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3. Im Fegefeuer.

Wenn es in einer deutschen Universitätsstadt vorkommen kann, daß die Studenten für ihren geliebten Professor, der gestern plötzlich verschieden ist, eine schnell improvisierte Totenfeier abhalten, während der Herr Professor doch nur eine kleine Reise angetreten hat, um dem Begräbnis eines Kollegen beizuwohnen, und sich sonst der besten Gesundheit erfreut, so war es auch möglich, daß Kapitän Flederwisch totgesagt wurde und daß sich die Kunde von seinem Tode bis nach London auf der andern Hälfte der Erdkugel verirrte und dort lange Zeit nicht widerlegt werden konnte.

Die englischen Zeitungen meldeten es; der ›Daily Telegraph‹ setzte schnell und ausdrücklich noch hinzu, daß das Unternehmen mit den Gallopagos ruhig seinen Fortgang nähme, alles bliebe beim alten, der neue Direktor wäre ebensogut ein philanthropischer Mann wie Kapitän Flederwisch.

Paul tot! Für Alfred hatte Imma zuerst keine Tränen gehabt, jetzt weinte sie sofort bitterlich.

Warum bejammert man denn nur so den Tod einer geliebten Person, wenn man einen Menschen von jahrelangem Schmerzenslager endlich erlöst sieht? Den eignen Verlust zu beweinen, das wäre doch eigentlich krasser Egoismus. Nein, es ist noch etwas andres dabei, nur daß sich der Mensch darüber nicht Rechenschaft geben kann. Es ist der Fluch, welcher dem ersten Menschenpaare gefolgt ist, als es aus dem Paradiese gestoßen wurde.

Imma fühlte es dumpf. Sie hatte geliebt, der Schmerz war zu groß, als daß sie Tränen haben könnte – und dann hatte sie sich ergeben, lebte nur noch der Erinnerung. Es hatte so kommen sollen, der Herr hat es gegeben und wieder genommen; sein Name sei gepriesen!

Aber wie anders hier bei dem Bruder! Geliebt, geheiratet, das vermeintliche Glück genossen, gleich wieder betrogen, verlassen, gestorben im fremden Lande. Es war nicht der Bruder, sondern das verfehlte und verpfuschte Leben eines großen Menschen, welches Imma beweinte.

Rechtsanwalt Perkins schrieb ihr. Sie hätte wohl davon gehört, er müsse es bestätigen; sein innigstes Beileid; und wenn Lady Muggridge einmal eine geistesklare Minute habe, möchte man ihn doch sofort telegraphisch benachrichtigen.

Die Zeitungen brachten ausführliche Berichte. Nicht gestorben, sondern ermordet – ermordet von dem Entführer seiner Frau, dem Abkömmling eines Indianers und einer Mulattin.

Imma warf plötzlich mit einer Anwandlung von Ekel die Zeitung von sich. Ermordet von einem Indianer, wegen des Weibes mit dem Puppengesicht! O, wie furchtbar hatte sich Alfreds Prophezeiung erfüllt! Und für Paul sollte es keine Entschuldigung geben!

Das unschuldige Mädchen hatte schon immer die Vorgänge auf den Gallopagos mit Mißtrauen verfolgt, soweit sie davon vernahm. Was war das nur? Was hatte der Bruder da unten vor? Woher hatte er das schrecklich viele Geld? Wenn er schrieb, fast jeden Monat, so überschüttete er die Schwester mit Zärtlichkeiten, wie er sich nach ihr so grenzenlos sehne, aber zu ihm könne sie noch nicht kommen, es ginge hier noch zu wild zu – doch von dem, was er denn da unten beabsichtige, schrieb er niemals etwas, höchstens machte er scherzhafte Andeutungen, ob es ihr recht sei, die Schwester eines Königs zu werden, ob sie den Thron mit ihm teilen wolle ...

Und Imma begann sich zu fürchten. Nach ihrer Ansicht waren Könige nur von Gottes Gnaden – ein bescheidenes Wort – nicht durch eignes Verdienst, sondern nur durch die zufällige Geburt, durch die Gnade Gottes sind sie König geworden; oder sie werden vom Volke dazu gewählt; wer durch Gewalt oder List eine Krone erobert, hat noch selten ein gutes Ende genommen.

Vielleicht meinte er es gar nicht so. Aber ihr ängstliches Mißtrauen wuchs nur immer. Er überhäufte sie mit Geschenken. Eine Schnur der größten und schönsten mexikanischen Perlen stellte ein großes Vermögen dar; er schickte ihr – eine feine List – eine Sammlung aller in Nord- und Südamerika kursierenden Münzen, vom Doppeladler an bis zum kleinsten Kupferstück, und das von jedem Jahrgänge der Münzprägung – nicht etwa als Geld, beileibe nicht, es war nur eine Sammlung – und wenn auch für einen Münzensammler ohne jedes Interesse, besonders weil es nur im Umlauf befindliches Geld war, alte, seltene Stücke fehlten ganz, so betrug doch ihr Barwert gegen 10.000 Mark. Aber Imma konnte sich nicht daran erfreuen, wagte es kaum anzurühren; es kam ihr wie unrechtes Gut vor.

Dann brachte der ›Telegraph‹ jenen Artikel. Was war das nun wieder mit den Fraueninseln? So werden dort Ehen gestiftet? Schmach der Menschheit! Imma erglühte in Scham für ihren Bruder. Und wäre er jetzt gekommen, sie abzuholen dorthin, entrüstet hätte sie sich von ihm gewendet.

Und dann bat sie ihm wieder ab. Er war kein Mensch wie die andern, sondern er war eben ihr Bruder. Aber mitgegangen wäre sie doch niemals. Rechtsanwalt Perkins wiederholte sein Schreiben dringlicher. Wenn mit Lady Muggridge einmal zu sprechen sei, solle man ihm sofort telegraphieren. Er gab für jede Tag- und Nachtstunde an, wohin die Depesche zu adressieren sei. Es handle sich um das Testament.

Da dachte Imma zum ersten Male daran, was aus ihr werden solle, wenn die Tante plötzlich stürbe, und dieser Fall konnte jede Minute eintreten. Sie sah sich nachdenklich in dem Zimmer um, in dem sie sich gerade befand. Sie hatte sie doch liebgewonnen, diese zweite Heimat. Nun, nehmen konnte man ihr dieselbe ja nicht. Sie war die einzige noch lebende, gesetzmäßige Verwandte der alten, reichen Dame. Richtig, sie war ja sehr, sehr reich, da würde sie doch auch ... Imma dachte den Gedanken gar nicht aus, sondern gleich daran, wie sie dann so ganz allein in der Welt dastehn würde.

Eines Morgens verlangte Lady Muggridge nach der Nichte, fragte sie, ob Paul schon in Guayaquil angelangt sei und ob er noch nicht geschrieben habe. Imma erzählte ihr etwas, gab ihr Pauls ersten Brief und entfernte sich, um ein Dienstmädchen mit einer Depesche nach einer Station der Stadttelegraphie zu schicken.

Nach zwanzig Minuten traf der Rechtsanwalt ein. Imma begegnete ihm im Vorzimmer.

»Wo befindet sich Lady Muggridge?« war seine erste Frage nach der Begrüßung. »Ist es möglich, mit ihr etwas Geschäftliches zu besprechen?«

Seit einem halben Jahre war die Kranke zum ersten Male aus ihrer Lethargie erwacht, hatte Immas Namen genannt, sie erkannt und nach Paul gefragt.

Dieses halbe Jahr schien in ihrer Erinnerung völlig zu fehlen, und ob sie wirklich bei ganz klarem Verstande, das war zweifelhaft.

Schon diese Erklärung, von Perkins Fragen unterbrochen und verlängert, hatte einige Minuten in Anspruch genommen.

»Das wäre sehr schlimm, wenn wir nicht zum gewünschten Ziele kämen. Sie müssen mir helfen. Miß Müller, Sie werden die alte Dame besser zu behandeln wissen als ich.«

»Zu welchem Ziele, Herr Rechtsanwalt?«

»Nun, es handelt sich um das Testament.«

»Ja, ist denn das nicht in Ihrem Besitz?«

»Aber, ich bitte. Miß Müller, Ihr Herr Bruder ist doch ... Das Testament nimmt nur auf ihn bezug.«

Perkins wunderte sich, daß es Menschen gäbe, welche die Bedeutung von so etwas gar nicht einsehen wollen, denn Imma schien noch immer nicht zu verstehn.

»Ja, ja, ich weiß, da muß ich ihn also doch beerben!« sagte sie ängstlich.

»Ihr Herr Bruder ist verheiratet gewesen, jedenfalls lebt seine Frau noch.«

Da plötzlich verstand Imma, und die Zaghaftigkeit, von so etwas sprechen zu müssen, äußerte sich in einem starren Gesichtsausdruck. Sie benutzte die lange Pause, ihre Augen durch das luxuriös eingerichtete Empfangszimmer wandern zu lassen – Perkins wußte, woran sie dachte: das sollte alles jener gehören! – und sie blieben wieder an dem Manne hängen.

»Hat Paul nicht recht viel Schulden? Auch bei Ihnen?«

Seltsam, wie dieses naive, unerfahrene Mädchen plötzlich auf diese Frage kam, und doch war sie ganz folgerichtig.

Ehe Perkins die Antwort geben konnte, kam eine Dienerin ins Zimmer.

Eine Dame wünsche Miß Imma zu sprechen.

»Nein – nein, ich empfange jetzt keinen Besuch, sie mag ein andermal wiederkommen!« rief diese mit einiger Heftigkeit, und das Mädchen, derartiges ganz ungewohnt, war dadurch bestürzt, daß es schnell die in der Hand gehaltene Karte auf ein Vertiko legte und hinaushuschte.

»Er hat alles bezahlt, alles – von Guayaquil aus,« entgegnete Perkins. »Alle seine Gläubiger sind befriedigt worden, auch ich, ohne Aufforderung!«

Schwer hob und senkte sich Immas Brust.

»Kennen Sie denn nicht das Verhältnis – mit dieser Frau ...?«

»Ich weiß alles,« unterbrach sie der Rechtsanwalt, die hohen Schultern noch mehr hebend; »aber wenn Mrs. Müller hierher kommt, oder sie braucht nur ihren Trauschein einzuschicken – unser Hof der Ehe- und Erbschaftsangelegenheiten macht nur eine ganz kurze Anfrage an betreffender Stelle, ob alles in Ordnung ist – unser englisches Gesetz ist darin sehr einfach und schnell – die Frau ist die Gesamterbin des verstorbenen Mannes, wenn nicht testamentarisch anderweitige Verfügungen getroffen sind, und dann hat sie in einem Prozeß noch immer sehr, sehr viele Rechte auf ihrer Seite.«

»Herr Rechtsanwalt,« begann wieder nach einer Pause das schüchterne Mädchen mit leiser und seltsam tiefer Stimme, »glauben Sie nicht, daß ich jemals an die Erbschaft meiner Tante gedacht habe ...«

»Das müssen Sie aber!« fiel Perkins lebhaft ein. »Das ist Ihre Pflicht Ihrem Bruder und auch Ihrer Tante gegenüber, welche Paul immer sehr geliebt hat. Sie müssen alles tun, was in Ihren Kräften steht, um zu verhindern, daß die Erbschaft jener treulosen Frau in die Hände fällt.«

»Das war es eben, was ich sagen wollte, als Sie mich unterbrachen. Nein, diese Frau, welche meinen Bruder unglücklich gemacht und seinen Tod veranlaßt hat, soll nicht – was ist das?« setzte Imma flüsternd hinzu.

Stimmen wurden laut, Türen gingen, Schritte liefen.

»Die Lady ist tot!« erklang der Ruf.

Wie Imma plötzlich an das Bett im Krankenzimmer kam, neben ihr Perkins, das wußte sie nicht. Sie kamen zu spät, und der Rechtsanwalt brauchte sich keine Vorwürfe zu machen, die kostbare Zeit verschwatzt zu haben, anstatt sie zu benutzen. Er hätte doch nichts mehr erreichen können. Nur für wenige Minuten hatte das Lebenslicht in der ausgetrockneten Mumie, die eigentlich den Toten schon angehört hatte, noch einmal aufgeflackert; sie sank zurück, schloß die Augen, ein leises Zittern, und es war vorbei. So sagte die barmherzige Schwester in schwermütigem Tone. Daß es ein leichterer Tod gewesen, als ihn die alte Frau verdient hatte, brauchte sie nicht hinzuzusetzen!

Imma stand zum ersten Male vor einer Leiche, zum ersten Male unter dem furchtbaren Banne des Todes. Tot! Wo ist es hin? Jetzt ging es vor sich, das Unerklärliche, was der Mensch nie lösen wird, weil es eben übersinnlich ist.

»Wer ist denn diese fremde Dame?« flüsterte auf einmal Perkins an ihrer Seite.

»O mon Dieu,« sagte eine schmelzende Frauenstimme, »ich komme wohl zu spät?«

Langsam, ganz langsam drehte Imma den Kopf, langsam hob sie die flache Hand gegen das in elegantes Schwarz gekleidete Weib mit dem schönen Gesicht einer Wachspuppe, das plötzlich im Zimmer stand.

»Nicht – nicht ...« kam es keuchend über Immas farblose Lippen, die ausgestreckte Hand wurde geschüttelt.

»Kennst du mich? Ich bin deine ...«

»Fort – fort von hier!« erklang es schreiend, entsetzt, und Carmencita hielt es unter solchen Umständen für das beste, sich schnell zu entfernen, gleich das Haus wieder zu verlassen. Wenn der Mensch bei außergewöhnlichen Vorfällen alle gesellschaftlichen Rücksichten vergißt – und sie vergessen darf, dann ist nicht gut mit ihm zu sprechen.

 

Der Morgen des fünften Tages kam. Eine fremde Dame, die Imma noch nie gesehen hatte, half ihr beim Anlegen des neuen Trauerkleides, von dem Imma noch nichts gewußt. Alles, bis auf die Handschuhe und das zum Begräbnis vorgeschriebene Taschentuch, lag bereit. Ein Summen von Stimmen ging durch das Haus, dazu der Geruch nach Wachholder und Pfeffermünze, denn diese Mischung ist das Lieblingsgetränk vieler englischer Damen, und ohne Schnaps geht es bei solchen Gelegenheiten nun einmal nicht ab. Vor dem eisernen Gartenstaket hielten außer dem schon geschmückten Leichenwagen mit dem Sarge ungefähr zehn Equipagen, auf dem Bocke Kutscher und Diener mit langwehenden, weißen Schleiern um die glänzend schwarzen Zylinder.

Alles war fertig zur Fahrt nach der Kirche.

Der Sohn des Inselreiches hat bei allem das Praktischste herausgefunden. Jeder englische Friedhof und namentlich in London, besitzt seine große Kirche. In dieser, geschützt vor Kälte und Regen, wird die Feierlichkeit abgehalten, und man kann ihr andachtsvoller beiwohnen, als unter tropfenden Regenschirmen, als mit im Schnee stampfenden Füßen und froststarren Händen. Der Reiche kann die prunkvollste Feierlichkeit halten, der auf Kosten des Armenamtes Bestattete erhält Blumen und Priester gratis. Es gibt keinen Unterschied in der Religion, und Platz ist genug vorhanden. Hier predigt ein Quäker, dort ein Shaker, dort hält ein Diener der Hochkirche die Gedächtnisrede, Katholiken, Israeliten, Heiden dürfen die Kirche benutzen, wenn sie den betreffenden Friedhof ihrem eignen vorziehen, und ehe der letzte Teilnehmer des Trauerzuges die Kirche verläßt, ist der Sarg schon unter der Erde, und die Hinterbliebenen können das Grab pflegen. So spricht man also auch nur von der ›Fahrt nach der Kirche‹.

Die Trauertoilette war beendet. Die fremde Dame führte Imma in ein Zimmer, warf noch einen Blick über das Ganze und verließ dann den Salon. Statt ihrer trat der Undertaker ein.

»Die Wagen zur Kirche sind vorgefahren, Mistreß Müller. Im ersten Wagen nehmen nur Sie und Frau Paul Müller Platz. Darf ich ...«

Eine jähe Bewegung Immas ließ den Mann im Satze abbrechen.

»Nur wer?«

»Nur Sie und Ihre Frau Schwägerin. Dies ist –«

»Nein! Nimmermehr!« unterbrach ihn Imma abermals mit erneuter Heftigkeit. »Ich kann nicht mit dieser Frau zusammensitzen!«

»Warum denn nicht?« erklang es da höhnisch, und unter der Türe, von der die Portiere zurückgeschlagen war, stand Carmencita.

Es war geschehen. Die Worte, die Imma gesprochen hatte, waren nicht zurückzurufen, nicht anders zu deuten, und da – durch die Erlebnisse der letzten Tage nervös gemacht – ließ Imma jede Rücksicht fallen und sprach aus, was sie dachte.

Sie hatte sich umgedreht, wandte sich jedoch sogleich wieder dem Undertaker zu, als existiere jene nicht für sie.

»Ich mag mit diesem Weibe nicht in so enge Berührung kommen!«

»Wie nennen – Sie mich?«

Jetzt fuhr Imma herum. Das sonst so schüchterne Mädchen war nicht wiederzuerkennen.

»Eine Dirne!!«

Der Undertaker verschwand plötzlich aus dem Zimmer. Er brachte alles fertig – aber wenn zwei Frauen so aneinandergerieten, dann verschwand er stets.

Carmencita war einen Schritt vorgetreten, legte die Hände auf die niedrige Stuhllehne, so stand sie etwas vorgebeugt da, die schwarzen Augen funkelnd wie Dolchspitzen, und plötzlich trat blutigrot der Streifen quer über dem Gesicht hervor.

»Waaas? Wie nennen Sie mich?« flüsterte sie langsam.

»Eine Dirne!« erklang es nochmals sofort zurück.

Carmencita richtete sich auf, langsam hob sie die Arme, um sie unter dem Busen zu verschränken, aufrecht standen sich die beiden gegenüber, beide sprachen ganz, ganz langsam, jedes Wort auseinanderziehend, in einem singenden Tone, beide schienen vollkommen ruhig zu sein, nur vom furchtbarsten Hohne beherrscht, während doch beide schon die Besinnung verloren hatten. Es war eine dramatische Szene, die sich nicht beschreiben läßt.

»Ei, seht doch mal die Jungfer an! Dirne? Sie meint sich wohl selbst? Ja, eine Betteldirne ist sie. Sie sollte es sich doch lieber zur Ehre anrechnen, wenn Frau Kapitän Müller sich herabläßt, neben ihr in einem Wagen zu sitzen.«

In demselben Tone kam es zurück, nur ein klein wenig schneller.

»Es ist wenig Ehre, mit einer Person zusammensitzen zu müssen, welche schon einmal ausgepeitscht worden ist, zumal die Peitsche meines Bruders dafür gesorgt hat, daß es jeder im Gesicht sehen kann!«

In des Weibes Kopf schwand der letzte Rest von Besinnung.

»Hahaha, wie sie sich tut! Worauf ist sie denn eigentlich stolz? Doch nicht etwa auf jenen Alfred Werner ...«

»Ich möchte doch bitten, diesen Namen nicht in Ihren Mund zu nehmen. Er ist mir ein Heiligtum, das ich nicht besudelt haben will.«

»Hahaha, es wird ja immer köstlicher! Ich muß Ihnen nämlich mitteilen, daß ich eigentlich mehr Anrechte auf jenen Herrn besessen habe als Sie, mein Fräulein. Wir kannten uns nämlich schon früher, und – äh – er könnte jetzt mein Gatte sein, wenn ich ihm damals in Valparaiso nicht den Laufpaß gegeben hätte; er wurde mir schließlich zu langweilig. Ich hätte ihn damals sogar zwingen können, mich zu heiraten, weil – Sie verstehn. Sollte Ihnen Alfred niemals etwas davon erzählt haben? Wie?«

»Aaaaah!«

Es war mehr ein Seufzer als ein Schrei gewesen, mit welchem Imma ohnmächtig zu Boden sank.

Estrella hatte recht gehabt. Der Schlag in das Gesicht durch Flederwischs Reitpeitsche war von Carmencita an Imma gerächt!

Im Galopp mit Hussa und Peitschenknall jagte der Leichenwagen durch Londons Straßen, und in der ersten Equipage saß Carmencita – allein.

 

Mit Vorbehalt des definitiven Rechtsspruches wurde die Erbschaft der Frau des vermutlich Toten zugesprochen, Carmencita bezog mit Estrella bereits die Villa und die Einkünfte aus dem Vermögen der Erblasserin.

Imma hatte ihr kleines Kapital auf eine Bank anweisen lassen, und nur durch Zufall erfuhr Perkins, daß sie jetzt in einer im stillen Islington gelegenen Damenpension wohnte. Es war nicht hübsch von ihr, daß sie ihn nicht einmal ihre Adresse hatte wissen lassen. Zweimal fragte er in der Pension nach und erhielt zweimal den Bescheid, Miß Müller sei nicht anwesend, obgleich er sie doch das eine Mal schnell vom Fenster zurücktreten sah. Zwei Briefe von ihm blieben unbeantwortet. Einmal begegnete er ihr auf der Straße, sie sah ihn, wußte sich aber schnell in eine Seitengasse zu begeben, wo sie ihm entschwand. Das zweitemal aber hielt er sie fest.

»Bitte, Herr Rechtsanwalt – nicht jetzt – nicht jetzt – ich komme selbst zu Ihnen,« sagte sie in flehendem Tone, und da ließ er sie gehn und wartete.

Aber Imma kam nicht. Hatte sie nicht zweimal gesagt: Ich habe es nicht um Sie verdient? – Da hätte sie ihre Dankbarkeit jetzt beweisen und kommen sollen!

Hatte sie es sich denn gar so sehr zu Herzen genommen, daß sie die Erbschaft an des Bruders treulose Frau hatte abtreten müssen? Es mochte ein böser Streit zwischen den beiden gewesen sein. – Perkins hatte es nie richtig erfahren, wahrscheinlich warf die Schwester, herausgefordert, jener ihre Treulosigkeit vor, und Carmencita hatte mit kränkenden Beleidigungen geantwortet – doch dies konnte so wenig wie der Verlust der Erbschaft an Immas Zurückgezogenheit schuld sein; das sah ihrem Charakter ganz unähnlich. Denn stolz konnte sie sein! Es war eben eine Mädchenkaprice.

Perkins zog Erkundigungen ein. Es schien gar nicht, als ob der Bruder sie bei Lebzeiten mit baren Geldern beschenkt hätte. Imma lebte von ihrem Kapital und griff es ganz tüchtig an. Sie bezahlte für die volle Pension pro Woche 3 Pfund, das macht im Jahre rund 150 Pfund, der Rechtsanwalt berechnete für die andern Ausgaben 50 Pfund – demnach war sie in zwei Jahren mit dem Kapital fertig. Und so lange sollte er sich noch gedulden? Nein, ihr ganzes Benehmen zu ihm berechtigte ihn zu der Hoffnung, schneller zum Ziele zu kommen, sie mußte nun erst erfahren, was er denn eigentlich beabsichtigte. Er wollte noch einmal schriftlich um ihre Hand werben.

Sein Kopf war noch damit beschäftigt, ein Meisterwerk eines Freiwerbebriefes zusammenzubauen, als plötzlich die Zeitungen Kapitän Flederwischs Wiederaufleben meldeten – ›er ist gar nicht tot gewesen‹ – nähere Details kamen hinzu. Perkins, der eigens für diese Sache in Guayaquil einen Gewährsmann hatte, erhielt die Nachrichten aus erster Quelle.

So blieb der Liebesbrief vorläufig liegen; statt dessen schrieb der Rechtsanwalt, wie jetzt wieder die größte Aussicht vorhanden sei, jener die Erbschaft noch zu entreißen; Imma solle sich auf ihn verlassen, vor allen Dingen ihm eine Unterredung gewähren.

Auch dieser Brief blieb unbeantwortet, und Perkins wußte selbst, daß er ihr etwas voreilig Hoffnung gemacht hatte. So schnell kann in England der legitimen Frau nichts genommen werden.

Carmencita wurde vor die Schranken der Behörde beordert. Ihr Mann lebte noch? Das freute sie. Nein, sie bliebe hier in England; der Arzt verbot ihr den nochmaligen Klimawechsel. Außerdem machte sie die Herren auf ihren Zustand aufmerksam.

Die Behörde schrieb an den Kapitän Paul Müller, die Hinterlassenschaft der Lady Muggridge sei ihm testamentarisch vermacht, seine Frau sei hier, wie er sich dazu verhalte. Perkins tat desgleichen und erwähnte außerdem noch den Zustand Carmencitas; ob dies seine Richtigkeit habe, Imma sei fast mittellos.

Hierbei passierte seitens der Behörde ein großes Versehen. Schon vierzehn Tage nach Abgang jenes Briefes fragte der Chef, ein alter, verknöcherter Bureaukrat, ob denn die Antwort jenes Kapitäns noch nicht da sei. Er schien gar nicht zu wissen, daß der Brief ja nach der andern Erdhemisphäre gehn mußte, also eine Antwort noch nicht zurück sein konnte, und der ängstliche Schreiber wagte nicht, den gestrengen Bureauchef über diesen Irrtum aufzuklären. – Noch immer nicht? Noch einmal hinschreiben, dringend zur Antwort mahnen. – Der Schreiber gehorchte, obwohl dieser zweite Brief in Guayaquil mit derselben Post eintreffen mußte. Briefe werden in England auch auf den Aemtern einfach kopiert, selbst wichtige Dokumente. Bei diesem zweiten Briefe aber hatte sich das Datum nicht abgedrückt, weil wahrscheinlich die Feder einmal in andre Tinte getaucht worden war, und der Schreiber merkte dann dieses Fehlen in der Kopie nicht.

Alle beide Briefe, wie der von Perkins und noch viele andre, auf diesen Erbschaftsfall bezugnehmend, waren in dem Postbeutel enthalten gewesen, der des Stewards Händen entglitt; so bekam Flederwisch gar nichts zu erfahren, und als die Sache in London zur Sprache kam, daß der Kapitän nicht geantwortet hatte, als die Kopien hervorgeholt wurden, da sah ein andrer Schreiber das Versehen seines Kollegen, und aus Freundschaft zu diesem beging er die kleine Fälschung, er trug das Datum noch nachträglich ein, aber nach seiner Berechnung, zwei Monate früher, als der Brief wirklich abgegangen war.

Einige Tage darauf wurde der Mrs. Müller kurz mitgeteilt, hiermit sei ihr die Erbschaft mit freier Verfügung endgültig zugesprochen; sie solle sich da und dorthin wenden. Carmencitas sicheres Auftreten mußte doch recht erkünstelt gewesen sein, denn als sie diesen definitiven Bescheid in den Händen hielt, da war sie nicht einmal eines Freudenrufes fähig: sie brach vor Glück zusammen.

Nun bekam man auch wieder von den Gallopagos und dem Inselpächter recht viel zu hören und zu lesen, zumal einige bemerkenswerte Ereignisse in London eng damit verknüpft waren.

Zunächst krachte ein eben erst neugegründetes Bankhaus zusammen, obgleich doch die Zeitungen seiner Solidität ellenlange Berichte gewidmet hatten. An diesem Bankerott war offenbar das merkwürdige Schicksal der acht gecharterten Dampfer schuld, die einige tausend Auswanderer nach den Gallopagos hatten bringen sollen. Wirklich, über diesen acht Schiffen ruhte ein ganz wunderbares Verhängnis.

Der zuerst abgegangene Dampfer erreichte Guayaquil, und dort blieb er still an der Ankerkette liegen; der zweite machte in Santiago Station, und dort blieb er liegen; der dritte Dampfer lief Rio de Janeiro an, und dort blieb er liegen; der vierte saß in Pernambuko fest, der fünfte lag an einer Kap Verdischen Insel, und so ging es stationenweise weiter, der siebente hatte in Lissabon Halt gemacht, und der achte endlich lag noch in London, seit einem Monat immer zur Abfahrt bereit.

Die Sache war die, daß Kapitän Flederwisch dem ersten Dampfer die Erlaubnis zum Landen an seinen Inseln verweigert hatte. Keiner dürfe heran; und da hatte man jeden der nacheinander abgegangenen Dampfer in dem Hafen, den er einmal anlief, festgehalten, um wenigstens nicht unnötig Kohlen zu verfeuern. Aber die Unterhaltung von acht solchen Dampfern mit einigen tausend Passagieren kostet noch immer sehr, sehr viel Geld! Das ist allerdings imstande, die Grundlage auch eines ganz soliden Bankgeschäftes zu erschüttern.

Jenes war sofort wie ein Kartenhaus eingestürzt. Wer sollte denn nun dies alles bezahlen? Es wurde einfach gar nichts bezahlt. Bei dem Bankerott kam auch nichts heraus. Die Schiffsreeder, die Proviant- und Kohlenlieferanten, alle waren geprellt, und am allermeisten die armen Burschen, die sich gemeldet hatten. Da hatte man es wieder! Geht nicht ins Ausland, wenn nicht der Staat selbst garantiert! Traut auch nicht dem sichersten Depositium! Denn von diesem bekamen sie trotz aller Sicherstellung nichts zu sehen, da waren schon andre Gläubiger mit mehr Rechten; auf der Rückfahrt wurden sie mit von Würmern zerfressenem Hartbrot gefüttert, und beim Betreten Englands zog man ihnen die noch nicht bezahlten Kleider vom Leibe.

Eine unbestochene Zeitung deckte den ganzen Schwindel mit der Bankgesellschaft auf. Es war ein echt englisches Unternehmen in seiner ganzen Jämmerlichkeit gewesen. Die eigentlichen Gründer hatten den geringsten Verlust, sie selbst raubten die Depositen, unbekannte Dunkelmänner mußten die Verantwortung tragen, und während diese in Schuldhaft saßen, wurde ihnen der Gehalt fortbezahlt.

Wenn nun auch jene Ehrenmänner bei der mißglückten Spekulation nicht viel eingebüßt hatten, so wurde doch in gewissen Kreisen über Kapitän Flederwisch fürchterlich geschimpft. Hätte man ihn nur hier gehabt, man hätte ihm schon etwas angehängt. So versuchte man es auf andre Weise.

Zwischen einigen Zeitungen entspann sich ein Krieg; die Tinte floß in Strömen. Der Kampf drehte sich um Lederschildkröten und Krokodile. Die Restauration ›Ship und Turtle‹ und noch andre servierten seit einiger Zeit statt der anglo-indischen Chersinen nur noch Lederschildkröten von den Gallopagos, auch zu einem weit billigern Preise; eine Konservenfirma stattete alle Geschäfte Englands mit ganz billigen Turtlesteaks in Dosen aus, die ihren Ursprung ebenfalls auf den Gallopagos hatten.

Eigentlich hätte Carmencita sich doch recht für alle diese Sachen, welche ihren Gatten anbetrafen, interessieren müssen; aber sie hatte keine Zeit dazu, sie mußte sich um sich selbst bekümmern. Ihre Betrübnis fing mit einem Schlüssel an, welcher nicht zu finden war.

Sie hatte einen Solicitor als Vermögensverwalter angenommen, einige feste Anlagen wurden flüssig gemacht, so bekam sie auf einmal 15.000 Pfund Sterling in die Hände; sie schloß die Banknoten einstweilen in das Schubfach ihres Toilettentischchens – die eisernen Geldkästen, die sie in den Schaufenstern gesehen, hielt sie immer für Eisschränke – machte einen Ausgang, als sie wiederkam, wollte sie etwas aus jenem Schubfach nehmen, und da war der Schlüssel nicht zu finden. Sie rief nach Estrella, und da war Estrella nicht zu finden. Das Schubfach wurde erbrochen, und da waren die 15.000 Pfund nicht mehr zu finden.

Die gute ›Tante‹ war wieder einmal über alle Berge gegangen.

Diesmal aber ließ Carmencita sie nicht so einfach laufen. Weit konnte sie ja noch nicht sein, die Polizei wurde alarmiert. Schade nur, daß sie so viel Geld bei sich hatte, nämlich auch solches, welches sie ungehindert wechseln lassen durfte; da konnte ihr die Flucht aus England leicht gelingen.

Denn Estrella war keine gewöhnliche Diebin, welche nur aus Not stiehlt. Sie hatte ja auch noch ihre erste Beute, damals von den 100.000 Piastern stammend, und Carmencita wußte, daß die Alte ihr Vermögen immer auf der Brust trug. Carmencita hatte, als dies neue Geschäft so gut ging, gar nichts wieder davon erwähnt, ihr nichts abgefordert. Estrella bestritt die Reisekosten, die Toilette, das Hotel, und was man sonst noch brauchte, und Carmencita war damit zufrieden gewesen. Sonst war die Alte furchtbar geizig, und Carmencita glaubte auch nicht, daß ihr in Mexiko etwas von bösen Menschen gestohlen worden war. Dies hatte jene nur gesagt, um, wenn Carmencita doch auf einer Teilung des Raubes bestand, dieses fehlende Geld auf ihre Seite zu bringen.

Was mochte sie denn viel ausgegeben haben? Von den 100.000 Piastern, das sind 20.000 Pfund, gingen höchstens eintausend Pfund ab, nun kamen noch 15.000 Pfund dazu – so wird ein strebsamer Mensch nach und nach zum Millionär!

Die Aufregung, der Zorn, der Schmerz über dieses undankbare Weib, welches sich nicht einmal von der Polizei auffinden lassen wollte – Carmencita genas eines Knaben.

Rechtsanwalt Perkins wollte eben seinen Liebeswerbebrief aufsetzen, als er von diesem Ereignis erfuhr und weiter vernahm, der Kleine sähe braun wie Schokolade aus. Darüber vergaß er das Freien; er schrieb vielmehr an Imma, jetzt sei wieder Gelegenheit, gegen Carmencita einen Prozeß anzustrengen und an Paul zu schreiben, ob das mit der Couleur seines Sohnes seine Richtigkeit haben könne; wie er darüber denke. Doch auch diese beiden Briefe gingen nicht ab, denn noch zur rechten Zeit wurde Perkins von einem Sachverständigen darüber belehrt, daß die Quintonen im Gegensatz zu den weißen Quadronen meistenteils so braun ausfielen.

Immer größere Neuigkeiten beschäftigten des beobachtenden Rechtsanwalts Geist. Vieles, vieles war ihm doch entgangen.

Das Kind war evangelisch getauft worden.

Jetzt kam es auch heraus, daß in Carmencitas Hause schon seit längrer Zeit eine Dame verkehrte, welche immer am wütendsten ›no popery‹ schrie.

Carmencita trat zur anglikanischen Hochkirche über, und die ist evangelisch!

Und schließlich erfuhr Perkins auch, was dies alles für einen Zweck hatte; die Behörde der Eheangelegenheiten, das Ehescheidungsgericht, war bereits mit allem vertraut; es wurde schon längst nach Südamerika hinüberkorrespondiert, und eines Tages, freilich erst wieder nach Monaten, bekam Perkins auch einen Brief von Flederwisch zu sehen, dessen Inhalt war:

»Ja, die Narbe in dem Gesichte meiner Frau rührt von einem Peitschenhiebe von mir her. Ja, ich bin mit einer Ehescheidung einverstanden, doch nur dann, wenn ich meinem Kinde gegenüber keinerlei Verpflichtung mehr habe, und wenn dieses meine eventuell geschiedene Frau, aber nicht ihr zukünftiger Mann übernimmt.«

Also so weit war es schon gediehen! Jedenfalls ging Carmencita bereits mit Heiratsgedanken um, und obgleich das englische Gericht auch katholische Ehen scheidet, weil es überhaupt keinen Zwang durch Religion anerkennt, so war sie doch zum Evangelismus übergetreten, weil es da bedeutend schneller ging – und dadurch verriet sie wieder ihr farbiges Blut. Die Quadrone teilt mit der echten Spanierin nur den Aberglauben, nicht deren charakterfeste Gläubigkeit.

Wie herzlos Flederwisch doch war! Wenn er nicht ›mein‹ Kind geschrieben hätte, so ließe sich das erklären. Erkannte er es aber nicht als ›sein‹ Kind an, so hätte er dies doch sicher wenigstens angedeutet, sich mindestens anders ausgedrückt. Und merkwürdig wiederum war es doch, daß er das Kind nicht dem eventuellen Stiefvater, sondern nur der Mutter überlassen wollte.

Ja, Rechtsanwalt Perkins war wirklich sehr scharfsinnig, aber das merkte er nicht, was für eine Falle von unbekannter Seite hier für Carmencita gebaut wurde.

Auf wen hatte denn nun die geschiedene, reiche Frau ihr Auge geworfen?

Kein Geringerer sollte den Kapitän Flederwisch verdrängen, als ein echter englischer Herzog, welcher ihr alle glänzenden Salons öffnen, welcher sie auch bei Hofe einführen würde.

Das klingt sehr großartig. Doch in England sind Lords und selbst Herzöge oft noch billiger als für vier Millionen zu haben.

Gewöhnlich stellt man sich unter einem englischen Lord einen mit Goldstücken um sich werfenden Mann vor, dessen Diener John heißt. Ach, durch die Straßen der Riesenstadt irren so viele Lords und Baronets, denen sich keine Tür mehr öffnet, welche nicht wissen, wo sie des Mittags essen sollen, wo sie des Nachts ihr Haupt hinlegen werden. Dabei haben die Aermsten auch noch Pflichten gegen ihren Namen, wollen sie nicht Rechte für später verscherzen. Denn Arbeit schändet bekanntlich nach Ansicht jener vornehmen Kreise.

Im Herzen Londons, zwischen der Fleetstreet und der Themse, steht ein großes, altertümliches Gebäude, Tempel genannt, weil es ehemals ein Kloster der Tempelritter war. Es enthält zahllose kleine Stübchen, Zellen, und – man möchte es fast behaupten, man sieht die Aehnlichkeit heraus – der romantische Geist der alten Zeit mit ihren Rittern und fahrenden Sängern wohnt noch heute in diesen Zellen.

Jetzt nämlich ist der Tempel das Massenquartier der hungernden Poeten, der unbekannten Künstler, der verkommenen Genies und der gesunkenen Größen. Hier deklamieren und rasen sie, dichten die schöne Erde an und schleudern Flüche gegen die schnöde Welt, himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt – je nachdem die Kasse beschaffen ist und der Himmel Manna in die dürre Wüste regnen läßt. Wenn sich die Geister nicht mit kühnen Plänen beschäftigen, hocken sie wie die Spinnen in den Ecken der um den Tempel liegenden Restaurationen und lauern auf ein Opfer, das sich anpumpen läßt. Uebrigens ist es ein lustiges Leben im Tempel; ein sorgloses, gutmütiges Völkchen haust dort, sie teilen das letzte Stückchen Brot und die letzte Hose miteinander, und die Zigarren schneiden sie halb durch.

Zu den gesunkenen Größen gehören jene englischen Ritter ohne Furcht und Geld, welche jedoch eine ziemlich sichere Aussicht haben, ihr elendes Los mit einem Schlage in ein glänzendes zu verwandeln. Denn gegen Künstlerlocken allein wird selten ein Geldsack eingetauscht, ein klingender Name und Titel aber findet immer wieder einen Käufer. So lange lassen sich die edlen Herren von denen durchfüttern, welche aus Feder, Bleistift, Pinsel und Kehle doch wenigstens immer etwas herauszuschlagen wissen. Es sei auch erwähnt, daß aus dem Tempel schon mancher Stern der Literatur, Kunst und Wissenschaft hervorgegangen ist, und der von den Göttern Gesegnete erinnert sich dann immer gern seiner armen Brüder und Schwestern und bereitet ihnen manchen Festtag, während der Enkel des Tempelritters jene dann gewöhnlich nicht mehr kennt.

Wenn nun die Zeit für den erbelosen Lord gekommen ist – das soll heißen: wenn er einmal genügend Geld in der Tasche hat – so holt er das Schild seiner Ahnen hervor, putzt es blank und reitet auf die Brautschau. Die Welt ist groß, die Wahl gering. Deutschland ist ihnen zu solide, denn gerade in dieser Sache sind die Deutschen recht klug; in England sind diese Heiratskandidaten zu bekannt; in Frankreich haben sie zu viel Konkurrenten, da gibt's genug einheimische fahrende Ritter, Rußland ist auch nicht gut; die andern europäischen Länder kommen gar nicht in Betracht, da will der Papa womöglich noch den Schwiegersohn anpumpen. Aber Amerika! Das ist das Land, wo ihr Weizen blüht! Amerika, wo man nichts von Orden und Titel wissen will, und wo sich doch jeder Hausknecht, der eine Woche bei der Miliz gestanden, Kapitän nennt, sich selbst, wenn ihm ein Vollbart wächst, zum Kolonel, zum Obersten befördert, ohne an der Majorsecke zu scheitern, und, wenn er ein graues Haar entdeckt, zum General avanciert; jenes Amerika, wo die Eltern und das Goldtöchterchen beim Anblick eines blanken Wappenschildes ganz blind werden.

An der Zimmer- oder Zellentür des Herzogs aber hatte es eines Tages geklopft, und zwar in einer Weise, daß der Edle in ganz unaristokratischer Hast aufsprang und öffnete.

»Alfred! – Hoheit!« stieß er hervor. »Welche Ehre!«

Der junge, blonde Mann, der in das dürftig ausgestattete Zimmer trat, hatte allerdings etwas an sich, wodurch die sichtliche Ehrerbietung begründet wurde, die ihm sogar dieser verkommene Herzog bewies, denn derselbe benahm sich ganz wie ein Vasall, dessen Haus durch den Besuch seines Fürsten geehrt wird.

Die Herren hatten Platz genommen, und obwohl der Herzog seinem Gaste nichts anbieten konnte als einige billige Zigaretten, fühlte er sich doch zurückversetzt in vergangene Zeiten einstiger Herrlichkeit, und er brauchte sich ja seiner gegenwärtigen Armut nicht zu schämen, denn der blonde, junge Mann da mit dem Antinousgesicht, der war auch nichts mehr, dem hatte ein Mächtigerer Krone und Land entrissen – nein, er hatte auf beides verzichtet, ehe es so weit kam.

Zum Teufel, aber heruntergekommen sah dieser Prinz Alfred nicht aus. Er mußte doch sein Schäfchen ins Trockne gebracht haben, oder sollte Prinzessin Marguérite, die ja toll in ihn verschossen war, ihn sich noch nachträglich geangelt haben? Ja, diese Weiber! Wer Glück bei ihnen hatte, dem konnte es wahrhaftig nicht schlecht gehn.

Diese Gedanken durchkreuzten das Hirn des edlen Herzogs natürlich schneller, als sie hier wiedergegeben werden konnten, und als er nun die Unterhaltung eröffnen wollte, da kam ihm sein Gast zuvor, indem er sagte:

»Herzog, Sie müssen heiraten!«

Nanu, konnte der denn Gedanken lesen? Der also Apostrophierte machte ein unsagbar dummes Gesicht, öffnete den Mund, schloß ihn aber sofort respektvoll wieder, hüstelte und fragte ehrerbietig:

»Darf ich um nähere Erklärungen dieses Ausspruches ergebenst bitten, Hoheit?«

Kapitän Flederwisch hatte damals gelacht, als ihm einer der friesischen Schiffer sagte, sein Retter aus Seenot sei ein Prinz gewesen. Er hatte ihn spöttisch Prinz Niemand von Nirgendwo getauft – und jetzt zeigte sich, daß es ein wirklicher Prinz, sogar eine Hoheit war, denn ein Herzog, wenn er auch kein Geld in der Tasche hat, tituliert niemanden Hoheit, der es nicht ist.

»Ja, verstehen Sie denn nicht mehr, was Heiraten heißt?« lachte Alfred. »Sie sollen sich beweiben!«

»Hoheit belieben zu scherzen!«

»Bst, sagen Sie das nicht! Wenn ich vom Heiraten rede, ist mir eklig ernst zumute!«

»Wie meinten demnach Hoheit Ihre Worte?«

»Aber, Mensch, Herzog, Sie sollen eben heiraten, reich natürlich, damit Sie endlich wieder in die Ihrem Range gebührenden Verhältnisse kommen.«

Der Hörer wurde sofort Feuer und Flamme.

»Wer ist es denn?« fragte er, eigentlich etwas unvermittelt.

Der andre lachte wieder.

»Sehen Sie, wie gut Sie mich verstanden haben? Wer sie ist? Natürlich eine liebebedürftige Witwe.«

»Alt?«

»Nahe der Sechzig!«

»Ei verflucht!« sagte der Herzog zu sich selbst. Laut fragte er: »Wieviel hat sie?«

Und Alfred lachte zum dritten Male, dabei aber traf ein verächtlicher Blick den geldgierigen Aristokraten.

»Wollen Sie nicht erst erfahren, wer sie ist, wer ihr erster Gatte war?«

»Ah, natürlich! Bitte gehorsamst –«

»Na, ich weiß schon,« unterbrach ihn die Hoheit. »Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Also sechzig ist sie nicht, sie ist noch einige Jahre jünger als Sie, dabei bildschön, temperamentvoll, und Geld hat sie auch. Wieviel, kann ich Ihnen nicht genau sagen, aber ich denke, bei einem nach Millionen zählenden Vermögen kommt es auf ein paar Tausend nicht an!«

»Millionen!« wiederholte der Herzog zweifelnd und doch beseligt. »Und Hoheit meinen, daß ich –«

»Daß Sie den Goldfisch angeln sollen, ehe Ihnen ein andrer zuvorkommt.«

Der Herzog strahlte, dann aber schien ihm ein Bedenken aufzusteigen. Er druckste und druckste und brachte doch nichts heraus, und sein Besucher kam ihm nicht zu Hilfe.

»Das wird aber Geld kosten!«

Da war es heraus, und gleichzeitig indirekt das Geständnis, daß der vornehme Aristokrat keins hatte.

»Selbstverständlich,« entgegnete Alfred. »Ich habe es Ihnen schon mitgebracht.«

Der Herzog machte große Augen. Sollte er etwa eine ausrangierte Geliebte der Hoheit heiraten? Im Notfalle hätte er auch das getan.

»Ich habe kein Interesse an der Sache,« sagte da der andre wieder, als hätte er diese Bedenken erraten. »Die Dame kennt mich gar nicht. Ich las nur, daß sie in London eingetroffen sei, dachte aber sofort an Sie – aus alter Freundschaft – nun, was meinen Sie?«

»Daß ich Ew. Hoheit untertänigsten Dank für das unverdiente, gnädige Wohlwollen schulde,« versicherte der Herzog.

»Na, dann los!« entgegnete der Prinz, und dann gab er dem andern genaue Anweisungen, und als er sich erhob und sich verabschiedete, lag auf dem Tische in der ärmlichen Garconwohnung eine Anweisung über hundert Pfund.

»Der hat's aber eilig,« brummte der Herzog. »Ein Haar wird freilich trotzdem in der Suppe sein. Zum Henker! Ob ich Glück haben werde? Na, das kann ich ja probieren, indem ich zuvor ein Spielchen riskiere – wozu hat denn der Mensch Geld!«

Richtig! Nach dem Spielergebnis brauchte der Herzog sich nicht vor einem Korbe zu fürchten. Er behielt gerade genug übrig, um sich einen Gehrockanzug, einen Zylinder und drei Papierkragen kaufen zu können. Er machte sich zurecht, nahm sich sogar ein Cab und fuhr zu der Millionärin aus Südamerika, wurde freundlich aufgenommen und konnte den ersten Pump bei einem Wucherer riskieren – seine künftige Frau hatte es ja.

Nun, die Sache ging weiter, das Geschäft wurde perfekt. Zuerst sorgten die Tempelbrüder kräftig dafür, daß ihr Herzog auf die Dauer anständig auftreten konnte, und dann, als er eines Tages einen gewissen Herrn besucht hatte, da war er mit einem Male ein wirklicher Herzog, und wie er beim Einsteigen näselte: »- äh, he da! Hotel Prince of Wales!« – da lag etwas darin, daß der Droschkengaul plötzlich den Kopf zurückwarf, den Schwanz emporreckte, wie das Wetter davonjagte und diesen ganzen Tag nur noch Hafer fressen wollte.

Der kleine Schokoladenpaul fand erst den richtigen Geschmack an der Ammenmilch, als die Hochzeit bei Anwesenheit von diamantenbesäten Toiletten und blitzenden Uniformen, ausgespien von Equipagen mit Adelswappen, mit Pomp gefeiert wurde. Denn mit vier Millionen war der Herzog wieder salonfähig; nun konnte er auch noch Offizier werden; der Weg zum Hofe war nicht mehr verschlossen, und alles, alles durfte Carmencita mit ihm teilen, Feldherrnruhm und Hofluft. Ja, das war doch etwas andres, Herzogin zu sein, als nur Frau Kapitän Müller.

Als sie sich auf der Hochzeitsreise nach der Insel Wight befanden, deutete der Herzog auf einen Berg, dessen Gipfel eine große Fabrikanlage krönte, und Carmencita schwoll das Herz vor Stolz, als er feierlich sagte:

»Sieh, Teuerste, dort, wo jetzt die Leimsiederei steht, dort erhoben sich einst die Ruinen der Burg meiner Ahnen.«

Die Leimsiederei freilich konnte sie ihm nicht kaufen, dazu hätte Lady Muggridges Vermögen nicht gelangt, aber ein neues Schloß sollte er doch haben. Nobody hatte dem Kapitän Flederwisch wieder einen großen Dienst erwiesen. Jetzt war der Leichtsinnige durch nichts mehr an seine Frau gebunden.

 

Flederwisch betrat seine Kabine. Er war von oben bis unten mit einer Schicht grauen, feuchten Staubes bedeckt, desgleichen seine Stiefel mit Erde.

»Hallo, Ihr seht nett aus, Kapitän,« sagte Manuel, welcher wahrscheinlich vor dem Schreibtisch Wache stand, denn außer einem Stapel gewöhnlicher Briefe lagen zwei eingeschriebene darauf, deren Inhalt nach der Kuvertierung jedenfalls in Geld oder Geldeswert bestand.

»Wir waren nochmals im Krater. Es ist nichts! Der Vulkan mag schon oft gegrollt haben; es war nur niemand da, der es hören konnte. Na, und wenn er einmal losbrechen sollte – ich kann ihn nicht zustopfen. Zieh mir die Stiefel aus, Manuel. Ein Bad habe ich schon bestellt.«

Müde ließ er sich in den Stuhl neben dem Tische fallen. Während der Mulatte an dem einen der hohen, nassen Stiefel zog, schlitzte Flederwisch den ersten, den dickern Brief auf, las ein Schreiben und entnahm dem Kuvert ein Päckchen Banknoten, sie durchzählend.

»Das war wieder ein Geschäft, das hat wieder etwas eingebracht. Nur noch ein paar Jahre so weiter, und ich kann ganz Südamerika kaufen.«

»Erst solltet Ihr Euch aber einmal die Stiefel besohlen lassen,« grinste der Mulatte, »die Hacken sind schon ganz schief.«

»Besohlen lassen, sehr gut,« lächelte Flederwisch, »vielleicht langt's auch noch zu einem andern Paar. Was sind das für Zigarren hier?«

»Eine Probe von unsrer ersten Tabaksernte.«

Flederwisch brannte eine der Zigarren an, zog, brachte sie unter die Nase.

»Gut sind sie nicht.«

»Gut für Moskitos; sie stinken.«

»Es ist ein jämmerliches Kraut. Da wollen wir lieber die Tabakskultur fahren lassen, lange Zeit und Geduld zum Veredeln habe ich nicht, ich kann nicht jahrelang warten. – Ach!« Mit diesem Seufzer lehnte er sich zurück und betrachtete die große Photographie an der Wand.

Es war das Bild Alfreds. Es zeigte, wie wenig Flederwisch Gewissensbisse kannte, wie wenig er sich vor dem Bilde des Gemordeten fürchtete.

Ein leises Kopfschütteln, und er griff nach dem zweiten Briefe.

»Sage mal, Manuel, bekommst du den Stiefel heute noch aus? Halt, reiß mich nicht vom Stuhl!«

Er las den Begleitbrief und wog einen Scheck in der Hand.

»Weißt du, Manuel, wieviel Pfund dieses dünne Papierchen wiegt? Jetzt nehme ich es schon mit allen Vanderbilts zusammen auf.«

Der Bootsmann prallte gegen die Tür, den abgezogenen Stiefel in der Hand.

»Herrjöh!« rief er. »Euer Strumpf ist ja ein einziges Loch!«

Mit komischer Wehmut betrachtete Flederwisch die aus dem Strumpfe hervorsehenden Zehen.

»Ja, es sind wohl schon acht Tage her, daß ich die Stiefel nicht mehr von den Füßen bekommen habe, und wenn das so weiter geht, dann laufe ich zuletzt auf den ... nanu!« Er riß den Filz vom Kopfe und kratzte sich in den Haaren. »Wahrhaftig, da habe ich vorhin zwischen den Kulis etwas aufgelesen.«

»Da am Rock kriecht auch eine.«

»Laß sie kriechen! Wirf dann alles ins Feuer, wenn ich im Bade bin!«

Plötzlich aber brach Flederwisch in ein schallendes Gelächter aus, er lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen.

»Kapitän Flederwisch – der südamerikanische Vanderbilt – raucht eine Dreierzigarre – mit schiefgelaufenen Stiefelabsätzen – und zerrissenen Strümpfen – und verlaust – hahahaha, es ist doch zum Totschießen! Nun denke dir,« nur mit Mühe unterdrückte er das Lachen, »denke dir so einen Citykaufmann, der seine Hunderttausend Einkommen hat, wenn er durch die Straßen stolziert, mit blankgewichstem Zylinder, am Bauche die dicke Uhrkette, die Finger voll Ringe – oder wenn er im Wagen sitzt und verächtlich auf die ›Schnorrer‹ herabblickt – Herr, was bin ich, und was kann aus mir noch werden! – und ich hier – mit Läusen und nackten Zehen in den zerrissenen Stiefeln, hahahaha!«

»Na, Kapitän, ich dächte, es ist noch gar nicht so lange her, da wart Ihr auch noch höllisch eitel, da konnte Euch nichts fein genug sein, sogar an Bord gingt Ihr immer wie zum Tanz.«

Flederwisch wurde vollkommen ernst. Er blickte auf seine schwarzbraunen Hände; er trug nur noch einen Ring, den goldnen mit den seltsamen Gravierungen, und ein trübes Lächeln spielte um seinen Mund, was dem Gesicht erst recht nichts von dem Ernste nahm.

»Ja, Manuel, du hast recht. Ich sehe mich noch ganz deutlich in dem Kontor, wie ich die Frithjof kaufte – mit Lackschuhen, den vielen Diamantringen, sogar ein Brillantarmband am Handgelenk. Der Kapitän Flederwisch und ein Armband, hahaha! Es ist noch gar nicht so lange her, wirklich, ich war ein eitler Geck – ja, bin ich denn nicht mehr derselbe? Nein, ich bin's nicht. Das ist seltsam! Es war eine schöne Zeit! Was hat denn nur den schnellen Unterschied ausgemacht? Ach, ich weiß, ich habe mit der Zeit nicht gleichen Schritt gehalten. – Ich bin in den zwei Jahren recht alt geworden!«

Und nun suchte sein trauriger Blick das Bild der Schwester. Manuel hatte auch den andern Stiefel abbekommen; er stand an der Tür beide in der Hand, blickte nach dem Kapitän und verzog den Mund.

Flederwisch begann die Briefe durchzusehen, ohne sie zu öffnen.

»Es ist wieder keiner von ihr dabei,« seufzte er leise.

»Ich habe es Euch ja schon gesagt, als Ihr fortgingt, daß keiner dabei ist, und da kümmert Ihr Euch gar nicht um die andre Post. Kapitän,« fuhr der Mulatte schneller fort, »vorige Woche träumte ich, ich hinge am Galgen.«

Der schnelle Wechsel im Gespräch und der Ton, mit welchem dies der Mulatte hervorbrachte, erzwangen von Flederwisch doch ein heitres Lächeln.

»Schade, daß du es nur geträumt hast!«

»Und daneben war noch ein andrer Galgen, und an dem hingt – Ihr.«

Flederwisch fuhr gegen ihn herum.

»Glaubst du, mich mit solchen Witzen erheitern zu können?« herrschte er ihn an. »Alberner Hanswurst!«

Sinnend betrachtete Flederwisch einen der ungeöffneten Briefe.

»Manuel,« fragte er nach einer Pause, »wozu würdest du dich in deinem nächsten Erdenleben machen?«

»Zum Sultan der Türkei,« kam es prompt und grinsend zurück, »oder zum Zaren von Rußland – oder zu sonst was, wo ich jedem den Kopf abhacken kann, und niemand hat mir's zu verbieten – oder halt – Boardingmaster, das ist auch nicht schlecht – so ein gemütlicher, dicker Herbergsvater, der den Matrosen das Geld abnimmt und die Mädchen verhaut, wenn sie zu laut werden – ach ja, das möchte ich schon werden!«

»Manuel, Manuel,« sagte Flederwisch kopfschüttelnd, »du bist mit deiner Entwicklung vom Tiere zum Menschen noch sehr weit zurück. – Und ich? Ich möchte wieder der Kapitän Flederwisch werden, der ich früher war.«

»Ja, dann! Dann möchte ich wieder Euer Bootsmann sein, Kapitän!«

Dieser wendete den Kopf und sah jenen mit einem langen Blicke an.

»Der Manuel, der Mulatte, den ich prügele?«

»Ach, Kapitän, das meint Ihr ja niemals so.«

Wieder schüttelte Flederwisch verwundert den Kopf.

»Was ich in meinem vorigen Leben gewesen bin, weiß ich nicht, aber das weiß ich: du warst ein Hund, kein feiger Mops, auch kein treuloser Windhund, so etwa ein Neufundländer. Nein, richtig, du bist aus der Kreuzung von einem Fleischerhund mit einem Pudel hervorgegangen.«

Hastig öffnete Flederwisch jetzt ein Kuvert.

»Dieser Brief ist von meinem Londoner Berichterstatter; laß sehen, was er zu melden hat, wie weit die Saat gereift ist.«

Er las im Stehn den Brief, und wieder sah es der Mulatte in seinen Augen auffunkeln, diesmal aber in ganz andrer Weise. Seine Faust fiel auf den Tisch.

»Sie ist reif zum Schnitt!« kam es zischend über seine Lippen. »Jetzt sind sie so weit, wie ich sie haben wollte. Ah, Manuel! Ich sagte einst, daß ich keine Rache kenne – aber auch ich bin ein Mensch, auch ich will sie einmal in ihrer ganzen Süßigkeit kosten – und mit Kleinigkeiten habe ich mich nie befaßt; ein Meisterwerk will ich liefern. Was geht mich dieser Lump von Herzog an? Einer ist so gemein wie der andre. Und ich will sie aus ihren Himmeln stürzen, daß sie auf der Erde zerschellen!«

Es wäre nicht Flederwisch gewesen, wenn er nicht an alles gedacht hätte. Nach einer Pause setzte er mit weichem Tone hinzu:

»Was kann das arme Kind dafür? Des kleinen Indianerbalgs will ich mich annehmen!«

Die Saat, die Nobody gesät hatte, begann aufzugehn. Nicht lange mehr, so konnte er ernten.

 

Ehe Perkins den nun fertig gewordenen Heiratsantrag abschickte, überlegte er sich, daß es doch besser wäre, sich erst zu erkundigen, ob der Brief auch wirklich ankäme, und er tat das, was er hätte gleich tun können; er ging nach Islington und setzte den Messingklopfer an dem Pensionshause in Bewegung. Die Wirtin, eine ältliche Frau, empfing ihn.

»Sie sind der Vermögensverwalter von Miß Müller? Ach, das ist gut, daß einmal jemand kommt, mit dem ich über sie sprechen kann.«

Sie hatte die stille, wenig Umstände machende und immer pünktlich zahlende Pensionärin, welche nun schon bald neun Monate bei ihr wohnte, liebgewonnen, und sie schüttete dem freundlich dreinblickenden Perkins ihr Herz aus.

Imma war menschenscheu, wenn nicht tiefsinnig, noch jetzt so wie vom ersten Tage an. Krank konnte sie sonst wohl nicht sein, sie aß und trank ja, aber sie aß allein, sie mochte keinen Menschen sehen, fuhr nur im geschlossenen Wagen aus. Und dann deklamierte sie auch so viel in ihrem Zimmer. Zuerst hatte die Wirtin geglaubt, sie lese die Zeitungen laut, welche sie hielt, aber sie deklamierte, nicht einmal Englisch, es war eine ganz fremde Sprache. Dies war alles, was die Wirtin zu erzählen hatte von der lieben, guten, armen Miß.

Sie deklamiert? dachte Perkins erschrocken. Sie wollte sich allein durchhelfen – sie wird doch nicht etwa auf die Bühne gehn wollen?

Doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Die schüchterne Imma Schauspielerin – unmögliche Vorstellung!

Und sie las Zeitungen, das war ein gutes Zeichen, dann nimmt der Mensch auch noch Anteil an der Welt. Er mußte sie sehen.

Die Frau ging und kam zurück.

»Sie läßt um Entschuldigung bitten, es sei ihr nicht möglich, Sie sollten es doch ja nicht übelnehmen – sie würde in den nächsten Tagen selbst zu Ihnen kommen.«

Das hatte sie ihm schon einmal gesagt. Und doch, jetzt zweifelte der Rechtsanwalt nicht mehr daran, daß sie noch zu ihm kommen würde. Wer wußte denn, was in dem empfindsamen Mädchen vor sich ging?

Doch jetzt war nichts zu machen. Wenn sich der Mensch in solch einem Zustande befindet, daß er keine gesellschaftlichen Rücksichten mehr kennt, daß er spricht, was er denkt, so muß man ihn allein lassen, und für den, welcher mit ruhigem Gewissen warten kann, ist es oftmals gut.

Perkins wußte nicht, daß er durch sein Verhalten Immas Abneigung verdient hätte, und wenn er alles erwog, was sie einst zu ihm gesagt, so glaubte er sichere Aussicht zu haben, doch noch zu seinem Ziele zu kommen – und ein feuriger Jüngling war er ja auch nicht mehr.

Als er wieder in seinem Bureau eintraf, erwartete ihn dort ein junger Advokat, welchem er manchmal einen Klienten zuwies.

»Ich komme eben vom Gericht, Herr Kollege, und habe Ihnen eine große Neuigkeit mitzuteilen, welche ganz besonders Sie interessieren wird. Es ist Ihnen doch darum zu tun, der ehemaligen Frau des Kapitäns Flederwisch die Erbschaft streitig zu machen. Sie sollen ihr alles wieder abnehmen. Nun raten Sie, wie Sie dies machen.«

»Er hat die Erbschaft noch nachträglich für sich reklamiert!« rief Perkins überrascht.

»Nein, das hat er nicht getan, und das würde doch auch nicht den Erfolg haben, den ich Ihnen in Aussicht stelle. Die neue Herzogin wird trotzdem das Erbteil wieder herausrücken müssen bis auf den letzten Penny.«

Perkins konnte es nicht ergründen, hielt dies auch für ganz unmöglich. Was Flederwisch vielleicht noch hätte tun können, wäre gewesen, daß er seiner ehemaligen Frau das freie Verfügungsrecht über Lady Muggridges Vermögen bestritt und die Hälfte der Einkünfte beanspruchte, aber wahrscheinlich, wenn Carmencita einen guten Rechtsanwalt hatte, wäre ihm nicht einmal dies geglückt. Er hatte sich durch seine Teilnahmlosigkeit in Sachen der Erbschaft, als er bei der Ehescheidung gar nichts davon erwähnte, zu viel Rechte vergeben. Schon das Kind, welches er stillschweigend als das seine anerkannt, war der mächtigste Hebel gegen ihn.

Nein, Perkins sah keine Möglichkeit, gegen Carmencita in irgend einer Weise vorzugehn. Sein Kollege erzählte ihm, was er auf dem Gericht gehört und was am andern Tage in allen Blättern stehn sollte.

Das Haupt einer in London lebenden Familie, welche, mit dem ermordeten Davis verwandt, durch dessen Tod zu ziemlichem Vermögen gekommen war, erhielt unvermutet aus Nordamerika einen Brief, geschrieben als letzte Beichte auf dem Sterbebett. Ob sie sich noch seiner entsinnen könnten, des Edward Davis? Er sei der Mörder seines Onkels, habe die Tat in der Hoffnung begangen, in der Wohnung des reichen Geizhalses, der seine nächsten Verwandten darben ließ, Schätze zu finden. Einige Wertsachen und Kleinigkeiten ausgenommen, sei es nichts gewesen, er habe sich noch einige Papiere angeeignet, die ihm von Wert dünkten, und mit den andern das Haus in Brand stecken wollen, was ihm nicht gelungen sei. Dann war er nach Amerika geflohen. Jene Papiere hatten ihm nichts genützt – natürlich nicht – er habe sie vernichtet, bis auf eins, und jetzt, im größten Elend sich dem Tode nahe fühlend, gestehe er seine Tat, er mache auch der Londoner Polizei davon Mitteilung, und ihnen, die ihm dereinst Gutes erwiesen, schicke er das erwähnte Dokument, vielleicht, daß es ihnen von Nutzen sein könnte.

Der Brief war von Edward Davis unterschrieben, aufgegeben in einer kleinen Stadt im Norden der Vereinigten Staaten; die Kriminalpolizei war wirklich gleichzeitig benachrichtigt worden.

Es sei sogleich erwähnt, daß die Recherchen der letztern nichts zur weitern Aufklärung ergaben. In jener amerikanischen Stadt wußte man nichts von einem neulich verstorbenen Edward Davis, der Schuldbewußte hatte sich natürlich auch anders genannt. Nun war er tot, so konnte der an dem Alten verübte Mord auch nicht mehr gerichtlich gesühnt werden.

Und das Dokument? Es war nichts andres, als Kapitän Flederwischs an Davis verpfändete Erbschaft.

Die Verwandten, welche sich damals nach seinem Tode kennen gelernt hatten, traten zur Beratung zusammen; und als sie vollzählig waren, stellte sich ihnen unaufgefordert Dr. Perkins vor, der rühmlichst bekannte Rechtsanwalt und Verteidiger.

Ein nur einigermaßen namhafter Solicitor setzt seine weiße Lockenperücke, das Zeichen seiner Würde vor Gericht, nicht unter zwanzig Pfund Sterling auf, und zwar fordert er dieses fixe Honorar für jeden Tag, solange der Prozeß währt, und dann kommen noch die andern Unkosten hinzu.

Perkins aber sagte:

»Ich tue es umsonst, ich mache die Sache zu meiner eignen, vorausgesetzt, daß Sie mir völlig freie Hand lassen, und,« setzte er leise hinzu, »dem Anschein nach müssen Sie mir fünfzig Pfund zahlen.«

Was er aber sonst noch vorhatte, eine echt englische Advokatengaunerei, das deutete er auch nicht flüsternd seinen Klienten an.

Die junge Herzogin, welche eben den Plan für das Ahnenschloß des neuen Geschlechts prüfte, soll bis in die Lippen erblaßt sein, als sie vernahm, was gegen sie eingeleitet wurde. Auch ihr stellte sich ein Advokat vor, nur ein einziger, aber das war ein Mann, welcher für seine juristischen Verdienste zum Baronet geadelt worden war, ein Hokuspokusmacher, welcher Schwarz in Weiß und einen Teufel in einen Engel verwandeln konnte.

»Wenn ich es nicht kann, dann vermag es kein andrer; aber ich werde es machen.«

Carmencita engagierte ihn für ein Honorar – das heißt auf deutsch Ehrensold – von achtzig Pfund Sterling, und hinter ihrem Rücken schüttelte Perkins mit dem Gegner, mit dem er zu kämpfen hatte, die Hand zum geheimen Bunde. Im Kriege ist dies Hochverrat und wird mit dem ehrlosen Tode bestraft, im gewöhnlichen Leben nennt man so etwas Schurkerei; die englischen Advokaten nennen es ›Geschäft‹.

Zunächst mußte gerichtlich nach den Gallopagos geschrieben werden. Aus Flederwischs Antwort konnte man förmlich das Achselzucken herauslesen, wie er sagt: ja, ich gebe zu, ich habe damals mit dem Davis Geschäfte gemacht, es stimmt schon, ich verpfändete ihm meine zu erwartende Erbschaft. Was kümmert's mich jetzt? Macht, was ihr wollt, ich komme nicht hin.

Er schrieb zwar ganz anders, aber, wie gesagt, das konnte man zwischen den Zeilen lesen.

Der Prozeß zwischen den Erben und der Herzogin nahm seinen Anfang; ganz England verfolgte ihn mit Spannung. Es war ja klar, die Herzogin mußte verlieren, aber interessant war es doch, zu sehen, wie sich zwei der besten Advokaten vor den Schranken des Gerichtes in Spitzfindigkeiten maßen, wie sie Schach spielten, wie sie sich stellten und einander auswichen. Carmencitas Verteidiger behauptete: Die Davisschen Erben haben nur die Summe zu beanspruchen, gegen welche der Kapitän die Erbschaft resp. das Testament verpfändet hat, und die kann nicht so groß gewesen sein, wie Lady Muggridges Hinterlassenschaft war. Er hat also nur seine Schulden zu bezahlen; und Perkins sagte einfach: Ich bestehe auf meinem Schein.

Nur dadurch wurde der Prozeß in die Länge gezogen, es war für Carmencita ein langsamer Martertod. Auf ihres Verteidigers Rat hatte sie auch das Vermögen auf ihren Mann schreiben lassen und sah doch deutlich, daß dies gar nichts nützte.

Ein junger Anfänger in der juristischen Laufbahn kam zu ihr.

»Seien Sie doch nicht so töricht. Ihre Sache ist hoffnungslos. Arrangieren Sie sich schnell noch mit Ihren Gegnern, lenken Sie wenigstens das Geld, welches jene ihren Advokaten zahlen, in Ihre eigne Tasche, vielleicht wirft es noch mehr ab. Das ist Ihre letzte Rettung aus dem Schiffbruch, nehmen Sie mich dazu.«

Die verzweifelte Carmencita entließ den adligen Advokaten.

»Gut, ich gehe. Nun aber verlieren Sie! Passen Sie auf!«

Es konnte sein, daß der junge Advokat mit zum geheimen Bunde gehörte, denn der berühmte Rechtsanwalt brauchte doch einen Grund, um sich mit Anstand zurückziehen zu können, ehe er einen Prozeß verlor.

Jener wollte der Sache eine ganz andre Wendung geben. Aller Wahrscheinlichkeit sei doch Davis von einem seiner Schuldner ermordet worden, und wenn er – der Advokat – auch keinen Verdacht aufwerfen wolle, so müsse doch der Kapitän jetzt vor das englische Gericht gefordert werden, und außerdem sähe das gerade aus, als ob hier ein Racheakt vorliege, als ob ein Mann seine geschiedene Frau ruinieren wolle.

Aber es half alles nichts, nicht einmal eine Verzögerung trat ein, die Richter wollten nichts davon wissen, die Gegner nichts von einem Arrangement; sie ließen sich durch keine Tränen rühren, der moderne Shylock bestand auf seinem Schein, und er jagte sein Wild aus einer Ecke in die andre, bis es sterbend am Boden lag.

Vollständig bankrott war Carmencita noch nicht. Da waren zum Beispiel noch die reichen Hochzeitsgeschenke, die nichts mit Lady Muggridges Hinterlassenschaft zu tun hatten.

Nun aber kamen die Gerichtskosten, und vor allen Dingen auch der erste Advokat.

»Sehen Sie, ich habe es Ihnen vorausgesagt; anbei die Rechnung!«

Diese betrug weit über tausend Pfund. Denn wenn der englische Advokat zu einer Erholungsfahrt im Hyde-Park eine Droschke nimmt, so schreibt er 5 Shilling an, und denkt er bei der Spazierfahrt über den Fall nach, so berechnet er dies etwa mit 8 Shilling und 3 Pence, er mißt nämlich seine Gedanken mit der Elle.

Jetzt dachte Carmencita daran, alles schnell zu Gelde zu machen und die Flucht zu ergreifen, aber ehe sie dazu kam, war alles schon versiegelt.

Man nahm dem herzoglichen Ehepaar alles, bis auf das, was man ihm nicht nehmen konnte: die Anzüge, welche sie zur Zeit trugen, ein zweischläfiges Bett, zwei Stühle, einen Tisch und das notwendigste Koch- und Eßgeschirr.

Mit diesen Sachen standen sie auf der Straße. Denn auch ihm hatte man alles genommen, seine Uhr wie sein zweites Paar Stiefel. Sie hatte das Vermögen ja auf seinen Namen schreiben lassen, und dann kam der völlige Zusammenbruch.

Ob nun sie oder er zuerst begonnen, jedenfalls hatte er einmal Kratzwunden im Gesicht, diese zeigte er vor dem Ehescheidungsgericht, und ehe ihn seine adlige Sippschaft nicht mehr kannte, erwies man ihm noch den letzten Dienst, man schoß ihm das Geld für die Gerichtskosten vor, und ehe die Kratzwunden noch völlig geheilt, war die Ehe schon wieder geschieden. Er ging einstweilen in den Tempel zurück und wartete, bis seine Zeit wiederkam, und diesmal freite er ein echtes amerikanisches Goldfischchen, das ihm auch die Leimsiederei hätte kaufen können, und er war glücklich. Zunächst hatte Carmencita an Estrella und deren Beute gedacht. Aber die gute Tante war noch immer nicht zu finden, und selbst zu solch einer polizeilichen Verfolgung braucht man Geld, welches Carmencita nicht besaß. Nun, sie wußte, daß man, wenn man jung und schön ist, sich noch nicht verloren zu geben braucht. Als ein Glück schätzte sie es, daß sich eine wohlhabende Dame erbot, ihr das Kind abzunehmen, und als dies geschehen, kümmerte sie sich nicht mehr um den Kleinen. Dann ging sie unter die Damen der Demimonde, und wäre es nicht ihre Absicht gewesen, so hätte das Schicksal sie gewiß in diese Gesellschaft getrieben.

Doch etwas Sicheres bietet dieses Leben nicht. Ein Herr mit einem Knebelbart machte sie darauf aufmerksam, wie sie ihrer Zukunft eine solidere Grundlage geben könne, und die geschiedene Herzogin tanzte seitdem jeden Abend auf einer Variétébühne im kurzen Röckchen die Tarantella. Insgeheim aber ward sie noch immer durch Nobody überwacht, obwohl es jetzt nicht mehr nötig erschien. Er aber kannte die angebliche Tante der Herzogin zu genau, um bezweifeln zu können, daß diese früher oder später wieder auftauchen würde, und dann galt es, ihr auch das von Flederwisch ergaunerte Geld abzunehmen, außer dem, was sie aus der Erbschaft an sich gebracht hatte.

 

Seit Lady Muggridges Tod war ein Jahr vergangen. Rechtsanwalt Perkins saß in seinem Privatkontor und betrachtete seine Fingernägel, anstatt die angehäufte Arbeit zu beginnen. Er war unzufrieden mit sich selbst. Gestern früh war der Heiratsantrag nun doch abgegangen, und jetzt wartete er auf die Antwort – heute morgen schon! – und eben deswegen war er so unzufrieden mit sich selbst. Was wollte er nur eigentlich? Ja, er hatte Imma geliebt, er hatte den andern einmal gehaßt, es hatte ihn immer gereizt, das schüchterne, ängstliche Täubchen in seinen Käfig zu stecken und es dort gurren zu hören; aber er, der Rechtsanwalt Perkins – wie ein schwärmerischer Jüngling hatte er geschrieben, der sich bei einem Nein totzuschießen droht, abgedroschene Versprechungen wie ›auf den Händen tragen‹ und Liebesschwüre gebraucht – und diesen Brief sogar abgeschickt!

Und nun saß er hier und wartete und konnte vor Ungeduld keinen klaren Gedanken mehr fassen! Da hat ein nüchterner, arbeitsamer Mensch Grund, mit sich unzufrieden zu sein.

Ein Schreiber brachte eine Visitenkarte. Ah, das war gut, die Unterredung mit einem Klienten würde aus ihm wieder den Rechtsanwalt Perkins machen.

»Imma Müller!«

Bei Gott, sie kam selbst! In sein Privatkontor!

Bald hätte Perkins, der ihr entgegenging, die Eintretende nicht wiedererkannt. Sie war viel voller geworden. Das war der erste Eindruck, den er empfand. Aber war denn das nur wirklich Imma? Wie sie ihm gelassen die Hand gab, wie sie ihn dabei ernst ansah, wie sie dann die Handschuhe abstreifte, die Mantille über die Sofalehne legte und sich setzte – das war nicht mehr das schüchterne Mädchen, das war plötzlich ein im Leben gereiftes Weib – und dann war noch etwas andres, Undefinierbares dabei, und Perkins staunte und grübelte noch immer darüber, was dies denn sei, als er ihr schon gegenübersaß, sie sprechen hörte und ihr antwortete, ohne zu wissen, was sie und was er sprach.

»Bitte, Herr Rechtsanwalt, antworten Sie mir: was hat Sie veranlaßt, nicht eher zu ruhen, als bis Sie jener Frau das Letzte genommen hatten?«

So weit war die Unterhaltung schon gediehen. Nur deshalb war sie gekommen, um mit ihm über den Fall Carmencitas zu sprechen? Von seiner Werbung hatte sie noch kein Wort gesagt!

Perkins hätte antworten können: aus Gefälligkeit für Sie, Sie wünschten es doch, und hätte ich es nicht getan, so würde es eben ein andrer Advokat getan haben. Statt dessen sagte er in pathetischem Tone:

»Weil ich ein Anwalt des Rechtes bin, und weil Recht immer Recht bleiben soll.«

Plötzlich stand Imma schnell auf, ging, die Hände auf dem Rücken und den Kopf gesenkt, nach der Tür, drehte sich kurz um, ging zurück und blieb vor dem Manne stehn.

Dieser staunte. Das war wieder ganz Flederwisch gewesen. Und nun sollte man sich das schüchterne Mädchen von früher vorstellen, als ob sie jemals zu so etwas, in einem fremden Hause, einem fremden Herrn gegenüber, fähig gewesen wäre.

Nun hob sie gar noch die Hand empor, und feierlich erklang es aus ihrem Munde:

»Ich aber stellte mich unter das Gesetz, und ich verlange daher vom Gesetze, daß es mich schützt – und mich rächt.«

Perkins konnte nicht wissen, daß es die Worte eines andern waren, nur etwas kürzer und treffender wiederholt. Er hielt es für ein bekanntes Zitat, das er noch nicht gehört. Vor allen Dingen aber wurde der nüchterne Rechtsanwalt fast verlegen unter den ernsten Augen, die so fest auf ihm ruhten. Er war theatralische Szenen gewöhnt, aber hier kam es ihm so fremd, so unnatürlich vor.

»Ja, mein Fräulein, das Gesetz soll den Schuldlosen schützen und den Schuldigen bestrafen, und ich bin der Vertreter des Gesetzes,« sagte er, nur um etwas zu sagen.

»Dann, Herr Rechtsanwalt, gestatten Sie, daß ich Ihnen einen Brief vorlese, welcher noch heute nach den Gallopagos abgehn wird, wenn er Ihren Beifall findet. Ich schicke voraus, daß ich meinem Bruder zwar selten, aber doch hin und wieder geschrieben habe, und immer als seine ihn liebende Schwester.«

Imma setzte sich, nahm aus dem Handtäschchen einen Brief, faltete ihn auseinander und begann mit ruhiger Stimme vorzulesen:

»Mein innigstgeliebter Paul ...«

Die kurze Einleitung war die Brieferöffnung einer zärtlichen Schwester an den fernen Bruder – dann jedenfalls ein Absatz und ...

»Nun, lieber Paul, habe ich dir etwas mitzuteilen, was dich hoffentlich mit Freude erfüllen wird, denn sonst wäre mein Glück nur ein halbes. Lassen wir die Vergangenheit ruhen! Die Zeit heilt ja jede Wunde, die Erinnerung wollen wir heilig halten und sonst der Gegenwart ihr gutes Recht lassen. Ich bin nach langer Seelenkrankheit wieder zu gesundem Leben erwacht. Ein Mann hat um meine Hand angehalten, kein Jüngling mehr, aber ein Mann, dem du dein Liebstes anvertrauen dürftest. Ich habe ihm mein Jawort nach reiflicher Ueberlegung gegeben, und als ich es sagte, da war es schon keine praktische Zukunftserwägung mehr, denn da hatte sich diese bereits in aufrichtige Liebe verwandelt. Es ist Rechtsanwalt Perkins ...«

Man sagt manchmal: er sitzt wie vom Donner gerührt da. Was das eigentlich heißen soll, ist wohl schwer zu erklären; denn der unschuldige Donner rührt doch nicht. Aber Rechtsanwalt Perkins saß so da. Es donnerte ihm sogar in den Ohren, daß er gar nicht mehr hörte, was sonst noch Schmeichelhaftes über ihn gesagt wurde.

Erst dann hörte er wieder, wie sie ihr Glück schilderte, jauchzend, wie nur ein Mädchen in einem Briefe jauchzen kann –; und dann lud sie ihn nach London ein, zur Hochzeit, er müsse kommen – er müsse unbedingt! Sonst sei das Glück nicht vollständig – er würde doch zur Hochzeit seiner kleinen Schwester kommen – er brauche doch auch einmal Ferien – »und bis dahin bleibe ich deine treue, dich zärtlich liebende Schwester Imma.«

Langsam faltete sie den Brief wieder zusammen.

»Soll ich ihn abschicken, Herr Rechtsanwalt? Es ist meine ehrliche Antwort auf Ihren gestrigen Heiratsantrag – Ihnen gegenüber.«

Perkins war noch nicht ganz bei Besinnung. Es kam zu plötzlich. Und was war das denn nur? Bringt man so das Jawort – ein zartes Mädchen – Imma? Und liest man solch einen Brief mit monotoner Stimme und so ernsten Augen vor? Fast begann sich Perkins zu fürchten vor einem unfaßbaren Etwas.

»Sind Sie damit einverstanden, Herr Rechtsanwalt?« erklang es wieder.

»Imma!« Er breitete die Arme aus und ließ sie wieder sinken.

»Wird mein Bruder zu unsrer Hochzeit kommen?«

»Ja – ja – er wird kommen – zu unsrer Hochzeit! Meine liebe Imma!«

Wieder wurde er grenzenlos bestürzt. Sie hatte sich vorgebeugt, bis ihr Gesicht sich dicht vor dem seinen befand, sie legte sogar die Hand auf seine Knie und begann zu flüstern:

»Dann soll er mir ins Auge blicken – so – wie ich Sie ansehe – und ich will ihm etwas sagen – ganz leise will ich ihn fragen: Paul – hast du – oder Manuel – hast du – Alfred – ermordet?«

Diesmal war es ein Blitz, welcher ihn zu treffen schien, daß er sich in den Lehnstuhl zurückfallen ließ und mit entgeisterten Augen in das Antlitz der Sprecherin starrte.

Doch sie war noch nicht fertig, sondern fuhr in demselben Flüstertone fort:

»Und ob er erschrickt – und ob ihn die Farbe verläßt – daraus will ich die Antwort lesen – die Wahrheit – er braucht nichts zu sagen – nur ansehen soll er mich – und ich werde mich nicht irren – und wenn er erbleicht und den Blick nicht verträgt – dann – Anwalt des Rechtes – der Gerechtigkeit – nicht wahr, dann wirst du deiner Frau beistehn?«

»O, mein Gott!« konnte Perkins noch hervorbringen.

Sie sank in dem Sofa zurück, preßte die Hände gegen die Schläfen – plötzlich war sie wiederum eine ganz andre.

»Ach, mein Kopf – mein armer Kopf!« weinte sie mit klagender Stimme, obwohl sie keine Tränen hatte. »Ach, wenn Sie wüßten, was ich durchgemacht habe während dieses Jahres! Diese schlaflosen Nächte – wenn ich mit offnen Augen dalag und in die Finsternis blickte – wie sie kamen, die schrecklichen Gestalten – und auch am Tage verfolgten sie mich – wie sie sprachen und kämpften und miteinander rangen, und wie sie mir erzählten!«

Ihre Hand wurde ergriffen. Perkins hatte sich gesammelt.

»Imma! Imma!! Sie sind krank! Es ist ein ungeheuerlicher, ungerechtfertigter Verdacht, den Sie gegen Ihren Bruder haben.«

Sie entzog ihm die Hand und stand auf.

»Nein, das ist es nicht!«

»Imma, Sie haben eine fixe Idee gefaßt!«

»Nein, das habe ich nicht!« wiederholte sie so energisch wie vorhin. »Fragen Sie nicht,« fuhr sie schneller fort, »ich gebe Ihnen keine weitern Erklärungen. Ich überlasse alles Ihnen. – War Ihr gestriger Heiratsantrag ernstgemeint?«

Jetzt faßte Perkins nur das Nächstliegende klar ins Auge.

»Natürlich war er es! Ich sehe, Sie stellen Bedingungen, unter welchen Sie meine Gattin werden wollen.«

»Ich tue es. An dem Tage, an welchem ich meinem Bruder jene Frage vorlegen werde, sollen Sie unsern Hochzeitstag bestimmen. Einverstanden? Dann rechne ich natürlich darauf, daß Sie mir, als Ihrer Frau, erst recht als juristischer Beistand und als geschickter Advokat, der Wahrheit von Lüge zu unterscheiden weiß, helfend zur Seite stehn, denn ich selbst werde als Klägerin gegen meinen Bruder auftreten.«

»Wie soll die Klage lauten?« fragte Perkins leise.

»Dieser Kapitän hat seinen ersten Steuermann ermordet oder ermorden lassen. Sind Sie mit den Bedingungen einverstanden?«

Noch einmal trat an den Rechtsanwalt die ganze tragische Furchtbarkeit heran, aber die Besinnung verlor er nicht wieder; jetzt hatte er die Augen fest auf das Ziel gerichtet.

»Sie sind von der Schuld Ihres Bruders von vornherein überzeugt. Ich nicht. Wenn er sich nun von dem Verdacht reinigt? Wenn ich seine Unschuld dartue?«

Die weiße Mädchenhand, welche sich auf seine Schulter legte, war trotz ihrer Kleinheit schwer.

»Ich glaube bestimmt zu wissen, daß er es getan hat. Ich glaube es! Wenn Sie aber diesen meinen Glauben widerlegen, daß ich ihn als ungerechtfertigt erkenne, dann – Perkins, dann sollen Sie mich erst recht glücklich gemacht haben.« Und mit noch mehr Feierlichkeit setzte sie hinzu: »Das sei ferne von mir, daß ich meinen Bruder wegen eines Aberglaubens vernichten will. Nur Gerechtigkeit hat der Tote verlangt, und diese soll ihm werden, das bin ich ihm schuldig – dann sei er in der Erinnerung begraben!«

Es war doch etwas wie eine Erleichterung, was den schweratmenden Mann überkam.

»Wenn er aber nicht kommt?«

»Er wird kommen!« lautete die einfache Antwort.

»Wenn er aber die Zeitungen gelesen hat – und er wird es wissen – haben Sie nicht gehört? – er ist mit Davis' Ermordung in Verbindung gebracht worden.«

»Und ich sage Ihnen: auf diesen meinen Brief hin kommt er! Oder glauben Sie etwa, Herr Rechtsanwalt, mein Bruder fürchtete sich, vor das englische Gericht zu treten, und er würde sich feige in Amerika verstecken, wenn er wirklich Davis ermordet hätte?«

Perkins hatte sinnend zu Boden gesehen; betroffen blickte er jetzt auf. Das hatte ja Flederwisch gesprochen, das war ja sein stolzer Hohn gewesen! Und er sah doch nur ein bleiches, ernstes Mädchenantlitz, das mit dem Bruder gar keine Ähnlichkeit hatte.

»Ich habe lange, lange überlegt,« fuhr Imma fort, »ein ganzes Jahr brauchte ich dazu, um zu wissen, warum er mich nicht hinüber haben will, warum er sich nach England zu kommen fürchtet, und wie ich ihn dennoch hierherbringe. Deshalb habe ich ihm auch manchmal ganz freundlich geschrieben – und nun wird es dieser Brief tun, dem kann er nicht widerstehn.«

»Aber ich begreife nicht ...«

»Weil ich mir selbst scheinbar widerspreche? Denn ich sagte, er fürchtet sich nicht, vor englische Richter zu treten, auch wenn er schuldbewußt ist – und er wagt dennoch nicht zu kommen. Ja, sehen Sie, Herr Rechtsanwalt,« sie beugte sich wieder zu ihm herab, »weil er mir – mir nicht ins Auge blicken kann. Das ist es.«

»Und nun sollte er der Einladung folgen?«

»Ja, er tut es, weil – weil –,« das Mädchen rang mit sich, »weil sie von seiner Schwester kommt.«

Sie hatte nicht nötig, sich deutlicher auszudrücken, Perkins verstand sie – sie benutzte seine zärtliche Bruderliebe als Fallstrick – und ein Gefühl der Furcht vor ihr drohte ihn zu überwältigen. Er mußte von etwas andrem beginnen.

»Halten Sie Ihren Bruder für des Mordes an Davis schuldig?«

»Was geht das mich an? Was ich tue, bin ich einem Toten schuldig; es ist die letzte Pflicht, die ich gegen die Vergangenheit habe.«

»Und Manuel?«

»Auch er wird kommen. Herr Rechtsanwalt, soll dieser Brief abgehn?«

»Ja. Unser Vertrag gilt!«

 

Der englische Postdampfer brachte den Brief nach Aspinwall, die Isthmus-Eisenbahn ihn von dort nach dem Hafen Panama; hier nahm ihn der nach Guayaquil gehende Dampfer in Empfang, er kam in den Beutel des Postbootes, bis ihn der Steward an einem tropischen Regentage in die Hände des Kapitäns ablieferte.

»Manuel!«

Der Bootsmann, in triefendem Oelanzug und Südwester, hörte den jauchzenden Ruf und folgte ihm. Im Kajütenkorridor nahm er den Südwester vom Kopf, spritzte ihn ab und trat in die Kapitänskabine.

Flederwisch mochte nach seiner Weise – obgleich dies seit einem Jahre sehr selten vorkam – in dem engen Raume auf und ab gerannt sein; jetzt aber, als Manuel eben eintrat, voltigierte er gar über den Tisch, blieb auf der andern Seite sitzen, mit baumelnden Beinen, strahlenden Augen und lachendem Munde, und so schwang er dem an der Türe Stehenden einen Brief entgegen.

»Dampf auf! Ostwärts ahoi! König Flederwisch tritt mit seinem Heere die Brautfahrt an!«

Der Mulatte wurde etwas fassungslos. Es war doch heute gar nicht so heiß!

»Kapitän, ich glaube ...«

»Glaube nichts,« unterbrach ihn sein Herr jubelnd, »sondern wisse es: meine Schwester heiratet! Jawohl, heiraten will sie! Na, und wen? Er sieht wie ein Frosch aus, aber ein braver Kerl muß er doch sein, sonst würde ihn meine Schwester ja nicht heiraten. Na, wer ist's?«

»Rechtsanwalt Perkins,« grinste der Mulatte. »Ich gratuliere.«

»Danke, danke,« und Flederwisch sprang vom Tische, im ganzen Gesichte strahlend, und schüttelte dem Schwarzen die Hand. »Nun aber hier – höre, was sie schreibt, und dann Dampf auf!«

Er las seinem Bootsmann den Brief von Anfang bis zum Ende vor; er lachte, und dabei standen ihm die Tränen in den Augen, und dann sprudelte es wieder hervor:

»Vorwärts, los doch! Den Parsifal klar, das ist der schnellste Dampfer – Kohlen in die Bunker und vorwärts – gewaschen und geputzt wird unterwegs – zum Teufel mit der ganzen Arbeit, ich will auch ein Vergnügen haben – Ferien, jawohl! juchhe, es geht in die Schulferien! – ich bin gleich zwei, drei Jahre jünger – nein, zwanzig, dreißig Jahre jünger – ich fühle mich wieder jung wie ein Embryo – Kerl, was starrst du mich so an?«

Mit vorgebeugtem Oberkörper stand der Mulatte da.

»Ihr wollt nach London, Kapitän?« flüsterte er.

Doch Flederwisch ließ sich durch nichts aus seiner jubelnden Laune bringen.

»Jawohl, du hast's erfaßt – nach London! Tanzen will ich und Dummheiten machen. Ha, jetzt ist mir etwas im Herzen gerissen, und das tut mir wohl. Es war ein beengendes Band!«

Abwehrend streckte Manuel eine Hand gegen seinen Herrn aus.

»Geht nicht hin, Kapitän! Laßt's Euch geraten sein,« äffte Flederwisch ihm spöttisch nach. »Schon wieder einmal? Manuel, du wirst langweilig. Und nun gehe ich gerade! Siehst du!«

Doch wie Flederwisch sich nicht aus seinem knabenhaften Uebermut, so ließ sich der Mulatte nicht von seiner Warnung abbringen.

»Geht nicht hm, Kapitän! Ueberlegt es Euch erst reiflich, ehe Ihr in englische Gewässer kommt! Die Geschichte mit dem Davis! Ihr könnt Euch selbst den Strick gedreht haben.«

In Flederwischs Lustigkeit mischte sich nur noch etwas mehr humoristischer Spott.

»Baah! Als ob die dem König der Gallopagos etwas anhaben könnten! Ich pfeife auf die ganzen Perücken. Außerdem hängt man bekanntlich nur die kleinen Diebe. Hast du Unglücksrabe sonst noch etwas zu krächzen?«

»So denkt an Carmencita! Sie ist in London!« flüsterte Manuel wie zuvor.

»Schön! Ich will sie im Tingeltangel tanzen sehen. Mann, du hast doch gesunden Verstand! Wenn sie mir etwas anhaben könnte, hätte sie es schon längst getan. Sie wird sich aber hüten! Sonst noch etwas?«

»Man ist Euch in England überhaupt nicht wohlgesinnt ...«

»Hahaha, nun wird es ja immer besser!« lachte Flederwisch hell auf. »Soll ich mich hier auf den Gallopagos Zeit meines Lebens verkriechen, weil einige Herren in England meinen Witwentee nicht trinken mögen? Denkst du etwa, man könnte mir Trichinen ins Essen mischen? Nein, Manuel, du bist ein Schwarzseher, und jetzt wirst du kindisch. – Es ist die Hochzeit meiner Schwester; mit diesem Briefe ist etwas über mich gekommen, ich weiß nicht was – ich fühle mich wieder als Mensch unter Menschen – ich bin wieder der alte, übermütige, törichte Flederwisch – ich will und muß hin!«

Er wurde womöglich noch ausgelassener.

»Tut's nicht, Kapitän!« erklang es noch einmal.

»Packe die Koffer, wenn du sonst nichts weiter zu sagen hast!«

Der Koch der Frithjof hatte in einem Verschlage an Deck Hühner, ein Hahn krähte – der finstre Mulatte richtete sich auf.

»Ja, dann laßt Euch noch etwas sagen. Ihr zwingt mich dazu. Hört Ihr den Hahn krähen? Da – noch einmal. Und wenn er jetzt nicht mehr kräht – und wenn sie Euch küßt – so wird in London ein andrer Hahn zum dritten Male krähen – und dann hat sie Euch verraten!«

Es lag etwas Unheimliches in dem rätselhaften Tone, daß Flederwischs lachender Mund verstummte und er stutzte.

»Mich küßt? Mich verrät? Wer? Was schwatzt du da für tolles Zeug?«

»Der Brief da – in Eurer Hand – er ist eine Falle, Euch hinüberzulocken und Euch den Hals zu brechen.«

So dunkel die Worte auch waren – Flederwisch verstand sie, wütend fuhr er auf den Bootsmann los, packte ihn an der Brust und schüttelte ihn.

»Das ist eine verfluchte Lüge! Meine Schwester hat ihn geschrieben.«

»Und das ist eine verfluchte Falle von Eurer Schwester, sage ich!« gab der Mulatte furchtlos in demselben Tone zurück.

»Hund! Wie kommst du auf eine solche Idee? Antworte!«

»Ich wittere es, eben weil ich ein Hund bin.«

Steif blickte ihn Flederwisch an, nach und nach verwandelte sich der Ausdruck seines Gesichtes, der des Grimmes machte einem sonnigen Lächeln Platz. Er ließ ihn los, auch hier wurde eine Hand auf die Schulter gelegt, aber diese starke Männerhand tat es ganz sanft.

»Manuel! Höre mich an, Manuel! Jener Berg dort soll Feuer speien und uns alle verschlingen, der Himmel soll einstürzen und alles Große und Schöne und Edle und Gute zerschmettern, denn dann ist alles auf der Erde nur Gift und Geifer – wenn meine Schwester einer Heuchelei gegen mich fähig ist! – Geh!«

Mit einer seltsamen Drehung des ganzen Körpers senkte der Mulatte zustimmend den Kopf, stülpte dabei den Südwester auf und schnürte den Riemen unter dem Kinn zusammen.

»All right, Kapitän, wir gehn!«

Der Befehl, einen im Hafen liegenden Dampfer fertig zur Fahrt nach England zu machen, war übereilt, vielleicht auch nur ein im Jubel hervorgesprudelter Scherz gewesen, obschon dann der andre Reiseplan nur bewies, wie eilig es der Kapitän mit der Fahrt hatte. Sie sollte die gewöhnliche und schnellste Postroute über Panama nehmen, und nur Manuel würde ihn begleiten, beide reisten als Passagiere.

Allerdings, es hätte Flederwischs Charakter näher gelegen, mit seinen Leuten auf eignem Schiffe die Meeresfahrt anzutreten, oder gleiche mit einer ganzen Flotte, und in England einen Triumphzug zu halten, und wenn ihm die Reise um Kap Hörn zu lang war, so hätte er ja in Aspinwall ein Schiff chartern können. Doch es hatte sich vielerlei geändert, auch in Flederwischs Charakter, und die Verwandlung hatte mit eiserner Notwendigkeit vor sich gehn müssen: weswegen, das werden wir noch später erklären hören. Daß er ein gut Teil seiner Eitelkeit verloren, weil er älter geworden, das hatte damit nichts zu tun. Daran war Nobodys Erziehungsmethode schuld.

Auf den Gallopagos gab es noch immer keine stahlgepanzerten Ritter, es wurden noch immer keine Turniere abgehalten, und jenes Reich von Helden, von dem einst der phantastische Kapitän geträumt, würde auch nie entstehn; seine Phantasie hatte eine praktische Richtung genommen, der Inselpächter war ein Großkaufmann und Schiffsreeder geworden.

Es wurde noch immer an den Häfen gebaut, auf Albemarle wurde ein künstlicher in die Felsen gesprengt, Steindämme weit ins Meer hinausgeschoben, und das gab genug Beschäftigung für 12.000 Kulis bei Tag und Nacht.

Man sah auch keine Bastionen; keine Kanonen wurden aufgepflanzt. Es schien eine ganz friedliche Inselkolonie werden zu wollen, ein Seehandel treibendes Inselreich – und doch waren es immer noch die alten Pläne, die Flederwischs Kopf beschäftigten, nur daß eben, wie schon gesagt, seine Phantasie eine praktischere Richtung einschlug. Uebrigens fehlte es auch nicht an Romantik. Die ehemaligen Schmugglermatrosen hatten sich zwar in ehrsame Hafenpolizisten verwandelt, aber da gab es Abenteuer genug: die zwölftausend Chinesen wollten im Zaume gehalten sein, und als sie sich erst heimisch fühlten, wurden sie bald Diebe und Schmuggler, gegen welche die auf den kleinen Dampfbooten umherkreuzenden Leute Flederwischs eine Art Krieg führten, der nichts an ritterlicher Romantik einbüßte; es ging oft wild zu, manchmal war nicht nur mit Fäusten dreinzuschlagen, und als einmal ein weißer Aufseher, der die Verhältnisse noch nicht kannte, einem Sohne des himmlischen Reiches den Zopf abgeschnitten hatte, und aus diesem rohen Scherze das Gerücht entstand, allen Chinesen sollten die Zöpfe abgeschnitten werden, kam es zu einer blutigen Rebellion; die Weißen wurden richtig belagert, und nur durch der Leute Mut und Flederwischs Klugheit entgingen sie alle dem Vernichtungstode.

So bildeten die Matrosen der Frithjof eine erlesene, ritterliche Leibgarde um ihren König, und durch Kleinigkeiten verriet auch der jetzige Teehändler, daß er noch immer der alte Kapitän Flederwisch war. Zum Beispiel hatte er als Wohnung für sich und seinen Stab einen kleinen Palast auf der schönsten Insel bauen lassen, aber schon nach einer Woche kehrte er in das enge Kabinchen an Bord seiner geliebten Frithjof zurück; ja, es schien, als wollte er dieses Schiff nicht mit ehrlicher Arbeit beflecken; still lag es im Hafen, den treuen Matrosen nur zur Wohnung dienend.

Es gibt auf der Erde wohl nur eine dauernde Befriedigung, und das ist die Freude an der Arbeit. Flederwisch war in seiner Arbeit glücklich.

Nur eines fehlte ihm noch zum vollkommnen Glück, worüber er so oft mit Manuel gesprochen hatte und wovon jener nichts wissen wollte – seine Schwester, welche nun einsam und verlassen in der Riesenstadt war.

Er hätte sie zu sich kommen lassen können; seine Anwesenheit in London war schon wiederholt nötig gewesen, er fürchtete keine Richter, noch weniger das verstoßne Weib – aber der Schwester ins Auge zu blicken, das war es, was er fürchtete, und wenn er sich nur die erste Begegnung mit ihr ausmalte, so zitterte der starke Mann schon.

Denn er hatte ihr das Liebste geraubt! Er war es gewesen – da half alles nichts, und darüber kam er nicht hinaus. Er wußte, daß Imma ihr Herz an seinen ersten Steuermann verloren gehabt hatte.

Sie hatte ihm öfters geschrieben, wenn auch nicht bei jeder Postgelegenheit, wie Flederwisch immer hoffte; stets waren es liebevolle Schwesterbriefe gewesen; aber den Tod Alfred Werners hatte sie noch nicht vergessen, immer klang der Schmerz hindurch, und immer wieder fürchtete sich Flederwisch, ihr noch einmal ins Auge blicken zu müssen.

Nun aber kam dieser Brief. Hochzeit! Der Tote war begraben! Sie schrieb es ja selbst!

Da plötzlich schwand das drohende Gespenst, Flederwisch sah die schmerzlichen Augen sich plötzlich in glückstrahlende verwandeln – da wich der Alp von seiner Brust, und er jubelte erlöst auf. Ferien! Das war das richtige Wort. Ja, in die Ferien wollte er gehn! Tanzen wollte er, für einige Wochen wieder einmal der lustige, übermütige Kapitän Flederwisch sein.

Bis zum letzten Augenblick, da er abreisen mußte, wollte er den von Aspinwall abgehenden Postdampfer noch erreichen, arbeitete er mit fieberhafter Hast und traf Anordnungen für seine Abwesenheit. Halfdan war sein Generalstellvertreter; er wurde allerdings mehr in den Schutz der Matrosen gestellt als diese unter sein Kommando, und dann, als Flederwisch den kleinen Dampfer betrat, der ihn nach Guayaquil bringen sollte, und als er den rauchenden Inselberg am Horizonte verschwinden sah, da war er nur noch der in der Fremde sich nach der geliebten Schwester sehnende Bruder, heimgehend zu ihrer Hochzeit.

Der schnelle Postdampfer schlich dem Ungeduldigen zu langsam, und von Aspinwall an war ihm der Himmel ungünstig. Am elften Tage brach auf hoher See die Schraubenwelle, drei Tage lang suchte man vergebens den Schaden zu reparieren, es wurden Segel gesetzt, langsam wie eine Schnecke kroch der Eisenkoloß nach einer der azorischen Inseln, auf der sich eine Werft befand.

Ehe dieser Dampfer die Fahrt fortsetzen konnte, fand Flederwisch Gelegenheit, einen andern nach Liverpool gehenden zu benutzen, wodurch er sein Ziel doch einige Tage eher erreichte, und inzwischen hatte er wenigstens die Freude gehabt, sich durch das über die Azoren gelegte Kabel mit seiner Schwester in telegraphische Verbindung zu setzen. Sein Brief, der acht Tage vor ihm Guayaquil verlassen hatte, war zwar noch nicht eingetroffen, aber er wurde erwartet.

Jener Zwischenfall bedeutete für ihn einen Verlust von vierzehn Tagen.

 

Es war bald zehn Uhr; im vornehmen Westend drängte sich das Leben in den Hauptstraßen zusammen; still und selbst spärlich beleuchtet lagen die mit Villen und palastartigen Wohngebäuden besetzten Avenues und Squares da.

Neben dem Eingange zu einer zweistöckigen Villa mit Erdgeschoß zeigte ein Messingschild an, daß hier Rechtsanwalt Dr. Perkins wohne, ›commissioner for oaths‹, und zwar konnte es nach englischen Verhältnissen nicht anders sein, als daß er dieses ganze Haus mit ungefähr fünfzehn Räumen von oben bis unten ganz allein innehabe.

Ein Cab fuhr vor; die aussteigende, verschleierte Dame lohnte den Kutscher ab und drückte den Knopf der elektrischen Klingel, welche hier schon den alten, gemütlichen Klopfer verdrängt hatte, an dessen Pochen das kundige Ohr jeden erkennt, der Einlaß begehrt, den Briefträger, den unschuldigen Besuch, wie den hartnäckigen Gläubiger.

In kürzester Zeit öffnete die Wirtschafterin die Tür.

»Ist Mr. Perkins zu Hause?«

»Der Herr Rechtsanwalt ist wohl zu Hause, aber geschäftlich nach zehn Uhr nicht mehr zu sprechen, und es ist auch noch ein Klient bei ihm.«

Die junge Dame – jung ihrer Figur nach – lüftete den Schleier.

»Sie haben mich wohl nicht erkannt, liebe Mrs. Dorington. Bitte, sagen Sie ihm nur, daß ich ihn noch einmal sprechen möchte.«

»Miß Müller!« staunte die Frau.

Sie waren verlobt, hier würde Imma als Mrs. Perkins einziehen, sie war bereits mehrmals hier gewesen, hatte die Einrichtung, das Hauswesen gemustert, es waren noch einige Möbel bestellt worden. Imma hatte der alten Frau die Hand gegeben und ihr liebevoll gesagt, wenn es ihr gefiele, so solle sie hierbleiben, sie wünsche es sogar, sie wäre die letzte, welche eine treue Wirtschafterin als überflüssig entließe – aber das war immer am Tage gewesen, und wenn die Braut mitten in der Nacht den zukünftigen Mann besucht, das ist doch etwas stark! Daß die beiden durch ein andres Band als nur durch das der Liebe verbunden sein könnten, ahnte die Alte natürlich nicht.

Hinter Immas Rücken den Kopf über die heutige Zeit schüttelnd, ließ Mrs. Dorington sie in den erleuchteten Parlor treten. Die Wirtschafterin stieg die Treppe hinauf und wollte – anzuklopfen brauchte sie nicht – die Tür öffnen, welche in das Arbeitszimmer des Rechtsanwaltes führte. Wenn auch, wie jetzt, geschäftlicher Besuch bei ihm war, sie durfte immer eintreten.

Was? Die Tür war ja verschlossen! Daß sich Mr. Perkins mit einem Besuche einschloß, war ihr in den vielen Jahren noch nicht vorgekommen.

»Wer ist da?« erklang es drinnen kurz, rauh und hastig, wie erschrocken.

War denn das die Stimme ihres Herrn?

Einen Namen durfte sie in Gegenwart eines Besuchs niemals nennen, es trafen hier ja oft feindliche Parteien zusammen, oft hielt es der englische ›Bevollmächtigte für Eide‹ mit beiden Parteien.

»Ich bin es. Es ist jemand da, der den Herrn Rechtsanwalt zu sprechen wünscht.«

»Ich bin nicht zu sprechen,« klang es drinnen so heiser wie vorhin.

»Sie werden ihn aber sehen wollen. Kommen Sie doch einmal heraus.«

Augenblicklich wurde der Schlüssel umgedreht, Perkins zwängte sich durch die nur wenig geöffnete Tür, schloß sie wieder hinter sich und behielt die Klinke in der Hand.

»Wer?«

Himmel, so hatte Mrs. Dorington ihren sonst so kaltblütigen Herrn noch nie gesehen. Die auf dem Korridor matt brennende Gasflamme beleuchtete ein totenbleiches, entstelltes Gesicht, dicke Schweißtropfen rannen über die hohe Stirn.

»Wer? Zum Teufel, so sprecht doch!« zischte er sie an, er, der immer ruhige, keines unhöflichen Wortes fähige Gentleman.

»Ihre Braut.«

Das entstellte Gesicht verzerrte sich vollends, die erschrockne Alte glaubte einen Totenschädel zu sehen.

»Meine – meine – meine Braut – Im – Imma,« stammelten die wie im Krämpfe zuckenden Lippen. »Wo – wo – wo ...?«

»Im Parlor wartet sie. Um Gottes willen, was ist Ihnen denn nur?«

»Nichts – nichts – nichts – im – im Parlor? Fort – fort – halt – Mistreß – Mistreß Dorington,« mit einem Rucke war er plötzlich ein andrer, konnte sich wenigstens einigermaßen beherrschen. »Führt sie hinauf in die zweite Etage – zeigt ihr die neue Schlafstubeneinrichtung – ob alles so in Ordnung ist – ob es ihr so gefällt – Ihr bleibt bei ihr – bis ich rufe – bis ich selbst hinaufkomme – hört Ihr – hört Ihr?«

Die durch das Verhalten ihres Herrn selbst ganz aus der Fassung gekommene Frau ging wieder hinab.

Imma war bereit, sich die neue Einrichtung einstweilen zu besehen, wenn Perkins augenblicklich noch beschäftigt wäre; sie folgte der Wirtschafterin in die zweite Etage hinauf, in das luxuriös ausgestattete Schlafzimmer.

Unterdessen lauschte die Wirtschafterin in der halboffnen Tür, ob sie nichts da unten hören könne. Ach, es ist manchmal doch ein recht gefährlicher Beruf, Rechtsanwalt zu sein, da muß man sich oft mit solchem Gesindel abgeben! Jetzt war ein alter, unheimlich aussehender Mann bei ihm, eingemummt war er gewesen, und den Hut hatte er bis über die Augen gehabt – gewiß ein noch nicht ergriffener Raubmörder, der zur Vorsicht schon mit einem Verteidiger unterhandelte; das Honorar bezahlte er gleich im voraus von dem Blutgelde.

Schritte erklangen, sie gingen die Treppe hinab, die Haustür fiel zu. Gott sei Dank, er war gegangen, ohne ihm etwas getan zu haben.

»Imma! Willst du nicht herunterkommen?«

Sie folgte dem Rufe der zitternden Stimme in das Arbeitszimmer des Advokaten. Er mochte sich schon vor dem Spiegel Mühe gegeben haben, sein Aussehen zu verbessern, aber ganz war es ihm nicht gelungen; die Schweißtropfen perlten immer wieder hervor; noch immer war er gegen sein sonstiges Wesen hastig und unsicher.

»O, Imma, was habe ich jetzt anhören müssen! Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an! Ich bin außer mir!«

Dies war eine Entschuldigung für alles. Nun durfte er aussehen wie er wollte. Die Wahrheit durfte das vertrauende Mädchen freilich nicht erfahren.

»Ich bedaure dich. Wenn ich erst deine Frau bin, werde ich den Kummer wie die Freude mit dir teilen, und die Last wird leichter, die Lust doppelt sein! Perkins, in vierzehn Tagen wird er hier sein können! Sein Schiff hat ein Unglück gehabt; er befindet sich auf den Azoren – hat mir vorhin telegraphiert – in vierzehn Tagen ist er hier – und Manuel ist bei ihm.«

Das Erschrecken des Rechtsanwaltes war sichtlich. Warum aber erschrak er? Die beiden hatten schon viel darüber verabredet, während die Wirtschafterin immer glaubte, sie sprächen über die baldige Hochzeit. Perkins war noch zu angegriffen von dem vorigen Besuch.

»Setze dich, Imma – ich habe mit dir zu reden – setze dich dahin – also in vierzehn Tagen – nur vierzehn Tage – setze dich doch ...«

Er fiel in seinen Lehnstuhl und wischte sich den Schweiß ab, und die Hand mit dem Taschentuche zitterte. Er wäre wohl gern auf und ab gegangen, um die Herrschaft über sich zu erringen, aber der dicke Leib war für die dünnen Beinchen zu schwer.

»Was hast du mir zu sagen?« fragte sie ergebungsvoll.

Er stierte ihr mit den jetzt noch mehr als sonst hervorquellenden Augen ins Gesicht.

»O, was ich jetzt erlebt habe – der arme Mann!« murmelte er.

»Du bist sehr aufgeregt, Sullivan!«

»Ich? Nein – nein – nicht im geringsten! Imma, ich muß mit dir offen sprechen – ich muß! Wann soll unsre Hochzeit stattfinden?«

»Diese nochmalige Frage wundert mich,« entgegnete sie mit jener Gelassenheit, die ihr jetzt zur zweiten Natur geworden zu sein schien. »Sobald du durch mich Klage gegen Paul erhoben hast und seine Schuld oder Unschuld bewiesen worden ist. An demselben Tage, wenn du willst.«

»Das ist mir zu lange,« stieß Perkins hervor, energisch, als wäre er zu allem entschlossen, und einmal mußte es doch heraus, dann also gleich.

»Wie meinst du das?« erklang es ruhig zurück.

»Imma, ich traue dir nicht!«

Auch dies konnte bei dem Mädchen keinen Eindruck mehr hervorbringen.

»Warum nicht? Du glaubst, wenn du dein Wort eingelöst hast, mir beizustehn, die Schuld oder Unschuld meines Bruders zu beweisen, so werde ich das meine nicht halten? Es tut mir leid, daß du mir so wenig traust, und du tust mir unrecht. Eine Garantie kann ich dir ja freilich nicht geben, die eines Mädchens nützt ja hier nichts in Ehesachen.«

Erst nachträglich kam Perkins zum Bewußtsein, welche Ungeheuerlichkeit er gesagt, diese Geschäftsmäßigkeit seiner Braut, einem jungen, unschuldigen Mädchen gegenüber, und seine nervöse Aufregung wuchs.

»Verzeihe mir, Imma – verzeihe – aber – ich habe vorhin etwas gehört – von einem Manne, der betrogen worden ist – ich befinde mich in einer schrecklichen Verfassung – Hirngespinste quälen mich ...«

»So will ich jetzt gehn ...«

»Nein, nein, bleib! Wir wollen morgen – übermorgen heiraten! Weshalb willst du denn nicht? Bedenke, ich habe zwei ganze Jahre gewartet – ich brauche endlich Ruhe – nimm mir den Zweifel – und es bleibt alles beim alten, als dein Mann nehme ich mich doch erst recht deiner Sache an, dann ist es völlig die meine. Warum willst du denn nicht?«

Seltsam, es war noch immer die schüchterne Imma, welche durchaus kein ›Nein‹ sagen konnte, nur in einer ganz andern Weise. Ihre Schüchternheit hatte sich mehr in eine ergebene Apathie verwandelt. Und nun kam noch hinzu, daß Imma schon lange genug in England lebte, um die Verhältnisse zu kennen, und so sah sie in der Forderung ihres Verlobten keine Ungeheuerlichkeit.

Diese lag hier nur in Perkins Art, in seiner plötzlichen Hast, wie er die Forderung stellte. Doch Imma empfand sie nicht.

»Ich habe ja gar nicht gesagt, daß ich nicht will,« antwortete ihre müde Stimme. »Wie du willst, Freund. Ich möchte zeigen, daß ich dir traue, wie du mir trauen sollst – so bestimme nochmals den Tag. Morgen schon?«

Diesmal war es Leidenschaft, mit welcher er ihre Hände ergriff.

»Dank, tausend Dank, meine Imma! Nach der Hochzeit will ich dir sagen, was mich zur Beschleunigung derselben veranlaßt.«

»Es ist nicht nötig. In welcher Kirche soll sie stattfinden? Und wann also?«

Perkins empfand jetzt ihre Teilnahmlosigkeit doch recht. Nun, das würde sich ändern. Jetzt beschäftigten das empfindsame Mädchen noch ganz der Bruder und die Rache.

»Morgen – nein, übermorgen. Doch nicht in der Kirche. Da müßte ein Aufgebot von vier Wochen vorhergehn. Vor dem Standesamt.«

Auch hiergegen hatte Imma nichts zu sagen, und auch das gottergebenste englische Mädchen hätte nichts einzuwenden gehabt. In England traut entweder nur die Kirche oder nur das Standesamt, die Registeroffice, beides zusammen gibt es nicht, und bei der Trauung vor der Registeroffice wird völlig der kirchliche Charakter gewahrt, ein Superintendent der anglikanischen Hochkirche ist zugegen und segnet das Brautpaar und unterschreibt den Trauschein.

Es wurde noch viel gesprochen, aber mehr über Flederwischs Empfang als über die Hochzeit. Dann schickte Perkins den Gärtner nach einem Wagen, welcher Imma nach ihrer Pension fahren sollte, und blieb auf der Straße stehn, bis das Cab seinen Augen entschwand. –

Zwei Tage danach war Imma Mrs. Perkins geworden.

Sie hatte sich ihren Hochzeitstag anders vorgestellt. Die Neuvermählten speisten mit den beiden Zeugen in einem besondern Zimmer eines Hotels zu Mittag, dann stiegen sie allein in eine Droschke. Die Fahrt nach ihrer Villa währte nur wenige Minuten.

Keine Girlande schmückte die Haustür, durch welche die junge Frau ihren Einzug hielt. Die Diener gratulierten, Mrs. Dorington überreichte Imma den Brotlaib, der in der Kirche gespendet wird, und konnte sich nicht enthalten, eine Handvoll Reis über den Häuptern der Neuvermählten auszustreuen. Perkins drückte in jede der glückwünschenden Hände eine Guinee, ein goldnes Pfundstück, denn der konservative Engländer rechnet und zahlt außerhalb des Geschäftes noch immer mit den seit einem Jahrhundert gar nicht mehr existierenden Guinees, die einundzwanzig Shilling hielten, und wenn er in einer Wohltätigkeitsliste eine halbe Guinee zeichnet, so gibt er ein halbes Pfund in Gold und legt sechs Pence darauf.

Perkins legte den Arm um ihre Taille, zog sie an sich und küßte sie. Es war der erste Kuß gewesen – Imma hatte ihn geduldet, nicht aber erwidert.

»Wir sind auf ungewöhnliche Weise zusammengekommen, Imma, aber du warst meine Sehnsucht vom ersten Augenblick an, da ich dich gesehen, ich werde dir ein guter Mann sein, denn ich liebe dich, Imma, und du – du wirst mich noch lieben lernen.«

»Ich glaube es auch,« entgegnete sie bescheiden. Dann wendete sie den Kopf nach dem Fenster. »Hast du den Wagen wieder fortgeschickt? Ich hätte ihn gleich benutzen können.«

»Den Wagen? Wohin?«

»Um in meine Pension zu fahren.«

»In – deine – Pension?«

Perkins Arm löste sich von Immas Taille. Der Rechtsanwalt schaute seine Frau mit großen Augen an. Er hätte ja annehmen können, sie selbst wolle ihre Sachen holen – und er stellte diese Frage denn auch – aber der Advokat blickte sofort tiefer, er erriet es schon aus dem Klang ihrer Stimme, aus Immas ganzem Verhalten.

»Was willst du in der Pension? Die Sachen können geholt werden, und hast du dich noch nicht verabschiedet, so brauchst du dies doch nicht heute zu tun.«

»Nein, ich werde natürlich bis auf weiteres in der Pension wohnen bleiben!«

Jetzt, da es offen gesagt war, kam Perkins nicht mehr aus der Fassung, er stellte sich nur erstaunt.

»Was soll das? Du bist doch meine Frau, Imma und – kein Kind mehr!«

»Du wirst vergeblich dagegen reden,« erwiderte sie ruhig. »Ich bin sofort die Ehe eingegangen, als du es verlangtest, um dir mein Vertrauen zu beweisen. Doch solange du nicht meines Bruders Schuld oder Unschuld erwiesen hast, bin ich nur dem Namen nach deine Frau.«

In ihrer Ruhe lag so viel Entschiedenheit, daß Perkins sofort die Unmöglichkeit einsah, ihren Widerstand zu brechen.

Er wischte sich mit dem Taschentuche die Stirn.

»Ich sehe es ein! Zwingen will ich dich nicht. Aber diese furchtbare Blamage mußt du mir ersparen, Imma.«

»Was für eine furchtbare Blamage?«

»Bitte, nun sei du auch so vernünftig wie ich, Imma. Bedenke, ich bin ein im öffentlichen Leben stehender Mann, ein bekannter Rechtsanwalt. Das kann nicht verborgen bleiben, wenn du wo anders wohnst, ich kann dich jetzt nicht auf die Reise schicken, kann jetzt nicht selbst auf die Reise gehn. Du mußt auch diese Zeit hier wohnen, wir werden es arrangieren.«

»Gut, ich bin damit einverstanden,« entgegnete sie sofort.

»Ich danke dir, Liebling. Und nun sei dir gleich noch offenbart: ich kann den Prozeß gegen deinen Bruder nicht führen.«

Statt aufzufahren, beugte sie sich nur vor und sah ihn fest an, er hielt den Blick wohl aus, aber der Schweiß begann wieder hervorzuperlen.

»Was – soll – das – heißen?«

»Ruhig, ruhig, mein Kind, mißverstehe mich nicht. Das heißt, ich kann bei der Sache überhaupt gar nichts tun. Du scheinst den Gang solcher Verhandlungen überhaupt gar nicht zu kennen. Du kannst nur deine Klage als einen Verdacht einreichen; der erste Sheriff läßt darauf den Verdächtigen verhaften, stellt die Klage gegen ihn auf und überweist ihn dem Inquisitor, dieser untersucht, ob schuldig oder nicht schuldig, im letztern Falle spricht ihn der immer leitende Sheriff frei, im erstern übergibt er ihn den Richtern und den Geschwornen, diese urteilen ihn ab, wobei der Schuldige einen Verteidiger bekommt, der das Urteil zu mildern sucht, das des Inquisitors auf schuldig auch noch in unschuldig verwandeln kann.«

Noch immer sah Imma ihm starr in das Gesicht.

»Ja, Mr. Perkins, warum habe ich Sie eigentlich geheiratet?« fragte sie eisigkalt.

»Damit ich dir beistehe, Pauls Verhaftung zu veranlassen und den Tod Alfred Werners schnellstens aufzuklären. Da kann ich dir allerdings helfen. Schon die Inhaftierung eines Mannes wie dein Bruder ist nicht so einfach, wie du dir denkst; man setzt so eine Person wie er ist, nicht gleich hinter Schloß und Riegel, wegen des Verdachtes eines Mädchens, dessen Behauptung sich auf den Ausklang eines Volksliedes stützt. Und nimmt man seine Bürgschaft an, läßt man ihn auf freiem Fuße, so wirst du wohl auch glauben, daß er sich nicht lange in England aufhält – du kennst doch Flederwisch. Kommt er aber erst einmal vor die Richter, so hat man deine Klage angenommen, du hast das Recht, an erster Stelle den Verhandlungen beizuwohnen, kannst sogar ein Veto einlegen, den Gang unterbrechen und ihm eine andre Richtung geben – und ich werde neben dir sitzen und dir raten. Denn der Angeklagte kann sich seinen Verteidiger selbst wählen, und kann er ihn bezahlen, nimmt er sich den am besten auf seiner Seite stehenden Solicitor. Paul wird wohl das Geld nicht sparen, und was solch ein Solicitor in Verbindung mit einem verzweifelten und raffinierten Klienten tun kann, das wirst du wahrscheinlich bald selbst bemerken. Da bin aber ich da, ich werde dafür sorgen, durch deinen Mund, daß keine Unregelmäßigkeit vorkommt, welche den Richterspruch ungültig macht, daß sich der Inquisitor auf einen falschen Weg locken läßt.«

Imma gab ihre Stellung auf.

»Gut, so werde ich hierbleiben – unter den bekannten Bedingungen.«

Aber auch jetzt vermochte der Rechtsanwalt den kalten Schweiß noch nicht zu trocknen.

»Ich glaube nicht, daß dein Bruder den Tod des Steuermanns verschuldet hat, viel eher halte ich ihn der Ermordung des Schiffsmaklers für fähig.«

»Letztrer Fall geht mich nichts an, und nur, wenn er zu Pauls Verhaftung dienen kann, sollst du ihn benutzen. Und dann, wie ausgemacht, jenes Weib soll, wenn irgend möglich, ganz aus dem Spiele bleiben. Ich will Alfred Werners Tod nicht durch einen Ausspruch dieses Weibes gesühnt haben, noch weniger aber soll die Treulose meinen Bruder belasten können.«

Die beobachtende Nachbarschaft hatte recht gehabt. Perkins ging ins Geschäft, und da drinnen schien unter der Leitung der jungen Frau noch recht energisch geräumt zu werden.

Als der Rechtsanwalt am Abend wieder nach Hause kam, sah ihn Mrs. Dorington mit fragenden Augen an, ohne jedoch eine Erklärung zu erhalten. So etwas war ihr, welche nur die englischen Eheverhältnisse kannte, noch nicht vorgekommen, daß Mann und Frau getrennt, sogar in zwei verschiednen Zimmern schliefen. Freilich, ihre junge Herrin war ja eine Deutsche, stammte aus einem ganz unzivilisierten Lande.

 

Die Rätsel, die für den Leser in dieser seltsamen Charakterwandlung Immas, der Schwester des Kapitäns Flederwisch liegen, lassen sich nicht so leicht erklären, wenn nicht alle mitwirkenden Umstände in Betracht gezogen werden.

Als Imma zum letzten Male jenen herrlichen Mann erblickte, den sie noch immer insgeheim als Ideal verehrte, wenn er nicht gar bereits zum Idol geworden war, da hatte er sein Leben eingesetzt, um das ihres Bruders zu retten. Er hatte dadurch auf Paul eine Dankesschuld gewälzt, die nicht so leicht, vielleicht niemals abgetragen werden konnte. Sie hätte zum Teil allerdings getilgt werden können, indem Imma die Gattin Alfreds wurde. Das war aber nicht möglich, denn er liebte sie nicht. Sie hatte das sofort erkannt, denn sie war eben ein Weib, dessen Herz sofort fühlt, ob seine Neigung von einem andern erwidert wird.

Imma hatte unter bangen Ahnungen den Geliebten auf der Frithjof unter dem Kommando ihres Bruders abreisen sehen. Sie mußte fortwährend an den Ueberfall durch den heimtückischen Mulatten denken, und ihre Angst stieg – dann kam Alfreds anklagender Brief, aber Gott sei Dank, er hatte sich wenigstens freigemacht – er würde heimkehren.

Doch er kam nicht! Die Todesnachricht traf ein, und seit jenem Tage war Imma immer in Gedanken im fernen Südamerika, auf den Gallopagos. Sie hoffte insgeheim fest, daß ihr lieber, stolzer Bruder nicht zum tückischen Meuchelmörder oder wenigstens zum Helfer eines solchen geworden wäre, aber wenn – o Gott, dann kannte sie keine Schonung. Wer seinen Lebensretter umbringt oder umbringen läßt, der ist ein Elender, und er mußte ausgestoßen werden aus der menschlichen Gesellschaft. Imma ahnte nicht, daß sie einen mächtigen Bundesgenossen hatte, der allerdings nicht ganz dem gleichen Ziele zustrebte wie sie, und Nobody konnte ihr natürlich vorläufig nicht nahen. Er hatte noch keinen Anlaß dazu. Er konnte erst eingreifen, nachdem Imma den ersten Schritt getan hatte, und dann – er hatte auch keine Zeit, sich mit unwichtigen Nebenarbeiten aufzuhalten. Er hatte inzwischen seine Amerikafahrt angetreten und war sozusagen als Detektiv Nobody neugeboren worden. Er hatte den unschuldigen Keigo Kiyotaki vom Tode am Galgen gerettet und hatte die Geheimnisse von Red Castle erforscht, und dann war es Zeit, den Kapitän Flederwisch dem Fegefeuer zu entreißen und ihn für immer an sich zu fesseln.

Der Ruhm Nobodys war selbstverständlich auch zu Imma gedrungen, und sie hatte bereits daran gedacht, ihn zu bitten, das Dunkel zu lichten, das über dem Ende des ersten Steuermanns der Frithjof lag, aber sie war bald von diesem Vorsatz abgekommen. Sie hatte keine Mittel, den berühmten Detektiven zu bezahlen, und dann – hatte der Fall denn auch genügendes Interesse für einen solchen Mann? Wären die finanziellen Verhältnisse Immas besser gewesen, dann freilich hätte es passieren können, daß er den an ihm selbst verübten Mordanfall hätte aufklären sollen. Das aber konnte Nobody nur bis zu einem gewissen Grade tun. Er selbst durfte nicht verraten, daß die Sucht nach dem roten Golde die Triebfeder zu der unseligen Tat gewesen war, und daß er selbst sie provoziert hatte.

Daß Flederwisch das fremde Geld sich aneignete, entschuldigte Nobody mit jenen Gründen, die der Kapitän dereinst dem Mulatten gegenüber vorgebracht hatte. Im übrigen ließ er die Ereignisse seinen Gang gehn, bis es Zeit war, handelnd einzugreifen. Eine Ueberraschung aber bereitete er vor, die er als ersten Trumpf ausspielen wollte, und sie verfehlte die beabsichtigte Wirkung nicht.

Mit Sonnenaufgang dampfte die Esmeralda in den Hafen von Liverpool. Da dies ihre Heimat, war kein Lotse an Bord genommen worden.

Eine Stunde konnte es noch dauern, ehe das Schiff am Quai lag; 6 Uhr 20 aber ging der Schnellzug nach London ab, und bis dahin war es keine halbe Stunde mehr. Und Flederwisch wollte ihn doch noch benutzen. Ein Boot konnte nicht gerufen werden, und obgleich der Kapitän des Dampfers jetzt alle Hände brauchte, ließ er von dem langsam fahrenden Schiffe eine Jolle mit vier Matrosen ins Wasser, die Flederwisch und dessen schwarzen Bootsmann an Land bringen sollten. Es war eine überaus große Gefälligkeit. Aber es war eben Kapitän Flederwisch, dem sie erwiesen werden durfte, und so war er immer unterwegs behandelt worden – nicht gerade mit fürstlichen Ehren – etwa so, wie man einem der Diamantenkönige auf den englischen Dampfern entgegenkommt.

»Dort an der vierten Quaitreppe landen Sie. Dann immer schnurgerade aus, Sie kommen direkt auf den Bahnhof, den Zug erreichen Sie noch. Ja, aber die beiden Koffer? Da müssen Sie erst nach der Zollabfertigung ...«

»So bleiben sie! Nach Hotel Oxford, nicht wahr, Kapitän, Sie sorgen dafür? Hinunter, Manuel! Besten Dank! Wir sehen uns wieder.«

Der Mulatte ließ die beiden Koffer an Deck stehn und glitt an einem Seil in das mitschleppende Boot, noch ein Händedruck mit dem Kapitän, und Flederwisch folgte jenem nach.

»Fort vom Ruder! Pullt alle vier! Ich nehme – nein, Manuel, nimm du das Steuer, ich habe eine Depesche aufzusetzen. Nun pullt aus, Jungens, was das Zeug hält. Da, teilt es euch dann!«

Er griff in die Hosentasche und ließ eine volle Hand Gold in den leeren Bootseimer regnen: die Matrosen trauten ihren Augen nicht, und dann legten sie sich hintenüber, daß ihre Körper beim Durchholen unter den Duchten verschwanden.

Flederwisch schrieb auf einem Notizblock. Sein Gesicht mit der gesunden Farbe lächelte, sein Auge strahlte. Natürlich mußte er auch in dieser die Stunde seiner Ankunft meldenden Depesche einen Witz machen.

Das Boot schoß an einem verankerten Segelschiff vorbei.

»Da – Kapitän – hört Ihr's?« flüsterte der Mulatte.

Fast jedes Schiff hat sein Tier an Bord, seinen Schutzgeist, seinen Talisman, seine heilige Kapitolsgans. Hier war es ein schöner Hahn, der auf der Reling saß und dem neuen Tag den verspäteten Morgengruß entgegenschmetterte.

Erbleichend war Flederwisch aufgefahren.

»Willst du mir mit deinem dummen Aberglauben auch diese Stunde verderben?« wandte er sich dann zürnend an den Mulatten.

Dieser hob die Schultern und schwieg. Es war das erstemal gewesen, daß er wieder davon begonnen hatte. Flederwisch schrieb weiter.

Das Boot legte an, der Treppenwächter ließ die beiden ohne Gepäck passieren – Juwelen sind ja in England zollfrei, auf ein halbes Pfund Tabak und eine Flasche wird nicht geachtet – und als Flederwisch im Eilschritt die gerade Straße entlang jagte, stellte sich auch das freudige Lächeln wieder ein. Unterwegs wurde ausgemacht, wie die letzten Minuten auszunutzen seien; Flederwisch gab das Telegramm auf, Manuel löste schon zwei Billetts erster Klasse, und so geschah es, daß sie den Hauptbahnhof erreichten. Es war die allerhöchste Zeit, doch sie fanden noch Platz im Zuge.

Endlich! Kurz nach ein Uhr lief derselbe in die mächtige Halle der Liverpoolstation zu London ein.

Flederwisch beugte sich zum Fenster hinaus.

Da – ein freier Raum, man hatte doch noch Achtung vor blanken Zylindern. Rechtsanwalt Perkins, zwei andre Herren, und ...

»Imma! Imma!!«

Noch ehe der Zug stillhielt, öffnete er die Tür und sprang heraus, gerade auf den freien Platz.

»Meine liebe Imma!«

Er blieb stehn, die ausgestreckten Arme sanken schlaff herab, in dem grau gewordnen Gesicht traten die Augen weit hervor, er taumelte noch einen Schritt zurück.

Denn Imma war nicht auf den Bruder zugeeilt, ihn zu umarmen und zu küssen, sie stand vielmehr regungslos wie eine Statue da, die ernsten Augen unverwandt auf Flederwisch geheftet.

Sie sprach auch nicht jene Frage aus, von der sie Perkins gesagt, nicht einmal ganz leise, und es war auch gar nicht nötig, diese Frage lag in dem furchtbaren Ernste ihrer Augen.

»Imma!« erklang es noch einmal, ein heiserer Schrei.

Sie wandte sich von ihm ab. Sie hatte nicht gesprochen, aber es war doch ein ›Schuldig!‹ gewesen.

Einer der Herren im Zylinder trat auf den Regungslosen zu, der mit geknickten Knien dastand, die Hände hinter dem Körper herunterhängend, den Kopf etwas gesenkt und so mit leeren Augen nach der Schwester stierend, welche sich an der Hinterwand des Perrons wieder gegen ihn umgedreht hatte.

Der Herr legte die Hand an den Arm des Kapitäns.

»Paul Müller, im Namen des Gesetzes: Sie sind verhaftet!«

Es machte auf ihn keinen Eindruck, er regte sich nicht, blieb so stehn.

Dieselbe Verhaftung ward gleichzeitig an dem seitwärts stehenden Manuel vollzogen.

Mit weitgeöffnetem Munde brach der Mulatte in ein langes, schallendes Gelächter aus. Dies und der Raubtierblick in dem blutunterlaufenen Auge veranlaßte den Beamten zum Befehl, ihm Handschellen anzulegen. Es umstanden den Verhafteten bereits mehrere gedrungene Gestalten, die mit solcher Arbeit vertraut, die auch immer auf alles gefaßt waren.

»Well, wenn es euch Spaß macht,« lachte der Mulatte, beide Hände geschlossen ausstreckend.

Es klirrte, es knackte zweimal, und die Hände waren durch eine kurze Stahlkette miteinander verbunden.

»Nun aber will ich auch noch mein Späßchen haben!«

Die gefalteten Hände drückten, wie Glas zersprang die Stahlkette – mehr ein Kunststückchen als eine Kraftleistung – und mit einem Satze stand der Mulatte an der Perronwand, in der einen Hand plötzlich die lange Machete, die andre riß einen Revolver aus der Tasche. Aber Manuel wollte nicht etwa seine Freiheit teuer verkaufen, dazu war er viel zu schlau, er hätte ja auch in der Sache seines Herrn und in seiner eignen alles verdorben. Er machte sich eben nur, wie er sagte, ein ›Späßchen‹. Noch ehe ein Detektiv nach der Waffe in der Tasche greifen konnte, hatte Manuel schon Messer und Revolver weit von sich geschleudert.

»So, nun fangt mich, wenn ihr könnt, wehren tue ich mich nicht!«

Dies alles hatte sich, vom Zerspringen der Kette an gerechnet, in einem einzigen Augenblick abgespielt, und in demselben Augenblick stürzten auch noch zwei Detektivs auf ihn zu, deren Beruf das Ergreifen war.

Aber sie prallten gegen die leere Wand und mit den Köpfen aneinander. Manuel stand grinsend an einer andern Stelle. Von allen Seiten sprangen sie hinzu, Kriminalbeamte und Konstabler, aber die Wunden, aus welchen sie bald bluteten, schlugen sie einander selbst, die auf sie herabregnenden Hiebe und Püffe erteilten sie sich nur selbst, der Mulatte wehrte sich nicht, er ließ ihnen nur seinen blauen Anzug, erst die Jacke, dann die Weste, dann das Hemd in Händen, und je mehr die Fetzen abfielen, bis seine schwarze Haut zum Vorschein kam, desto aalglatter wurde er, und was konnte er dafür, wenn jemand mit dem Kopfe gegen seinen stahlharten Schädel schmetterte?

Der erste Anprall war abgeschlagen. Schwitzend, keuchend, sich die blutende Nase und den schmerzenden Kopf haltend, umringten die Beamten in einem Halbkreis den feixenden Mulatten, der nur noch mit einer zerrissenen Hose bekleidet war. Er glich wirklich einem grinsenden Teufel.

»Na, da fangt mich doch! Ich wehre mich nicht, ich werde mich hüten, das ist ja strafbar.«

Doch dies alles war wieder nur in wenigen Augenblicken vor sich gegangen.

Flederwisch wankte. Seine Augen drohten die Höhlen zu verlassen.

»... die Toten stehn auf!« stöhnte er.

Ein großer, breitschultriger Mann im Matrosenanzug drängte sich durch den keuchenden Kreis.

»So kriegt ihr ihn nicht. Laßt's mich machen, ich kenne seine Kniffe. Komm an, Manuel!«

Auch des Mulatten rote Augen begannen zu stieren, als ob sie ein Gespenst sähen.

»Dietze – du – du – lebst?«

Mit einem heisern Wutgebrüll warf er sich auf den andern, ein Fausthieb sollte des neuen Gegners Kinnlade zerschmettern, er wurde pariert, dann standen sie zum Ringkampf eng aneinander, nur einen Moment, der Schweizer packte den Gegner hinten beim Hosenbund, Manuel wirbelte durch die Luft und lag mit dem Gesichte am Boden, sein Meister kniete auf ihm und löste sich den Gürtel von den Hüften.

»Keine Ketten,« wehrte er ab, »die knackt er gleich weg, er hat es uns oft genug vorgemacht. Hanf oder Leder muß es sein. So, du Schuft, nun kann es dir an den Kragen gehn!«

Dietze stand ruhig auf, als habe er eine ganz ungefährliche Tat vollbracht, und überließ den Mulatten den Konstablern, ohne auf deren bewundernde Blicke zu achten. Er brach sich einen Weg durch die Menge und verschwand im Gewühl vor dem Bahnhof.

Ein älterer Herr mit meliertem Haar benutzte die günstige Gelegenheit, ebenfalls ins Freie zu kommen. Er ging direkt hinter dem Schweizer her und folgte ihm auch noch, als bereits die offne Straße erreicht war.

Hier blieb der Schweizer stehn, und als der Herr an ihm vorüberkam, streckte er dem starken Jüngling, dem einstigen Matrosen von der Frithjof, die rechte Hand entgegen.

»Das hast du gut gemacht, mein Junge,« sagte er dabei.

Bescheiden lehnte der Schweizer diese Anerkennung ab.

»Na, Mister Werner, das Ganze war doch Ihre Idee, und am meisten wirkte es, daß dieser Schuft von einem Mulatten mich für tot hielt. Ei der Tausend, ich möchte dabeisein, wenn die beiden Sie wiedersehen – wenn sie merken, daß der erste Steuermann, den sie ermordet zu haben glauben, noch lebt!«

»Du wirst dabeisein,« entgegnete der alte Herr, den jener als Mister Werner angeredet hatte, und der in der Tat auch niemand anders war, als Alfred, unser Nobody. »Doch kehre jetzt in deine Wohnung zurück, wenn ich dich brauche, werde ich dich benachrichtigen oder selber zu dir kommen.«

Die beiden trennten sich, nachdem sie sich wie zwei einander sonst fremde Menschen gegrüßt hatten, und Nobody begab sich direkt nach dem berüchtigten Gefängnis Newgate, aus dem er einst den Keigo Kiyotaki gerettet hatte, als dieser schon auf dem Fallbrett des Galgens stand. Seitdem hatte der berühmte Detektiv freien Zutritt in dieses düstere Bauwerk, und noch mehr, er durfte sich den Freund des Bischofs nennen, dem die Seelsorge für die Insassen von Newgate oblag.

Zu diesem hochstehenden Geistlichen begab sich Nobody und ward sofort eingelassen, die beiden Herren hatten eine lange, anscheinend sehr wichtige Unterhaltung, und der Diener, der im Vorzimmer stand, staunte nicht wenig, als plötzlich sein Herr in Amtskleidung aus dem Arbeitszimmer kam und ihm sagte, daß er einen dringlichen Gang zu besorgen habe.

»Der fremde Herr, der mich besuchte, bleibt einstweilen drin, und du wirst dafür sorgen, James, daß er bis zu meiner Rückkehr nicht gestört wird!«

Der Diener verbeugte sich mit einem ›Sehr wohl, Ew. Lordschaft‹ und der Bischof ging. Hätte der wackere James aber in die Arbeitsstube seines Herrn geblickt, so würde er gewiß entsetzt zurückgeprallt sein, denn darin saß der ehrwürdige Bischof und las in einem Buche, und es war der echte Bischof. Er hatte nur dem Detektiv Nobody einen seiner Talare geborgt, und er war selbst nicht wenig erstaunt gewesen, als jener dann als sein Doppelgänger vor ihm stand, der ihm nicht nur im Aussehen, sondern auch in jeder Bewegung und sogar in der Sprechweise glich.

Kapitän Flederwisch hatte sich inzwischen in einem traumhaften Zustand befunden. Er wußte nicht, daß er dann in einer Droschke saß, wußte nicht, wie er ausstieg, wo er sich befand, was man ihn fragte, was er antwortete, wußte nicht, daß dies eine Zelle für Untersuchungsgefangene war. Es brauste und sauste ihm im Ohr, vor den leeren Augen lag ein grauer Nebel.

»Ach, das ist ein schwerer Traum,« stieß er seufzend hervor, als er auf das Bett fiel, weil er dagegen getaumelt war.

Er wußte auch nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, ob er geschlafen hatte oder nicht, als ein Mann vor ihm stand, der ihn fragte, ob er etwas zu essen wünsche.

Verwundert stierte Flederwisch den fremden Mann an.

»Essen? Essen?« murmelte er. »Wo ist denn der Steward? Nein, ich mag nicht essen. Keine laute Arbeit an Deck, ich will schlafen – schlafen.«

Und der gebrochene Mann schlief auch wirklich ein, auf dem Bett in sitzender Stellung, den Kopf gegen die nackte Wand gelehnt. –

Dann wieder stand ein andrer Mann vor ihm, in einen schwarzen Talar gehüllt, mit einem vollen, glattrasierten Gesicht. Die Arme über der Brust verschränkt, betrachtete er sinnend den Schläfer, und seine Blicke drückten Wehmut aus.

Flederwisch schlug die Augen auf, sie vergrößerten sich, er blickte den schwarzen Mann an, langsam drehte er den Kopf; er stierte den Tisch, den einfachen Holzstuhl, den Kleiderschrank, das vergitterte Fenster an, und schließlich kehrte sein Blick zu dem Fremden zurück.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin ein Geistlicher der anglikanischen Hochkirche. – Armer Mann!«

Die Stimme war sanft und wohllautend, und es wurde auch ehrlich gemeint, denn der Sprecher war ja Nobody, der Freund des Gefangenen.

Flederwisch richtete sich auf, blieb aber dabei sitzen.

»Wo bin ich denn hier?«

»Im Untersuchungsgefängnis von Newgate.«

Lange Zeit blickte der Kapitän ihn an. Dann stand er auf, ging mit leisem, leichtem Schritte nach dem Fenster, reckte sich und griff an die Eisenstangen. Die herabsinkenden Hände legten sich einige Sekunden vor das Gesicht, dann entfernte er sie und drehte sich wieder nach dem Geistlichen um.

»Ich glaube – ich – habe – nicht nur geträumt.«

»Armer Mann!« wiederholte jener nur schwermütig.

Wieder entstand eine lange Pause, und so stets, bevor Flederwisch zu sprechen begann.

»Bin ich nicht auf der Liverpoolstation verhaftet worden?«

»Die Kriminalpolizei war bereits benachrichtigt worden, daß Sie mit diesem Schnellzuge hier eintreffen würden.«

»Und doch,« murmelte Flederwisch nach jener Pause, den Kopf senkend. »Und doch muß ich eine Vision gehabt haben. Wissen Sie nicht,« fuhr er dann etwas lebhafter fort, »auf welche Weise Manuel, mein schwarzer Bootsmann, verhaftet wurde?«

»Ich habe gehört, daß er überwältigt werden mußte.«

»Ja, aber von wem?«

»Nun, wohl von den Detektivs und Konstablern.«

Wieder senkte Flederwisch den Kopf und hob ihn erst nach langer Pause.

»Glauben Ew. Hochwürden, daß Tote wiederkommen können?«

Vielleicht hätte ein wirklicher Geistlicher, oder einer von einer andern Religionssekte, etwa gesagt: wir sollen nicht behaupten, daß es unmöglich sei, denn der Heiland hat ja einen Toten wieder erweckt – Nobody als englischer, protestantischer Geistlicher sagte einfach: ›Nein, ich glaube es nicht.‹

»Dann habe ich doch eine Vision gehabt, nicht die erste,« murmelte Flederwisch. »Und auch meine Schwester will ich gesehen haben. Nein, es war nicht so, es ist unmöglich. Wissen Euer Hochwürden, ob meine Schwester auf dem Bahnhofe bei meiner Verhaftung zugegen war?«

Es war eine merkwürdige Frage, er hatte Imma ja erst telegraphisch bestellt. Und doch, erwartungsvoll hingen Flederwischs Augen an dem Geistlichen, und diesmal war dieser es, welcher eine sehr lange Pause eintreten ließ. Nobody wußte, daß dieser Schlag ihn furchtbar schwer treffen mußte, aber ersparen konnte er ihm denselben nicht. Das war eben das läuternde Fegefeuer.

Ein langer, ächzender Laut, Flederwisch wandte sich um, trat auch noch in die Ecke und legte die Hand vor die Augen.

So stand er minutenlang. Noch mehrmals klang das furchtbare Aechzen durch die kleine Zelle.

»Warum?« Mit diesem Worte drehte Flederwisch sich plötzlich wieder um. Geweint hatte er nicht, seine Züge drückten nicht einmal Schmerz aus, aber das ganze Gesicht sah plötzlich viel älter aus.

»Die Schwester klagt den Bruder an, daß er seinen einstigen Lebensretter, der als erster Steuermann auf der Frithjof diente, aus Eifersucht selbst ermordet habe oder habe ermorden lassen.«

Kein Aechzen erklang mehr. Wie eine eherne Statue stand der Kapitän da. Nobody wußte aber, welche Gedanken hinter Flederwischs Stirn arbeiteten.

»Und ferner,« fuhr er fort, »liegt gegen Sie der Verdacht vor, den Schiffsmakler Davis ermordet zu haben, um Ihrer Verpflichtungen enthoben zu sein. Auf diesen Verdacht hin hauptsächlich erfolgte Ihre Verhaftung.«

Ruhig blickte Flederwisch den Sprecher an. Dann ging er auf diesen zu, blieb einen Schritt entfernt vor ihm stehn.

»Sie sind ein Geistlicher. Aber ich brauche keinen geistlichen Trost. Sie scheinen mir auch gar keinen bringen zu wollen. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Ich bin der Bischof von Newgate.«

»Verzeihen Mylord, das konnte ich nicht wissen. Aber ich muß noch mehr fragen. Ich bin ein Mann, der jetzt um Leben und Tod ringen wird, und solch einem Mann ist manches erlaubt. – Was führt Sie zu mir?«

»Ich bin Ihr Freund.«

Es waren keine ins Leere stierenden Augen mehr, sie durchbohrten den Geistlichen, und doch vermochten sie nicht die Maske zu durchdringen.

»Das glaube ich Ihnen nicht, Mylord! Die englischen Bischöfe der Staatskirche bekleiden meistenteils auch ein juristisches Amt, gewöhnlich sind sie Friedensrichter. Sollten Ew. Lordschaft nicht unter der Maske eines Seelsorgers als aushorchender Untersuchungsrichter zu mir kommen?«

Das konnte als eine schwere Beleidigung aufgefaßt werden, aber der Angeklagte muß sich wehren, und daß Flederwisch es tat, zeigte, wie er sich von dem furchtbaren Schlage, der ihn getroffen, schon wieder erholte, bereit zum Kampfe.

»Sie haben recht,« entgegnete Nobody ruhig – er hatte ja unbeschränkte Vollmacht von dem erhalten, den er hier vertrat – »aber ich gehöre zu den Bischöfen, welche nur im Dienste der Kirche stehn. Sie sind kein geborner Engländer, sonst würden Sie wissen, wie es hier jedes Kind weiß, daß der Bischof von Newgate nur das Kirchenwesen der Straf- und Besserungsanstalten unter sich hat, und wenn Sie das richtig verstehn, wie können Sie da glauben, daß ich als Untersuchungsrichter zu Ihnen komme?«

Doch, Flederwisch entsann sich. Das lag auch schon im Namen ›Bischof von Newgate‹. Und undenkbar ist es allerdings, daß dieser sein Amt mißbrauchen könne, um einem des Mordes Verdächtigen ein Geständnis abzulocken.

»Verzeihen Ew. Lordschaft mir nochmals. Wodurch aber ist ein des gemeinen Mordes beschuldigter Mann Ihres hohen Besuches würdig?«

»Ich komme als Freund zu Ihnen.«

»Als Freund? Ein sehr dehnbarer Begriff! Wenn Sie mich richtig kennten ...«

»So würde ich Sie eines gemeinen Mordes nicht für fähig halten,« unterbrach ihn die ruhige Stimme. »Nicht wahr, das wollten Sie sagen? Nun, Kapitän, ich kenne Sie recht gut.«

Flederwisch stutzte, wenn er sich auch äußerlich beherrschte. Was war das?

»Ich aber kenne Sie nicht, Mylord, weiß nur, daß ein Bischof von Newgate existiert.«

Der Geistliche, als Bischof der Hochkirche den Titel Lord führend, trat auf ihn zu und legte ihm auch noch die Hand auf die Schulter.

»Zuerst lernte ich Sie aus den Zeitungen kennen. Ich bin ein Geistlicher, der den Frieden und das Wort Gottes predigt. Aber ich habe auch ein offnes Herz für alles, was Kraft und Kühnheit heißt, ich bewundre einen Mann, der mit starker Hand Fesseln zu brechen weiß, der etwas schafft, was sich über die Durchschnittswelt erhebt. Kapitän, ich habe Sie bewundert! Ich verfolgte Ihr Unternehmen in Südamerika, soweit ich konnte. Dann kam der Prozeß mit Ihrer geschiednen Frau. Daß Sie solch ein Weib heiraten konnten, welches Sie sofort betrog, das sah Ihrem Charakter ganz ähnlich. Verstehn Sie wohl: einem gutmütigen, edlen, offnen Charakter wie dem Ihren. Denn der wahre Held ist immer dem Herzen nach ein Kind, und Sie haben die Anlage zu einem Helden. – Es wurde der Verdacht aufgeworfen, Sie hätten den Schiffsmakler Davis ermordet, um Ihren Verpflichtungen zu entgehn. Wie, sagte ich mir, sieht das dem Kapitän der Frithjof ähnlich? Ich glaube es nicht. – Jener junge Advokat behauptete, Sie hätten den Pfandschein eingeschickt, um Rache an Ihrer treulosen Frau zu nehmen. Die Rache ist menschlich sagte ich mir, der Herr führe uns nicht in Versuchung, das könnte der Kapitän allerdings getan haben, jene Frau hatte ja seiner Schwester die Erbschaft entrissen, aber für Davis' Mörder halte ich ihn nicht, deshalb kann er den Schein auch nicht eingeschickt haben. – Nun aber weiter: Sie reichten dem Gerichtshof der Ehescheidungen einen sehr merkwürdigen Brief ein, ich habe ihn gelesen; danach scheinen Sie das kleine, braune Kind als das Ihre anzuerkennen, man konnte es nicht anders annehmen. Antworten Sie mir offen, ich frage nicht als Inquisitor, sondern als Freund: ist dieses Kind wirklich das Ihre?«

Flederwisch strengte vergeblich sein Hirn an. Wurde ihm hier eine Falle gestellt? Nein, er traute diesem Manne!

»Nein, es kann nicht mein Kind sein.«

»Und warum beauftragten Sie da eine Dame in London, welche Sie von früher oberflächlich kannten, eine Dame aus sehr guter Familie, aber in etwas gedrückten Verhältnissen, warum beauftragten Sie diese, sich des Kindes anzunehmen? Warum schickten Sie ihr dreihundert Pfund zu mit dem Versprechen, sie sollte jährlich diese Summe erhalten, wenn sie das Kind wie das ihre erzöge?« Nobody hatte dies bereits in Erfahrung gebracht, und diese Entdeckung hatte ihn gefreut. – »Diese Dame ist nämlich eine weitläufige Verwandte von mir, und wenn Sie ihr auch dringend schrieben, sie sollte niemandem etwas davon sagen, sie hat es mir dennoch gestanden, mit zu Ihrem Lobe überfließendem Munde. Warum nun nahmen Sie sich so des Kindes jenes Weibes an, Kapitän?«

Flederwisch war bis in die Lippen erblaßt.

»Weil – weil – mir tat das Kind eben leid.«

»Kapitän,« fuhr die feierliche Predigerstimme fort, »es war eine hochherzige Tat; aber,« der Bischof beugte sich vor und begann zu flüstern, »Sie haben sich damit selbst das Todesurteil gesprochen!«

Die Hand wurde von der Schulter zurückgezogen, der Bischof trat einen Schritt zurück und streckte, halb abgewendet, beide Hände gegen den Gefangenen aus.

»Kapitän,« flüsterte er, »an Ihren Händen klebt Blut – da habe ich es erkannt! Sie haben Davis ermordet, Sie haben den Pfandschein besessen und benutzt, um die treulose Frau zugrunde zu richten – und Sie haben sich selbst ruiniert – nicht durch die Rache, sondern durch Ihren Edelmut – das ist das furchtbare Verhängnis – denn Sie haben das Geld und den Brief schon an Mrs. Murgrave abgeschickt gehabt, als Sie noch gar nicht wissen konnten, daß der Pfandschein aus Nordamerika hier schon eingetroffen sei, deshalb haben Sie ihn selbst abgeschickt. Kapitän, Sie sind des Mordes an Davis überführt!«

Dieser Mann hielt Flederwischs Henkerstrick in den Händen. Er tat das Beste, was er tun konnte, er hielt die Hand zum Schwur empor:

»Bei Gott, dem Allmächtigen, ich bin unschuldig!« sagte er feierlich. Nur schade, daß der vermeintliche Geistliche besser als der Schwörende selbst wußte, inwiefern dieser unschuldig sei.

Nobody fuhr als Bischof fort:

»Wissen Sie nun, warum ich zu Ihnen gekommen bin? Nicht als Ihr Inquisitor, sondern als Ihr Verteidiger. Und ich kann es nicht fassen, daß ein Mann wie Sie einen gemeinen Raubmord begangen hätte! Ja, ich glaube Ihrem Schwur! Hören Sie? Ich will Sie verteidigen! Und wissen Sie, wer ich bin? Ich bin der Bischof von Newgate. Nun aber vertrauen Sie sich mir an, sprechen Sie offen, kein Auge beobachtet, kein verborgenes Ohr belauscht uns.«

Was nun hatte dieser Bischof von Newgate vor? Er konnte Flederwisch höchstens dadurch schützen, daß er jene Geschichte mit dem Briefe verschwieg, verteidigen konnte er ihn nicht, ihm nur sein Los bis zur Fällung des Urteils dadurch erleichtern, daß er Bürgschaft für ihn übernahm, wodurch Flederwisch solange aus der Haft entlassen wurde.

Flederwischs Gehirn arbeitete fieberhaft. Er ahnte ja nicht, daß dieser Besuch des Geistlichen eine letzte Prüfung für ihn bedeute. Benutzte er seine Freiheit, um zu entfliehen, so brach er sein Ehrenwort. Aber er war ja unschuldig! Und vielleicht konnte er aus geschäftlichen Gründen nach den Gallopagos beurlaubt werden.

Wer war dieser Mann? Ein Bischof, ein Lord, er mochte zehntausend Pfund Einkommen haben. Alles dies konnte Flederwisch ihm auch geben. Starb der Bischof hier, so würde die Welt seinen Namen nie gehört haben. Auf den Gallopagos konnte er zunächst einige tausend Seelen zum Protestantismus bekehren, dort sollte sein Name bald bekannt werden.

Spekulierte der Mann schon hierauf? Wenn nicht, so wollte Flederwisch es ihm suggerieren, natürlich nicht jetzt, da war noch viel Zeit dazu, langsam, ganz vorsichtig. Zunächst mußte er sich seines Vertrauens würdig zeigen, und Nobody wartete schon darauf, was Flederwisch vorbringen würde. Jetzt war ja die beste Gelegenheit für diesen, zu schauspielern, und dann – dann sollte der Leichtsinnige durch einen neuen, furchtbaren Schlag zu Boden geschmettert werden.

Ja, Flederwisch hatte durch den Verrat seiner Schwester einen furchtbaren Schlag erhalten, aber seine Lebenskraft war doch noch nicht gebrochen, und der scharfsinnige Perkins ahnte nicht, welche feinen Pläne schon hinter dieser Stirn gesponnen wurden.

»Sie haben sich nicht geirrt, jenes Dokument kam von mir. Sie haben sich aber auch nicht geirrt, als Sie mir keinen geschäftlichen Raubmord zutrauten. Ich habe mit Davis' Ermordung nichts gemein, ich bin unschuldig!«

»Wie soll ich dies zusammenreimen?« fragte der falsche Bischof mit erheucheltem Mißtrauen.

»Nun, sehr einfach, dieses Papier, von mir geschrieben, gelangte zufällig in meine Hände.«

Es war alles verabredet gewesen, so sorglos war Flederwisch nicht, nach England zu gehn, ohne Vorbereitungen getroffen zu haben. In ewiger Untersuchungshaft konnte man ihn allerdings festhalten, und daß dies nicht geschehe, dafür würde jetzt dieser Bischof sorgen.

»Ich will Ihnen das glauben. Wie verhalten Sie sich aber der furchtbaren Anklage Ihrer Schwester gegenüber?«

Wenn Flederwisch nicht durch seine Willenskraft zu erbleichen vermochte, so konnte er sich doch wenigstens scheu, gedrückt stellen.

»Er ist bei einem Hurrikan über Bord gewaschen worden,« sagte er, und sein erkünsteltes Benehmen strafte ihn Lügen.

»Kapitän, sprechen Sie die Wahrheit! Sie haben einen furchtbaren Zeugen gegen sich – nämlich Ihr Verhalten, als Sie verhaftet wurden. Ich habe es erzählen hören. Sie kamen; freudig sprangen Sie aus dem Zuge, um die Schwester zu umarmen, und als diese Sie nur ernst und fragend ansah, da sind Sie erbleichend zurückgetaumelt, und da soll sie gesagt haben: ich hatte recht, ich wußte es, er hat Alfred ermordet, denn er kann mir nicht in die Augen blicken.«

Noch einmal wurde Flederwisch von einer furchtbaren Erregung ergriffen, und diesmal war der schmerzliche Jammer echt, der sich in seinen Zügen ausprägte. Aber die Besinnung verlor der um seine Freiheit ringende Mann dabei nicht, er trat wieder einen Schritt näher.

»Nun denn, Mylord, so erfahren Sie die ganze Wahrheit,« flüsterte er im leisesten Tone, den Oberkörper vorgeneigt. »Ich muß mein Entsetzen, als ich Immas abweisendes Verhalten erkannte, rechtfertigen. Ja denn, ich habe meines ersten Steuermanns Tod verschuldet. Aber nicht so, wie es meine Schwester annimmt. Ein Mörder bin ich nicht! In jener Nacht, als der Hurrikan wütete, die Toppen brach und die stärksten Raaen wie Streu wegblies, als das Schiff zu kentern drohte, als wir uns an Deck festbinden mußten, da – wurde der Steuermann an meiner Seite von einem Brecher fortgerissen – ich sah ihn treiben – den einstigen Geliebten meines Weibes – und – ich – ließ ihn treiben – rief nicht: Mann über Bord!«

Stier sah Flederwisch den vermeintlichen Geistlichen an, und dieser faltete die Hände über dem Leibe.

»Hätten Sie ihn denn retten können?« fragte er leise, und der andre benutzte den gebotenen Ausweg.

Flederwisch richtete sich auf.

»Kein Gedanke daran! Wie wäre denn das möglich gewesen bei solch einer See, ein Hurrikan! – Und doch! Ich wollte nichts gesehen haben. Ich fühlte mich schuldig – deshalb wagte ich meiner Schwester nicht ins Auge zu blicken, daher mein furchtbarer Schreck – und mein Elend.«

»Armer, bedauernswerter Mann,« sagte der Bischof nach einer langen Pause. »Nein, Sie sind unschuldig, vor Gott und vor den Richtern. Befreien Sie Ihr Gewissen von der Last, welche Sie nicht zu tragen brauchen. Ich werde für Ihre Verteidigung sorgen. Wiederholen Sie das, was Sie mir über das Dokument erzählt haben, vor dem Gericht, geben Sie auch offen an, wie Sie sich schuldig fühlten, weil Sie es unterlassen hätten, des Steuermanns Rettung auch nur zu versuchen, und Ihr Bootsmann wird wohl schildern, wie eine Rettung nicht möglich gewesen ist. Der englische Richter urteilt viel mehr nach dem Herzen als nach dem Kopfe.«

Und dies ist eine Wahrheit, er urteilt schon darum viel mehr nach dem persönlichen Empfinden, weil er nicht an ein schriftliches Gesetz mit Paragraphen gebunden ist.

»Ach, ich bin fürchterlich enttäuscht worden,« seufzte Flederwisch. »Als glücklicher Mensch eilte ich hierher, um die Schwester zu umarmen, und nun! Nur eins kann mich wieder aufrichten. Zurück nach meinen Inseln, zurück zur Arbeit!«

Der Schauspieler muß die Person, welche er darstellt, wirklich zu sein glauben, er muß wirklich die Empfindung haben, welche der Dramatiker fordert, sein Lachen und seine Tränen müssen echt sein, sonst ist er eben kein echter Künstler, sondern nur ein trockener Vorleser.

Ob also Flederwisch schauspielerte oder nicht – sein Schmerz und seine Sehnsucht waren echt.

Halb abgewendet stand er da. Es kam keine Antwort, es war so still in der Zelle. Er wendete den Kopf.

»Armer Mann!« Der Bischof sagte es nun zum fünften Male in jenem schwermütigen Tone, seine Hand griff unter den Talar, er tastete auf seiner Brust. »So haben Sie also wirklich noch gar nichts vernommen?«

»Wovon?«

»Ja, Sie wurden auf den Azoren festgehalten. Und auch in Liverpool hörten Sie kein Wort? Auch nicht im Zuge?«

»Mylord, spannen Sie mich nicht auf die Folter!« flüsterte Flederwisch.

»Südamerika – besonders Ecuador – ist von einem schrecklichen Erdbeben heimgesucht worden. Quito liegt in Trümmern.«

Mit plötzlich schneeweiß gewordenen Lippen lehnte Flederwisch sich gegen die Wand.

»Nur spärlich laufen die Nachrichten ein. Kapitän, fassen Sie sich, auch Ihr Werk war nur eines von Menschenhänden, und Sie hatten auf einen – Vulkan gebaut!«

Unter dem Talar kam ein Papier zum Vorschein.

»Schon vor acht Tagen traf dieses Telegramm, über Aspinwall kommend, für Sie ein – in Guayaquil liegt schwer verbrannt ein Mann – namens Helge Halfdan – ich glaube, es ist der letzte Ihrer Freunde, wenn er noch lebt.«

Die zitternden Finger griffen nach dem Telegramm.

Das Papier flatterte auf den Boden.

Flederwisch schlug die Fäuste gegen die Augen, mit einem markerschütternden Schrei brach der Schauspieler zusammen.

 

Freilich, einen Nobody vermochte Flederwisch nicht zu täuschen, und wenn dieser meinte, den Bischof von Newgate vollständig für sich gewonnen zu haben, so war das eben ein großer Irrtum; denn der Detektiv schilderte dem Geistlichen, dessen Rolle er gespielt hatte, nicht nur den Verlauf der Unterredung, sondern gab auch die nötigen Kommentare dazu, und diese Erklärungen, die eben nur Nobody zu geben vermochte, setzten Se. Lordschaft in nicht geringes Erstaunen, und der Bischof schüttelte noch oftmals den Kopf, nachdem ihn sein Besucher schon längst verlassen hatte.

In London aber, und man kann sagen, in ganz England, herrschte eine große Erregung. Nun endlich sollte der Mord an dem Schiffsmakler in Whitechapel gesühnt werden, und kein andrer als Paul Müller, der Pächter der Gallopagos, besser bekannt unter dem Namen Kapitän Flederwisch, war den umlaufenden Gerüchten nach der Täter gewesen. Er hatte den Mord begangen, um dem Wucherer den Pfandschein über seine Erbschaft wieder abzunehmen, der in dem Prozesse gegen die Herzogin eine Rolle spielte. Vielleicht war auch der schwarze Bootsmann an der Tat beteiligt gewesen. Kapitän Flederwisch hatte eine Geschäftsreise nach England geführt. Auf der Liverpoolstation waren er und der Mulatte verhaftet worden. Letztrer hatte sich verzweifelt gewehrt – schon ein Beweis seiner Schuld.

Zweitens aber sollte Kapitän Flederwisch seinen ersten Steuermann ermordet haben – aus Eifersucht – und die Anklägerin war Flederwischs eigne Schwester.

Das war sensationeller Stoff genug, und es konnte niemanden wunder nehmen, wenn neben den Namen Kapitän Flederwisch und Manuel noch ein andrer von Mund zu Mund ging – der Nobodys. Man war überall der überzeugten Meinung, daß nur dieser berühmte Detektiv das Dunkel lichten könnte, welches über den Fall gebreitet war, und ›Worlds Magazine‹ fand in jeder Nummer einen Riesenabsatz, der den Neid aller Zeitungsverleger erregte – dabei aber stand in keiner Nummer etwas von dem Kapitän Flederwisch. Man las davon viel mehr in den Tageszeitungen.

Bisher war deren neuester Unterhaltungsstoff das fürchterliche, viele Tage währende Erdbeben an der Nordwestküste Südamerikas gewesen, und auch da war schon der Name Kapitän Flederwisch wiederholt genannt worden, denn auf den Gallopagos schien die Katastrophe ihren Anfang genommen zu haben. Der Vulkan auf Albemarle war mit frischer, seit Jahrhunderten aufgespeicherter Kraft ausgebrochen. Die eine Insel war ganz vom Meere verschlungen worden; zwei neue hatten sich dafür aus dem Ozean erhoben.

Man sprach erst von der völligen Vernichtung alles Lebens auf den Inseln, dann stellte man die Sache gelinder hin. So viel aber war gewiß, daß es dort schrecklich zugegangen war, und die der Börse gewidmeten Spalten wiesen darauf hin, daß sich dieses Erdbeben bis in die Bankkreise Englands fortpflanzen würde. Das Unternehmen der Kolonisation war vollkommen gescheitert, alles sollte verloren sein. Mit Menschenverlusten befassen Börsenberichte sich nicht.

Ausführliche Nachrichten fehlten noch. Die über Panama kommenden Telegramme waren undeutlich, verstümmelt und sich widersprechend. Auf die schauerlichen Schilderungen eines obskuren Blättchens, das schon greuliche Bilder von der Katastrophe brachte, konnte man nichts geben.

Da endlich brachte ›Worlds Magazine‹ einen ausführlichen Bericht, so ausführlich, als wenn der Schreiber selbst drüben gewesen wäre.

Statt sich mit Feuer, Blitz, Donner und haushohen Wellen abzugeben, hatte Worlds Magazine einen sachlichen Bericht gebracht. Was die Gallopagos anbetraf, so war gerade auf den drei größern das Werk, das Menschenhand geschaffen, völlig zerstört, alles lag unter einer Decke von rauchender Lava und Asche, die Gebäude natürlich zusammengestürzt. Die sogenannten Fraueninseln dagegen waren verschont geblieben. Als zuerst der Boden von Albemarle zu zittern begann, war das Meer noch ganz ruhig gewesen, sämtliche europäischen Aufseher und chinesischen Arbeiter hatten sich von Insel zu Insel begeben können, sie waren dem Tode entgangen. Erst dann zerschmetterte die furchtbar werdende See alle Schiffe und Boote, die sich zwischen oder in der Nähe der Inseln befanden. Außer den auf diesen befindlichen Besatzungen mochten noch gegen fünfzig andre Europäer ihren Tod gefunden haben, welche nicht sofort Albemarle verlassen hatten, aus Treue zu ihrer Pflicht, unter diesen die ganze Mannschaft von der s. Z. sehr bekannten Imma, später auf der Frithjof. Anstatt den wankenden Boden zu fliehen, hatten sie unter Anführung des Stellvertreters des Kapitäns – dieser befand sich unterwegs nach England – den Vulkan erstiegen, denn dort oben – ganz unbegreiflicherweise – stand das Gebäude, welches die wichtigsten Papiere der Kolonie und die Kasse enthielt. Da war der Vulkan ausgebrochen. Sämtliche Getreue waren in dem Flammenmeere umgekommen, nur jener stellvertretende Direktor, Helge Halfdan, hatte den Rückweg durch die glühende Lava gefunden; jetzt lag er schwer verbrannt in einem Hospital zu Guayaquil; er hatte dem Berichterstatter, seinem Gönner Nobody, diese Angaben gemacht. – Nachtrag: Auch Halfdan ist seinen Leiden inzwischen erlegen.

›Worlds Magazine‹ mußte wohl wiederum allwissend gewesen sein, es hatte ja recht: Kapitän Flederwisch war in London angekommen. Als der Ahnungslose den Untergang seiner Kolonie und seiner Getreuen erfuhr, sollte er mit einem Jammerschrei bewußtlos niedergestürzt sein. Das war wohl auch zu glauben.

Nun begann also die gerichtliche Untersuchung. Die doppelte Klage des Mordes, von der Schwester eingereicht, richtete sich auch gegen den schwarzen Bootsmann. Außer vielen andern Zeugen wurden wieder jene Mädchen aus der Dockstreet vorgeladen, soweit es noch dieselben waren. Allerdings würde man nicht viel auf ihre Aussagen geben. Ferner meldete sich freiwillig die geschiedne Frau des Kapitäns, auch als Herzogin geschieden, die noch immer im Royal Aquarium tanzte, freilich nicht unter ihrem Titel, sondern als Senora Tarantella – der Tingeltangeldirektor mochte es nicht mit den hohen Kreisen Englands verderben – sie wollte gegen ihren ersten Gatten die belastendsten Aussagen machen und erzählte schon jetzt jedem, der ihr zuhörte, daß er den Steuermann ihretwegen ermordet habe. Dieser sei ihr ehemaliger Geliebter gewesen; sie erzählte noch viel mehr – und ward von der englischen Gerechtigkeit eben deswegen nicht als Zeugin zugelassen. Carmencita geiferte noch in der Vorhalle des öffentlichen Gerichtssaales, und nun ward sie auch noch hinausgewiesen, und als sie noch lange zögerte, brachte ein Konstabler sie energisch an die frische Luft

 

Der große, amphitheaterähnliche Saal der Lincolns Inn zu Westminster, wo die ›Queens Bench‹, der oberste Gerichtshof für Kriminalfälle, seine Sitzungen abhält, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Unzählige hatten keine Eintrittskarte mehr bekommen können.

Die Gerichtssitzung wurde eröffnet, umständlich, zeremoniell. Die Richter standen zusammen auf und setzten sich wieder, sie flüsterten zusammen und sprachen einzelne Formeln her.

Ein Mann namens Manuel Zanella war angeklagt, an dem und dem Datum den Schiffsmakler Davis ermordet zu haben. Das war die Hauptsache.

Wer war denn dieser Manuel Zanella? Den Namen hatte man noch nie gehört.

Unterdessen blickten Tausende von Augen auf die bleiche, junge Frau in schwarzem Kleide, welche auf der ersten Zeugenbank neben dem dicken Manne saß, der sich immer mit dem Taschentuche die Stirn wischte. Das also war die Schwester, welche den eignen Bruder des Mordes bezichtigte, und der Mann neben ihr, Rechtsanwalt Perkins, war seit drei Wochen ihr Gatte! Sehr interessant! In den untern Reihen starrten die Operngläser wie drohende Batterien.

»Man führe den Angeklagten herein!«

Dies war der Inhalt einer feierlichen Formel. Es klirrte unheimlich. In der Mitte von zwei Konstablern schritt der Mulatte, mit schweren Ketten belastet, welche er nicht brechen konnte. Sein Verhalten bei der Verhaftung, wie auch sein trotziges Benehmen dem Zellenwärter gegenüber rechtfertigten die Fesselung. Er kam in die Box, die Anklagebank, gegenüber dem ›Chairman‹, dem die Untersuchung führenden Inquisitor, und auch gegenüber den Zeugen. Die beiden Konstabler standen neben der Box.

»Manuel Zanella.«

Die Personalien wurden festgestellt, aber sonst der frühere Lebenslauf, ob vorbestraft etc., nicht berührt. Wohl zeigte der Mulatte den ihm zur Natur gewordenen höhnischen Trotz, doch sonst war er fügsam und gab durchaus klare Antworten.

»Ihr seid verdächtig, den Schiffsmakler Davis ermordet zu haben,« lautete die Anklage unter nähern Angaben.

»Dies müßt Ihr mir beweisen,« war Manuels sofortige Antwort, eine Entgegnung, die man von jedem Angeklagten und immer wieder hört.

Der Unterschied des deutschen Gerichtsverfahrens von dem englischen ist, daß in Deutschland der Angeklagte seiner Schuld zu überführen ist, während der englische Richter dem Angeklagten die Schuld zu beweisen hat. Scheinbar ist dies ganz dasselbe; es ist aber doch ein großer Unterschied dabei. Sagt der des Mordes Angeklagte: ja, ich habe die Tat begangen, und er schildert sie in allen Einzelheiten, welche den Untersuchungen entsprechen – so erklärt ihn in Deutschland das Gericht für schuldig; aber nicht in England, da muß seine Schuld erst nochmals ›bewiesen‹ werden.

Die Zeugen wurden vernommen. Ja, sie hatten diesen Mulatten in Davis' Hause mehrmals ein- und ausgehn sehen, bei Tag und bei Nacht, oder doch damals am späten Abend, und da er nicht zu ihnen gekommen war, mußte er hinauf zu dem alten Junggesellen gegangen sein.

»Auch der Kapitän Müller verkehrte dort?«

»Auch ihm habe ich wiederholt die Türe geöffnet,« erwiderte eine Frauensperson.

»Hat Ihr Bruder mit Davis Geschäfte gemacht?« wurde Imma gefragt.

»Ich weiß es nicht,« sagte diese mit klarer Stimme.

Der gefragte Manuel gestand, daß sein Herr mit dem Schiffsmakler geschäftlich verkehrt habe.

»Was für Geschäfte wurden abgeschlossen?«

»Darauf brauche ich keine Antwort zu geben; ich war und bin sein Bootsmann.«

Er war in seinem Rechte. Bei allem, was sein direktes Verhältnis als Bootsmann zum Kapitän betraf, brauchte er gegen diesen nicht zu zeugen. Anders freilich, wenn es sich um eine verbrecherische Tat, um einen Mord handelte.

Der von Flederwisch ausgestellte Pfandschein wurde dem Mulatten gezeigt.

»Habt Ihr diesen einmal in den Händen Eures Kapitäns gesehen?«

Mit dieser harmlosen Frage begann eine lange Reihe weiterer, und nun fing die systematische Treibjagd an, und es war ein lückenloses System.

Manuel widersprach sich, wurde immer verlegner, stotterte und erzählte offen, was er wußte.

Der in seiner Loge sitzende Bischof von Newgate, diesmal der echte, hörte fast ganz genau dasselbe, was Nobody ihm gesagt hatte, wie Flederwisch in den Besitz des Papieres gekommen sei, Manuel war des Kapitäns Vertrauensmann gewesen, und daß er manches nicht wußte, war begreiflich.

Es klang alles glaubhaft, was der Mulatte sagte, ja, seine Verlegenheit zuerst, als er gestehn mußte, machte es noch glaubhafter. Beirren ließ sich der englische Richter durch diese Verlegenheit allerdings nicht. Sie konnte echt, sie konnte auch erkünstelt sein, um Glaubwürdigkeit herbeizuführen.

»Fragt alle Matrosen von der Frithjof,« schloß Manuel, »ob's nicht so gewesen ist. Das heißt, von diesem Papiere wissen sie freilich nichts, wie es der Kapitän von Nordamerika abschicken ließ, aber wie ein gewisser Bill Bourne es gebracht hat, wie er an der Schwindsucht starb, das wird Euch jeder von den Gallopagos erzählen, laßt sie doch kommen!«

Manuel wußte also noch nicht von dem Untergange der Kolonie.

»Wie hieß der erste Steuermann von der Frithjof?«

»Alfred Werner.«

»Wußte dieser, daß der Kapitän mit dem in sehr schlechtem Rufe stehenden Schiffsmakler Geschäfte gemacht hatte?«

»Weiß nicht, Euer Gnaden. Mag sein, mag auch nicht sein.«

»Wußte der Steuermann, daß der Kapitän jenes Papier besaß?«

»Mag sein, Euer Gnaden, mag auch nicht sein.«

Es war eine recht geschickt gestellte Schlinge gewesen, aber gerade, daß der Angeklagte so harmlos in sie hineinlief, war ein guter Beweis für seine Unschuld. Hätte er sofort etwa gerufen: Wie konnte er denn davon wissen, der Kapitän hat doch den Schuldschein erst nach des Steuermanns Tode bekommen! – so wäre dies ein Zeichen gewesen, daß er sich jedenfalls vorher präpariert hatte. Aber Manuel gab die ihn belastende Antwort mit guter Absicht, und der Richter wiederum hielt es gar nicht für nötig, ihn über seinen Irrtum aufzuklären.

»Manuel Zanella! Dieses Papieres wegen ist der erste Steuermann ermordet worden!!«

Schnell, wuchtig hatte es der Inquisitor gerufen, dem Angeklagten den Schuldschein entgegenhaltend.

In diesem Augenblick stockte der Atem von viertausend Menschen. Nur Imma machte eine Bewegung, als wenn sie aufspringen wolle, schnell legten sich Perkins' Finger um ihren Arm.

Allerdings stutzte der Mulatte – und dazu war er berechtigt.

»Aus welchem Grunde habt Ihr ihn sonst ermordet?« rief der Inquisitor ebenso schnell.

Da brach Manuel in ein höhnisches Gelächter aus, zum ersten Male blickte er nach Imma.

»Das dachte ich ja, daß es so kommen würde!« lachte er.

»Was sollte so kommen?«

»Daß die dort uns verklagt, wir hätten den ersten Steuermann ermordet, den sie liebte. Sie konnte mich von jeher nicht leiden, und weil ich den Steuermann mal mit dem Messer bedrohte, muß ich ihn später aus dem Wege geräumt haben. Ich wußte es ja gleich, als sie am Bahnhofe stand und ihren Bruder so komisch ansah. Nein, werte Miß, wenn Sie nicht schon Mrs. Perkins sind – Ihr Heimlichgeliebter ist einfach über Bord gewaschen worden, und freilich, wenn ich auch gekonnt hätte, ich würde ihn nicht gehalten haben.«

Es waren für das Publikum sehr dunkle Worte gewesen. Aber die Richter schienen sich auch für diesen Fall vorbereitet zu haben, der Inquisitor ging gar nicht mehr auf diese Worte ein, das Kreuzverhör nahm seinen Fortgang, dem Publikum waren es scheinbar ganz unzusammenhängende Fragen, mancher mochte denken: da würde ich geschickter fragen – aber in diesen unzusammenhängenden, manchmal töricht klingenden Fragen lag doch ein ganz bestimmtes, äußerst raffiniertes System!

Allein der schwarze Angeklagte war nicht zum Widerspruch zu bringen. Er ist unschuldig, sagte sich der Bischof; der Richter und das Publikum: er ist schuldig; aber das kann ein Prozeß werden, der sich jahrelang hinzieht, wenn sich überhaupt etwas beweisen läßt.

Die Box öffnete sich, noch ein höhnischer Blick nach der bleichen Frau, deren Herzensgeheimnis er ans Licht gezerrt hatte, und kettenklirrend verließ Manuel mit trotzig erhobenem Haupte den Saal.

Der ›Clerk of the peace‹ – warum er Friedensschreiber heißt, ist dem Verfasser nicht bekannt – verlas das von ihm aufgenommene Protokoll, die ›Attorneys‹, die ›Counsels‹ und die ›Benchers‹ kritisierten das Verhalten des Abgeführten, seine Antworten; sie kritisierten auch die Fragen des Inquisitors, worauf dieser sein System rechtfertigte. Das Publikum bekam von dieser leise geführten Unterhaltung nichts zu hören.

Ein andrer ›Barrister‹ nahm als Inquisitor den Stuhl ein.

»High-Constables of justice, führt mir den Angeklagten vor!«

Die Flügeltüren gingen zurück, unter der Begleitung zweier Konstabler schritt Kapitän Flederwisch durch den todesstillen Saal. In der Mitte desselben, als er die Schwester sah, stockte sein Fuß, dann ging er weiter, und er wandte den Blick auch noch nicht wieder von ihr ab, als er schon in der Box stand.

Erst als er sprechen mußte, um seine Unschuld an dem ihm zur Last gelegten Raubmorde zu verteidigen, blickte er den fragenden Inquisitor an.

Seine Stimme war ruhig wie sein Verhalten. Ja, er hatte den Schuldschein eingeschickt, um das treulose Weib aus dem Besitze zu vertreiben, der ihr nicht gebührte, und er schilderte, wie er zu ›dem Papiere‹ gekommen, es war eine Ergänzung zu Manuels Aussagen.

Durch die Galerien ging ein Murmeln: Er ist unschuldig!

Der neue Inquisitor befolgte ein andres System.

»Kapitän! Ihr seid ferner angeklagt, Euern Steuermann Alfred Werner ermordet zu haben!«

Flederwisch wandte das Gesicht wieder seiner Schwester zu, blickte sie unverwandt an, auch dann, als er sprach. Erst aber ließ er eine lange Pause eintreten, und er wurde darin nicht gestört.

»Schwester, du sollst deine Rache haben,« sagte er dann laut, »auch ich lernte sie kennen, und sie ist wirklich süß. Ja, ich habe Alfred ermordet!«

Die Stille des Grabes lagerte über dem Saal. Die Geschwister blickten sich an, Imma regungslos, während Perkins sich unruhig bewegte und immer die Schweißtropfen von der Stirn wischte.

»Warum?« fragte der Inquisitor, und alles schrak zusammen.

Auch jetzt redete Flederwisch nur zu seiner Schwester.

»Carmencita lügt, Alfred Werner ist nie ihr Geliebter gewesen. Wir beide fanden gleichzeitig die fünfzig Tonnen Gold der englischen Münze ...«

Ein Ruck, eine allgemeine Unruhe entstand, ein Flüstern.

»Die – fünfzig Tonnen Gold – die verloren gegangen? Wo?«

Flederwisch blickte nach dem Frager, und jetzt lag Hohn in seiner Stimme.

»Dort, wo sie jetzt noch liegen. Wo das ist? Suchen Sie, wenn Sie es wissen wollen! Von mir erfahren Sie nichts! Mein Steuermann und ich, wir fanden das Wrack des Goldschiffes gleichzeitig. Er wollte den Fund anzeigen, ich gedachte das Gold besser zu verwenden, er ging nicht auf meine Pläne ein, da ...« Flederwisch wendete sich wieder der Schwester zu – »da habe ich ihn mit dieser meiner Hand getötet!«

»Es ist nicht wahr!«

Auf einer der obersten Galerien war es gerufen worden, das Echo hallte in dem großen Räume nach.

»Wer behauptet, daß der Angeklagte nicht die Wahrheit spricht?« rief der Chairman. »Konstabler, führt ihn als Zeugen vor!«

Ueberall waren Konstabler verteilt. Es verging trotzdem ziemlich viel Zeit, vielleicht wollte sich der Betreffende nicht freiwillig melden, aber endlich war er doch ermittelt worden; ein Konstabler geleitete einen Mann von der Treppe der Galerie herab.

Unverwandt blickte Flederwisch die bleiche Schwester an.

»Ich habe Alfred Werner ermordet. Wer will sagen, es sei nicht wahr?«

»Ich!«

Ein hochgewachsener blonder Mann mit ideal schönem Gesicht rief dieses Wort, blieb vor den Schranken stehn und deutete auf den Kapitän Flederwisch.

»Glaubt ihm nicht, dieser Mann lügt aus Liebe zu seiner Schwester! Jetzt muß ich sprechen. Ich bin ...«

Ein gellender Schrei unterbrach ihn. Die Arme ausstreckend, war Imma ohnmächtig hintenüber von der Bank gesunken; die hinter ihr sitzenden weiblichen Zeugen fingen sie auf.

Die neben der Box stehenden Konstabler mußten den Angeklagten halten, der über die Brüstung springen wollte.

»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr!« schrie er außer sich. »Glaubt ihm nicht, es ist ein Gaukelspiel der Hölle, ich habe ihn ja mit diesen meinen Händen begraben!«

Auch Perkins war von derselben furchtbaren Aufregung befallen worden, er kümmerte sich nicht um seine ohnmächtige Gattin, er ballte das Taschentuch in den Fäusten zusammen.

»Lügner – Lügner!« kam es keuchend über seine Lippen.

»Ruhe!« rief der Inquisitor. »Wer seid Ihr?«

Der Blonde deutete noch immer, ohne ihn anzusehen, auf Flederwisch.

»Ich bin Alfred Werner! Sein Bootsmann Manuel hat mich zu töten versucht, in seiner Gegenwart, aber nicht mit seiner Einwilligung, er konnte es nur nicht hindern, sonst hätte er es getan. Kapitän Müller hat sich fälschlich angeklagt, er ist unschuldig.«

Unter der wachsenden Unruhe des Publikums wurde Imma hinausgetragen, hinterdrein schwankte Perkins. Die beiden Hauptpersonen schienen es gar nicht bemerkt zu haben. Erst jetzt wandte sich der schöne fremde Mann gegen den Angeklagten, der ihn mit stieren Augen ansah.

»Kapitän, wenn Ihr in jener Schlucht ein Skelett gefunden habt, mit Manuels Machete durchstoßen, so war dies nicht das meine. Ich selbst legte es hin, um Euch zu täuschen, und als Ihr mich in dem verfallnen Kloster saht, da war dies nicht mein Geist, ich war selbst dort; auch Carmencita und der dicke Holländer sahen mich einmal.«

Wie er die Erscheinung herbeigeführt und warum er den Kapitän Flederwisch in dem Wahne gelassen hatte, daß er ein Mörder sei, das sagte Nobody, der jetzt wieder den Steuermann Werner spielte, natürlich nicht. Es konnte ihm nicht in den Sinn kommen, seine Geheimnisse zu verraten. Aber er fuhr fort:

»Im übrigen habe ich Euch nichts zu verzeihen, Kapitän. Ihr seid unschuldig!«

Da streckte Flederwisch beide Arme aus. Wie eine Verklärung kam es über ihn.

»Alfred, Alfred! Ihr gebt mir meinen Todesschlaf wieder!« kam es schluchzend und doch jubelnd über seine Lippen.

Die Sitzung mußte geschlossen werden; das englische Publikum forderte es durch seine nicht mehr zu beschwichtigende Unruhe.

 

Der durch ein Klingelzeichen gerufene Wärter trat in die Zelle, eine Zeitung in der Hand. Flederwisch hatte gespeist, und wie er sich jetzt die Zigarre anbrannte, das drückte unverkennbares Behagen aus.

»So, mein lieber Mann, Sie können abräumen. Bringen Sie gleich eine Zeitung mit? Die ›Times

Er schob den Stuhl zurück und sah mit demselben Behagen zu, die Zigarre im Munde, wie der Mann umständlich die Platten zusammensetzte, die nur zum kleinsten Teile geleert waren.

»Behandeln Sie die Sachen doch zart, genieren Sie sich nicht, essen Sie es, wenn Sie Appetit darauf haben und Sie es dürfen. Ja, es muß Ihnen manchmal doch recht komisch zumute sein, wenn Sie, ein ehrlicher Mann, solche Hotelspeisen einem Halunken wie mir bringen, der es sich leisten kann, weil er noch ein paar Goldkröten in der Tasche hat.«

»O, Herr Kapitän, sprechen Sie doch nicht so! Ihre Unschuld ist ja erwiesen.«

»Vorläufig noch nicht, jetzt bin ich noch der des Raubmordes verdächtige Untersuchungsgefangene. Wieviel bekommen Sie eigentlich Gehalt lieber Mann?«

»Fünfundzwanzig Shilling die Woche.«

»Ohne Kost und Logis?«

»Ohne alles.«

»Dann ist's zum Leben zu wenig und zum Verhungern zu viel. Da standen sich meine Kulis noch besser. Und wohl auch verheiratet?«

»Freilich. Es ist ja wenig, aber ich bin zufrieden.«

»Zu zufrieden zu sein, ist manchmal nicht gut. Haben Sie Kinder?«

»Acht, alle lebendig, und der älteste ist noch in der Schule.«

»Ach je, auch den Schreck noch!« rief Flederwisch in komischem Entsetzen. Dann betrachtete er sinnend seine Diamantringe, die man dem Untersuchungsgefangenen nicht genommen hatte. – »Wissen Sie vielleicht, ob man meine Koffer im Hotel Oxford mit Beschlag belegt hat?«

»Daß sie untersucht worden sind, weiß ich, aber sonst stehn sie noch dort.«

»Sie könnten eigentlich ... nein, lassen Sie, ich werde dann mit Mr. Werner darüber sprechen. Dürfen Sie einen Ring von mir annehmen?«

»Nein, das darf ich nicht.«

»Sie brauchen keine Angst zu haben, ich will Sie nicht bestechen und durchbrennen. Können Sie den Ring Ihrer Frau bringen?«

»Ich darf nichts aus der Zelle nehmen, was ich nicht hineinbringe, was nicht zum Unterhalt des Inhaftierten gehört; meine Vorschriften sind streng. Wenn Sie die Koffer haben wollen, so schreiben Sie doch an den Direktor; das ausgefüllte Formular nimmt den Ihnen bekannten Weg, Sie werden die Koffer schon erhalten.«

»Gut, ich werde mir zu helfen wissen! Wie ist Ihr Name? Nicht wahr, Frank? Den Vornamen? Und wie ist Ihre genaue Adresse?«

»Matthew Frank. Ich selbst wohne zwar hier, muß aber der Kinder wegen noch eine besondere Wohnung haben, sonst bekäme ich auch nur ein Pfund die Woche.«

Er nannte die Adresse. Flederwisch notierte sich alles.

»Danke! Nun bloß noch eins: werde ich mit Mr. Werner allein sprechen können? Oder wird ein Beamter zugegen sein?«

»Nicht daß ich wüßte! Der angemeldete Besuch ist gestattet worden, nach einfacher Formel, und da sind Sie mit ihm für einige Zeit allein.«

»Aber wir werden doch beobachtet, belauscht. Nicht wahr?«

Flederwisch sah den Mann scharf an, und schon aus dessen verwundertem Gesicht wußte er, daß dies nicht der Fall sein würde.

»Beobachtet? Belauscht? Nein, so etwas gibt's hier nicht. Da müßten Sie in einer ganz andern Zelle sein, und die werden überhaupt nicht mehr benutzt.«

Der Wärter entfernte sich mit dem Geschirr.

Flederwisch sah nach der Uhr. Es war noch nicht drei, und um vier würde Alfred kommen. Der Untersuchungsgefangene hatte deswegen ein Gesuch eingereicht; es war gestattet, der Steuermann benachrichtigt worden, er hatte zugesagt.

Zunächst las Flederwisch die ›Times‹. Ein langer Bericht brachte Einzelheiten über das Erdbeben in Südamerika, auch über das Schicksal der Gallopagos – ›Worlds Magazine‹ hatte wieder einmal recht behalten – der behagliche Gesichtsausdruck des Lesenden schwand nicht, es fesselte ihn nicht einmal, er schien etwas andres zu suchen, ohne es zu finden. Ueber seine Vermögensverhältnisse, ob er Gläubiger in England habe, ob man sein einer Bank angewiesenes Geld beschlagnahmt habe, davon stand nichts darin.

Dann freilich, als er die letzte halbe Stunde unruhig in der Zelle auf und ab ging, war sein Gesicht sehr ernst und sorgenschwer.

Ein Schlüssel wurde ins Schloß gesteckt, der Riegel zurückgeschoben.

In der Mitte der Zelle blieb Flederwisch stehn, etwas abgewandt, er sah erschrocken aus. Jetzt mußte er kommen!

Nein, ein schwarzgekleideter Gentleman trat ein, den Flederwisch noch nie gesehen hatte; hinter ihm brachte ein Wärter einen Stuhl, verließ die Zelle wieder und ließ den fremden Herrn mit dem Gefangenen allein.

»Kapitän, Sie werden Ihrem Wunsche gemäß von Mr. Werner besucht,« sagte der Gentleman in kurzem Beamtentone, aber dennoch recht höflich. »Ich gestatte Ihnen zunächst eine Stunde. Darnach komme ich wieder und kann noch mehr Zeit erlauben. Sie dürfen dem Herrn nichts geben, nichts von ihm annehmen. Ich kann Sie dann untersuchen lassen. Auch Mr. Werner kann einer Visitation unterworfen werden, womit er sich einverstanden erklärt hat.«

Der Beamte machte sogar eine leichte Verbeugung, ehe er sich zum Gehn wandte.

»Bitte, noch ein Wort!« rief Flederwisch schnell, und jener blieb noch. »Darf ich dem Herrn eine Anweisung auf Geld geben?«

»In meiner Gegenwart, ja.«

»Ah! Kann ich denn über mein Geld verfügen?«

»Natürlich, Sie haben freies Verfügungsrecht über alles, was Sie besitzen. Ich mache Sie darauf aufmerksam,« der Beamte, jedenfalls ein sehr hoher, schlug einen noch vertraulicheren Ton an, »Ihr Reisegepäck befindet sich im Hotel Oxford, der Hotelier braucht Ihre Vollmacht, um es in Verwahrung nehmen zu können, es wurde gerichtlich untersucht, der eine Koffer enthielt sehr wertvolles Geschmeide, und – nehmen Sie es doch an sich oder treffen Sie sonst eine Verfügung, Sie kennen ja den vorschriftsmäßigen Weg.«

»Ich danke Ihnen vielmals, Herr, Sie sind wirklich sehr liebenswürdig.«

Der Beamte war gegangen. Flederwisch lächelte noch, überaus erfreut über die freundliche Behandlung, die man ihm zuteil werden ließ, als durch die offne Tür der Erwartete eintrat.

Ja, das war ganz der alte Alfred Werner, der blonde, schöne Steuermann, vor dem der Kapitän nicht nur insgeheim stets einen großen Respekt gehabt, sondern zu dem er sich auch in Freundschaft hingezogen gefühlt hatte. Jetzt konnte er den Totgeglaubten genauer betrachten, als es im Gerichtssaal möglich gewesen war, und Flederwisch gestand sich, daß Alfred durchaus kein krankhaftes Aussehen hatte, wie einer, der zum mindesten lange Zeit an einer schweren Wunde ohne genügende Pflege krank gelegen hatte. Er war ganz der Alte geblieben. Der Kapitän ahnte ja noch immer nicht, wer dieser Alfred wirklich war – er sollte es auch jetzt noch nicht erfahren. Dazu war die Zeit noch nicht gekommen. Ebensowenig dachte Nobody daran, Flederwisch die eigentlichen Ereignisse auf der Klosterinsel und an dem Schatzsee zu schildern. Er spielte die Rolle als erster Steuermann der Frithjof weiter, nur ließ er schon jetzt erkennen, daß er dem Kapitän mehr zugetan war, als dieser angenommen hatte.

Beide Hände vorgestreckt, trat Alfred auf Flederwisch zu, und dieser ergriff sie, schlug sie vor sein Gesicht, fiel auf den Stuhl und weinte lange, lange Zeit. Alfred aber saß neben ihm und hielt ihn umschlungen.

»Warum weint Ihr, Kapitän?« fragte Alfred endlich mit sanfter, bebender Stimme.

»Vor Freude und vor Schmerz, daß ich Euch wiedersehe,« erklang es schluchzend.

Der Weinende beruhigte sich, er trocknete die Tränen, und dann schaute er Alfred mit verklärten Augen an.

»Gebt mir wieder die Hand, so, und laßt sie mir für diese Stunde. Ach, Alfred, was habe ich Euch alles zu erzählen!«

»Nichts. Aber ich habe Euch viel zu erzählen. Unterbrecht mich nicht. Klagt Euch vor allen Dingen nicht an! Sprecht nicht von jener Sache! Wenn ich Euch etwas zu verzeihen habe, so habe ich es bereits getan, und damit ist es gut. Wir sind Freunde. Höchstens meinerseits noch ein Wort darüber zur Beruhigung: erstens habt Ihr mir kein Leid zugefügt, zweitens lag es gar nicht in Eurer Absicht, daß Manuel die Tat ausführte; Ihr befandet Euch nur aus begreiflichen Gründen in sehr großer Aufregung. Nein, Flederwisch, meinen Tod habt Ihr nicht gewollt. Da kenne ich Euch besser. Und nun ist es fertig mit dieser Geschichte, ein für allemal, jede weitere Entschuldigung würde mich kränken. Aber ich habe Euch noch viele Erklärungen zu geben, und jede Minute der Besuchszeit muß ausgenutzt werden. So hört zu!«

Beruhigendere Worte hätte Alfred nicht sprechen können, schneller konnte diese Angelegenheit nicht abgemacht werden.

Frei blickte Flederwisch ihm ins Auge. Während jener erzählte, behielt er Alfreds Hand immer in der seinen, und dieser begann seine aus Dichtung und Wahrheit bestehende Erzählung.

»An jenem Tage, als ich von Euch ein großes Boot forderte, um nach dem Festlande zurückzusegeln, hatte ich in dem offnen Kraterkessel das Wrack des verschollenen Goldschiffes entdeckt. Hielt ich Euch für einen Dieb oder für einen ehrlosen Schmuggler, so hätte ich Euch sofort den Rücken gewandt, als Ihr mir offen gestandet, daß Ihr Schmuggel triebt. Ihr sagtet mir ja auch, wenn Ihr das Gold der englischen Münze fändet, Ihr würdet es für Euch behalten. Nein, ein Dieb seid Ihr deswegen nicht, daß Ihr den Fund nicht anzeigtet. Ihr seid ein ganz eigenartiger, seltsamer Charakter. Ihr paßt nicht mehr in unsre jetzigen Verhältnisse. Das fühlte ich schon damals heraus, und unterdessen habe ich lange Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Kurz, Ihr seid für mich entschuldigt. Aber auch ich habe meine festen Ansichten über gut und böse. Ich will immer mein Gewissen reinhalten. Hätten wir beide das Gold gleichzeitig gefunden, ich hätte wahrscheinlich die Augen schnell geschlossen, nichts davon wissen mögen. Ihr hättet damit tun können, was Ihr wolltet. So fand ich es allein, und da allerdings stand mein Entschluß sofort felsenfest: Flederwisch darf nichts davon erfahren, du mußt sofort nach Guayaquil, nach England, du versuchst, die Prämie so hoch wie möglich zu schrauben, du forderst gleich zwanzig Prozent, und die herausspringenden Millionen bekommt Flederwisch zur Ausführung seiner Ideen, alles soll er haben ...!«

»O, Alfred, warum konnte es nicht anders kommen?«

»Ruhig! Wir wollen uns nicht mit warum, wenn und aber beschäftigen. Wie Ihr Euch weigertet, mich an Bord zu lassen, machte mich das etwas stutzig und mißtrauisch. Doch Ihr wart in jener Zeit überhaupt recht nervös, es stand sehr viel auf dem Spiele. Oder hätte ich lieber nicht sogleich meine Entlassung und ein Boot zur Rückreise fordern sollen? Eigentlich hatte ich etwas unüberlegt gehandelt. Doch nun war es zu spät, und ich überlegte weiter. Vor allen Dingen mußte ich, falls Ihr hinter mein Geheimnis kommen solltet, einen Zeugen haben, daß ich das englische Gold zuerst gefunden hatte, und dann konnte mir ja auch etwas zustoßen, und ich hätte meine Entdeckung mit in den Tod genommen. Meine Wahl konnte auf keinen andern als auf Dietze fallen. Ich hatte diesen intelligenten, braven Menschen immer gern gehabt, ihm traute ich. Zunächst, als ich ihm in meiner Kabine Infusorien unter dem Mikroskop zeigte, prüfte ich etwas seine Ansicht über Recht und Unrecht, er bestand das Examen, und dann, als ich am Morgen nach der Nacht, in welcher ich das Ausladen der Fracht leitete, wieder eine meiner Exkursionen im Dingi antrat, nahm ich ihn mit. Hierbei ist eine Unregelmäßigkeit vorgekommen. Ich hatte Dietze gesagt, er solle sich von Bord melden, und hinterher erfuhr ich, er habe es nicht getan, habe das nicht von mir gehört, ich sei doch der erste Steuermann, der ihn zum Mitfahren aufgefordert habe. Schließlich hatte er ja auch ganz recht, er wußte nicht, daß ich mich selbst schon für abgemustert betrachtete.«

Flederwisch hätte eine Einwendung machen können, jedenfalls eine Frage stellen dürfen. Es konnte nämlich sehr wahrscheinlich sein, daß er dennoch gleichzeitig mit Alfred oder doch nur eine Minute später das Gold erblickt hatte. Alfred wußte gar nicht, daß Flederwisch schon einmal jene Insel betreten hatte. Aber das war jetzt so nebensächlich, daß er ihn deswegen gar nicht erst unterbrach.

»Unterwegs weihte ich Dietze in alles ein,« fuhr Alfred also ohne Unterbrechung fort. »Hätte er die Feuerprobe doch nicht bestanden, würde ich ihn nicht an den kaum wiederzufindenden Platz geführt haben. Nein, der brave Bursche war ganz meiner Ansicht: die englische Münze müsse ihr Gold bekommen, und als ich ihm dann sagte, wie ich die Prämie verwenden wolle, mochte der gute Kerl gar nichts mehr von seinem Anteil hören. Auch beim Anblick des schimmernden Goldes blieb er derselbe, dachte nur an seinen Kapitän und an den rechtmäßigen Besitzer. Ich hatte Taue mitgenommen, um uns hinabzulassen, denn das Dingi durfte ich nicht der Gefahr aussetzen, von den spitzen Klippen aufgeschlitzt zu werden. Zunächst berechnete ich noch einmal auf das genaueste die geographische Lage, ich wollte die Zahlen dem Gedächtnis Dietzes einprägen, er sollte mein lebendiges Testament für alle Fälle sein. Dieser untersuchte inzwischen die Umgegend, und das scharfe Auge des Sohnes der Alpenwelt entdeckte einen Abstieg, wir versuchten ihn, es gelang ganz leicht, wir kamen hinab, krochen zwischen den Schiffstrümmern herum, ich fand auch die Papiere. Dann bemerkte ich das Nahen eines Unwetters, und ich dachte an meine Instrumente, welche ich oben gelassen hatte; ein Regenguß konnte sie fortwaschen. Der ermüdete Dietze hatte sich zwischen dem Wrack auf einen Haufen Segeltuch gelegt und war eingeschlafen. Warum sollte ich ihn denn wecken? Ich würde den Weg hinauf schon allein finden. Aber ich verstieg mich wie ein Gemsjäger. Schließlich machte es mir nur Spaß, Dietze konnte mich ja sofort sehen und mir mit den Seilen helfen. So gebrauchte ich zwei Stunden, um hinaufzukommen, und es wurde doch die höchste Zeit, es wurde plötzlich finster, das furchtbare Unwetter brach los! Da standet Ihr vor mir.«

Alfred machte eine lange Pause. Er blickte zur Seite, doch desto wärmer drückte er Flederwischs Hand, als er diesen so schwer atmen hörte. Dann erzählte er mit leiser Stimme und in kurzen Sätzen weiter:

»Laßt mich von Carmencita schweigen! Manuel hatte mich überredet. Ihr werdet viel von ihm erfahren haben. Ich wollte Euer Unglück nicht. Deshalb schwieg ich. Deshalb wollte ich nicht länger bei Euch bleiben. – Manuel war es, der mich zu ermorden versuchte. ›Denk an die Katze!‹ rief er, als er mich von hinten durchstach. Ich stürzte. Ich war bei Besinnung. Ich wußte, daß ich immer gegen die Wand prallte. Es tat nicht weh. Ich hatte keinen Schmerz. Seltsam, ganz seltsam! In diesem Augenblick während des Sturzes träumte ich eine lange Geschichte, ein paradiesisches Märchen ... Doch das gehört nicht hierher. Dann allerdings wußte ich nichts mehr. Ein gnädiger Gott lenkte meinen Sturz. Dicht an der Felswand befindet sich ein großes Becken, immer mit Wasser gefüllt, und in dieses schlug ich. Dietze hatte mich schon unten gesucht. Im Scheine der ununterbrochenen Blitze sah er mich wirbelnd durch die Luft kommen, meinen Körper im Wasser verschwinden. Ehe ich ertrank, hatte er mich herausgezogen. Vor dem Hurrikan war der Kessel geschützt. Aus meinem Rücken zog Dietze Manuels spanische Machete. Da glaubte er alles zu wissen. Er bettete mich zwischen den Wracktrümmern, hielt mich freilich für tot. Aber ich lebte noch. Mein Kopf war nicht gespalten, sondern nur lädiert, und sonst waren nur noch Beulen und Abschürfungen vorhanden.«

Nobody schwieg eine Weile. Er hatte dem Kapitän den Vorgang so erzählt, wie derselbe sich abgespielt haben konnte; denn wie alles so ganz anders gewesen war, ist den Lesern ja bereits bekannt. Die Hauptsache war immer gewesen, daß Flederwisch sich jahrelang als Mörder oder wenigstens als Mitschuldigen eines solchen gefühlt und schwere Gewissensbisse erduldet hatte.

Tief ergriffen starrte Flederwisch lange vor sich hin, bis Alfred fortfuhr:

»Ich ging mit Dietze nach London. Als Ihr die Frithjof kauftet und ausrüstetet, bekam ich wiederholt mit Rechtsanwalt Perkins zu tun. Ich wußte, daß er um Immas Hand geworben hatte, daß sie ihm ausgeschlagen worden war, er verkehrte geschäftlich also mit mir, den er sicher für seinen Nebenbuhler hielt, aber, das muß ich ihm lassen, er war stets ein Gentleman, seine männliche Würde gefiel mir. So ging ich am späten Abend zu ihm. Sein Entsetzen, als er mich erkannte, war so groß, daß ich es mir gar nicht erklären konnte. Er konnte sich nicht fassen, vor Zittern sich nicht aufrecht halten. Warum? Nun, ich erfuhr, daß ich für über Bord gewaschen erklärt worden war, desgleichen Dietze. Warum zitterte aber der Mann so fürchterlich und schwitzte vor Todesangst? Ich erfuhr, daß er seinen Heiratsantrag wiederholt hatte, daß er mit Imma schon seit längerer Zeit verlobt war, daß in einigen Tagen die Hochzeit gefeiert würde ...«

Aufmerksam sah Flederwisch den Sprecher an.

»Die beiden waren damals noch nicht verheiratet?« unterbrach er ihn.

»Nein. Aber schon am zweiten Tage nach meinem Besuche fand die Hochzeit plötzlich statt – plötzlich, muß ich wohl sagen – in einer Mietsdroschke fuhren sie nach der Registeroffice.«

Immer starrer wurden Flederwischs Augen.

»Ja, sagt mal, was hat er denn Euch nun eigentlich erklärt?«

»Was sollte er mir erklären? Er hatte Imma immer geliebt, sie ihn lieben gelernt. Freilich, nun war ich wieder da! Sie mochte ihm verschiedentlich verraten haben, daß sie mich liebte – Ihr verzeiht, Kapitän, daß ich davon spreche – aber von mir hatte Perkins doch nichts zu fürchten. Ich konnte die mir entgegengebrachte Liebe nicht erwidern. Freilich, ich konnte nicht wissen, daß Imma von dem Rechtsanwalt hintergangen wurde.«

Kapitän Flederwisch mußte und sollte ihn immer noch für Alfred Werner, den ehemaligen ersten Steuermann der Frithjof halten, und vor allen mußte er selber zu der Erkenntnis kommen, daß seine Schwester nicht so sehr an ihm gefrevelt habe, wie es schien, daß sie vielmehr einer fein ersonnenen List des Rechtsanwaltes zum Opfer gefallen war. Nobody hatte dies nicht verhindern wollen, denn Imma hatte auch eine Strafe verdient, und sie war Perkins' Frau doch nur dem Namen nach. Er hatte noch keinerlei eheherrlichen Rechte an ihr geltend machen dürfen. Im andern Falle würde Nobody ihm schon ein Halt zugerufen haben. Es galt nur noch, den Kapitän Flederwisch zu der Erkenntnis zu bringen, daß Imma eine hohe Pflicht erfüllte, indem sie ihn aus Südamerika nach London lockte und ihn dort dem Gericht überlieferte, und diesen Zweck erreichte Nobody ebenfalls, genau so den andern, den Kapitän für immer von seinem bösen Dämon, dem Mulatten Manuel zu erlösen. Wie er dies anfing, soll sogleich berichtet werden.

Langsam erhob sich Flederwisch, die Augen noch immer starr auf Alfred geheftet.

»Ich glaube fast – mir kommt es vor – als ob hier eine Schurkerei dahinterstecke – so groß, daß sie gar nicht in meinen Kopf gehn will. Oder – irre ich mich denn? Ja, Steuermann, wie denkt Ihr über diesen Fall?«

Nobody zuckte die Achseln.

»Ja, es scheint ein echt englisches Advokatenstückchen gewesen zu sein.«

»Ihr kommt zu ihm,« fuhr Flederwisch in jener eigentümlichen, staunenden Weise fort, »plötzlich heiratet er – Knall und Fall – er sitzt auf der Zeugenbank, wenn ich morgen wegen Eures Todes zur Verantwortung gezogen werde, hört ruhig zu? Ei der Tausend! Das will durchaus nicht in meinen Kopf! Nein, das ist ja mehr als – wartet mal, hier, lest erst diesen Brief.«

Er zog Immas Einladungsbrief aus der Brusttasche; Alfred las ihn, Flederwisch ging einstweilen, leise pfeifend, in der Zelle auf und ab.

»Nun, was sagt Ihr dazu?« fragte er dann, vor Alfred stehn bleibend.

»Armer Mann! Imma hat nicht ...« verstellte sich Nobody.

»Nicht schön gehandelt?« unterbrach ihn Flederwisch schnell, ihm die Hand auf die Schulter legend, und Alfred blickte in ein stolzes Antlitz. »Und ich sage Euch, meine Schwester hat herrlich gehandelt! Erst hat es mich ja ein bißchen herumgerissen, dann aber habe ich meine Schwester erkannt. Ich bewundre sie. Durch mancherlei mag sie auf den Verdacht gekommen sein, daß es mit Eurem Tode eine besondre Bewandtnis hatte. Sie mag an Manuel, an die Katze gedacht haben. Carmencita mag ihr etwas erzählt haben. Da hat sie mich mit diesem Briefe herübergelockt, das war ihre Idee, nicht die von Perkins; mit dem Advokaten hatte sie sich nur verbunden, daß er mir den Prozeß regelrecht macht. Nein, ich habe Imma immer verkannt, sie war nie das hausbackne Mädchen, für welches ich sie gehalten. Sie hat groß und stark gehandelt, sie hat gehandelt, wie ich es von einem echten Weibe verlange, das den Geliebten zu rächen hat, und zu solch einem Weibe gehört auch die List. Ich habe ihr nichts zu verzeihen, ich bewundre sie vielmehr.«

Mit gut gespieltem Staunen, dem sich auch etwas Scheu beimischte, blickte Alfred den ernsten Sprecher an.

»Ihr seid ein seltsamer Mensch, Kapitän! Ihr selbst vor allen Dingen seid zu bewundern.«

»Nun aber wieder zu Perkins,« fuhr Flederwisch in leichterm Tone fort und schüttelte den Kopf. »Nein, solch eine Gemeinheit will gar nicht in das Menschengehirn. Gegen den ist doch der schlimmste Raubmörder ein harmloses Kind. Ihr gebt doch zu, Alfred, daß meine Kalkulation richtig ist. Aus Liebe hat Imma diesen Menschen sicher nicht geheiratet; sie brauchte den Mann des Rechtes nur als Stütze. Wahrscheinlich haben die beiden einen Kontrakt geschlossen. Stimmt das?«

Der Gefragte nickte, aber da er ahnte, was Flederwisch nun von ihm verlangen würde, kam er diesem zuvor und sagte:

»Ihr habt recht, Kapitän; doch wenn Ihr etwa nun meint, daß ich hingehe und den Schurken zur Rede stelle, so irrt Ihr Euch. Ich erklärte Euch schon, daß ich Eure Schwester nicht zu lieben vermag, ein so herrliches Mädchen sie auch ist, und deswegen steht es nicht mir, sondern Euch zu, Perkins zu entlarven. Ihr seid der Bruder! So leichten Kaufes aber wird er sie nicht freigeben.«

Die Arme über der Brust verschränkt, blickte Flederwisch sinnend vor sich nieder.

»Freilich, freilich!« murmelte er. »So einfach ist das nicht. Zwei Jahre hat er um sie geworben, er wird sie festhalten. Was ist da zu tun?«

Der Schlüssel rasselte im Schloß, jener Herr trat wieder ein.

»Die Stunde ist verflossen.«

»Würden Sie uns noch eine Stunde gestatten?« fragte Flederwisch.

»Es sei! Haben Sie die erwähnte Geldanweisung schon geschrieben? Nicht? So tun Sie es jetzt, ich nehme sie mit, sie muß einen Vermerk und Stempel von uns erhalten, da braucht der Herr dann nicht darauf zu warten.«

»Sie sind sehr liebenswürdig. Alfred, ich schreibe eine Anweisung auf Euern Namen aus.«

Tinte und Papier hatte er in der Zelle, Flederwisch schrieb.

»Ich habe auf der Bank von England fünftausend Pfund Sterling liegen. Wird man sie meinem Freunde auf dieses einfache Papier hin aushändigen?«

»Jawohl, so ist es richtig,« sagte der Beamte, die Anweisung nehmend und lesend. »Gewiß, ohne weiteres, unser Courtstempel ist die beste Sicherheit. Wollen Sie vielleicht auch gleich über Ihr Gepäck verfügen?«

»Richtig!« Flederwisch schrieb noch eine andre Vollmacht, gab sie dem Beamten, und dieser entfernte sich mit beiden.

»Was habt Ihr denn eigentlich vor, Kapitän?« fragte Nobody, als sie wieder allein waren.

Flederwisch brannte sich eine neue Zigarre an und fragte dann:

»Hat man Euch nicht über meine Schmuggelei auszuforschen gesucht, über meine Beziehungen zu dem ermordeten Davis?«

»Jawohl, aber ich habe mich geweigert, in dieser Sache gegen Euch, meinem damaligen Kapitän als Zeuge aufzutreten. Im übrigen wird sich das Dunkel, das noch über der Ermordung des alten Davis liegt, bald lichten, und dann, Kapitän, müßt Ihr die Bürgschaft annehmen, die der Bischof von Newgate mit einem andern Geistlichen zusammen für Euch leisten wird.«

»So, so,« meinte Flederwisch nachdenklich, »das hätte ich gar nicht gedacht.«

»Nun hört mich weiter, Kapitän!« begann Alfred wieder. »Ich habe selbstverständlich die Auffindung des Goldes der englischen Münze angezeigt. Schon in den nächsten Tagen wird ein Kriegsschiff nach Aspinwall abgehn, und man hat mich aufgefordert, mitzufahren. Ebenso hat man mir, ohne zu handeln, zehn Prozent von dem Goldschatz bewilligt, den man schon längst aufgegeben hatte. Das sind zehn Millionen – und diese Summe reicht aus, die rückständigen Gehälter und Löhne für die Beamten und Arbeiter zu zahlen, die Ihr nach den Gallopagos gerufen habt. Keiner von ihnen soll Euch nachsagen, daß Ihr ihn betrogen hättet. Vielleicht könnt Ihr selbst mit hinüber, dann würde ich hierbleiben, denn ich habe, offengestanden, noch eine andre Aufgabe zu lösen. Ihr müßt gänzlich von dieser Carmencita befreit werden. Ihr seid es ja schon, da die Ehe geschieden ist, aber das genügt nicht. Sie muß wieder dorthin gebracht werden, wohin sie gehört« – er schilderte kurz seinen Plan – »doch jetzt genug davon!« schloß er. »Ich höre den Beamten zurückkommen. Lebt wohl für heute, Ihr werdet bald wieder von mir hören.«

In der Tat klirrte bereits wieder der Schlüssel im Schlosse, und wieder erschien der Schwarzgekleidete.

»Die Frist ist abgelaufen. Ich bedaure!«

»Wir sind mit dem, was wir zu besprechen hatten, fertig,« entgegnete Flederwisch. »Für Ihre Freundlichkeit aber danke ich Ihnen bestens.«

Der Beamte verbeugte sich schweigend. Dann ließ er Alfred Werner hinaus und folgte ihm selbst nach.

Die beiden ließen den Untersuchungsgefangenen jedoch nicht in besonders angenehmer Stimmung zurück; denn die Selbstvorwürfe wegen der Behandlung seiner Schwester Imma setzten von neuem ein. Zwar war die Hauptlast von ihm genommen, er hatte seinen ersten Steuermann, seinen Lebensretter, nicht ermordet, nicht einmal ermorden lassen – der Mulatte hatte eben die erste sich ihm bietende Gelegenheit benutzt, Alfred aus dem Wege zu räumen – aber eine andre Schuld lastete dafür auf dem Kapitän der Frithjof. Er konnte sich nicht verhehlen, daß der Verdacht, den Imma gegen ihn gehegt, sie dem Rechtsanwalt Perkins in die Arme getrieben hatte. Sonst hätte sie auch die wiederholte Werbung desselben sicher abgewiesen, denn lieben konnte sie den Mann nicht, ein Mädchen wie Imma liebte nur einmal und dem Erwählten blieb sie treu, auch wenn er sie verschmähte.

»Zum Teufel, ich möchte ihr beinahe wünschen, daß sie einen ihr so treu ergebenen Diener hätte, wie Manuel mir war – dann könnte Perkins sich seiner schönen Beute nicht lange erfreuen. Doch der arme Kerl wird das Licht der Freiheit nicht wieder erblicken, ich selber muß es wünschen, denn wenn er erfährt, daß Alfred noch lebt, dann bringt er ihn doch noch um. Nein, ich muß einen andern Ausweg finden, und ich werde ihn finden. Imma darf nicht mit diesem schurkischen Rechtsverdreher vereint bleiben!«

Kapitän Flederwisch setzte sich wieder an den Tisch, brannte sich eine neue Zigarre an und versank in Nachdenken. Das Fegefeuer, in das Nobody ihn zur Läuterung gebracht, hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Der egoistische Herr der Gallopagos dachte nicht mehr nur an sich selbst, er sorgte sich nicht um seine eigne Zukunft, sondern dachte nur darüber nach, wie er seine Schwester aus der aufgezwungenen Ehe befreien konnte.

Schlacken aber hafteten Flederwisch doch noch an. Er hätte noch jetzt am liebsten Manuel, dem Mulatten, die Treue gehalten und seinen Vertrauten, den Genossen so mancher schweren Stunden, den Zeugen so vieler heftigen Seelenkämpfe gern dem Henker entrissen.

Gewiß, Manuel war ein Dämon, aber da ist die Grenze zwischen gut und böse nicht so eng gezogen, und was er gesündigt, das hatte er getan aus Liebe zu seinem Herrn.

Nun, inzwischen sorgte ein andrer, Nobody, dafür, daß es hinfort keine Gemeinschaft zwischen Flederwisch und dem tückischen Mulatten mehr geben konnte.

 

Am Morgen des Tages, an dem der Kapitän der Frithjof vor den Geschwornen erscheinen sollte, trat Imma in das Arbeitszimmer ihres Gatten.

»Wo willst du hin?«

»In mein Bureau.«

»Ich habe eine Vorladung bekommen, mich heute früh um elf zum Entscheidungsspruche über Paul einzufinden, und du wirst mich begleiten.«

Seit jenem Tage, an welchem Imma ohnmächtig aus dem Gerichtssaale getragen worden war, hatte Perkins seine junge Frau nicht wieder zu sehen bekommen, obgleich sie sich immer in demselben Hause aufgehalten. Sie hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen; die Wirtschafterin hatte ihr Essen gebracht; sie brauchte ihren Gatten nicht abzuweisen, denn dieser ließ sich nicht melden, versuchte nicht sie zu sprechen.

Als er sich heute früh in seinem Arbeitszimmer befand, schon zum Fortgehn fertig, und einige Papiere aus der Schreibtischschublade zu sich steckte, stand sie plötzlich mit jener Frage im Türrahmen.

Perkins hatte während der vier Tage Zeit gehabt, sich zu sammeln; er war auf alles vorbereitet; fest begegnete sein Auge dem ihren, ruhig hatte seine Antwort, wohin er ginge, geklungen.

»Paul kommt nicht vor die Geschwornen, er wird freigesprochen.«

»Das eben will ich hören, du weißt es doch, und du wirst mich begleiten.«

»Warum?«

»Weil wir es so abgemacht haben.«

»Richtig, wir haben es so abgemacht. Und dann?«

Perkins machte eine energische Bewegung, ging auf sie zu und blieb in der Mitte des Zimmers stehn. Er war zum Kampf bereit.

»Bitte, komm herein, Imma, wir müssen uns auseinandersetzen.«

Sie trat vollends ein und schloß die Tür hinter sich. Es war eine leblose Statue, die vor ihm stand, nur daß diese Statue sprechen konnte.

»Was willst du?«

»Klarheit haben, nichts weiter. Ich muß mich vor dir verantworten. Du weißt alles. Ich habe dich geheiratet, als ich schon wußte, daß Alfred Werner noch am Leben sei. An jenem Abend, da ich dir den Vorschlag machte, uns schnell vor der Registeroffice trauen zu lassen, befand er sich bei mir. Ich habe dann auch deinen Bruder des Mordes an Alfred anklagen lassen, obgleich seine Unschuld mir bekannt war. So, nun sprich du!«

»Warum tatest du das?« erklang es nach einer langen Pause leise.

»Ich könnte erwidern für den letztern Fall: weil ich der Sache ihren freien Lauf lassen wollte, du wünschtest es ja. Nein, ich will mich nicht bei spitzfindigen Redensarten aufhalten. So höre denn, Imma: Weil ich dich liebe, deshalb tat ich es. Weil ich dich liebe! Ich bin nicht der nüchterne, prosaische Advokat, für den mich alle Welt halten mag. Mit List und Gewalt habe ich dich mir errungen. Wie ein Tscherkesse habe ich dich geraubt. Und ich bin der Mann, meine Beute festzuhalten. Man soll es wagen, sie mir wieder zu nehmen! Ich trotze der ganzen Welt! Denn ich liebe dich!«

Auch bei diesen leidenschaftlichen Worten blieb Perkins äußerlich ganz derselbe ruhige Mann, und ebenso ruhig verhielt sich Imma.

»Unser Pakt gilt noch,« fuhr er fort, als sie schwieg, »du hast erreicht, was du gewollt, ich habe ratend an deiner Seite gesessen, ich habe meine Pflicht erfüllt. Nun erfülle du auch die deine. Willst du von nun an meine Gattin sein?«

»Ich will – ich muß!« sagte sie mit fester Stimme.

Da trat er auf sie zu und nahm ihre Hand, sein Ton wurde weich.

»Du sollst es nicht bereuen, denn ich liebe dich wirklich, meine Imma.«

Sie fuhren zusammen nach der Lincolns Inn.

Wieder drängte sich die Menge Kopf an Kopf in dem großen Amphitheater. Man wußte zwar schon, daß der Angeklagte freigesprochen werden würde, und das war eigentlich nicht interessant, aber jeder, der den frühern Sitzungen beigewohnt hatte, in dem Glauben, vielleicht sogar in der Hoffnung, den Kapitän Flederwisch des Mordes an Alfred Werner überführt zu sehen, fühlte sich förmlich verpflichtet, nun auch den Freispruch zu hören.

Der Angeklagte wurde in die Box geführt. Es ging umständlicher denn je zu, der Clerk verlas die langen Protokolle, die Richter hielten lange Reden.

Unverwandt hing Flederwischs Auge an der keine zehn Meter von ihm sitzenden Schwester, und Imma erwiderte seinen Blick.

Hatte Kapitän Flederwisch, wie er ja nun einmal im Volksmunde hieß, bisher ein gleichgültiges oder spöttisches Benehmen gezeigt, manchmal auch etwas Niedergeschlagenheit, so drückte jetzt sein ganzes Wesen durch diese Bewegungslosigkeit feierliche Ruhe aus. Er war ganz der Angeklagte, der seinen Urteilsspruch erwartete.

Zuletzt nahm der Chairman das Wort, indem er noch einmal alles zusammenfaßte. Die eine Anklage war von selbst hinfällig geworden, seit der angeblich durch Flederwisch Ermordete vor Gericht erschienen war. In Anbetracht aber des Umstandes, daß er seinen Gläubigern stets auf das pünktlichste und dabei auf eine unverkennbar vornehme Weise gerecht geworden war, konnten die Richter nicht zu der Ansicht kommen, daß er an Davis' Ermordung schuldig oder beteiligt gewesen sei, oder daß er sie indirekt veranlaßt habe.

»Nichtschuldig!«

Langsam hob Flederwisch beide Arme empor.

»Ich bin kein Mörder!« rief er.

Die Unruhe, die unter dem Publikum entstanden war, machte augenblicklich wieder einer Todesstille Platz. Er hatte die Arme wieder sinken lassen, er schien etwas zu den Richtern gesagt zu haben, was man nicht gehört hatte.

»Es sei Euch gestattet! Sprecht!« rief der Chairman.

»Ungerecht angeschuldigt hat man mich vor das hohe Gericht gestellt. Unter dem Einflusse eines falschen Verdachts hat man mich nach Newgate in den Kerker gebracht und das Herz meiner Schwester mir entfremdet. Der aber, der mich wider besseres Wissen verdächtigte und anklagte – wider besseres Wissen, sage ich, denn er wußte genau, daß Alfred Werner, mein Steuermann, noch lebte, derselbe war bei ihm gewesen – dieser gewissenlose Schuft, der mich meiner Freiheit nur beraubte, um meine Schwester zur Ehe mit ihm zu zwingen – er sitzt dort – es ist der Rechtsanwalt Perkins! Nun, ihr Herren, wer ist denn nun der Schurke? Ich, der unschuldig Angeklagte, oder jener dort, der den Bruder seiner Braut kaltblütig dem Henker überliefern wollte, um die Schwester zu erringen? Wer von uns beiden ist der Meuchelmörder?«

Perkins war aufgesprungen, leichenblaß und am ganzen Leibe zitternd. Er rang sichtlich nach Worten zu einer Erwiderung, und dann durchdrang die Stimme Kapitän Flederwischs abermals den Lärm – er war ja gewöhnt, den tosenden Sturm zu übertönen.

»Ruhe! Er soll sich verteidigen, wenn er kann!«

Es ward ihm sofort gehorcht, und selbst die Richter wagten nicht, diesen unerhörten Eingriff in ihre Gerechtsame zu rügen. Sie hatten noch selber nicht etwas Aehnliches erlebt, sie standen unter dem Banne des Ungewohnten und der Ueberraschung.

Der Rechtsanwalt Perkins warf seinem Ankläger einen haßerfüllten Blick zu, dann öffnete er den Mund zu einer Entgegnung.

Er kam nicht dazu.

Halblaut, aber deutlich vernehmbar auch in den fernsten Ecken des Saales, kam von Immas Lippen nur ein einziges Wort. Sie rief es sogar deutsch, aber es hatte zufällig denselben Klang mit dem englischen.

»Mörder!« Dann wendete sie sich verachtungsvoll von dem Manne ab, dessen Namen sie trug.

»Imma!« stöhnte er. Dann begann er plötzlich zu taumeln. Sein Gesicht verzerrte sich und färbte sich dunkelrot. Seine Hände tasteten haltsuchend in der Luft umher, sie griffen ins Leere, und ehe die Konstabler hinzuspringen konnten, sank Perkins mit dumpfem Laute rückwärts zu Boden.

»Er ist tot!« konstatierte der anwesende Gerichtsarzt, indem er sich aus der knienden Stellung wieder aufrichtete. »Es war ein Hirnschlag!«

»So sei Gott seiner Seele gnädig!«

Mit diesen Worten verließ Flederwisch den Saal, und hinter ihm trug man den Toten hinaus.

Die Geschwister aber begrüßten sich nicht.

Imma wollte den Weg durch ihr ferneres Leben ganz einsam wandeln, hoffnungslos liebend, würde sie bald vor Lebensmüdigkeit entschlummern – das war ihr Zukunftstraum.

 

Einige Tage später kam Manuel vor die Geschwornen. Noch immer trug der widerspenstige Untersuchungsgefangene Ketten. Bei dem vorhergehenden Verhör zeigte es sich, daß er inzwischen von dem Schicksal der Inselbewohner und aller seiner Gefährten erfahren hatte – woher, das blieb unbekannt, hatte ja auch nichts zu sagen – und nur um so trotziger und höhnischer schienen seine Antworten gerade deswegen zu werden, und man sah ihm sein Bedauern an, nicht mehr wie sonst die Schwester seines Kapitäns auf der Zeugenbank zu erblicken. Vielleicht hatte er noch einen Trumpf gegen die Anklägerin ausspielen wollen.

Aber er wußte noch nicht, daß der Steuermann, wegen dessen Ermordung er angeklagt war, noch lebte.

Das war kein unrechtmäßiger Gang der Verhandlung. Die englischen Richter wußten, was sie taten. Dem Angeklagten war ein Solicitor als Verteidiger gestellt worden, aber erst, wenn Manuel schuldig gesprochen und vom Sheriff mit dem Vorschlage einer seiner Ansicht nach hier angemessenen Strafe den Geschwornen überwiesen wurde, hätte der Verteidiger sein ›Veto‹ eingelegt.

Vorläufig befand sich der Mulatte noch in der Meinung, man könnte ihm das Gegenteil seiner Behauptung, die sich doch mit der Flederwischs decken mußte, der Steuermann sei über Bord gewaschen worden, nicht beweisen; demnach mußte er auch noch von seiner endlichen Freisprechung überzeugt sein.

Auch hier war die Ruhe in der vieltausendköpfigen Menge nichts als Spannung. Schließlich mußte es doch kommen, und wie ungefähr, das wußte man auch schon. Umsonst verheimlichte der Inquisitor nichts, stellte viele Kreuz- und Querfragen, und er würde sich auch hüten, sich dem beständig Notizen machenden Verteidiger eine Blöße zu geben. Ja, jene Stammgäste des Gerichtssaales, welche, wenn sie nicht als Angeklagte vor den Schranken stehn, immer als Zuschauer auf den ersten Bänken sitzen, die ›Kriminalstudenten‹, wußten ganz genau, was man mit dem Mulatten vorhatte. Man ließ ihm Gelegenheit, durch offnes Geständnis sich mildernde Umstände zu verschaffen, wovon er freilich keinen Gebrauch machen würde.

»Wißt Ihr, wo sich die verschollenen fünfzig Tonnen Gold der englischen Münze befinden?« lautete eine jener plötzlichen Kreuzfragen.

Wäre der Angeklagte nur wenigstens etwas zusammengezuckt, man wäre ihm schon weiter zu Hilfe gekommen, aber Manuel verriet sich durch nichts.

»Welche fünfzig Tonnen Gold?« fragte er, und sein Staunen paßte nur zu seiner scheinbaren Unwissenheit.

»Der Kapitän Paul Müller, genannt Flederwisch, ist tot,« fuhr der Inquisitor fort.

»Das ist eine verdammte Falle von Euch,« war Manuels Entgegnung, und er hatte ja ein Recht, diesen Vorwurf zu machen, nur hätte er etwas höflichere Worte gebrauchen sollen. »Ich weiß gar nicht, warum Euer Gnaden sie mir stellt?«

»Er hat sich hier im Gerichtssaale selbst getötet.«

»Unsinn, fällt dem gar nicht ein,« knurrte der Mulatte.

»Er trug Gift bei sich in einem Ringe, aus dem durch eine verborgne Feder ein Stachel hervorgeschnellt werden kann. Glaubt Ihr mir nun?«

Der Richter stellte diese Falle auf Nobodys Rat, denn nur dieser wußte, wie man den Trotz des Mulatten brechen konnte.

Da ging mit demselben eine gewaltige Veränderung vor sich, man sah ihn langsam in sich zusammensinken, der Kopf fiel hörbar auf die Brust.

»Tot – mein Kapitän!« erklang es nach einer langen Pause klagend, nur geflüstert und dennoch vernehmlich auch für den Entferntesten.

Dann richtete er sich mit einem wilden Rucke wieder empor.

»Nun, was soll's?«

»Ihr habt dem Steuermann von hinten dieses kubanische Messer in den Rücken gestoßen, gesteht es!« sagte der Richter mit Nachdruck, die Machete zeigend.

»Beweist es mir doch! Es ist nicht wahr, behaupte ich!«

»Wir wissen es!«

Wieder wurde Manuel von einer furchtbaren Bewegung ergriffen, doch diesmal nur für die Richter und Nächstsitzenden bemerklich.

»Er – er – hat – mich – verraten?« brachte er endlich mit leiser, stockender Stimme hervor, und angstvoll hingen die blutunterlaufenen Augen an dem Inquisitor.

Dieser brauchte nicht die Unwahrheit zu sprechen, und außerdem war er ein älterer, erfahrner Mann. Welche Erkenntnisse in Menschenherzen mochte er hier schon gesammelt haben, und er mochte in diesem Mulatten mehr sehen als nur einen rohen, jeder Gewalttat fähigen Menschen. Er war Flederwischs Bootsmann gewesen, sein Begleiter, vielleicht sein Freund, jetzt sein Leidensgefährte – und er war ein Neger und jener sein Herr gewesen. So ahnte der Richter, was in dem Mulatten vorging.

»Nein, er hat Euch nicht verraten, hat nichts über Euch angegeben.«

Die Milde war übel angebracht. Da plötzlich fuhr Manuel mit einem wilden Triumph auf.

»Nicht? Ich wußte es! Dann ist's gut, dann ist alles gut! Nun denn, so hört, ihr blutigen Bastards: ja, ich habe den Steuermann ermordet, ich habe noch viel mehr von euch verfluchten Engländern ermordet! Aber ihr werdet mich nicht hängen, niemals, ihr werdet mich vielmehr sanft zu Tode füttern. Er hat's euch nicht gesagt, er hat's euch nicht gesagt, da kenne ich meinen Herrn besser! Wißt ihr, wo ich dem Steuermann das Messer in den Rücken rannte? Hahaha! Dort, wo die fünfzig Tonnen Gold liegen! Wo das ist? Hahaha, sucht es euch doch selbst! Denn mein Kapitän hat es euch nicht gesagt.« Und mit womöglich noch grimmigerem Trotze setzte er hinzu: »Nun ist der Kapitän tot, nun ist es Zeit, nun bin ich der letzte, der etwas davon weiß, und von mir sollt ihr nichts erfahren, ihr englischen Hunde.«

Ein im Publikum auszubrechen drohender Tumult erstickte von selbst augenblicklich wieder. Denn jetzt, vom Angeklagten ungeahnt, kam der dramatische Effekt, die Lösung.

»Blickt dorthin!« sagte der Richter, die Hand ausstreckend.

Immer noch das häßliche, höhnische Lachen im Gesicht, drehte Manuel sich nach der bezeichneten Richtung um. Wohl erstarb sofort das Lachen, machte aber doch keinem entsetzten Ausdruck Platz, er prallte auch nicht zurück, dafür streckte er langsam den Kopf vor, immer weiter, auch seine Augen quollen hervor.

»Ihr – Ihr – Steuermann – Gott mache mich blind! – Ihr lebt noch?« sagte er leise, dann aber, wie er langsam den Kopf wieder einzog, dies alles machte einen fast komischen Eindruck, als er dann nach einer Pause laut hinzusetzte: »Hängt Euch! In die Tretmühle sollt ihr mich doch nicht bekommen!« Und er fuhr sogleich fort: »Wenn der Steuermann noch lebt, so habe ich Davis ermordet. Beweist mir, daß ich es nicht getan habe!«

Manuel ahnte nicht, daß er mit dieser Aufforderung sein eignes Todesurteil gesprochen hatte, denn kaum waren seine höhnischen Worte verklungen, da rief der vermeintliche Alfred Werner mit lauter Stimme:

»Ich will dir beweisen, Mann, daß du es getan hast!«

Da hörte man einen Moment lang keinen Atemzug mehr im Saale. Selbst der Mulatte vergaß sein höhnisches Lachen vor Ueberraschung. Dieser Steuermann schien ja ein ganz andrer geworden zu sein. Doch als Manuel seine Augen nach der Stelle richtete, wo Alfred Werner eben noch gestanden hatte, da war dieselbe leer.

Niemand wußte, außer den Richtern, was die Worte des Steuermanns zu bedeuten hatten, aber es sollte sofort offenbar werden.

Ohne daß es jemandem aufgefallen wäre, war vor Beginn der Sitzung in einem abgesonderten Winkel des Saales ein Vorhang angebracht worden, der die gleiche Farbe hatte wie die Wände des Raumes und sich daher nicht von denselben abhob. Jetzt rauschte er zurück, und – den Anwesenden stockte das Blut in den Adern. Manuels Augen aber öffneten sich unnatürlich weit.

Das war ja jene elende Dachstube, die er damals mir dem Kapitän Flederwisch betreten hatte, um die Schiebung mit dem Schiffsmakler abzuschließen. Und da stand dieser selbst! Der tote Davis war wieder lebendig geworden.

Kichernd und schmunzelnd stand der Alte dicht am Tische und betrachtete beim Scheine der trübe brennenden Lampe, die der Mulatte ebenfalls kannte, ein Schriftstück. Es war das Dokument, das dem Makler die Erbschaft Kapitän Flederwischs verpfändete. Manuel sah es ganz deutlich.

Dann wendete Davis sich um, schlürfte zu dem gebrechlichen Schreibpult und öffnete es.

In diesem Moment rauschte der Vorhang wieder zusammen, aber nur um sich nach kaum einer Sekunde wieder zu öffnen.

Jetzt saß der Schiffsmakler am wackligen Tisch, den Rücken dem Fenster zugekehrt, vor sich eine Menge Papiere, in denen er regungslos las.

Und nun – die Spannung des Publikums stieg aufs höchste – tauchte hinter der blinden, schmutzigen Scheibe des einzigen Fensters etwas Dunkles auf. Zwei glühende Augen spähten nach dem Lesenden, und plötzlich ein Klirren – der ganze Fensterrahmen stürzte ins Zimmer, und ehe Davis noch aufspringen konnte, traf ihn die Schneide eines blinkenden Beiles mitten auf den Kopf, daß der Getroffne sofort zu Boden sank.

Ueber sein Opfer gebeugt, aber stand – Manuel, der Mulatte – genau derselbe, der doch dort auf der Anklagebank saß. Die beiden glichen sich Zug um Zug, denn das Gesicht des echten Mulatten war ebenfalls verzerrt in wildem Triumph der Mordlust. Er durchlebte noch einmal jene grauenvolle Stunde, und es war ihm gleich, daß er sich dadurch verriet.

Sein Doppelgänger jedoch trat zum Tische, musterte die dortliegenden Papiere, griff einige heraus, die er zu sich steckte, immer noch die Mordwaffe in der Hand. Die andern schleuderte er in den Kamin, den Inhalt der Schreibpultfächer dazu – er fand bares Geld – in die Tasche damit – so – jetzt ein Streichholz – nein, erst noch Petroleum aus der zerbrochnen Lampe darauf – hei, wie das emporloderte!

Ein höhnisches Gelächter durchgellte den Saal. Es waren dieselben Töne, die die Anwesenden heute schon mehrmals aus dem Munde des Angeklagten gehört hatten. Dann war die Dachstube leer. Der Mulatte hatte sich durch die Fensteröffnung in Sicherheit gebracht. – Der Vorhang rauschte abermals zusammen, ein befreiender Atemzug entrang sich allen, doch noch blieb alles still, und so hörte man plötzlich die Frage des Angeklagten:

»Verdammt, was war das?«

Hinter dem Vorhang hervor trat ein Mann – ein Farbiger – Manuels Doppelgänger.

»Tatest du das?« fragte er genau mit dem Tonfall des Mulatten.

»Bei allen tausend Teufeln der Hölle, ja – doch nein –«

»Wer ich bin, willst du wissen?« unterbrach ihn der andre. »Sieh her!«

Der Sprecher hob die Arme, verhüllte mit beiden Händen sein Gesicht, wendete sich halb ab. Langsam drehte er sich dann wieder herum.

Verwundert, fast entsetzt blickten alle ihn an.

Das war ja wieder der alte Davis, wie er sich leise kichernd die knochigen Finger rieb – nein! Er war es nicht. Das faltige, hagere Gesicht verwandelte sich schon wieder.

»Steuermann, Ihr –?« schrie der Mulatte.

In der Tat, das war wieder der erste Steuermann von Kapitän Flederwischs Frithjof.

»Du irrst,« entgegnete er trotzdem. »Auch dieses Antlitz ist nicht mein wahres – ich kann es dir auch nicht zeigen, denn wisse – ich bin der Detektiv Nobody!«

Eine leichte Verbeugung gegen die Richter und gegen das Publikum, dann war der berühmteste aller Detektiven verschwunden, und ehe das Publikum noch die Fassung zurückerlangte, tönten von draußen helle Stimmen. Die Zeitungsjungen schrien die neueste Nummer von ›Worlds Magazine‹ aus.

»Der Mörder des Schiffsmaklers Davis überführt! Detektiv Nobodys neueste Tat!«

Da gab es kein Halten mehr. Ohne zu warten, bis die Sitzung aufgehoben war, drängte das Publikum sich aus dem Saale, um möglichst schnell eine Nummer von ›Worlds Magazine‹ zu erstehn.

Manuel aber ward in den Kerker zurückgeführt. Sein Trotz war nicht gebrochen, der Mulatte sah sich nur vorläufig am Ende seiner Verstandeskraft. Gestanden aber hatte er, und bewiesen war ihm die Tat auch. Er war dem Henker verfallen.

Am Tage seiner Hinrichtung drängte sich die Menschenmenge in der Newgatestreet Kopf an Kopf. Schon um Mitternacht begannen sie zu wandern, um die ersten an dem mächtigen, eisernen Tore zu sein, das den Hof des unheimlichen Gebäudes von der Straße abschließt, hinter welchem Tore sich der Galgen erhebt. Aber schon um Mitternacht fanden sie diesen besten Platz bereits von Hunderten besetzt, obgleich die Hinrichtung doch erst mittags um zwölf Uhr stattfinden sollte!

Dabei öffnet sich ihnen das Tor nicht einmal, sie bekommen gar nichts zu sehen, nur die zwölf Schläge des Sterbeglöckchens wollen sie hören, bei dessen letztem Schlage das Fallbrett unter den Füßen des Delinquenten niederklappt.

Höhnisch und trotzig, wie er im Leben gewesen, endete der dämonische Mulatte, und auch noch in seiner letzten Viertelminute spielte er einen Streich.

Die Arme in einer Art von Zwangsjacke, die Schlinge um den Hals, so stand er hoch oben auf dem Fallbrett. Das furchtbare Glöckchen begann in langsamen Pausen mit hellem Tone zu schlagen – für die meisten mag jede Pause eine Ewigkeit sein, wie draußen für die Lauscher.

»Eins,« zählte er mit lauter Stimme mit, »zwei – drei ...« und da sprang er mit gleichen Füßen über das Fallbrett hinweg und stürzte, bis die Schlinge ihn aufhielt und ihm das Genick brach. Es war sein letzter höhnischer Possen gewesen.

 

Vergebens hatte inzwischen Kapitän Flederwisch auf den Besuch Alfreds gewartet. Wohl hatte man ihm von dem seltsamen, grauenhaften Schauspiel berichtet, das sich in jener Gerichtsverhandlung abgespielt hatte, wohl wußte Flederwisch nun auch, daß der Mann, der als erster Steuermann an Bord der Frithjof geweilt hatte, der berühmte Detektiv Nobody gewesen sein sollte, aber noch bezweifelte er es. Er mußte das aus dem Munde des Freundes selbst hören. Selbst die Enthüllungen, die ›Worlds Magazine‹ brachte, überzeugten den Kapitän nicht. Er hatte inzwischen ein Schreiben bekommen, unterzeichnet von Alfred Werner, und darin forderte dieser ihn auf, die Expedition zu führen, die zur Suche des Goldschiffes nach den Gallopagos aufbrechen sollte, und Flederwisch hatte sich sofort bereit erklärt. Er war eben umgewandelt worden, und er wollte sich des Vertrauens würdig zeigen, das der neugewonnene Freund in ihn setzte. Er wollte sich auch die Liebe der Schwester zurückgewinnen.

Diese fand allgemeines Mitleid, das in Bewunderung überging, als man hörte, daß sie das von ihrem Gatten hinterlassene Vermögen dessen Verwandten abgetreten hatte und keinen Penny davon für sich behielt.

Im Vordergrund des Interesses stand jedoch der Goldschatz von hundert Millionen und die beiden, die denselben entdeckt hatten: Detektiv Nobody und Kapitän Flederwisch. Sie waren die Helden des Tages, über die sofort eine neue Pennyliteratur entstand. ›Worlds Magazine‹ aber mußte bei jeder Nummer die Auflage verdoppeln und trotzdem jedesmal noch nachdrucken. Es ward die meistgelesene Zeitung in den Vereinigten Staaten und in den Vereinigten Königreichen.

Zugleich mit der Meldung von der glücklichen Ankunft der Expedition in Guayaquil brachten die Zeitungen auch die Nachricht, daß dort Mrs. Lewis sanft verschieden sei, die alte, energische Dame, die fanatische Engländerin, welche vor Jahren einmal durchaus eine politische Rolle hatte spielen wollen, so eine Art Lady Esther Stanhope, und, als ihr das nicht geglückt, gleich jener ins Ausland gegangen war, die in Südamerika jedenfalls ein weiblicher Cecil Rhodes hatte werden wollen. Aber zum Wagen gehört der Erfolg, und da dieser bei ihr ausgeblieben war, wurde sie bald vergessen.

Das Gold wurde gefunden, vollzählige fünfzig Tonnen. Nun klang erst recht das Lied vom braven Mann, vom Detektiven Nobody; andre priesen Kapitän Flederwisch noch höher, daß er den Goldschatz nicht berührt hatte. Denn, Hand aufs Herz, wer hätte es nicht getan?

Es folgten Berichte, wie es jetzt auf den Gallopagos aussähe – wüster als zuvor; jetzt war auch die Vegetation vernichtet – und wie auf den sogenannten Fraueninseln über zehntausend Menschen dem Hungertode nahe seien. Der edle Kapitän Flederwisch jedoch schien seinen Finderlohn auf Kredit dazu zu benutzen, die Unglücklichen nicht nur zu speisen und zu kleiden, sondern sie auch nach ihrer Heimat zu schicken, und das nach Auszahlung ihres vollen Lohnes, den sie zu erwarten gehabt hatten, und den Rest seines Geldes, noch immer einige Millionen, sollte er dem Liquidationskomitee übergeben haben.

Nobody aber löste auch sein letztes Versprechen ein, das er sich selber gegeben hatte. Er sorgte dafür, daß Carmencita nach Südamerika zurückgebracht ward. Er selbst hatte Wichtigeres zu tun und bediente sich, ohne daß diese ihn kannten, mehrerer Mittelspersonen.

Carmencita hatte sich durch ihr skandalöses Auftreten in der Vorhalle der Lincolns Inn die Gunst des auf Anstand haltenden Tingeltangeldirektors verscherzt; es war ihr gekündigt worden, sie durfte gar nicht mehr auf der Bühne erscheinen, es wurden ihr zwei Wochen Gage bezahlt. Diese war schnell verjubelt, schon wanderte der Schmuck ins Pfandhaus, ebenso die Garderobe; die bittre Not stand bereits vor der Tür, als sich der schnell Herunterkommenden eines Tages ganz unerwartet ein geheimnisvoller Herr vorstellte.

Er sei der Direktor eines weltbekannten Detektivbureaus. Seiner Zeit habe ihr doch ihre Tante, Senora Estrella, 15.000 Pfund Sterling entwendet. Wenn sie gewillt sei, mit ihm zu teilen – denn es sei noch alles vorhanden – würde er ihr das gestohlene Geld wiederverschaffen.

Carmencita verlor vor Freude die Besinnung. Aber alle Fragen und Bitten nutzen nichts, erst mußte der Kontrakt gemacht werden, wonach sie dem Direktor 7500 Pfund verschrieb. Schwindel konnte es nicht sein, denn eine weite, weite Reise sei dazu nötig, und da sie kein Geld, nichts besäße, würde ihr alles, was sie brauchte, vorgeschossen werden. Nun, zu verlieren hatte Carmencita überhaupt nichts, nur zu gewinnen, und daß der geriebene Privatdetektiv den Kontrakt so fein zu formulieren wußte, daß alles in seine Tasche floß, merkte sie nicht. Lieb war es ihm zu hören, daß Carmencita ja auch noch Ansprüche auf weitere 20.000 Pfund zu machen hatte, und dasselbe Spiel wiederholte sich. Der geriebene Direktor verschwieg natürlich, daß er seine Kenntnisse einem ihm zugegangnen anonymen Brief verdankte. Wirklich, sie erhielt Garderobe; in einer regnerischen Nacht begleiteten jener Direktor und ein andrer Herr von kreolenartigem Aussehen sie an Bord eines Passagierschiffes; eine Kabine zweiter Kajüte wurde ihr angewiesen, und wenn Carmencita auch noch nicht einmal wußte, wohin denn das Schiff ging, so befand sie sich doch in der seligsten Stimmung; umsonst würde man sich doch nicht solche Kosten machen, und ein Traum gaukelte ihr die wiedergewonnenen Reichtümer vor – und die Rache an der Treulosen.

Am nächsten Morgen erfuhr sie natürlich das Ziel des Dampfers: Aspinwall. Später, nach Passierung eines gewissen Längengrades, wurden ihr auch von dem Privatdetektiven Offenbarungen gemacht, jetzt konnte sie ja nicht wieder herunter vom Dampfer, um billigere Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In dem zerstörten Quito wurde eifrig gebaut, dadurch war dort ein reges Leben entstanden, und so etwas lockt immer Abenteurer an, männliche und weibliche. Schon seit längerer Zeit hatte dort eine Madame Scanzoni ein elegantes Haus eröffnet, in zwei Hälften geteilt; in der einen, in der großen mit den Samtmöbeln und Spiegeln, wurden die bessern Gimpel gerupft, in der andern, der bescheidnen Spelunke, die fleißigen und spiellustigen Arbeiter, und das Geschäft blühte. ›Madame Scanzoni‹ aber war keine andre als Estrella.

Das war die ganze Erklärung. Man würde dieser Madame Scanzoni schon alles wieder mit Hilfe des Gerichtes abnehmen, was nicht ihr gehörte; deswegen brauche Carmencita keine Sorge zu haben.

Die Reise nahm die gewöhnliche Passagierroute über Aspinwall und Panama nach Guayaquil.

Ach, da war wieder die Küste ihres schönen, sonnigen Ecuadors! Und dort war ihr Geld!

An einem glühenden Nachmittage betraten sie das Land. Oede lagen die Straßen in dieser Sommerhitze da, jetzt war Siesta.

Nur ein Trupp johlender, in den Sätteln schwankender Gauchos kam im Galopp die Straße herauf.

Ach, das war doch ein andres Bild als in dem nebligen London, das wirkte herzerfrischend!

Da, ein gellender Jauchzer, einer der Gauchos jagte auf die Reisenden zu.

»Ich habe sie! Ich habe sie! Und morgen ist Vollmond! Nun kann ich wieder schießen!«

Nur wie eine Vision sah der englische Privatdetektiv den Reiter angesprengt kommen, ein schwarzes, eingefallenes, skelettartiges Gesicht, eine Hand schlang sich um Carmencitas Haar, ein Ruck, sie lag vor ihm quer im Sattel, und fort war er wie ein Phantom, ihm nach die brüllende Truppe, verschwunden um die nächste Ecke.

Ja, was war denn das gewesen? Carmencita war nicht mehr an des Detektivs Seite. Sein Begleiter, ein Südamerikaner, konnte ihm keine Auskunft geben, wußte ihm nicht zu raten, hier war er selbst fremd.

»Das war Pepe-Pepe, der Zambo bravo,« sagte vergnügt ein Gepäckträger.

Der Direktor stürzte auf einen Mann zu, der etwas Aehnliches wie eine Uniform trug und jedenfalls ein Konstabler sein mußte, denn er stand an einer Ecke. Der verstand ihn nicht, bettelte ihn aber um eine Zigarette an. Den zweiten Konstabler fand er schlafend im Schatten der Häuserwand liegen; der Mann schimpfte, daß der Mensch nicht einmal mehr in der Siesta seine Ruhe habe.

Es sei kurz gesagt: zu sehen bekam er Carmencita nicht mehr, und als er auf eigne Faust Madame Scanzoni als Diebin anzeigte – er sei der Bevollmächtigte ihrer Nichte – wurde seine Klage nach längrer Zeit als unbegründet zurückgewiesen; er mußte die Gerichtskosten bezahlen und konnte wieder nach Hause fahren.

Doch zu erfahren bekam er noch Carmencitas Schicksal. Gleich am nächsten Tage nach ihrer Entführung sprengte ein Gaucho durch die Stadt, schon auf der Straße nach einem Priester schreiend, Pepe-Pepe, der Zambo, sei tot. Als er den Priester gefunden und bestellt, stieg er vor einer Schenke ab und erzählte die Einzelheiten.

Die Geschichte war zwar hübsch, aber für jene Gegenden sehr einfach. Bekanntlich konnte Pepe-Pepe, der Zambo, nicht mehr schießen, d. h. er schoß immer daneben. Nach vielen nutzlos angewandten Mitteln hatte ihm der berühmte Medizinmann der Orejonen gesagt, wie er den Zauber von Auge und Hand bannen könne. Dazu müsse er jenes Weib, das ihn verzaubert, haben; er solle Carmencita mit den Haaren in einer Vollmondnacht an den Schweif seines Pferdes binden und bis zum Aufgange der Sonne um die Estancia jagen, in der er zuletzt geschlafen, dann könne er wieder schießen.

Das hatte denn Pepe-Pepe, der Zambo, in dieser Nacht pünktlich ausgeführt, erzählte der Gaucho, und wie die Sonne aufging, hatte er immer in diese geschossen und ›ich kann wieder schießen, ich kann wieder schießen!‹ dabei geschrien, darauf war er auf den Rücken gefallen, hatte noch ein bißchen mit den Beinen gezappelt, und dann war er so mausetot gewesen wie das nackte Weib, nur nicht so furchtbar entstellt.

 

Kapitän Flederwisch erfuhr in New-York aus Nobodys Munde das fürchterliche Ende der Quadrone. Wie die beiden dort zusammengetroffen waren, ist an andrer Stelle bereits erzählt worden, ebenso wie sie an Bord der Wetterhexe von London ausfuhren, um den ›gelben Drachen‹ unschädlich zu machen, wie sie unterwegs ganz Monte Carlo rebellisch machten, und wie sie endlich das Ziel ihrer Fahrt erreichten.

Flederwisch und Nobody aber waren fortan unzertrennliche Freunde, und ihre weitern Taten sollen nunmehr nach dem Tagebuch des berühmten Detektiven berichtet werden.


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