuel durfte bleiben, eine geheime Unterredung von vielen Stunden folgte, von der einen Seite wurde nur im leisesten Tone geflüstert, Flederwisch konnte sich nur der Schrift bedienen.

Dann bat die alte Dame, die drei großen Inseln in Augenschein nehmen zu dürfen, die glattrasierten Engländer folgten, Manuel spielte den erklärenden Cicerone. Den ganzen Nachmittag währte die Besichtigung, sie ließen sich nichts entgehn, immer wieder wurden Fragen gestellt, und es war etwas Seltsames dabei, es war, als wenn einer dem andern nicht traute; es waren solch hinterlistige Fragen darunter, mit süßlichem Lächeln gestellt, und der sonst so grobe Mulatte wurde plötzlich glatt wie eine Schlange – nein, glatt wie ein Chinese.

»Wie mir scheint, hat der Herr Kapitän außer den chinesischen Tagelöhnern fast nur Deutsche und Skandinavier angestellt.«

»Das ist der reine Zufall, Madam. Deutsche und Skandinavier treiben sich am meisten in der Welt herum, die einen zu Lande, die andern zu Wasser. Gerade zum Beispiel um Engländer hat er sich sehr bemüht, aber die Engländer sind, wenn man von den Kolonien absteht, rar gesät, Arbeitslose gibt's überhaupt gar nicht sonst, und die andern paar sind in festen Stellungen und geben die nicht gleich auf, wenn es sich um so etwas Unsicheres handelt, wie um die Kolonisation von Inseln, wo es erst nach vielen Jahren etwas zu verdienen gibt. Es tut dem Kapitän sehr leid, daß er gar keine Engländer bekommen hat, ich weiß es; Yankees sind ja genug da.«

»Aber ich dächte doch, englische Matrosen hätte er in San Francisco zahlreich haben können.«

»Nee, Madam, da sind Sie schief gewick – da sind Sie falsch unterrichtet, wollt' ich sagen. In Frisko lagen damals gerade sehr wenig englische Schiffe, und überhaupt, die sogenannten englischen Seeleute, das sind ja meistenteils auch nur Deutsche, Skandinavier und Holländer. Dem Kapitän hat's sehr leid getan, er hat immer gerade auf Engländer spekuliert, weiß Gott. – Ja, ja, wie's so geht! – Na, ein paar hat er ja auch bekommen. – He, Jonny! Nimm die Mütze vom Schädel. – Sehen Sie, Madam, da ist gleich ein Engländer.«

Mrs. Lewis wünschte sich vom Kapitän zu verabschieden. Hinter ihrem Rücken und dem der Herren schnitt der Mulatte eine seiner schönsten Grimassen, dabei die Zunge zu Hilfe nehmend.

Der am Krankenbett allmächtige Arzt verbot jedoch den Zutritt. Der Kapitän schlief und durfte nicht geweckt werden. Die Gesellschaft mußte sich wieder an Bord begeben, ohne Flederwisch noch einmal gesehen zu haben, während Manuel sofort zu seinem lachenden Herrn zurückging.

Ein fragender Blick, und der Mulatte erzählte grinsend und höhnend, Flederwisch nickte.

»Gut,« schrieb er, und darunter: »Sie soll bald etwas andres von mir zu hören bekommen – die Wahrheit!«

Der Arzt aber war an diesem Krankenbett doch nicht allmächtig. Einige Tage nach dem Besuch durch Mrs. Lewis stellte sich bei dem Kapitän nachträglich ein heftiges Wundfieber ein, das die Aerzte nicht vorausgesehen hatten, und eines Abends sagte der Mulatte grob zu ihnen:

»Zutritt verboten! Hierherein kommt niemand!«

Dann schlug er den Herren die Tür vor der Nase zu. Sie mochten denken, was sie wollten.

Die Ursache zu diesem Vorgehn des Mulatten aber war, daß der Kapitän phantasierte, und das unsinnige Zeug, was er im Delirium schwatzte, durfte kein fremdes Ohr hören. Nur wenn Flederwisch schlief oder bei klarer Vernunft war, durften die Aerzte zu ihm, und das genügte ja auch vollkommen.

Flederwischs urkräftige Natur erholte sich übrigens schnell. Die Bandagen wurden gelockert. Er konnte wieder sprechen. Wenn er sich schonte, mußten die Wunden an beiden Wangen narbenlos heilen, und wie wäre der eitle Kapitän früher darum besorgt gewesen! Doch jetzt schonte er sich nicht – nur daß er nach Vorschrift Diät lebte – sonst gebrauchte er gegen den Willen der Aerzte allerlei Mittel, welche den Heilungsprozeß beschleunigten.

»Ihr habt viel im Traume erzählt, Kapitän,« begann der Mulatte, als sein Herr den Mund wieder zum Sprechen bewegen konnte.

»Was?«

»Von Geistern – von Alfred. Und dann jenes hübsche Lied: ›So sei'n verflucht die Weiber!‹ Sogar gesungen habt Ihr's. Aber es hat niemand gehört, dafür sorgte ich. Ja, ja, Kapitän, wenn die Carmencita nur erst am Pferdeschwanz hinge!«

Finster blickte Flederwisch vor sich hin und sagte nichts.

»Kapitän,« fing Manuel wieder an, »das ist eine böse Geschichte mit Eurem Weibe. Was meint Ihr dazu?«

»Verschone mich mit solchen lauernden Andeutungen, ich kann diesen Ton nicht vertragen!« herrschte Flederwisch ihn drohend an.

»Na, dann also offen: Carmencita hat des Steuermanns Geist gesehen, für sie ist das ein Beweis, daß sie seinen Tod verursacht hat, daß ich ihren Wunsch ausgeführt habe – und daß Ihr darum wißt. Da habt Ihr's.«

»Ich fürchte nichts, sie kann nichts beweisen,« stieß Flederwisch hervor.

»Nein, das kann sie allerdings nicht,« grinste der Schwarze; »aber sie kann doch reden.«

»Sie selbst ist die Hauptschuldige; es wäre ihr eignes Verderben.«

»Sie hat von Euch einen Peitschenhieb bekommen, den vergißt sie nicht, und Rache macht blind – sie ist zudem eine Farbige!«

»Verflucht, höre auf! Ich will nichts mehr davon hören!«

»Der Zambo hat sie mit sich in die Berge genommen,« fuhr Manuel dennoch fort. »Einmal könnte sie doch wiedererscheinen ...«

»Nun kein Wort weiter!« Flederwisch schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und wenn sie nach London zu meiner Schwester ginge – ich fürchte nichts auf dieser Welt – ich fürchte überhaupt nichts mehr!«

»Gut, Kapitän, dann bin ich's zufrieden, und so denke ich auch. Dann sorgt nur noch, daß bald Kanonen und Kanoniere angeschafft werden, und wenn das Schiff in die Luft fliegt, fliegen wir einfach mit.«

Eine Pause entstand, der Bootsmann beschäftigte sich im Zimmer. Flederwisch sah ihm zu.

»Du wirst es nicht begreifen,« begann er wieder langsam und mit leiser Stimme, »welche Aenderung mit mir vorgegangen ist, daß ich vor nichts mehr zurückschrecke. Auch Carmencita, selbst der dicke Holländer hat ihn gesehen. Glaubst du es?«

Nachdenklich wiegte der Mulatte den Kopf. Dann sagte er zögernd:

»Ja, wenn ihn sogar der Dicke gesehen hat, dann ist wohl nicht mehr viel an meinem Glauben oder Unglauben gelegen, dann muß man's einfach als Faktum hinnehmen, so gut, wie ich's glaube, daß sich die Erde um die Sonne dreht, weil Ihr es so behauptet, und weil's so in allen Büchern steht, wo ich doch gerade das Gegenteil sehe. Ja, dann muß doch wohl etwas daran sein, daß man noch nicht so ganz zur Ruhe kommt, wenn man tot ist.«

»Mensch, und diese neue Ansicht nimmst du so leicht auf?«

»Ach, wenn meine Haare wieder wachsen, grau werden sollen sie deswegen nicht. Seht doch mal an, Kapitän. Es gibt heutzutage noch viele Völker, die an Geister und so weiter glauben, da geht's nach ihrer Meinung wirklich Zahn um Zahn, und wen sie ermorden, der peinigt sie als Geist schon bei Lebzeiten und später im Totenreiche erst recht, ganz abgesehen von den Höllenqualen. Und was tun sie? Sie schneiden ihren lieben Nächsten immer lustig weiter die Köpfe ab. Ich meine jetzt nämlich wilde Völker in Afrika und andern Erdteilen. Nun nehmt erst einmal die alten Griechen und Römer an. Jawohl, habe auch von ihnen gelesen. Die glaubten doch ganz sicher zu wissen, daß es eine Unterwelt mit gräßlichen Strafen gab, wo alles gerächt wurde, und dann die Masse Götter, an deren Existenz sie doch auch nicht zweifelten. Und was taten die? Es wurde immer fidel weitergemordet, besonders wenn's um eine Königskrone ging oder um so etwas Aehnliches. Wie haben die mit Gift und Dolch gewirtschaftet! Der Vater, der zu lange auf dem Throne saß, wurde vom Sohne ermordet: hatte sich, die Mutter dreinzumischen, bekam auch sie eine bittere Pille; der neue König wurde vom Bruder abgetan; dann kamen die andern daran und so immer fort, trotz aller Götter und Furcht vor der Rache der Unterwelt. Nun weiter! Nur hundert Jahre zurück. Da ging's auch noch recht lustig her!«

Der Mulatte bückte sich, um seinem Herrn noch voller ins Gesicht zu sehen, und legte die Hände auf die Knie.

»Kapitän,« fuhr er mit noch höhnischerer Stimme weiter fort, »wißt Ihr, wie heutzutage die Macht heißt, vor der sich alles ehrlich fürchtet? Der Staatsanwalt ist's. Das Zuchthaus mit Wasser und Brot ist die Hölle. Der Henker ist das Gespenst. Und so ist's von jeher gewesen. Aus Furcht vor Göttern und Geistern und Strafen im Jenseits waren die Menschen nie brav und gut, und wenn sie auch noch so fest daran glaubten. Sich nicht dabei erwischen und sich nichts beweisen lassen – das war immer und ist noch heute die Hauptsache.«

Manuel richtete sich wieder auf.

»Meinetwegen kann der Steuermann noch im Tode herumlaufen oder nicht, mir ist's egal, bange machen soll er mich nicht! Wie's kommt, so kommt's eben!«

Manuel wußte, daß sein Herr ihn manchmal gern philosophieren hörte, aber sonst nicht viel auf seine Worte gab. Zum Schluß jagte er gewöhnlich den zynischen Kerl mit Schimpfworten hinaus. Doch diesmal hatte er das laut ausgesprochen, was Flederwisch selbst dachte.

Dennoch, mit dem Mulatten konnte er sich über so etwas nicht unterhalten. Er brauchte einen andern Menschen, und er wußte keinen. Die Gebildeten unter seinen Leuten waren ihm zu jung, zu unreif; er hätte sich geschämt, sie nach ihrer Ansicht über ein Jenseits zu fragen, und die andern standen womöglich noch unter dem Mulatten.

Ja, wenn Alfred noch dagewesen wäre! – Aber dessen Tod war es ja gerade, was dieses Thema anregte. –

Alfreds Tod! Derselbe stand für Flederwisch nunmehr unerschütterlich fest. So sehr kann ein so starker Geist wie der des Kapitäns der Frithjof durch Gewissensbisse und durch vermeintliche Geistererscheinungen verwirrt werden. Nobody hatte die Kur, welcher er Flederwisch unterwarf, genau durchdacht. Was er gewollt hatte, traf ein, Schlag um Schlag, und doch arbeitete er mit ganz einfachen Mitteln.

Wie bereits erzählt, hatte er, um den an ihm verübten Mord glaubhaft zu machen, einem Skelett, das einem Manne von dem verunglückten Golddampfer gehörte und Nobody in der Größe ungefähr entsprach, die Machete des Mulatten durch den Rücken gebohrt, und Flederwisch begrub eigenhändig die vermeintlichen Ueberreste seines Steuermannes.

Zu derselben Zeit aber war dieser dabei, den Geisterspuk in der Klosterkirche noch zu verbessern. Er hatte, nachdem er die Schatzinsel verlassen, jenes Eiland aufgesucht, auf dem die Mönche dereinst gehaust hatten. Das war so recht ein Boden für den abenteuerlustigen Mann. Hier konnte er den Spuren längst vergangener Zeiten nachforschen und allerlei Entdeckungen machen, wie sie eben nur in solchen alten Bauwerken möglich sind!

Nobody hatte fast Schritt für Schritt den Boden der Insel untersucht. Die Ruinen selbst wollte er erst zuletzt betreten. Er wendete aber schon hier jene eigenartige Methode an, die ihm später zu so großen, geradezu wunderbaren Erfolgen verhalf. So war es gekommen, daß er mitten im fast undurchdringlichen Gestrüpp einen mächtigen Felsblock entdeckte, dessen ganzes Aussehen verriet, daß er von Menschenhand behauen worden war, wenn auch nur ganz grob.

Wie kam dieser Quader hierher in die Wildnis?

Ehe Nobody an die Beantwortung dieser Frage ging, untersuchte er genau die ganze Umgegend, und nirgends fand er die geringsten Spuren, daß in der Nähe sich dereinst ein Bauwerk erhoben hatte, und sei es noch so klein gewesen. Uebrigens hätte ein so mächtiger Block dabei schwerlich Verwendung finden können.

Nachdem diese Feststellungen gemacht waren, kehrte Nobody zu dem Steine zurück, zog ein Messer mit langer Klinge hervor und begann die Erde an einer Kante zu entfernen. Infolge seiner gewaltigen Last hätte der Quader tief in den weichen Boden einsinken müssen, oder vielmehr die von Jahr zu Jahr sich neubildende Humuserde mußte immer mehr von ihm verhüllen. Nobody bohrte die Klinge tief in den Boden, zuerst senkrecht, dann schräg. Beim ersten Versuche verschwand sie, ohne Widerstand zu finden, bis ans Heft ins Erdreich, beim zweiten dagegen stieß sie sofort auf den Stein.

Oder auf Gestein? Es war nicht schwer, das festzustellen, denn Nobody brauchte nur das Messer in kurzen Abständen immer wieder schräg in den Boden zu stoßen. Traf es auf keine Lücke, so hatte er es mit dem Felsblock zu tun. Gab es dagegen einen Zwischenraum, so lag der Quader auf steinigem Boden

»Da ist sie schon die Lücke!« murmelte Nobody nach kurzer Zeit. »Der Stein ist also hierhergeschafft worden, und zum Spaß haben sich die Mönche oder die Eingebornen diese Mühe nicht bereitet. Einen Zweck mußten sie dabei im Auge haben, und den will ich ergründen.«

Er rutschte auf den Knien zur andern Seite des Blockes und stieß auch hier das Messer in den Boden. Dann verfuhr er ebenso auf der dritten und vierten Seite. Nobody stand auf, reinigte zunächst die Klinge am Grase und steckte dann das Messer wieder ein. Darauf blickte er rasch nach allen Richtungen, und als er nichts Verdächtiges bemerkte, beugte er sich nieder und stemmte die rechte Schulter gegen eine Ecke des Steinquaders. Doch sofort richtete er sich wieder auf.

»Wenn nach mir jemand diesen Ort betritt, dann müßte er sofort die Abdrücke meiner Füße in dem weichen Boden sehen, denn der Block ist schwer, und ich muß mich fest einstemmen, um ihn bewegen zu können.«

Suchend schaute Nobody einen Moment umher.

Dann verließ er das Gestrüpp und hob zwei flache Lavablöcke auf. Er legte sie in einiger Entfernung von dem Steinquader auf die Erde übereinander und probierte nun wieder. Es war noch etwas weit. Die Blöcke wurden nähergerückt, Nobody trat auf dieselben und beugte sich vor.

Fest stemmte er diesmal die Schulter gegen den mächtigen Stein, und ganz langsam erst, dann rascher erhob sich derselbe. Es war eine Kraftleistung, die eines Herkules würdig gewesen wäre. Dabei aber verrieten die schönen Züge Nobodys keinerlei Anstrengung. Er keuchte nicht, und ebensowenig schwollen die Stirnadern an. Das hätten die Matrosen von der Frithjof sehen sollen, da hätten sie Respekt vor ihrem ersten Steuermann bekommen.

Ein letzter kräftiger Ruck, und der Quader fiel dumpf dröhnend auf die andre Seite. Eine dunkle Oeffnung gähnte Nobody entgegen.

»Na also!« sagte er befriedigt. »Der Eingang zur Klosterruine wäre gefunden!«

So fest war dieser seltene Mann davon überzeugt, daß von der Oeffnung aus ein unterirdischer Gang nach dem Kloster führte. Es war die erste derartige Entdeckung, die Nobody machte; später ward das Auffinden von verborgnen Höhlen und Gängen ja zu seiner Spezialität.

Er stieg aber keineswegs sofort in die Tiefe hinab, sondern betrachtete erst die Seite des Steinquaders, welche bisher direkt über der schwarzen Oeffnung gelegen hatte.

»Richtig! Der Stein, den der Baumeister verworfen hat,« sagte er dann, so beweisend, daß er die Bibel kannte. »Man hat versucht, ihn zu bearbeiten, dabei aber ist ein Stück herausgesprungen, und so hat man ihn liegen lassen, bis er hier als Verschluß Verwendung fand.«

Nobody musterte kurze Zeit die Arbeit an der Unterseite des Steines und schüttelte dabei mehrmals wie mißbilligend den Kopf. Schließlich kniete er neben der Oeffnung nieder, beugte sich weit vor, so daß er förmlich darüberlag, und prüfte die aus dem Gange emporsteigende Luft zuerst durch Einatmen, dann aber ließ er ein brennendes Streichholz in die Tiefe fallen. Nein, von einer Tiefe konnte nicht die Rede sein, deswegen hatte ja Nobody auch das Streichholz nicht angezündet. Nun aber sah er, daß das ihm entgegengähnende Loch kaum anderthalb Meter tief war, und daß von seinem Boden aus Stufen abwärts führten, die sich alsbald in schwarzer Finsternis verloren.

Die kleine Flamme erlosch, und fast gleichzeitig ließ sich Nobody in die Tiefe gleiten. Er verschwand, ohne noch einmal aufzutauchen, in dem Gange, und zwar tastete er sich vorwärts, indem er beide Arme seitwärts ausstreckte. So konnte er mit den Fingerspitzen gerade noch die Wände berühren. Es mußte einen beträchtlichen Fleiß und lange Zeit gekostet haben, ehe die Mönche den verborgnen Weg fertiggestellt hatten. Je länger Nobody in der Finsternis dahinschritt, um so weniger brauchte er sich auf seinen Tastsinn zu verlassen. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und er machte zum ersten Male an sich die Entdeckung, daß er im Finstern ziemlich gut sehen konnte.

Der Gang führte erst mit achtundzwanzig Stufen in die Tiefe, verlief dann eine große Strecke eben und stieg endlich wieder empor, bis er mit abermals fünf Stufen unter einer andern Steinplatte endete, deren Vorhandensein Nobody festgestellt hatte, ohne daß er erst mit dem Schädel dagegenrennen mußte. Schon die allmählich schlechter werdende Luft hatte ihm verraten, daß dies andre Ende des geheimen Weges ebenfalls wohlverschlossen sei.

Diesmal stellte Nobody nicht erst weitläufige Untersuchungen an. Er stemmte beide Arme gegen den steinernen Deckel und hob ihn mit Leichtigkeit empor. Er brauchte dies nicht einmal ganz zu tun, denn sobald die Platte sich bis zu einem Winkel von fünfundvierzig Grad erhoben hatte, entglitt sie seinen Händen und legte sich vermöge einer verborgnen Federkraft von selbst an die Wand. Nobody tauchte mit dem Oberleibe aus der Oeffnung empor und sah sich, wie er alsbald feststellte, in einem engen Räume, der nicht größer war, als etwa ein Schilderhäuschen. Die Verschlußplatte bildete den Boden desselben.

Nobody stieg bis zur obersten Stufe empor und suchte nach einem Ausgang. Er mußte jedoch lange suchen, bis seine Finger eine kleine Erhöhung an der einen Seite berührten. Er drückte darauf, hörte ein schnarrendes Geräusch und wartete, daß die Wand sich als Tür in den Angeln drehen sollte – vergebens. Nur ein kleines Feld bewegte sich, kaum groß genug, daß ein Mensch den Kopf hindurchstecken konnte. Nobody benutzte den seinen zunächst nicht dazu, sondern schüttelte ihn nur. Hier stand er vor einem Rätsel und das um so mehr, als er plötzlich bemerkte, daß der enge Raum durch das wenige Licht, das durch die Oeffnung eindringen konnte, in überraschender Stärke erhellt wurde.

Rasch wandte Nobody sich um und – sah – sich selbst! Die vierte Wand des verborgnen Raumes war ein Spiegel!

»Glas kann es nicht sein,« murmelte der Höhlenforscher vor sich hin, »denn zu der Zeit, als die Mönche oder Nonnen hier hausten, gab es noch keine Glaswalzwerke, wohl aber kann es eine große Tafel Marienglas sein, welches die Natur selbst liefert.«

Eine flüchtige Prüfung belehrte Nobody, daß er richtig vermutet hatte, und nun machte er sich daran, den Zweck dieser Einrichtung festzustellen. Er trat vor die Oeffnung und schaute hinaus ins Innere der Klosterkirche, und er merkte nun, daß er auf einem erhöhten Platz stehn mußte, vielleicht auf dem Altar, denn der Kirchenraum lag unter ihm. Doch das kümmerte Nobody vorläufig nicht. Er wollte wissen, wozu der Spiegel diente, trat daher von dem Loche so weit zurück, daß er gerade noch hindurchsehen konnte, und plötzlich stieß er einen Laut freudiger Ueberraschung aus.

Aus dem Dämmerschein, der bereits die Ruinen erfüllte, tauchte eine schemenhafte Gestalt auf – Nobody bewegte sich – die Gestalt ebenfalls – er zündete ein Streichholz an, und sofort ward die gespenstische Erscheinung draußen vollkommen deutlich. Sie war das getreue Spiegelbild Nobodys, allerdings von hinten gesehen. Wenn er sich dem Spiegel zuwandte, dann mußte die Gestalt draußen gleichfalls von vorn zu sehen sein.

Ohne ein Wort zu sagen, verschloß Nobody die Oeffnung mittels der Federvorrichtung wieder, stieg die Stufen hinunter und zog auch die Verschlußplatte wieder zu. Er suchte nach dem wirklichen Ausgang und fand ihn auch bald in einer Nische, aber er hütete sich, ihn zu öffnen, denn dadurch hätte er sich verraten können.

Ohne sich zu übereilen, kehrte er an den Eingang zurück, untersuchte dort noch einmal den großen Quaderstein und fand auch hier eine geheime Vorrichtung, mittels deren derselbe bewegt werden konnte. Da ließ er ihn in seine frühere Lage zurückgleiten und begab sich nunmehr nach der Klosterruine. Er klomm zu jener Mauerlücke empor, durch die später Flederwisch und der Mulatte das Innere betraten. Nobody aber schaute nur hinein, dann entfernte er sich und verschwand im Walde.

Nun aber bedarf es wohl keiner weitern Erklärung, wie es möglich war, daß Kapitän Flederwisch in der verfallenen Kirche durch die gespenstische Erscheinung seines ersten Steuermannes erschreckt ward, den er für tot hielt, und wie sich dieser Spuk später in Gegenwart Carmencitas und des dicken Holländers wiederholen konnte. Nobody benutzte jene von den Mönchen ersonnene Vorrichtung, vermöge deren sie dem gläubigen Volke gewiß allerlei überirdische Erscheinungen vorgespiegelt hatten, und nachdem Nobody diesen Zweck erreicht hatte, verließ er die Klosterinsel, denn sonst hätte Pepe-Pepe, der Zambo, niemals dort seinen Ueberfall ausführen können. Nobody rief von Guayaquil aus seinen Doppelgänger, den echten Schweden Helge Halfdan zurück und instruierte ihn eingehend. Er wußte, daß Kapitän Federwisch jemanden haben müsse, mit dem er über die unheimlichen nächtlichen Abenteuer in der Klosterkirche reden konnte.

Nobody selbst hatte eine wichtigere Arbeit, mußte deren Ausführung aber noch einmal aufschieben, aus einem Grunde, der sogleich erörtert werden soll.

Ein Vierteljahr verging. Auf den Inseln hatte sich viel verändert, das abenteuerliche Werk wuchs, und auch die kleinern Eilande, mit Ausnahme der Klosterinsel, waren kolonisiert worden. Auf diesen nun hatte Flederwisch eine Einrichtung getroffen, welche alle seine frühern Unternehmungen – wenn man es nur von der interessanten Seite aus betrachtet – durch Originalität, Exzentrizität und – es ist das richtige Wort – durch Überspanntheit in den Schatten stellte. Außerdem schien er dabei seine Ansicht über eine gewisse Lebensfrage plötzlich total geändert zu haben, obschon er früher einmal davon zu Alfred gesprochen hatte, daß es mit zur Verwirklichung seines Planes, ein Reich von Helden zu gründen, gehöre.

Da dieses neue Kolonieunternehmen auf den kleinen Inseln in einem spätern Kapitel ausführlich geschildert werden muß, so mag es hier bei Andeutungen bleiben. Erwähnt sei nur, daß Flederwisch zum Werben dieser neuen Kolonisten nicht nur die Trommel hatte rühren, sondern in Guayaquil, Quito und in andern Städten große Musikkapellen hatte aufspielen lassen – und sie waren in Scharen gekommen und den Rattenfängern von den Gallopagos nach den Inseln gefolgt.

Wie die Regierung der Gallopagos sonst im stillen arbeitete, das versteht man am besten aus einigen aufgefangnen Worten.

Als einst Flederwisch mit dem Mulatten in Guayaquil gewesen war, warf letztrer, als er bei der Rückkunft seinem Freunde, dem Steward, begegnete, diesem einen geheimnisvollen Blick zu, steckte erst einen Finger in den Mund und schwippte dann mit der Hand.

»Aber heute hat er sie wieder angepumpt!« flüsterte er. »Es muß in die vielen Millionen gehn. So ein Pack grüner Banknoten war's, und alles ist gleich nach San Francisco gegangen.«

Ein andermal tippte Manuel seinem Freunde von hinten auf den Rücken.

»Du, wir kriegen noch ein paar tausend Kulis dazu, wenn's nicht gleich zehntausend mehr sind – und Bernhard geht wieder mit andern Kapitänen nach Frisko – paß auf, ich will mich hängen lassen, wenn sie nicht mit einer ganzen Flotte zurückkommen.«

Und zum dritten, als Manuel wieder einmal mit dem Kapitän auf dem Festlande gewesen war:

»Jetzt muß er sie rein ausgepumpt haben. Na, wenn die einmal zusammen klar Schiff machen, unser Kapitän und die Alte mit den Haaren auf der Nase, da muß ich dabeisein!«

 

»Pepe-Pepe, der Zambo, hat den deutschen Kapitän ermordet – nein, ein englischer ist es – ja, ja, den von der Frithjof, den Inselpächter – auf Agostinos Jacht ist er hinübergefahren – zwanzig Gauchos hatte er bei sich – alles niedergebrannt hat er – es war eine Rache – nein, des Kapitäns Frau hat er geraubt, ihr wißt, die Quadrone – in die Gebirge hat er sie geschleppt – der Kapitän ist tot. Was nun?«

Sie erzählten es alle, in Schenken und auf der Straße, und blickten dabei erwartungsvoll nach Westen. Wer es zuerst aufgebracht hatte, wußte niemand. Da aber alle dasselbe behaupteten, vom goldbetreßten Hotelportier an bis herab zum halbnackten Eseltreiber, so mußte es doch wahr sein.

Da – Agostinos wohlbekannte Dampfjacht steuerte in den Hafen und legte an ihrer Landungsstelle bei. Auf dem Quai drängten sich die Neugierigen.

»Ist es wahr, habt ihr den Inselpächter ermordet?« schrie man hinüber. »Wo ist Pepe-Pepe, der Zambo? Wo ist Zambo bravo?«

Natürlich kam keine Antwort, aber der Kapitän wurde, von einem Diener geholt, der Agostinos Livree trug, und die beiden verschwanden in Valdez' Palast. Dann sah man wieder einen Diener auf das Postamt rennen, auf das Telegraphenbureau. Einige Stunden später wußte jeder Mensch in Guayaquil, daß Valdez' Jacht Dampf aufmache. Aber fortfahren schien sie nicht zu wollen. Und am andern Morgen war sie doch fort. Und dann mußte man sich drei Tage mit leeren Vermutungen gedulden.

Es war zum Verzweifeln! So dachten besonders die Damen der höhern Kreise, die sich vielleicht am allermeisten für das Schicksal des schneidigen Kapitäns interessierten. Schade nur, daß er eine Farbige geheiratet hatte. Nun hatte er's! Aber schändlich war es doch, daß man nichts Gewisses erfahren konnte, wo die Gallopagos doch nur ein paar Meilen entfernt lagen. Man durfte nicht einmal hinüber, sie ließen ja niemanden darauf!

Die Jacht kam zurück, mit Senora Lewis und einigen Gentlemen an Bord, welche damals aus Quito herbeigerufen worden waren. Auch der englische Konsul war darunter. Sie riefen es natürlich nicht dem Volke zu, daß der Inselpächter tot sei – ermordet, das klang besser – aber man sah es doch ihren feierlichen Mienen an.

Die Sache ging weiter, wie erwartet, und hatte doch manch überraschende Wendung. Der englische Konsul klagte; die Tat eines ecuadorischen Bürgers, begangen gegen einen unter englischer Flagge segelnden Kapitän, mußte gesühnt werden. Das war ja ganz selbstverständlich, hatte der Zambo doch auch noch gegen zwei Dutzend Chinesen und einen Matrosen, der in englischer Musterrolle stand, umgebracht.

Pepe-Pepe, der Zambo, wurde einfach hingerichtet. Das war besonders dem Fiskus sehr angenehm, denn da jener keine direkten Nachkommen hatte, fielen dem Fiskus alle die fetten Herden des verurteilten Mörders anheim.

Doch gilt die Nürnberger Regel auch für Ecuador: ehe man den Zambo hinrichten konnte, mußte man ihn erst haben.

Nun trat der außergewöhnliche Fall ein, daß wegen solch einer Sache, die eigentlich nur von Richtern und Geschworenen abgetan wird, die Senatoren zusammengerufen wurden; man hielt die Sitzungen geheim, und wenn sie die Kammer verließen, vereinten sie sich wieder im Palast Valdez, dessen Fenster keine Nacht mehr dunkel wurden.

Denn es dürfte nicht so einfach werden, an Pepe-Pepe das Urteil zu vollstrecken und seine Güter zu konfiszieren. Man hatte mit der großen Beliebtheit des Zambos unter Farbigen und Indianern zu rechnen. Er war auch noch gar nicht in die Berge geflohen – das mochte nur eine Fama gewesen sein – vorläufig saß er noch, ganz nahe der Stadt, auf einer Hazienda und ließ es sich dort wohl sein.

So bekam das Volk gar nichts von einer Gerichtssitzung oder Vorladung zu hören, während über den Verbrecher das Urteil doch schon gefällt war, und eines Nachts ritten gegen hundert bis an die Zähne bewaffnete Reiter ab, mit Instruktionen versehen – nicht, ihn lebendig oder tot einzuliefern, sondern es waren bereits die Nachrichter. Auf den Zambo war ein hohes Schußgeld gesetzt worden, und diese Menschen würden es sich verdienen, das war noch sicherer als Wegelagerei und Goldsuchen. Es waren alles verwegne Abenteurer, die man an den Grenzen zusammengelesen hatte, nur daß man dabei auf rein spanisches Blut gesehen, und der Regierung war viel daran gelegen, den gefährlichen Zambo stillschweigend aus der Welt zu räumen. Sie hatte also einfach Meuchelmörder gedungen und konnte sich dann mit dem Scheine des Rechtes verantworten.

Aber Pepe-Pepe, der Zambo, ließ sich natürlich nicht überraschen, als jene auf die Hazienda kamen, fanden sie das Nest bereits leer. Und dennoch war man seinen Plänen zuvorgekommen, wenn er nämlich die Absicht gehabt hatte, unter den Farbigen und ansässigen Indianern einen Aufstand anzuzetteln. Dies war jetzt für den Zambo nicht mehr möglich; sein persönliches Auftreten fehlte, es konnten wohl nur wenig Getreue noch bei ihm sein, außer jenen Gauchos, die ihm bei der Tat geholfen hatten, und die sich ja auch vogelfrei fühlten. Unterdessen ließ die Regierung alle Haziendas und Estancias Pepes besetzen. Eine Art provisorischer Verwaltung wurde eingeführt; die dort angestellten Leute wurden einstweilen recht gut behandelt, und es war dafür gesorgt, daß sie womöglich gar nichts davon erfuhren, wie ihr Herr jetzt gleich einem Stück Wild verfolgt und gehetzt wurde.

Die hochlöbliche Regierung wiederum ahnte und erfuhr nicht, daß diese Hetzjagd, die bald hinter dem Zambo angestellt ward, nur ein Gaukelspiel war, durch das sie selber getäuscht wurde.

Wohl hatte sich nämlich bald eine ganze Schar Verwegner, abenteuerlich gesinnter Männer gegen gute Bezahlung bereitfinden lassen, die Spuren des Flüchtlings zu verfolgen, aber es fehlte diesen Leuten an einem geeigneten Führer, der nicht nur die Kordilleren kannte, sondern auch deren Bewohner. Da war zur rechten Zeit ein Mann in Guayaquil angekommen, dessen Ruhm schon damals über ganz Amerika verbreitet war. Es war Cutting Knife, der berühmteste Jäger und Pfadfinder der Vereinigten Staaten, und er erbot sich, den Zambo bravo zu verfolgen.

Cutting Knife, wie unsre Leser wissen, kein andrer als Nobody, konnte nicht dulden, daß Carmencita oder ihr Verführer in die Gewalt der Regierung gerieten. Allerdings an dem Zambo war ihm weniger gelegen als an der Quadronin. Diese brauchte er noch nötig, um die seelische Umwandlung des Kapitäns Flederwisch zu vollenden und nach einigem Hin und Her übertrug die ecuadorianische Regierung dem berühmten Pfadfinder die Verfolgung des Paares. Nobody war es natürlich ein leichtes sich an die Fersen Pepe-Pepes zu heften, aber so oft sich ihm auch eine Gelegenheit bot, den Zambo zu fangen, so oft ließ er dieselbe ungenützt vorübergehn. Er begnügte sich damit, dessen Begleiter nach und nach zu beseitigen und den Flüchtling so sehr zur Verzweiflung zu treiben, daß derselbe sogar Carmencita, die er bisher immer noch mit sich geschleppt hatte, im Stiche lassen mußte.

Eines Morgens fand man in seinem letzten Lager, in einer Felsschlucht, in der es vor Gestank kein Schakal ausgehalten hätte, das hier abgesetzte Weib, nur noch mit Lumpen bedeckt, vor Erschöpfung und Hunger dem Tode nahe. Dann stand es auch mit dem Zambo schlimm; er hatte nicht einmal mehr ein Pferd zu schlachten.

Ohne weiteres übertrug Nobody den Oberbefehl über die Truppe einem der Abenteurer und machte sich selber bereit, Carmencita, die ihn natürlich nicht erkannte, zurückzubringen. Er nahm nur noch einen Spanier mit, und nach einigen Stunden wurde die Richtung nach der großen Heerstraße eingeschlagen, welche quer durch Ecuador nach Quito führt und weiterhin sich nach Guayaquil abzweigt. Diese Landstraße war allerdings nur durch bleichende Gebeine von gestürzten Tieren markiert, sonst durch gar nichts zu erkennen; es war mehr eine eingebildete Luftlinie, an welcher die Gehöfte so nahe zusammenlagen, daß man das eine vom andern durch vielstündige Galoppritte erreichen konnte.

Zwei Wochen hatte bisher die Jagd hinter dem Zambo gedauert, obgleich man von Guayaquil nur 30 Leguas entfernt war, das sind fast ebensoviel deutsche Meilen, welche ein Gaucho bequem in zwei Tagen zurücklegt, unterwegs noch einen Rausch ausschlafend. Bei der Donna und ihrem Zustande freilich mußte man mit fünf bis sechs Tagen rechnen.

Wie wohl war es Carmencita gewesen, als sie die erste Hazienda erreichten, das Nachtquartier schon am frühen Nachmittage beginnend! Frische Speisen, frisches Wasser, ein Bad; die grenzenlose Gastfreundschaft gab auch Wäsche und sogar ein elegantes Reitkleid her, dann ein komfortables Bett – das war wirklich der Himmel auf Erden!

Die Gastfreundschaft blieb auf der Weiterreise immer die gleiche, aber je mehr sich Carmencita der Küste näherte, desto weniger empfand sie diese Wohltaten, desto beunruhigendere Gedanken quälten sie. Wie würde man sie in Guayaquil empfangen? Sie war ja nicht direkt schuldig, aber sie war Zeuge des blutigen Kampfes gewesen, um sie hatte es sich gehandelt, sie hatte das Unheil heraufbeschworen – sie fühlte sich schuldig.

Das Langsamreiten und öftere Stationmachen nützte nichts; die Hazienda, welche zum letzten Nachtquartier dienen sollte, rückte heran.

Schon war es dunkel, als die beiden Männer, die Dame zwischen sich, auf den umfenzten Hof vor das recht stattliche Herrenhaus ritten. Einigen Arbeitern, welche Maultiere am Troge tränkten, wurde zugerufen, daß man Quartier für eine Donna und zwei Begleiter begehre; zu bitten brauchte man deshalb nicht. Der Spanier hob Carmencita aus dem Sattel; sie ließen die Pferde saufen, führten sie aus dem Hofe und gaben sie frei; die von dem vorigen Gehöft entliehenen Tiere jagten reiterlos in die Nacht, ihrer, heimatlichen Weide zu. Solange, bis der Haziendero oder sein Stellvertreter sie in das Haus führte, mußte auch die Dame im Freien warten. Nobody hielt sich vollständig im Hintergrund. Er hatte seinem Begleiter verboten, ihn als Cutting Knife anzureden.

»Eine Donna?« hatte Carmencita einen Gaucho den Spanier, als er sein Pferd tränkte, fragen gehört, aber nicht die Antwort vernommen. Der Gaucho war spornstreichs seinem schon ins Haus gegangnen Kameraden, welcher die erste Meldung von der Ankunft von Gästen überbrachte, nachgeeilt.

Da kam von der Verandatreppe eiligen Schrittes ein andrer Mann; es mußte der Haziendero sein.

»Frau Paul Müller?« rief er schon von weitem. »Ist es möglich! Sie werden mich noch – Sie sprechen doch Deutsch?«

Carmencita verneinte, als sie die ausgestreckte Hand nahm, und wußte im Augenblick nicht, ob sie erschrecken oder sich freuen sollte, als Haziendero in den einsamen Pampas einen Landsmann ihres Gatten zu finden. Sie suchte sofort nach einem Vorteil für sich aus der Begegnung mit diesem Manne, der ihr so herzlich entgegenkam, und sie sollte auch einen finden.

»Sie Aermste, was haben Sie durchmachen müssen!« fuhr er auf spanisch fort, und dann leiser, wenn auch noch lebhaft: »Das Wunderbare ist, daß Sie gerade heute abend hier eintreffen. Sie werden erwartet ...«

»Ich – werde – erwartet?« unterbrach ihn Carmencita erschrocken.

»Von einer Dame. Es ist wohl eine Verwandte von Ihnen ...«

»Ich habe gar keine Verwandte!«

»Bitte, Senora, nur einen Augenblick! Am späten Nachmittage kam heute eine ältere Dame in Begleitung einiger Muellos – dort stehn noch ihre Maultiere – bat um Quartier, sagte, sie wolle der Senora Müller entgegenreisen, deren Schicksal ich doch kenne, um sie gleich in Empfang zu nehmen, wenn die Verfolger des Zambo sie befreit hätten; sollte die Dame Sie verfehlen, dann möchte ich doch, wenn Sie vorüberkämen, Sie hier festhalten und ihr schleunigst einen Boten nachsenden. Ebenso, wenn ich erführe, daß Sie bereits in der Stadt eingetroffen seien, und sie freute sich sehr, als sie hörte, daß ich täglich mit Guayaquil in Verbindung stehe – ich liefre Schlachtvieh. So kommen Sie doch, Senora; die alte Dame befindet sich in größter Aufregung, und – ich habe ihre Hoffnung, Ihnen zu begegnen, sehr zweifelhaft gefunden – ich dachte nicht, daß Sie dem Zambo lebendig entkämen.«

Aber Carmencita folgte nicht der Einladung. Eine furchtbare Angst befiel sie plötzlich. Es gab eine alte Dame, vor der sie sich schrecklich fürchtete, und wenn es allein schon wegen ihres Aussehens und Auftretens war.

»Es ist doch nicht Mrs. Lewis?« flüsterte sie, sich bemühend, ihre Scheu zu verbergen.

»O nein, diese ist es nicht, die kenne ich gut,« lächelte der Mann, und dann flüsterte er auch: »Es ist eine Farbige – hat übrigens nichts bei mir zu sagen, ich bin ein Deutscher.«

»Eine Farbige? Eine Alte?« staunte jetzt Carmencita. »Die sich so für mich interessiert? Ich kenne keine!«

»Aber, bitte, so kommen Sie doch nur mit mir!«

Jetzt folgte ihm Carmencita ohne Zögern; er öffnete mit einem »Bitte!« die Tür; gespannt, aber vollständig ahnungslos trat sie ein. Der Haziendero war draußen geblieben.

Ja, es war eine alte Dame, welche sich bei Carmencitas Anblick schnell von ihrem Diwan erhob; sie ging einige Schritte auf die an der Tür Stehende zu und breitete die Arme aus.

»Carmencita, mein Goldtöchterchen ...« erklang es im zärtlichsten Tone.

»E-strel-la!«

Fassungslos lehnte Carmencita an der Wand. Hier Estrella wieder zu begegnen, auf sie wartend, das ging wirtlich über ihre Fassungskraft.

»Carmencita, mein Täubchen!« fuhr die Alte fort, jetzt aber mit fliegendem Atem. »Paul ist tot – hast du den Trauschein gerettet?«

Da löste sich das starre Staunen in Wut auf, alles andre vergaß sie.

»Estrella, du schamlose Hündin!« zischte sie auf.

»Still, still doch,« begann die Alte zu weinen, aber vor Ungeduld. »Hast du den Trauschein – hast du den Trauschein?«

»Du hast mich betrogen und bestohlen, du elende Niggerin!«

»So antworte doch nur!« heulte die alte Hexe leise weiter. »Mein Schätzchen, mein Goldkind – ich tat's ja nur deinetwegen – schlage mich nachher, spucke mich gleich jetzt an – aber so antworte doch nur – hast du den Trauschein?«

Es wäre doch wohl noch zum Augenauskratzen gekommen. Carmencitas Finger krümmten sich schon, wenn sie schließlich nicht doch stutzig geworden wäre. Warum suchte Estrella sie denn auf? Was war das mit dem Trauschein?

»Ich habe ihn! Ich trage ihn immer auf der Brust!«

Die Alte schlug Augen und Arme zur Decke empor, sie wollte nicht niederknien, aber die Freude war zu groß, die Kraft verließ ihre Knie, sie kniete von ganz allein nieder.

»Sie hat ihn! Sie hat ihn!«

Sie wurde von der andern derb am Arme geschüttelt.

»Nun sprich du! Wo kommst du her? Was ist's mit dem Trauschein? Was soll das alles heißen?«

Verklärten Blickes schaute die alte Hexe ihren Liebling an, den sie bestohlen.

»Daß wir nun reicher sind als alle Agostinos zusammen. Ich habe mich schon bei Landschreiber erkundigt. Ja, ja, mein Töchterchen, vertraue nur immer mir, ich habe gut für dich gesorgt.«

Endlich kam mehr Ordnung in die Unterhaltung; sie setzten sich, es sprach auch immer nur eine auf einmal, zuerst die Alte.

Wenn Carmencita etwa glaube, daß die gute Tante damals mit den hunderttausend Piastern Depositum über die Berge gegangen sei, da täte sie ihr natürlich sehr unrecht. Nein, sie hätte gewußt, wie alles kommen würde, und da fand sie es besser, schnell das Geld in Sicherheit zu bringen, sie hatte nur keine Zeit zum Abschiednehmen gehabt, denn so etwas zutrauen könne sie ihr doch nicht.

Da Carmencita nichts weiter dazu sagte, war diese Angelegenheit bald erledigt.

Mit noch etwas überschwenglicheren Worten erzählte die Alte also weiter, wie sie ihren Liebling nie aus den Augen gelassen habe. Sie hatte sich in Mexiko aufgehalten, sehr sparsam gelebt – aber schlechte Menschen hatten ihr ziemlich viel gestohlen – da hörte sie die Kunde von Flederwischs Tode; das erste Schiff genommen, herübergeeilt, sie erfuhr alles Weitere; sie mietete Muellos, Maultiertreiber, und reiste Carmencita entgegen, um sie nicht erst nach Guayaquil kommen zu lassen, betend, daß die Verfolger sie überhaupt noch lebend aus den Händen des schrecklichen Zambo befreiten.

»Kind, was bekommst du plötzlich für eine rote Narbe im Gesicht?«

»Paul hat mich mit der Reitpeitsche geschlagen!« zischte die Quadrone.

»Ja, weil du ihm mit dem Zambo davongelaufen bist! Ich weiß alles.«

»Ich hielt ihn für tot. Und er hat mich geschlagen.«

»Beruhige dich, mein Täubchen, du wirst ihn wieder schlagen!«

»Er ist tot.«

»Statt seiner wirst du seine Schwester ins Gesicht treffen, daß er es noch im Grabe fühlt, denn er hat sie sehr geliebt.«

»Estrella,« flüsterte die Quadrone, doch ohne Aufregung, die Unterhaltung wurde überhaupt flüsternd geführt, »sein erster Steuermann – du weißt, welcher damals abwesend war – es war Alfredo!«

Der Alten Staunen war allerdings groß, doch ihre Gedanken wurden jetzt von etwas andrem beherrscht.

»Ist's möglich! Und ihr saht euch?«

»Wir sahen uns, wir waren beide vorbereitet – durch Manuel, weißt du, den schwarzen Bootsmann. Er haßte den Steuermann. Ich bat ihn. Er hat Alfredo ermordet, Estrella – als ich drüben auf der Klosterinsel gefangen gehalten wurde – ich habe Alfredos Geist gesehen.«

Es war ganz merkwürdig, wie die beiden Frauen darüber sprachen. Carmencita schien nur deshalb so zu flüstern und scheu nach der Tür zu sehen, weil es doch ein Mord war, den sie mit auf dem Gewissen hatte, und bei der Alten brachte es keine andre Wirkung hervor, als daß sie schnell einen Rosenkranz aus der Tasche zog und mit den Holzkugeln zu klappern begann.

»Hast du?« klang es nun mit einiger Neugierde aus dem zahnlosen Munde zurück. »Was sagte er?«

»Nichts. Er verschwand gleich wieder. Wie soll ich seine Schwester ins Gesicht treffen können? Sprich, Estrella, was ist's mit dem Trauschein?«

Mit dieser Frage war auch wieder das Rätsel des Übersinnlichen erledigt, was für die beiden Frauen gar kein Rätsel war, weil sie eben daran glaubten.

Erst wollte die Alte den Trauschein sehen. Carmencita brachte aus der Taille ein glattes Ledertäschchen zum Vorschein, mit einer Schnur am Halse befestigt, entnahm ihm das zusammengefaltete Pergamentpapier, und die Hände der Alten zitterten vor Freude, als sie es empfing.

»Goldschatz, das macht dich zur vielfachen Millionärin. Ich habe mich gleich bei Landschreiber erkundigt, weil ich gerade Zeit hatte – du weißt, das Geschäft an der Estrada, wo die Kaufleute immer fragen, ob einer auch genug Geld hat, daß es sich lohnt, wenn sie ihn betrügen – ich dachte freilich, ich müßte lange warten, und wunderte mich dann, daß sie es mir gleich sagen konnten und noch viel mehr, als ich wissen wollte ...«

Carmencita wunderte sich nicht darüber. Das war die Antwort auf ihre Anfrage gewesen. Doch sie irrte sich, es war nicht allein ihr Fall, es war noch andres dazugekommen.

»Er hat uns immer die Wahrheit gesagt – mehr als die Wahrheit – er hat überhaupt gar keine Schulden, kein Milreis – und von seiner Tante, der Lady Muggridge, erbt er wirklich 200.000 Pfund Sterling, das sind gerade eine Million Piaster. Goldkind, und die gehören dir! Die Tante war immer sehr krank, sie wird noch kränker geworden sein, sie wird bald sterben – und dann gehört alles, alles dir, weil du den Trauschein hast. Siehst du nun, Täubchen, wie ich für dich hier sorge? Denn ich bin klug, ohne mich könntest du doch nichts anfangen!«

Und die Alte erklärte ihr die englischen Eheverhältnisse, welche beim ersten Blick überaus einfach erscheinen, im Grunde genommen aber, von der Seite des Gesetzes aus betrachtet, wenn die Rechte zwischen Mann und Frau getrennt werden, ganz verwickelt sind. Estrella war recht genau unterrichtet; der Trauschein des Weibes ist in England allmächtig und bewirkt Wunder, ganz gleichgültig, wo er ausgestellt ist; auf keine Religion wird Rücksicht genommen, die Unterschrift des Mannes und des Weibes bindet unwiderruflich. Und dennoch, die Alte glaubte sich ihrer Sache allzu sicher. Es gab ja noch einen Nobody.

»Wenn nun aber die Tante ihr Testament ändert?«

»Sie tut es nicht, sie tut es nicht, und eben deshalb müssen wir so schnell wie möglich nach London, du machst dich ihr angenehm, mußt immer sofort zur Stelle sein, wenn etwas passiert. Paul hat uns doch genug von ihr erzählt, sie denkt nicht an seine Schwester.«

»Und sie bekäme wirklich gar nichts von der Erbschaft?«

»Kein Milreis brauchst du ihr abzugeben, mit Hunden kannst du sie hinausjagen.«

»Nein, nein, ich kann es nicht fassen, du stellst dir die Sache zu leicht vor! Weißt du denn wirklich alles, was zwischen uns passiert ist?«

Und Carmencita erzählte, wie sich Flederwisch ihr gegenüber benommen, wie er sie gefangen gehalten hatte – ohne Eifersucht zu zeigen, es war nur gewesen, als wollte er sie unschädlich machen – und sie kleidete ihre Befürchtungen in Worte – sollte er da nichts nach Hause geschrieben haben, nicht Sorge getragen haben, daß die ungetreue Frau dereinst nicht seine geliebte Schwester beeinträchtigen könne?

Wirklich, die Alte war ihrer Sache doch allzu sicher gewesen; jetzt wurde sie unruhig. Sie saß nicht mehr; wie eine heißhungrige, feige Hyäne schlich sie durch das Zimmer, sich immer an die Wände schmiegend.

»Das ist schlimm, das ist schlimm!« keuchte die dünne Fistelstimme. »Kind, Kind, du hast damals nicht gut getan, mit dem Zambo anzubändeln. Freilich, ja, freilich, wenn es so ist – wir müssen hin, wir müssen gleich hin und sehen, was sich machen läßt!« Die schleichende Hyäne blieb stehn, die grünen Augen schielten nach dem jungen Weibe. »Ja, wenn du ein Kind von ihm hättest, dann könnten sie alle, alle nichts gegen dich wollen.«

Sie setzte ihren Schleichgang fort. Carmencitas Augen folgten ihr.

»Estrella!« hauchte es da nach einer langen Pause.

Die Alte blieb wieder stehn, zuckte, schielte – es war eine widerliche Szene.

»Was, mein Liebling?«

»Ein Kind, sagst du?«

Die Alte, an die Wand gedrückt, duckte sich noch mehr.

»Ein Kind!« nickte sie grinsend. »War Paul ...«

Der Peitschenhieb trat wie eine schwarze Linie in dem Gesicht hervor.

»Nein, Estrella. Paul – war noch am letzten Tage bei mir, aber vertraulich war er nie mehr. – Und doch – Estrella – ich glaube es fast ...«

Die beiden Weiber blickten sich schweigend an, die alte Hexe mit dem zusammengedorrten, die junge mit dem schönen Gesicht, welches jenem dereinst gleichen würde. Sie brauchten nicht zu sprechen, ihre Blicke erzählten, fragten und antworteten.

Da löste sich die raubgierige Hyäne von der Wand ab und schlich auf das junge Weib zu, zusammengekrümmt, den Kopf mit der Geiernase weit vorgereckt.

»Iiiiiii,« kam es quiekend aus dem zahnlosen Munde.

Es klopfte stark an der Tür, und augenblicklich waren es zwei würdevolle Damen, welche der Eintretenden entgegensahen, einer jungen, pechschwarzen Negerin.

Ob die ›Senoras‹ ihre Abendmahlzeit auf ihrem Zimmer einzunehmen wünschten, oder ob die ›Senoras‹ die ›Güte‹ haben wollten, es mit Senor Uhlmann unten zu teilen.

Die kleine Schwarze bediente sich einer außergewöhnlich höflichen Sprache, legte aber auch soviel als möglich heimtückische Verachtung in den Ton, besonders wenn sie ›Senoras‹ sagte.

Die ›Senoras‹ achteten nicht darauf, sie wechselten einen schnellen Blick. Die so edle, hochherzige Gastfreundschaft, fast die einzige Tugend jener verkommenen Nationen, hat auch ein Recht zu fordern; der Gast muß sich der Hausordnung fügen, an silberbedeckter Tafel oder am nackten Boden mit dem Herrn zusammen essen.

»Wie der Senor Haziendero wünscht,« sagte Estrella, »nur wäre es uns sehr lieb, wenn wir ihn heute abend noch einmal allein sprechen könnten.«

»Senor Uhlmann ißt stets allein.«

»Dann lassen wir ihn bitten, daß wir das Abendbrot mit ihm teilen dürfen.«

»Wie die Se-no-ras befehlen!«

Die Tür wurde heftiger zugemacht, als nötig war.

»Nigger sind's, elende,« zürnte draußen die kleine Ahnenstolze, »nicht einmal schwarz sind sie.«

»Du darfst nicht nach Guayaquil,« zischte es drinnen sofort wieder. »Deshalb reiste ich dir entgegen, um es zu verhindern, wenn es möglich wäre. Sofort nach England! Wer begleitet dich? Wie behandelt man dich? Wir müssen fliehen, heute abend noch. Der Haziendero ist auch ein Deutscher – auch ein Kavalleresko. Er wird uns helfen. Wir müssen ihn fangen.«

Vor allen Dingen aber mußte Carmencita sich waschen. Sie tat es in dem zweiten Zimmer, welches der alten Dame zur Verfügung gestellt worden war, und dabei wurde die Unterhaltung fortgesetzt, bis die Einladung zur Abendmahlzeit kam.

Hier war es tatsächlich eine silbergedeckte Tafel, an welche die beiden geführt wurden, und auf ihr erhoben sich auch nicht, wie es sonst in den Pampas üblich, ob im Herrenhaus oder in der Gauchohütte, zwei gewaltige, dampfende Berge, der eine aus gebratenem, der andre aus gekochtem Rindfleisch bestehend, einen Meter hoch, von denen jeder nach Belieben absäbelt. Der deutsche Haziendero schien auch keine Gastereien und Zechgelage mit den Nachbarn zu lieben, denn er speiste in der Bibliothek, und zu dieser war der einzige, allerdings sehr große Saal des Hauses eingerichtet. Nur von Türen und Fenstern unterbrochen, reihten sich die Bücher an den Wänden vom Boden bis an die hohe Decke; ein Kundiger taxierte sie auf acht- bis zehntausend Bände; die Gemälde, und darunter alte Meister, mußten mit Staffeleien fürlieb nehmen.

Die beiden Damen waren noch nie in die Bibliothek von Quito gekommen, hatten noch gar nicht gewußt, daß es überhaupt so viele Bücher auf der Welt gäbe, und das bedrückte sie etwas. Es war ihnen ungefähr zumute wie einem Vegetarianer im Zentralschlachthof.

Der deutsche Oekonom, welcher sich als unumschränkter Monarch eines Gebietes von vielen Quadratmeilen in den Pampas zwischen Viehherden, Gauchos, Hunden und seinen Büchern und Gemälden recht wohl fühlte, so wohl, daß er bisher noch nicht ans Heiraten gedacht hatte, interessierte sich sehr für Kapitän Flederwisch – doch nicht etwa, daß er eine geistige Verwandtschaft mit jenem gefühlt hätte.

Die Zeitungen hatten allerdings viel über Kapitän Flederwisch erzählt, zuletzt auch von dem Ueberfall und Attentat durch den Zambo – aber dann hatten sie plötzlich geschwiegen. Die Federn waren eben gekauft worden, sie hatten übrigens auch schon früher nicht mehr geschrieben, als von gewisser zahlungsfähiger Seite zugelassen wurde.

Der phantastisch veranlagte Kapitän – offenbar ein Genie – nun tot – fern von der Heimat ermordet – und hier seine Frau, die er geliebt – ein wunderbar schönes Weib – eine Farbige – drei Wochen in der Gewalt eines Indianers gewesen – und nun saß sie hier, ihm, dem Deutschen, gegenüber – und das war doch zweifellos sehr interessant.

Zunächst mußte er Worte des Beileids finden, und Carmencita gebrauchte das auf der letzten Hazienda geborgte Taschentuch. Dann kam die Witterung als Gesprächsstoff daran, denn – ja, Herr Uhlmann wollte das Gespräch gern auf die Gallopagos lenken.

Carmencita sah sich um.

»Mein Gott, diese vielen Bücher! Was steht da drin?«

»Es sind meine geschäftlichen Ratgeber und geistreiche Gesellschafter, in müßigen Stunden nie versagend, immer gefällig. Sie erzählen mir viele lehrreiche Geschichten, unter andern auch, daß Ihr Gatte, Mistreß Müller, nicht auf Felsen gebaut hat.«

Carmencita fühlte sich durch diese etwas freimütige Aeußerung nicht beleidigt, verstand sie überhaupt gar nicht, gab aber eine Antwort, die dazu passend genommen werden konnte.

»O, er baute immer sehr sicher.«

»Verzeihen Sie, daß ich das Gegenteil denke. Völkerreiche kann man nicht von besoldeten Tagelöhnern aufführen lassen. Reiche und Völker müssen sich aus sich selbst entwickeln. Die Weltgeschichte ist der Beweis. Das, was Ihr Gatte beabsichtigte – wenn ich seinen kühnen Plan ganz verstehe – war von vornherein unmöglich. Ebensowenig kann man mit allem Gelde der Welt ein lebendes Wesen schaffen oder aus einem kleinen Kinde über Nacht einen erwachsenen Mann mit starkem Rückgrat machen.«

»Meinen Sie nicht, daß es die Wissenschaft noch einmal so weit bringen wird?« mischte sich Estrella ein.

»Aktiengesellschaften zur Gründung von Völkerreichen zu bilden?« lächelte Uhlmann. »Nun, wenn es sich um den Kauf von etwas Fertigem handelt, dann ist's nicht ausgeschlossen; einige amerikanische Milliardäre haben schon einmal beim englischen Parlament angefragt, was Irland kostet, wenn es diese Last lossein will.«

»Nein, Menschen zu machen, meine ich. Ich dächte doch, ich hätte es einmal gelesen – in der Zeitung – nein, richtig, in einem Buche! Jawohl, Faust hieß er, ein Zauberer war's – jetzt entsinne ich mich – Homunculus nannte er das kleine Männchen, in einem Glastopf hatte er es zusammengebraut. Zuerst war's natürlich nur ganz klein.«

Uhlmann war so erschrocken, daß er die einmal gelungene Menschenmacherei als Tatsache zugab. Nun wußte er, wes Geistes Kinder er vor sich hatte, denn wenn sich Carmencita, schamrot, auch bemühte, die gottverlassene Tante über ihren Irrtum aufzuklären – deren Bildung war auch nur eine sehr leichte Tünche.

Er brauchte nach keinem andern Gesprächsstoff zu suchen, Estrella rückte jetzt mit ihrem Hauptanliegen hervor. Aengstlich erzählte sie, wie ihr Liebling unmöglich nach Guayaquil gehn dürfe, sie würde natürlich in Untersuchung kommen, obwohl sie doch ganz unschuldig an des Zambos wahnsinniger Tat sei. – Die Schande – die Angst – kurz und gut, der Haziendero möchte doch die beiden Begleiter zurückhalten, daß Carmencita ohne ihr Wissen die Küste erreichen könnte, heute nacht noch. Sie wollten nach Buccarez, einige Stunden südlich von Guayaquil, auch noch an dem Golfe liegend, von welchem Hafenstädtchen aus, wie Estrella sich schon erkundigt hatte, jeden Morgen um sechs Uhr ein Dampfer nach Truxillo ging; von dort hatten sie täglich Fahrgelegenheit nach Valparaiso, und von hier aus wollte sich Carmencita verantworten. Nur nicht in Untersuchungshaft, nicht öffentlich vor die Schranken des Gerichts!

Es war eigentlich ein starkes Verlangen, welches an den Haziendero gestellt wurde. Er sollte zwei Staatsbeamte – denn als solche mußte er Carmencitas Begleiter anerkennen – mit Gewalt oder List an der Ausübung ihrer Pflicht verhindern; die Alte sprach sogar ganz offen aus, das Sicherste wäre, ihnen ein narkotisches Tränkchen in den Wein zu geben, wenn er so etwas bei der Hand habe.

Dennoch zögerte der Deutsche nicht lange. Die Frau seines unglücklichen Landsmannes dauerte ihn; seinetwegen beging er ein Unrecht, und man befand sich ja auch in Ecuador. Am Zeuge konnte man ihm deswegen nichts flicken, sonst hätte er der Regierung gedroht, eine große Hypothek zu kündigen, und was ging es ihn auch an, wenn sich die beiden Kavaliere betranken? Sie waren jetzt Gastfreunde des Verwalters, ebenfalls eines Deutschen, und dieser wußte auch ohne Opium mit ihnen fertig zu werden; der schwere mexikanische Rotwein wirkt von ganz allein.

Nachdem Uhlmann seinen Mann dementsprechend unterrichtet hatte, kehrte er zu den Damen zurück. Es war noch verschiedenes zu besprechen. So hatte die alte Dame kein Geld bei sich, um die vier gemieteten Maultiertreiber zu bezahlen. Wollte Senor Uhlmann es einstweilen auslegen? Sie sendete ihm das Geld natürlich von Valparaiso aus sofort zurück; sie schwor es ihm sogar zu.

Sie schwor falsch, er wußte es, sie log ja ganz ungereimtes Zeug zusammen, und dann, als er ihnen zu der Nachtfahrt einen für die Pampas geeigneten Jagdwagen zur Verfügung gestellt hatte, borgte Estrella ihm unter Tränen des Dankes noch zehn Piaster ab, hinterher, als sie es bekommen, wahrscheinlich bereuend, dem ›dummen Deutschen‹ nicht mehr abgenommen zu haben.

»Jakobo,« sagte Uhlmann zu dem Rosselenker, nachdem er ihn über Weg und Ziel belehrt hatte, »laß dich mit den Damen auf nichts ein, setze sie in Buccarez ab, nimm nichts an von ihnen, du fährst sofort zurück!«

Denn, setzte er zu sich selbst hinzu, wenn die Alte nur Gelegenheit dazu hätte, sie würde auch noch schnell meinen Wagen und meine Pferde verkaufen.

Endlich waren die schwülstigen Dankesergießungen vorüber. Die zwei Steppenrosse flogen mit dem Wagen davon. – Seine Insassen hatten die Reise nach London angetreten.

Der deutsche Haziendero stand auf der Veranda, ein trübes Lächeln um den ernsten Mund.

»Armer Flederwisch!« sagte er leise. »Die Liebe hat dich sehr verblendet, daß du auf solchem Flugsand deine stolzen Pläne bauen wolltest!«

Der Haziendero wußte nicht, daß noch in derselben Nacht sich der Verfolger auf die Fersen der Weiber heften würde. Wir werden bald erfahren, was Nobody tat. –

Nur zwei der Verfolger waren zurückgekommen, um zu melden, daß der andre Rest, den die Kugeln der Gauchos übriggelassen, von einer Bande Indios bravos, Pepe-Pepe an der Spitze, niedergemetzelt worden war.

Von dem Verbleib Cutting Knifes erfuhr man kein Wort. Das mußte ein Betrüger gewesen sein.

Dann saß der Zambo abermals auf einer seiner Haziendas und freute sich seines Lebens. Die Regierung ließ ihn in Ruhe. Was sollte man sich auch über solch einen Kerl ärgern, der nicht zu kriegen war?

»Was, der Kapitän lebt noch?« lachte der Zambo, als ihm ein Gaucho, der in der Stadt gewesen, dies beschwor. »Wenn der noch lebt, dann will ich nie wieder ...«

Den Revolver aus dem Futteral gerissen, in demselben Moment feuerte Pepe, scheinbar blindlings, zum Fenster hinaus.

Draußen, in einer Entfernung von zwanzig Metern, galoppierte ein Gaucho vorbei, den kurzen Pfeifenstummel zwischen den Zähnen, und wie der Schuß krachte, hatte er plötzlich keine Pfeife mehr im Munde.

Es sollte des Zambos letzter ›Sackschuß‹ gewesen sein. Schließlich mußte er das Ungeheuerliche doch als Tatsache anerkennen: der Kapitän lebte noch; er hatte ihn damals gefehlt, und da fühlte sich der Zambo nicht mehr als Mann; wie ein Träumer schlich er umher, das Grübeln über seine Schande trübte ihm das Auge und ließ ihm die Hand zittern, bis er wirklich nicht mehr ›schießen‹ konnte.

Der Gaucho weiß nichts von Zielen und Treffen, er kennt nur das eine Wort ›schießen‹.

Eine kluge Frau erteilte Pepe Rat. Heiraten sollte er, dann könnte er wieder schießen. Gut! Noch an demselben Tage wurde geschlachtet, Gauchos jagten nach der Stadt und kamen mit vier Fässern Wein, zwei Wachskerzen und einem Priester zurück. Der Altar war hergerichtet, die Kerzen brannten; in feierlichem Schweigen schoben die Hochzeitsgäste ein frisches Stück Kautabak in den Mund, fromm faltete der Priester die Hände.

»Wo ist denn nun Ihre liebe Braut, Senor Pepe-Pepe?«

Ach so, daran hatte der Zambo noch gar nicht gedacht! Wirklich, er wurde schon vergeßlich. Flüchtig sah er sich um, dort stand eine dicke Mulattin in heiratsfähigem Alter.

»Komm her, du blutige Niggerin! Du sollst sogleich meine Frau werden!«

»Ja. Aber ich bin schon verheiratet.«

Sie wurde fortgejagt. Der Zambo steckte einen Finger in den Mund und pfiff aus dem Fenster nach einer andern ›Braut‹. Eine pockennarbige Negerin kam. Diesmal verfuhr man vorsichtiger, man vergewisserte sich, daß sie unverheiratet sei, und errötend flüsterte die holde Braut ihr ›Ja‹.

So war Pepe-Pepe verheiratet, und morgen sollte er wieder schießen können. Heute durfte er's noch nicht probieren.

Die Mutter der jungen Frau hörte zufällig von dem Ehrentage ihrer Tochter; sie warf die Feldhacke weg und eilte zum Hochzeitsfest. Der glückliche Pepe-Pepe, der immer nur ans Schießen dachte, hieß sie willkommen. Er besaß eine goldne Repetieruhr, die Schwiegermama hörte sie einmal schlagen, das gefiel ihr, sie wollte sie immer wieder klingeln hören, und der gutgelaunte Zambo ließ sie denn auch fortwährend klingeln, ohne aber die deutlichsten Winke zu verstehn, daß er das prächtige, klingelnde Ding doch eigentlich seiner Schwiegermutter schenken könne.

Am andern Morgen in aller Frühe fühlte die Alte heftigen Drang nach ihrer gewöhnlichen Feldarbeit. Rührend war der Abschied vom Schwiegersohn. Immer wieder drückte sie ihn ans Mutterherz und küßte ihn ab, bis sie sich mit Gewalt von ihm losriß und davonrannte. Sie war erst zehn Schritte gelaufen, als dem Zambo ein Verdacht aufstieg, er fühlte nach der Serape – richtig, sie hatte ihm die goldne Klingeluhr gemaust.

Ha, da war Gelegenheit! Den Revolver heraus und abgefeuert war eins, und – Pepe-Pepe heulte laut auf vor Jammer – statt in den Kopf hatte er die Schwiegermama nur durchs Bein geschossen, und die Kugel hatte auch noch seinen liebsten Hund getötet.

Da bestieg der unglückliche Zambo bravo sein Pferd, und nachdem er dieses und noch vier andre totgeritten hatte, fand er fern im Herzen der Pampas den berühmten Medizinmann der Oregonen. Dieser stellte kluge Fragen, zog sich dann in die Einsamkeit zurück, und als er ein gebacknes Pferdegehirn gegessen hatte, wurde er verklärt, daß seine Augen alle Geheimnisse der Natur schauten. Pepe-Pepe erfuhr das Rezept, wie er den Zauber von Auge und Hand banne, auf daß er wieder schießen könne. Dazu aber brauchte er die Quadrone, die ihn behext hatte, doch Carmencita war nicht mehr zu finden.

Von nun an ging es mit dem edlen Zambo stark abwärts. Er stellte es sich zur Lebensaufgabe, am Delirium tremens zu sterben. Die Regierung erkannte dieses Bestreben und wartete ruhig, bis er sein Ziel erreicht hatte. Wäre freilich Pepe-Pepe nicht ein reicher und gebildeter Mann gewesen, dann hätte sie lange warten können.

Denn die südamerikanischen Indianer der Pampas sind aus einem ganz andern, festern Holze geschnitzt als die nordamerikanischen; ihnen fehlt nur ein Cooper, der sie mit dichterischer Romantik verherrlicht. Während die Büffeljäger der Prärie am Feuerwasser zugrunde gehn, würden sich die Pampasindianer stärker als die Weißen vermehren, wenn sie nicht beständig untereinander im Kampfe lägen, und trotz dieser blutigen Fehden nehmen sie noch heute zu. Und was diese Pampasbewohner im Trinken leisten, das schildert am besten Friedrich Gerstäcker in seinem Roman ›Unter den Penchuenchen‹. Nur die Völker des Kaukasus sind mit ihnen vergleichbar, bei denen der kein Mann ist, der nicht ein Ochsenhorn mit zehn Litern des dort wachsenden, furchtbar schweren Rotweins auf einen Zug leeren kann. Allerdings brauen sie ihr Getränk selbst, können also auf Reinheit halten; im Süden ist es der Most des wilden Apfelbaumes, im heißern Norden die Pulque, der gegorene und schon in Fäulnis übergehende Saft der Agave – aber wenn sie Gelegenheit haben, so vertauschen sie das Hausgebräu gegen Brennspiritus, der noch besonders mit Cayennepfeffer gewürzt wird, und in den Pampas gibt es genug hundertjährige Greise, welche während der ein Vierteljahr dauernden ›Saison‹ keine Minute nüchtern werden und dann, wenn sie acht Tage lang hintereinander geschlafen haben und merken, daß sie noch leben, sehnsüchtig der schönen Zeit harren, bis der Apfel wieder reift und der Spiritusmann kommt.

Wie schon gesagt, der Zambo war ein reicher und gebildeter Mann. Er trank keine faulende Pulque aus Büffelhörnern, sondern Portwein und Champagner aus silbernen Eiskübeln; dann setzte er ein Bierseidel mit französischem Kognak darauf, und wenn das Zittern immer noch nicht nachließ, fing er wieder mit den Eiskübeln an – und solchen Fortschritten der Kultur muß endlich auch ein Pampasindianer unterliegen.

Und Flederwisch bekam zu hören und zu merken, was es bedeutete, daß sich Pepe-Pepe, der Zambo, an ihm verschossen hatte. Der Gaucho und der Indianer, der ihm begegnete, überhaupt jeder, der mit dem Zambo in einer Beziehung stand, wich dem gefeiten Manne scheu aus, schlug ein Kreuz über den Revolver, damit er mit ihm noch ›schießen‹ könnte.

 

Der Wind war jetzt nicht mehr stark, aber die See war nach dem nächtlichen Sturme noch nicht zur Ruhe gekommen, sie spielte mit dem kleinen Dampfer Fangball; jetzt sah es aus, als würde er an die Küste von Floreanu geworfen, jetzt war er wieder eine Seemeile davon entfernt, und noch mehr veränderte sich jeden Augenblick die Entfernung zwischen dem Dampfer und dem Boote, welches sich jenem zu nähern versuchte.

Es war der jede Woche einmal kommende Postdampfer, über welchen Flederwisch mit dem Hauptpostamt akkordiert hatte; das Boot holte die Briefe und Zeitungen ab.

Mit stockendem Atem beobachteten die an Land beschäftigten Nichtseeleute das Schauspiel, denn fürwahr, es hatte etwas Grausiges an sich; es war wie ein hin- und herwogender furchtbarer Kampf zwischen dem Eisenschiff und der hölzernen Nußschale, zwischen Menschenkraft und den wütenden Elementen. Manuel führte das Steuer, ihm sah man an, wie er sich mit der freien Hand festklammerte, vorn stand Bernhardt, breitbeinig mit den Füßen sich feststemmend, mit den erhobenen Händen immer winkend, die sechs Ruderer saßen auf Riemen, d. h. die Ruder ausgelegt, fertig, um auf das Wort ›pullt aus!‹ sich mit aller Kraft in die Riemen zu legen und so den Zusammenstoß zu vermeiden. Nur einen Moment brauchte ein Kommando zu spät zu kommen, nur ein falscher Ruderschlag, und die beiden Fahrzeuge schmetterten zusammen.

Die Seeleute dagegen blickten ganz gleichmütig hin, der am Ufer stehende Flederwisch gar nicht, er rechnete im Notizbuche. Da hatten sie noch ganz andre Bootsmanöver gesehen. Bernhardt holte eben die Post, es ging ein wenig schwierig, aber gehn mußte es. Falls es über eingeschriebene Briefe zu quittieren gab, hatte er gleich den Schiffsstempel mitgenommen, die in Wachstuch gewickelten Päckchen flogen hin und her, die beste Gelegenheit zum Schleudern wurde wahrgenommen, zuletzt kamen die beiden Postsäcke daran – es mußte einfach gehn, das war ihr Beruf. Etwa mit leeren Händen und mit einer Entschuldigung zurückkommen, das gab es hier nicht, und wenn sie bis heute abend herumarbeiteten – das heißt, wenn sie jetzt nicht bald fertig wurden, dann bekamen sie noch vom Kapitän Grobheiten zu hören.

Und es ging. Sie kamen zurück, ohne von einem Bravo empfangen zu werden. Sie hätten eine Bewunderung auch gar nicht verstanden. Flederwisch begab sich nach dem ruhigen Hafen, in welchem wohl das von Rudern beherrschte Boot, jedoch kein größeres Fahrzeug bei solchem Seegang steuern konnte, solange noch die wogenbrechenden Molen fehlten.

Bernhardt ging ihm entgegen, nur einen Beutel in der Hand.

»Kapitän, ich habe den Postsack mit den Briefen nicht gefangen, er glitt mir aus der Hand,« sagte er kurz.

Mochte Bernhardt auch wie ein trotziger, zum Tode bereiter Delinquent auftreten, er tat es doch, kurz machte er die Meldung – und mochte der Kapitän die Stirn auch furchtbar drohend runzeln, er blieb still, seine Lippen preßten sich fest zusammen.

So stierte er wohl eine Minute lang finster auf den Matrosen.

»Mögen sie zum Teufel gehn!« sagte er dann leise.

»Es waren vier eingeschriebene Briefe dabei, ich habe quittiert.«

»Woher waren sie?«

»Ich weiß es nicht, Kapitän, ich habe nicht darauf geachtet. Aber ich glaube – auf dem einen Zettel stand England darauf.«

»England – so,« hauchte Flederwisch.

»Sollen wir noch einmal hin – wegen der Quittungen?« fragte Bernhardt nach einer langen Pause.

Flederwisch blickte nach dem auf den Wogen tanzenden Dampfer.

»Nein. Es ist's nicht wert. Trage die Zeitungen an Bord.«

Es war ein ungeheurer Verlust, dessen Bedeutung wohl keiner Erklärung bedarf, Geschäftsbriefe, die sich vor dem Abgang des Dampfers und dann auf der Post angehäuft hatten, Anfragen und Antworten, vielleicht Geld, Dokumente – alles verloren, und Flederwisch sollte auch nicht zu wissen bekommen, von wem die eingeschriebenen Briefe herrührten. Als er später auf dem Postamt in Guayaquil nachfragte, waren sie dort nicht gebucht worden, die Quittungen nicht mehr zu finden. Zwei hätten wohl den Londoner Poststempel getragen, das war alles, was er erfuhr.

»Wer hätte das gedacht,« flüsterten dann die Matrosen der Frithjof untereinander, das Benehmen Flederwischs meinend, und es klang fast wehmütig. »Es ist gar nicht mehr unser alter Kapitän!«

Ja, die einfachen Matrosen konnten nicht wissen, was die Veränderung ihres Kapitäns bewirkt hatte, daß er nicht mehr raste, nicht fluchte und schimpfte.

Deshalb auch hatte Bernhardt sich nicht mehr gescheut, mit festem Schritt dem Kapitän entgegenzutreten und ihm seine Schuld zu gestehn, obgleich er, wenn Flederwisch in eine gähnende Tiefe gedeutet hätte – ›Spring!‹ – ohne Wimperzucken sofort gesprungen wäre. –

Flederwisch hatte sich zum Gehn gewendet, Bernhardt hielt ihn noch einmal zurück.

»Mrs. Lewis ist an Bord, auch zwei von den Engländern, die schon einmal hier waren, habe ich an Deck stehn sehen, sie wollen an Land, der Dampfer kann kein Boot aussetzen, ob wir sie nicht mit einem größern Boot abholen wollten, rief mir Mrs. Lewis zu.«

Flederwisch warf einen bösen Blick nach dem auf den Wellen hüpfenden Dampfer.

»Nein. Deshalb setze ich keinen meiner Leute aufs Spiel. Sie mögen warten, bis der Dampfer ein Boot aussetzen kann, meinetwegen wochenlang. Laß es vom Steuermann hinsignalisieren – wir können nicht.«

Als Flederwisch nach einem Rundgang um den Hafen auf sein Flaggschiff ging und seine Arbeitskabine betrat, fand er auf dem Tische die neu angekommenen Zeitungen schon aufgestapelt, er nahm die erste, den ›Daily Telegraph‹, las die ihn interessierenden Handelsberichte, blätterte herum – da wurde sein Blick von mehreren Überschriften gefangen.

Die Artikel der englischen Zeitungen haben in ihrer reklameschreierischen Art immer mehrere Ueberschriften am Kopfe, welche den Inhalt schon skizzieren sollen, wenn die Schlagwörter auch manchmal gar nicht passen. Die erste ist ganz fett gedruckt, die weitern, untereinander stehend, schwächen sich nach und nach ab.

Während Flederwisch las, erweiterten sich seine Augen immer mehr. Eigentlich war es nichts weiter als ein ganz sachlicher Artikel; der Schreiber war über alles recht gut orientiert, aber es lag eine versteckte Tendenz darin, Flederwisch erkannte gleich im Anfange, was hier bezweckt wurde.

Der in England wohlbekannte Kapitän Paul Müller hatte von Ecuador die Gallopagos gepachtet, um sie zu kolonisieren, wurde von der Regierung und reichen Privaten auf's ausgiebigste unterstützt. Das Endziel war die Schaffung eines von Ecuador abhängigen Handelsreiches mit einer großen Kauffahrtei-Flotte, die Inseln wurden Stapelplätze von Waren, also etwa England vergleichbar, besser noch dem frühern Venedig.

Der Engländer will immer wissen, was es kostet. Hier bekam er es ausführlich ausgerechnet. Aus den 5000 chinesischen Arbeitern waren schon 15.000 geworden – und die können etwas schaffen! – über ihnen stand ein Heer von 1000 weißen Aufsehern, Ingenieuren usw.; bereits waren, ganz abgesehen von den zahllosen Hilfsfahrzeugen, 26 Schiffe mit zusammen 3000 Tonnen und 560 Mann Besatzung unterwegs, darunter 4 Walfischjäger und Robbenschläger – das ganze Unternehmen stand bombenfest.

Alle diese Angaben stimmten. So ungeheuerlich waren die Zahlen nicht, besonders nicht für den rechnenden und gerade über so etwas recht gut orientierten Engländer, den Sohn der Inseln, der auch im Arbeitskittel weiß, was dieses Panzerschiff und jene gedeckte Korvette, und was ein Schuß aus dem Zweiunddreißig-Zentimeter-Geschütz kostet. Der kostet nämlich nicht nur einige Doppelkronen, sondern, da man auch die Abnützung des Geschützes mit in Betracht ziehen muß, viertausend Mark. Jene Menschenzahlen könnten z. B. auf das winzige Fürstentum Monaco bezogen werden, und was sind 26 Schiffe, die könnte sich der Fürst von Monaco gleich zulegen, wenn sein Land nur einen Hafen und er nicht eine sichere Einnahmequelle hätte. Großartig war das Unternehmen nur als Schöpfung eines einzelnen Privatmannes, und es standen ihm fast 50 deutsche oder 800 englische Quadratmeilen zur freien Verfügung.

Der Bericht aber ging auf den Geldpunkt noch näher ein, als es der Engländer von einem sensationellen Zeitungsartikel verlangt; ganz genau wurde angegeben, wieviel der Ingenieur, der Baumeister, der Schlosser, der Zimmermann, der Maurer, der Aufseher Wochenlohn erhielt, wieviel die Heuer des Kapitäns und des Leichtmatrosen betrug, und zwar rechnete man das vor, was sie zuletzt, jetzt bekamen, und das war ein sehr guter Gehalt, nicht der ursprünglich ausgemachte; Flederwisch hätte dem Bericht auch gar nicht widersprechen können.

Ferner die Verpflegung, das Essen. Der englische Soldat fordert sein spannenlanges und spannenbreites Beefsteak in Indien so gut wie in der Heimat – ob er's bekommt, ist freilich eine andre Sache, dann aber spielt er einfach nicht mehr mit ›Soldatens‹ – und was da erzählt wurde, konnte die ganze englische Armee zum Desertieren bringen. Frisches Brot immer, auch Mixedpickles. Und wie stand es mit Bier, Whisky und Tabak? Dem Leser lief das Wasser im Munde zusammen. War genügend Gelegenheit vorhanden, sich beim Fußball einander die Schienbeine einzutreten? Plenty! Das mußte ja ein Paradies sein! Aber, aber, eins fehlte noch – nur gemach, das Allersensationellste kam noch zum Schluß.

Der länderschaffende Kapitän, bei dessen Genie es ganz selbstverständlich war, daß er zu Oldengland übergetreten, dachte auch an die ferne Zukunft. Gäbe es auf der Erde nur Männer, würde die Menschheit bald aussterben. Kapitän Flederwisch hatte bereits gesorgt, daß dieser Fall auf seinen Inseln nicht einträte – und es wurde die Wahrheit berichtet. Jeder weiße Mann konnte und mußte heiraten, wurde gar nicht gefragt, nur daß er unter den Schönen des Landes auswählen durfte – und dort gab es hübsche Mädchen, das wußten die englischen Seeleute zu erzählen. Die ersten hatten ihre Auswahl bei einem Tanzfeste in Guayaquil getroffen, der Nachtrab in Quito, das Tanzbein konnten die Europäer alle schwingen, beißen taten sie auch nicht; und als erst bekannt wurde, um was es sich handelte, ums Heiraten, da kamen die Mädchen von ganz allein gerannt, weiße und gelbe und braune und rote und schwarze, aus Mexiko, von Perus Strand, von Chile, aus Columbialand, von allen Inseln kamen sie – und wurden, ohne Unterschied in der Farbe zu machen, nach den Gallopagos hinübergeschafft. Auf den sieben kleinern Inseln wurden ihnen innerhalb einer Woche hübsche Einzelhäuserchen hingesetzt, an jedem ein Garten abgegrenzt, Priester trauten die Paare, und als alle Europäer versehen waren, blieben noch einige tausend heiratssehnsüchtige Jungfrauen übrig. Wer hatte Lust? Es werden heiratsfähige Männer gesucht. Denn die Chinesen bekamen nichts davon ab, so wenig wie die Kreolen auf dem Kontinent, die Zeter und Mordio schrien, der englische Kapitän entweibere ja ganz Südamerika.

Die englische Presse unterliegt keiner Zensur, sie darf schreiben, was sie will, und dennoch – oder wahrscheinlich gerade deswegen, weil das Verbot fehlt – schreibt sie sehr, sehr sittsam. Der Berichterstatter hatte ja etwas gewitzelt, aber hübsch war es nun wieder von ihm, wie er versicherte, daß es auf den Fraueninseln ganz ehrbar zuginge. Nur zart deutete er an, daß jeder Mann natürlich nur eine Frau haben dürfe. Auf die drei großen Inseln kamen sie nicht hinüber, das war die Werkstätte, das Bureau, wohin die Frau nicht gehört. Sie wurden auch beschäftigt, für die Männerkolonie gab es ja viele profane Arbeiten zu erledigen, was bisher Chinesen getan, wie Wäsche waschen und Strümpfe stopfen, Haus und Garten wollten in Ordnung gehalten sein, es sollten Schneiderwerkstätten, vielleicht auch Spinnereien und Webereien eingerichtet werden, später würden die häuslichen Arbeiten von ganz allein zunehmen. Während der Werktage durfte sich kein einziger Mann auf den Fraueninseln aufhalten, er mußte auf der Arbeitsinsel schlafen, einstweilen führten ältere, ehrbare Frauen das Kommando, und auch sonst hatte der weitsichtige, erfinderische Kapitän Vorkehrungen getroffen, daß sich die jungen Damen nicht in die Haare gerieten. Aber des Sonntags winkte das Glück, schon am Sonnabend abend ging der Neuvermählte hinüber, durfte in heitrer Ruhe den Gemüsegarten umgraben, sich seine Leibspeise kochen und dann sich von rosigen Fingern im Barte krauen lassen, bis ihn am späten Abend ein Kanonenschuß zurückbeorderte. Auch längere Ferien gab es, und ebenso fanden die von stürmischer Meerfahrt zurückkommenden Seeleute auf einer besondern Insel ein in jeder Hinsicht gemütliches Heim vor.

Es wurde auch erwähnt, daß sich Flederwisch an ein schon bestehendes Vorbild angelehnt hatte. Fast ebenso nämlich ist es in der holländisch-indischen Fremdenlegion. Auch dort bekommt jeder neueintretende Soldat eine braune Frau von Staatswegen geliefert; die männlichen Kinder werden zu Soldaten gedrillt, auf daß die Atchinesen immer genügend Zielobjekte für ihre vergifteten Pfeile haben; aber dort ist eine gräßliche Sittenverderbnis eingerissen, denn dort sind die Frauen nicht auf abgeschlossenen Inseln untergebracht – überhaupt, dieses Unternehmen ließ sich mit jenem gar nicht vergleichen, hier war ein ganz andrer Zweck dabei. Kapitän Flederwisch war ein hochherziger Philanthrop. Ganz so nebenbei wurde noch angedeutet, daß er selbst durch bittere Erfahrungen zum grimmigen Weiberfeind geworden wäre; aber dennoch, seine Menschenfreundlichkeit war über persönliche Ansichten erhaben.

Schade nur, daß noch so viele, viele holde Jungfrauen einsam in ihrem Häuschen saßen und des Sonntags nicht wußten, wem sie die Leibspeise kochen sollten. Ihr Unglück mußte das Glück jedes zart empfindenden Menschen trüben.

Ja, das war es eben, was den Inseln noch fehlte. Männer, mehr Männer! Kreolen und Farbige waren ausgeschlossen, nur das germanische Element sollte herrschen, auch die chinesischen Arbeiter, nachdem diese den Bauschutt weggeräumt, sollten nach und nach entlassen und durch weiße Kolonisten, besonders durch geschickte Handwerker des Baufaches und Schiffsbaues, ersetzt werden; aber es ging nicht, die gesuchten Männer fehlten. Südamerika hatte keine mehr herzugeben. Zusehends nahm die Kolonie zu; mächtig blühte sie empor, aber dieses Indiehöheschießen erzeugte einen krankhaften Wuchs; der Saft fehlte, starke, ausdauernde Männer, vor allen Dingen Seeleute, Seeleute, Seeleute ...«

Da plötzlich, als nur noch gesagt worden war, des Inselpächters geschäftlicher Vertreter für England, Mr. Sam S. Bullock, habe sein Bureau in der Oxford Street 144, 2. Etage rechts, 4. Tür, brach der Artikel ganz unmotiviert ab.

Davon, daß man sich dort melden solle, wenn man Lust nach den Gallopagos habe, war kein Wort erwähnt worden, nichts überhaupt, daß man auf englische Auswandrer spekuliere. Das ›Es werden heiratsfähige Männer gesucht‹ und das ›Wer hat Lust?‹ hatte nur in der Überschrift gestanden.

Flederwisch sprang auf, ballte das Zeitungsblatt zusammen, strich es wieder auseinander und schlug mit der Faust darauf.

»Wart, ich will euch! Jetzt wird rein Schiff gemacht! Manuel!!«

Der Gerufene kam eher, als es möglich gewesen, wenn er sich nicht in der Nähe aufgehalten hätte, und er fand seinen Herrn in der kleinen Kabine so rasend, wie er es vorhin erwartet hatte, als ihm der Verlust der Briefe gemeldet wurde.

»Hole Mrs. Lewis von Bord, los, sie muß herüber, ich will sie hier sprechen, und wenn ...«

»Kapitän, ich wollte Euch gerade sagen, daß sie schon kommt, sie sitzt schon im Boot, nachdem zwei beim Aussetzen zersplittert sind. Sie ist allein, die andern sind nicht mitgegangen. Aengstlich ist sie nicht und muß es verdammt eilig haben, Euch zu sprechen.«

»Ah, das ist gut! Jawohl, sprechen will sie mich. Ich weiß, ich weiß alles. Manuel, hier wird in englischen Zeitungen für mich geworben. In welchem englischen Roman heißt's doch gleich: er war von je ein Taugenichts, als er groß wurde, beging er zur Betrübnis seiner Eltern einen Raubanfall und kam ins Zuchthaus, und als er daraus entlassen wurde, ging der bejammernswerte Mensch auch noch unter die Soldaten. – Solche Kerls wollen sie mir nach meinen Inseln schicken! Lauf, Manuel, hole sie, jetzt wird rein Schiff gemacht!«

Da war es ja schon, was der Mulatte seit langem gewünscht hatte, und der Kapitän befand sich gerade in der passendsten Stimmung, er schrie und lachte zugleich, und Manuel lief.

Nein, ängstlich war die alte Engländerin nicht. Drei Boote besaß der Postdampfer; zwei waren beim Aussetzen an den Eisenplanken zerschmettert, beim dritten gelang es, vielleicht hatte sie selbst mit Hand angelegt; sie war hineingekommen, ihre beiden männlichen Begleiter hatten es nicht gewagt, und als der Bootsmann sie am Hafen abholte, war die ganze Schneiderkunst hin; die nassen, am Leibe klebenden Kleider zeigten die starkknochige Frau mit dem Mannsgesicht wie im Adamskostüm.

Einige Minuten später schloß der Mulatte hinter ihr die Kabinentür und drückte sich gleich zum Schlüsselloch herab.

»Good morning, Kapitän. Warum haben Sie ...?«

»Wer ist dieser Samuel Salomo Bullock? Wer hat mir einen polnischen Juden zum Vertreter gegeben?«

Hoho! Das ging ja schnell, mit Umgehung aller Einleitung. Eben wollte der Mulatte schmunzelnd die Hände reiben, als die Tür schon wieder aufgerissen wurde.

»Manuel, hole Halfdan, er muß dabeisein!« schrie Flederwisch ebenso, wie er Mrs. Lewis angeschrien hatte, dem noch gebückt Dastehenden zu, gleich die Tür wieder zuschlagend.

O weh! Da mußte Manuel sich beeilen, wollte er nicht zuviel von der Unterhaltung verlieren. Er rannte an Deck, aus dem Mörser wurde ein Signalschuß abgegeben, jeder, der diesen hörte und den Fockmast des Flaggschiffes sehen konnte, richtete jetzt seine Augen dorthin, was für ein Signal oder einzelner Wimpel gehißt wurde, das Signal ging an andre Stationen weiter, von Insel zu Insel, bald mußte Helge Halfdan wissen, wo er sich auch befand, daß er an Bord der Frithjof kommen solle.

Dies brauchte Manuel nicht abzuwarten, eilend begab er sich zurück. Aber zehn Minuten waren doch vergangen.

Ei, die hatten ja einen feinen Konversationston angeschlagen! Und dabei schrien sie, daß man es durch den ganzen Korridor hörte, einer immer lauter als der andre, es ging Schlag auf Schlag.

»Sie müssen!« schrie Mrs. Lewis mit allem Aufgebot ihrer Lunge.

»Ich muß gar nichts!« überbot Flederwisch sie noch an Stimmkraft.

»Die acht Dampfer sind schon gechartert, die Leute sind schon kontraktlich engagiert,« heulte die Dame wieder.

»Was geht das mich an? Keiner von diesem Gesindel betritt meine Inseln!«

»Es sind nicht Ihre Inseln! Sie haben sie nur von uns gepachtet!«

»Vorläufig sind es meine Inseln, und kein Engländer kommt an Land, wenn ich's nicht will, und ich will's nicht!«

»Und Sie müssen! Sie sind von uns abhängig!«

»Ich von Ihnen abhängig? Hahaha, bilden Sie sich doch nichts ein!«

»Sie sind schon bankrott, Sie können uns die fünf Millionen Pfund in zehn Jahren nicht zurückzahlen!«

»Und Sie werden es gefälligst abwarten, ob ich es in zehn Jahren kann oder nicht!«

»Sie müssen, Sie haben sich verpflichtet!«

»Schreien Sie mich nicht so an! Beweisen Sie mir lieber, daß ich mich verpflichtet hätte, englisches Gesindel hier zu füttern. Ich tu's nicht, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen!«

»Sie korrespondieren hinter unserm Rücken!« ging es jetzt in den Ton des Vorwurfs über.

»Um meine Korrespondenz hat sich niemand zu kümmern!«

»Wir wissen schon, was Sie wollen! Sie haben mit unserm Gelde Handelsverbindungen mit San Francisco angeknüpft!«

»Und Sie werden mir nicht vorschreiben, wie ich das geliehene Geld verwende, darüber besteht kein Kontrakt, den hatten Sie nämlich vergessen!«

»Sie – Sie – sind ein Mann ohne Ehre!«

»Und Sie machen jetzt, daß Sie hinauskommen!«

Weiter konnte die Unterhaltung nicht gut gehn. Aber das letzte Wort mußte die alte Dame haben.

»Das sollen Sie bereuen!!«

Ein donnernder Krach, die Rolltür sprang aus den Schienen, an dem sich gegen die Wand schmiegenden Mulatten stürmte Mrs. Lewis vorüber, der feuerrote Kopf verriet ihre Aufregung.

Auch Flederwisch war auf den Korridor getreten, und Manuel ging das Herz auf, als er seinen Herrn über das ganze Gesicht lachen sah – er sah es nur, zu hören war von dem Lachen nichts, und sogleich bekam der Mulatte einen seiner genialen Einfälle.

»Kapitän,« flüsterte er, »soll ich mitfahren und sie kentern lassen?«

»Nein, nein, um Gottes willen nicht,« lachte Flederwisch jetzt laut auf, »ich brauche sie ja noch, die Partie ist noch nicht zu Ende gespielt. Sorge lieber, daß sie gut an Bord kommt.«

 

Der Postdampfer hatte die Rückfahrt angetreten, Halfdan war zum Kapitän gekommen, die Unterredung währte nicht lange, man hatte nichts davon erlauschen können, auch ihn riefen Pflichten, und dieser Tag ging wie jeder andre hin, bis die sinkende Sonne der geräuschvollen Arbeit ein Ende machte.

Spät am Abend begegnete der Mulatte im Kajütengang dem Steward, der mit dem Speiseservice aus der Kapitänskabine kam.

»Was macht er?« fragte der Mulatte leise.

»Er liest schon wieder in den Gespensterbüchern.«

»Daß er sie doch ins Feuer würfe!« knurrte Manuel.

»Na, so viel daran zu glauben scheint er nicht, er lacht manchmal so eigentümlich dabei.«

»Du, Bootsmann,« der Steward stand mit Manuel im gleichen Range, »weißt du schon? Von morgen an geht alles Tag und Nacht durch, die Kulis müssen des Nachts schichtenweise bei Fackellicht arbeiten. Ich hab's gehört, wie er mit Halfdan davon sprach.«

Der Mulatte wußte es noch nicht. Er bekam aber noch genug davon zu hören, als er in die große Kabine trat, in der alle Maats und Unteroffiziere schliefen – außer dem Bootsmann der Segelmacher, der Zimmermann, der Koch, der Steward und der Maschinist vom Donkey. Wenn hier alles in der Koje lag, sechs Pfeifen den Raum mit einem undurchdringlichen Qualm erfüllten, parfümiert mit einem angenehmen Odeur de Rum, dann wurden hier manchmal höchst geistreiche politische und philosophische Gespräche gepflogen; nichts war tief genug, daß menschlicher Scharfsinn es hier nicht ergründet hätte.

Ja, der Donkey-Maschinist wußte es auch. Er hatte es von den Ingenieuren gehört, und noch viel mehr. Von morgen an mußten sechstausend Kulis auch des Nachts arbeiten, zuerst allerdings bei Fackelschein und Blaselichtern, aber in San Francisco wurden bereits elektrische Anlagen bestellt, dann ging's bei Scheinwerfern, welche die Nacht in den Tag verwandelten. Herrgott, hatte der Kapitän es eilig! Und diese Idee stammte scheinbar erst von heute! Sollte der Besuch der alten Engländerin daran schuld sein? Was war da eigentlich vorgefallen? Nun aber fing der schwarze Bootsmann an zu erzählen, und in der Kabine kicherte es wie im Schlafsaale eines Mädchenpensionats.

Dann wurde es still. Kein Laut störte die schlafende Natur, nicht einmal ein Windhauch. Am Himmel funkelten hell die Sternchen.

An Bord der Frithjof verkündete eine verborgne Uhr mit silberhellem Schlag die zweite Stunde nach Mitternacht, und in demselben Augenblick drückte der Mann, der schon seit vielen Minuten bewegungslos vor dem Ruderhause stand, mit der linken Hand den Stechbolzen in die Kontrolluhr, während die rechte der Schiffsglocke zwei Klänge entlockte – vier Glasen. Dann lauschte und zählte der Wächter. Acht Fahrzeuge lagen im Hafen, und achtmal in regelmäßigen Zwischenräumen wiederholte sich in dieser Seemannssprache die Zeitangabe. Die eine Glocke brummte grob, eine kleine piepste zimperlich, und als der letzte Ton erscholl, ward dieser Zeitpunkt wieder auf dem laufenden Papierstreifen des unbestechlichen Apparates markiert. Diese Schiffsglocken kennen keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, und die sie bedienenden Schiffsbesatzungen, als Gesamtheit genommen, auch nicht.

Dieser Mann war nun erlöst, er ›purrte‹ seinen Nachfolger, d. h. er weckte ihn.

»Vier Glasen nach Mitternacht, alles ruhig, schönes Wetter.«

Jörn, der schlanke Däne mit dem verschmitzten Kindergesicht, ging die zweistündige Wache an Deck.

Er hatte nicht erst in Oelzeug und Seestiefeln zu schlüpfen brauchen; die Segeltuchschuhe machten den Schritt des regelmäßig Auf- und Abwandernden unhörbar, auch er störte nicht die müde Natur, dieser stille Nachtwandler gehörte vielmehr zu dem schlafenden Schiffe.

Von morgen ab würden die Nächte anders sein. Jörn hatte auch schon davon gehört. Der Kapitän wachte noch. Das runde Glasfensterchen an Deck über seiner Schreibkabine war hell, und wenn sich der Matrose etwas vorbeugte, konnte er auch den Kapitän in verschwommenen Umrissen auf dem Sofa sitzen sehen, vor ihm auf dem Tisch einen Haufen Bücher. Er las. Er las in Gespensterbüchern. Na, daß von nun an die Nächte taghell erleuchtet werden sollten, das hatte nichts mit diesen Gespensterbüchern zu tun. Vor Gespenstern fürchtete der sich nicht, nicht vor lebendigen und nicht vor toten. Einen fliegenden Holländer und den Klabautermann gab's, den letztern hatte Jörn sogar schon gesehen, aber Gespenster gab's nicht.

Ein silberhelles Tönchen. Jörn stand schon seit Minuten am Ruderhaus, ohne daß er es wußte. Fünf Glasen – halb drei Uhr – und die Schiffe glasten gehorsam nach, wieder wurde die Zeit markiert.

Eine Sternschnuppe! Der erste Steuermann hatte ihnen einmal gesagt, man könne mit bloßem Auge ungefähr 5000 Sterne zählen, mit dem besten Fernrohre 200.000. Na, wer die gezählt hatte, der mußte aber eine Geduld besitzen! Und wie er das wohl gemacht hatte? Ein Maat, der ein bißchen auf den Kopf gefallen war, hatte gemeint, das sei doch ganz einfach, der hätte immer einen Punkt auf jedes Sternchen gemacht, daß er's nicht wieder mitzählte. Na, das war ein Gelächter gewesen! Und jeder Fixstern sollte eine Sonne sein ... Ach ja, übermorgen war Sonntag, da ging's wieder hinüber. Denn Jörn war auch verheiratet worden, wie jeder andre. Wenn's dem Kapitän Spaß machte, ihm gefiel's schon. Wie hieß seine Frau doch gleich? Chiko – nein, Chokil ... es war ein so putziger Name, bald wie Schokolade, und so braun war sie auch. Jörn vergaß ihn immer wieder. –

Unter solchen Gedanken vergehn die zwei Stunden der einsamen Wache wie im Fluge, und man wird dabei doch nicht zum vergessenden Träumer. Wer das halbstündige Glasenschlagen erfunden hat, ohne daß man eine Uhr sieht, muß ein ganz raffinierter Kopf gewesen sein, das hält das Ohr und alle Nerven beständig in Spannung.

Acht Glasen – vier Uhr – und vor dem Matrosen stand der Kapitän.

»Wecke die Ablösung und dann laufe erst noch einmal zu Halfdan, er soll sofort zu mir kommen.«

Dieser, welcher in einem Backsteinhause residierte, wurde von seinem chinesischen Diener aus dem besten Schlafe gerüttelt.

»Schnell, Matlose ist da, Kapitän luft, ist was Schleckliches passielt.«

Halfdan war denn auch schnell auf den Beinen, aber Jörn wußte nicht, was da ›Schleckliches passielt‹ sein könne. Der Chinese hielt das wohl für selbstverständlich, wenn ein Mensch zu nachtschlafender Zeit so plötzlich aus den Federn geholt wurde.

Als Halfdan in die Kabine trat, deutete Flederwisch, wieder auf dem Sofa sitzend, sofort auf die vor ihm liegenden Bücher.

»Nehmen Sie die mir geliehenen Bücher wieder, ich habe sie durchgelesen. Nicht wahr, Sie warteten schon lange auf meine Antwort? Nun, ich habe keinen Geschmack an diesen Phantastereien finden können.«

Der Schwede konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, weil er in diesem Augenblick an das ›Schleckliches passielt‹ dachte. Also der Kapitän hatte nur darum nachts um vier nach ihm geschickt, um ihm dies zu sagen! Doch Halfdan war selbst Seemann, diese Gewohnheit, sich nicht um hell und dunkel zu kümmern und zu vergessen, daß andre Menschen andre Gewohnheiten haben möchten, konnte nicht als Rücksichtslosigkeit ausgelegt werden.

»Sie lächeln?« fuhr Flederwisch fort. »Ach ja, für Sie ist diese Geisterschar unfehlbar. Für mich nicht.«

Er lehnte sich zurück, legte die mager gewordene Hand auf die Stirn, und ehe Halfdan noch sein Lächeln entschuldigen konnte, begann er wieder mit leiser Stimme, der auch viel Schwermut beigemischt war:

»Nach wilder Meeresfahrt der ruhige Hafen, nach Mangel und Strapazen der fröhliche Genuß, nach Fluchen und Lästern wieder einmal in einer neuen Gesellschaft – das war mein Glück. Und dann, nach diesem glücklichen Leben, der ewige Todesschlaf. Vielleicht noch ein kleiner Grabstein – es ist doch hübsch, wenn man schon vorher daran denkt, wie jene, welche man geliebt hat, hingehn werden – hier liegt mein Bruder, sagt der eine, und der andre: er war ein guter Kerl – doch nicht zu groß den Grabstein, daß er mich nicht drückt – und dann kann vielleicht ein guter Freund, der mich richtig kannte, auch noch ein paar Worte daraufsetzen, ohne Lobhudelei – er war ein Mann, nehmt alles nur in allem! Ja, er war schön. – Halfdan! Mein schöner Traum vom ruhigen Todesschlaf ist zum Teufel gegangen. Nicht etwa durch diese Bücher. Daran war etwas andres schuld, 's ist schon lange her. Ueberhaupt, ich bin nie so ganz ungläubig gewesen, daß es nicht noch höhere Wesen über uns geben könnte – könnte! Mir kam es stets vermessen vor, uns Menschen, uns von Lastern, Krankheiten und Ungeziefer geplagte Menschen für das vollendetste Werk der Schöpfung zu halten. Wer sagt uns denn, daß die Käsemilbe nicht genau so denkt? Weil wir sie nicht sehen, sollten keine andern, über uns stehenden Wesen existieren können? Die Infusorien sehen uns doch ganz sicher auch nicht. Ja, es ist sehr die Frage – ich habe einmal mit jemandem darüber gesprochen – ob das Auge der Ameise uns zu erkennen vermag; in unsrer ganzen Größe übersichtlich sind wir ihr auf keinen Fall. Ich stochre mit dem Stock in einem Ameisenhaufen. Wie sie rennen! Aber sie sehen mich nicht. Also wird's ein Erdbeben gewesen sein. Heute war wieder ein großes Erdbeben – wird in die Ameisenchronik eingetragen, und wenn ich noch lange stochre, werden die Bündel geschnürt, die Puppen unter den Arm genommen und das vulkanische Land verlassen, sie wandern nach einem bessern Erdteil aus, viele, viele Meter weit. Nein, es war kein Erdbeben, ich bin's gewesen! schreie ich. Da donnert's schon wieder. Die Ameisen wollen durchaus nicht an meine Existenz glauben. Na, Halfdan, ich versichre Euch, mir ist es ganz gleichgültig, ob die Ameisen an mich glauben oder meine Existenz verleugnen. Nun wißt Ihr wohl, wo ich hinaus will. Wenn es höhere, für meine Augen unsichtbare Wesen gibt, sogenannte Geister, so muß ich, indem ich von mir aus schließe, annehmen, daß es ihnen höchst gleichgültig ist, ob ich an ihre Existenz glaube oder nicht glaube, und da habe ich den Stolz, ihnen zuzurufen: ich kümmere mich auch gar nicht um euch, nur tretet mir nicht in meinen Ameisenhaufen!«

Flederwisch stand auf und legte die Hand auf Swedenborgs Hauptwerk.

»Das waren die sogenannten Geister, die übermenschlichen Wesen. Was aber nun die Toten, die Seelen der Menschen und ihren Zustand nach dem Tode anbetrifft, wie es hier drin so genau geschildert wird, darüber will ich Euch oben meine kurze Antwort geben. Kommt mit!«

Halfdan hätte nichts zu erwidern gewußt. Mit diesem Manne ließ sich überhaupt schwer streiten, und er befand sich dem Inselpächter gegenüber auch in einer so abhängigen Stellung, besonders seit dem Bruche mit Mrs. Lewis.

Als sie auf den Korridor traten, kam eben Manuel angekleidet aus seiner Kabine; er hatte gemerkt, daß jemand zum Kapitän geholt worden war.

»Und dem da,« sagte Flederwisch sofort, als er ihn sah, auf den Mulatten deutend, »wollte ich die Grabschrift setzen: er war ein Sklave, der seinen Herrn mehr liebte, als er Gott fürchtete – und einen recht großen, schweren Grabstein darauf, damit er nicht wieder raus könnte. – Komm du auch mit, Manuel!«

Der Schwarze grinste, als wollte er sich die Ohren abbeißen, während Halfdan die Worte gar nicht humoristisch auffaßte. Es war ein eigentümlicher Mensch, dieser Kapitän.

Sie erreichten das Deck. Hier oben hatte er doch seine Antwort geben wollen, aber Flederwisch ging ans Land, an den Hafen, er stieg in ein Boot, setzte sich ans Steuer. Manuel ruderte, schließlich griff Halfdan mit zu, es ging in die See hinaus ... was sollte das? Die Erklärung blieb aus.

Nach einer halben Stunde tauchten Strandlichter auf, es war Albemarle, an dessen Küste sie landeten, noch eine halbe Stunde Weges durch finstere Nacht, und von dem etwas hellern Himmel hob sich der Kraterberg ab.

Am Fuße standen einige Arbeiterhütten, oben wurde gebaut, am Tage beförderte eine Lokomobile Material und Menschen mit der Drahtseilbahn hinauf. Chinesen und Aufseher wurden herausgepocht, die drei stiegen in einen Hängewagen, Menschenarme mußten die Kurbeln in Bewegung setzen, bald hatte der Wagen das Plateau erreicht, sie stiegen aus.

Also das war das ›oben‹, wo Flederwisch seine Antwort geben wollte. Seltsam! Es war recht finster, finsterer als unten und als Halfdan in solcher Höhe erwartet hatte. Wie kam es denn, daß man hier nicht die Sterne sah? Ach so, daran mochte der Nebeldampf schuld sein, den der Krater aushauchte. Aber roch es hier nicht recht nach – nach – viel chemische Kenntnisse hatte der Schwede nicht.

Mit einem Male merkte er, daß er sich ganz allein befand. Wäre Manuel nicht zurückgekehrt und hätte seine Hand gefaßt, Halfdan wäre hilflos im Finstern herumgestolpert; man konnte nicht die Hand vor den Augen erkennen.

Es mußte auf dem östlichen Rande des großen Kraters entlanggehn, mehr wußte Halfdan nicht, und dann ließ Manuel ihn los, wieder war er allein, in Finsternis vergraben. Was wollte denn nur der Kapitän hier oben?

Eine lange, lange Zeit verstrich. Plötzlich wurde Halfdan vorn an seinem Rocke von zwei Fingern gefaßt, Flederwischs Stimme war es, welche dicht vor seinem Gesichte flüsterte, und sie war ganz heiser, und der menschliche Atemhauch war gar nicht warm.

»Ja,« zischelte es, »ich glaube, daß wir nach dem Tode herumspazieren müssen, ich bin davon überzeugt worden. Meinetwegen, wenn's einmal so eingeführt ist, muß ich wohl auch mitmachen – zuerst. Ich fürchte sie nicht, die nächtlichen Spaziergänger, werde mich gar nicht um sie kümmern, d. h., wenn sie mich in Ruhe lassen. Wenn sich aber einmal solch ein Toter in meine irdischen Geschäfte mischen sollte, und er läßt sich auf irgend eine Weise packen, dann – schlage ich ihn noch einmal tot!«

Ehe Halfdan den Gedanken richtig gefaßt hatte, daß es ja Wahnwitz sein müsse, der solche Worte diktierte, fuhr es in demselben heisern Flüstertone schon fort:

»Das Totenreich aber, wie es dort beschrieben ist, mit der Kasteneinteilung, wie die Seelen noch strenger geschieden sind als auf der Erde, auf der einen Seite die Heiden, auf der andern die Christen, die Guten und die Schlechten getrennt in Erziehungs- und Besserungsschulen geordnet, und doch alles bunt durcheinander, der gemeine Mordbrenner neben dem genialen Giftmischer sitzend – das will mir gar nicht gefallen. Und doch, ich möchte, daß es so wäre, und was der Mensch wünscht, das glaubt er. Ja, ich glaube daran, daß es so ist. Wißt Ihr, was wir da machen? Das gibt einen herrlichen Spaß. Dann zetteln wir beide, Ihr und ich, dort im Jenseits eine kleine Rebellion an, und wenn es dort ein Gedankenlesen gibt, so erfinden wir einfach eine andre geheime Sprache, die noch niemand kennt – mit den Geisterlehrern fangen wir an, die schmeißen wir zum Schulfenster hinaus – und die Rebellion geht weiter – paßt nur auf, wie die Geisterjünglinge mitmachen werden – wer nicht mitmacht, wird aufgehängt, daß er wieder lebendig wird – und wenn wir auch einmal unterliegen und in den Geisterkerker kommen, schadet nichts, wir brechen wieder aus, haben ja eine ganze Ewigkeit dazu, fangen immer wieder von vorne an – einmal bekommen wir doch das Heft in die Hände – und dann sorgen wir auch dafür, daß keine Toten mehr auf der Erde herumlaufen dürfen, denn das ist uns zu dumm, dann diktieren wir da oben im Jenseits die Befehle. Was, Halfdan, das machen wir?«

Als dieser – selbstverständlich – keine Antwort gab, wurde er heftig zurückgestoßen.

»So gehe hin, Feigling,« schrie Flederwisch plötzlich, »bete und winsele um Gnade und lebe danach, daß du in Klasse Nummer eins zwischen die seligsten Seelen zu sitzen kommst. Ich aber will es mit den Verdammten halten, weil sie mir brauchbarer erscheinen, denn ich lasse mich nicht in diese Kastenketten zwingen – ich nicht!«

Wahrhaftig, der Kapitän hatte Stunden des Wahnsinns! Mochte er auch am Tage als der eiserne, unermüdliche Mann erscheinen, durch nächtliches Arbeiten und Lesen mußte doch sein Nervensystem überreizt worden sein. – So dachte Halfdan.

Da drangen von unten Trompetensignale herauf, überall, sie pflanzten sich fort. Lichterchen begannen umherzuhuschen, jetzt war es zehn Minuten vor Sonnenaufgang, es war der Weckruf, und da vernahm man auch Stimmengemurmel.

»Halfdan, ist es recht, daß man dem Kaiser Zins zahle?« erklang es da wieder aus der Finsternis. Wieder wußte der Gefragte keine Antwort, und wieder wurde er plötzlich an der Brust gepackt, wieder flüsterte Flederwischs heisere Stimme vor seinem Gesicht: »Was schwatzt das Volk da unten von Republik? Was plappert das Volk von Ungerechtigkeit, von Freiheit und Gleichheit? Bin ich's oder einer von jenen dort unten gewesen, der dies alles geschaffen hat? Und wer wagt es, den Kindern ihr Erbe zu nehmen? Und das war Olaf Trygvason, fuhr übers Nordmeer hin, zu suchen sich ein Königreich ...«

Was hätte Halfdan darauf sagen sollen?

Im fernen Osten entstand ein ganz dünner, schwacher, roter Streifen.

»Mein schöner Traum vom ewigen Todesschlaf ist zum Teufel gegangen,« fuhr Flederwisch zischelnd fort, einen Ausdruck wiederholend. »Schadet nichts. Man ist wieder um etwas klüger geworden. Desto besser. Von nun an heißt es: keine Rücksicht mehr kennen, das Schwache zu Boden gestampft, die Sklaven gepeitscht, und ich selbst muß arbeiten, arbeiten, rastlos Tag und Nacht, solange ich noch lebe, damit ich dereinst sagen kann ...«

Ein Zuck, ein Blitz, und die feurige Himmelskugel rollte am Firmament empor; sie beleuchtete das geschäftige Treiben da unten, wie die Menschlein hasteten und sich drängten, wie sie aus den Löchern der Häuser huschten und in andern wieder verschwanden, wie die winzigen Figuren schon Strohhalme und Steinchen schleppten – und die Sonne leuchtete auch dem wahnwitzigen Sprecher ins Gesicht, aber Halfdan sah doch nicht das Gesicht eines solchen, es war vielmehr ein eisernes, nur daß die Augen darin unheimlich glühten.

»... Damit ich dereinst sagen kann ...«

Flederwischs magere Finger krallten sich in des Schweden volle Arme und schüttelten den Mann, während seine andre Hand einen Halbkreis in der Luft beschrieb, den östlichen Teil der Insel umfassend.

»Es wird die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehn ...«

Halfdan riß sich los und taumelte zurück, mit einem Satze schnellte der Mulatte herbei.

»Massa, was ist das!«

Der Boden, auf dem sie standen, war in schwingende Bewegung gekommen, begleitet von einem unterirdischen Rollen und Donnern, und aus dem Krater stieg plötzlich eine schwefelgelbe Rauchwolke empor.

»Massa, das ist der Vulkan!!« schrie der Mulatte.

»Das ist der Himmel, der gesprochen hat!« flüsterte der Schwede erbleichend.

»Das ist der Spazierstock in meinem Ameisenhaufen!« lachte aber Flederwisch schrill, und dann stampfte er wütend mit dem Fuße auf. »Warte noch, warte noch, bis alles fertig ist, komm mir nicht zuvor! Dann sprenge ich selbst mein Werk und mich in die Luft!«


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