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7. Der Verzweiflungskampf

Während sich diese Szenen auf der Freundschaftsinsel abspielten, hatte sich über dem Haupte des schwermütigen Spaniers, der auf Tanners Farm lebte, ein düsteres Unwetter zusammengezogen.

Diego war lange nicht zurückgekommen. Erst am späten Nachmittag fand er sich wieder ein. Jenny hatte sich vorgenommen, ihn recht kühl zu empfangen, ihn überhaupt fernerhin abweisend zu behandeln, aber sein Zustand reizte ihre Neugier, ihn auszuforschen.

Der Spanier war offenbar ins Wasser gefallen, seine Sachen waren naß, trugen Lehmspuren, waren etwas zerrissen, und außerdem zeigten Gesicht, Hals und Hände Kratzwunden.

»Was ist denn mit Euch geschehen, Senor?« fragte Jenny.

»Ich bin unterwegs verunglückt,« lächelte Diego, aber es klang verstört, und er sah bleich aus. »Ich bin über einen Baumstamm gesprungen, ohne zu wissen, was dahinter war, und fiel in einen Sumpf und zugleich in einen Dornbusch.«

»Na, zieht Euch nur gleich um!« –

Es war am folgenden Morgen.

Jenny sortierte mit der alten Magd in der Küche Wäsche und ließ sie von andern Mägden nach den Vorratskammern bringen.

Diego saß am Fenster und las.

Da näherten sich dem Hause zwei fremde Männer, die einen in eine Decke gehüllten Gegenstand trugen. Es waren Fischer aus Jefferson.

»Mister Tanner! Wo ist Mister Tanner?« rief der eine. »Heraus, Leute! Hier ist ein Mord geschehen!«

Unter Schreckensrufen eilte alles hinaus.

»Ist das nicht der Junge, der auf diese Farm gehört?«

Die Männer hatten ihre Last niedergelegt und die Decke zurückgeschlagen. Ein schöner Knabe zeigte sich, im Jockeianzug, tot, das Gesicht von Kratzwunden übel zugerichtet, die Kleider zerrissen.

»Pedro!« erklang es einstimmig entsetzt.

Auch Diego hatte einen Schreckensruf ausgestoßen.

»Wo habt ihr ihn gefunden?«

»Am Ufer. Er schwamm unter einem über dem Wasser hängenden Busch, war mit den Kleidern in den Aesten hängen geblieben.«

Jenny war die erste, die sich von ihrem Entsetzen erholte.

»Niemand rühre den Toten an!« befahl sie. »Tragt ihn nur aus der Sonne dort in den Schatten. Schnell, Berty, sattle ein Pferd und reite nach Jefferson! Der Sheriff soll sofort herkommen! Erzähle ihm das, was du hier gesehen hast.«

Der Neger ritt in gestreckter Karriere fort.

Unterdessen steckten die Hausbewohner die Köpfe zusammen und flüsterten und blickten nach der Leiche unter dem Baume.

Ein Knecht hielt bei ihr Wache; er wehrte Diego, sich ihr ganz zu nähern, denn auch dieser blieb bei dem Toten, ihn mit sichtlich großem Schmerz und gefalteten Händen betrachtend. Auf welche Weise hatte Pedro seinen Tod gefunden? War er verunglückt? Hatte er Kastor nicht getroffen? Wo war der Neger?

Der Spanier ahnte nicht, daß er von den Bewohnern der Farm mit mißtrauischen Blicken beobachtet ward.

In Jenny war plötzlich wieder die Erinnerung daran aufgetaucht, daß Diego sie verschmäht hatte. Eine unersättliche Rachsucht bemächtigte sich der Seele der koketten Frau, und plötzlich murmelte sie halblaut vor sich hin, doch so, daß die Umstehenden es hören konnten:

»Diego hat den Knaben getötet!«

Aller Augen richteten sich entsetzt auf sie. Sie merkte es, und flüsternd schilderte sie nun, wie oft der Spanier mit dem Knaben allein spazieren gegangen, wie zärtlich er stets mit ihm gewesen sei.

Sie erging sich in dunklen Andeutungen, und der Giftsame, den das Weib ausstreute, ging auf.

»Gebt acht auf den Spanier, daß er nicht entspringt,« hieß es flüsternd.

Man beobachtete Diego, doch noch mußte die Ankunft des Richters abgewartet werden.

Dieser kam erst nach zwei Stunden, der Bote hatte ihn getroffen, als er eben von nächtlichem Ritt nach Hause gekommen war. In seiner Begleitung waren der Arzt von Jefferson und zwei Konstabler, sowie ein Fremder – Nobody.

In Pattersons ruhigen Zügen malte sich weder Schreck noch Mitleid, als er an die Leiche des Knaben trat, der auch noch im Tode, obgleich er schon bald zwanzig Stunden im Wasser gelegen hatte, und trotz der Verletzungen schön war. Während der Arzt die Untersuchung begann und den Leichnam entkleiden ließ, wurde dem Sheriff erzählt, wie die beiden Schiffer ihn gefunden hätten.

»Wann ist Pedro zum letzten Male auf der Farm gesehen worden?« wandte er sich an die Umstehenden.

»Gestern mittag so gegen zwölf hat er die Farm verlassen,« ergriff Jenny das Wort, sich die Augen trocknend. »Er wollte sich von Kastor nach der Freundschaftsinsel rudern lassen.«

»War Kastor hier bei ihm?«

»Nein, er sollte Pedro an der großen Eiche abholen.«

»Wo ist der Neger?«

»Ich weiß nicht, er ist noch nicht wiedergekommen. Aber er läßt sich auch nicht jeden Tag bei uns sehen, er arbeitet hier nur manchmal so bei Gelegenheit. Senor Diego kann Euch vielleicht mehr sagen.«

Nobody, der den Sheriff begleitet hatte, nicht etwa, weil er denselben beobachten wollte, sondern weil er dies stets getan hatte, so lange er der Gast Pattersons war, und es aufgefallen wäre, wenn er bei einem so wichtigen Fall daheimgeblieben wäre, verriet ebenfalls durch keine Miene, daß er die nähern Umstände der grausigen Tat kannte.

Selbstverständlich beschloß er, dem Sheriff kein Hindernis in den Weg zu legen, falls dieser vorläufig die Leute über den wahren Mörder täuschen wollte.

Sollte Diego, wie es den Anschein hatte, auf Anregung der eifersüchtigen Farmersfrau verhaftet werden, so konnte doch von seiner Verurteilung keine Rede sein. Da war denn immer noch Nobody da. Patterson aber spielte seine Rolle vortrefflich, Nobody mußte ihn insgeheim bewundern.

Daß ihm selber eine noch größere Bewunderung gebührte, weil er diesen Schurken entlarvt hatte und für immer unschädlich machen wollte, das kam dem Detektiven nicht in den Sinn.

Der Sheriff befragte inzwischen Diego eindringlich.

Dieser erweckte durch seine immer noch zunehmende Verlegenheit den Verdacht der Täterschaft – niemand zweifelte daran, niemand erhob Einspruch, als Patterson ihm die Hand auf die Schulter legte und sagte:

»Senor Diego, Sie sind mein Gefangener!«

»Ich bin unschuldig!« hauchte der Spanier.

Nobody erhob keinen Einspruch. Er regte nicht einmal an, daß man die Angaben des Verhafteten auf ihre Wahrheit prüfen sollte. Er hatte seine guten Gründe dazu. Er ahnte die kommenden Ereignisse voraus.

Der Spanier wurde als Gefangener nach Jefferson geführt, verhaftet wegen des Verdachtes, an einem Knaben einen Lustmord begangen zu haben. –

Ganz Jefferson war sowieso schon in Aufregung.

Heute nacht war wiederum ein großes Stromboot, beladen mit kostbaren Stoffen, darunter auch Seide, gescheitert. Wo, wußte man nicht, jedenfalls stromaufwärts von der Freundschaftsinsel, denn die Bewohner derselben hatten Leichen und einige geborgene Kisten gebracht, die der Eigentümer natürlich gegen schweres Geld auslösen mußte. Niemand in Jefferson ahnte noch die Wahrheit.

Alles hatten jene wohl auch nicht ausgeliefert.

Noch standen die Stromschiffer in Gruppen zusammen und disputierten über den Unglücksfall, als ein Gerücht auftauchte – man wußte nicht woher – das mit Blitzesschnelle von Mund zu Mund ging und die furchtbarste Aufregung hervorbrachte. Jener fremde Spanier, der sich seit einiger Zeit in Jefferson und in der Umgebung umhertrieb, sich zuletzt auch auf Tanners Farm aufhielt, hätte an Pedro einen Lustmord begangen.

Wilde Flüche wurden laut, die Hände fuhren nach verborgenen Waffen; das spanische Element tat gut daran, sich nicht auf den Straßen sehen zu lassen, spanische Trinkstuben und Geschäfte wurden geschlossen.

Der Quadrone war überall bekannt und beliebt, man hatte den schönen Knaben gern gehabt wegen seines trotzigen Uebermutes. Eben, weil er ein Quadrone war, wandte sich der Haß doppelt gegen die Spanier.

Bekanntlich entbrannte der Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten Amerikas wegen der Sklavenfrage. Gerade hier in der Gegend von Jefferson war ein Zentrum der nordischen Union gewesen, welche die Neger frei haben wollte.

Der Süden dagegen und ganz besonders die Spanier glaubten, und sie glauben es zum Teil noch jetzt, daß die Neger überhaupt keine Menschen seien, nur willenlose Werkzeuge, zur Sklaverei geboren, und dasselbe gilt von allen, die auch nur einen Tropfen Negerblut in ihren Adern haben.

Nun war Pedro ein Quadrone, ein Spanier hatte ihn ermordet! Das erforderte Rache, nicht nur eine einfache Strafe des Gerichtes. Richter Lynch lebte noch! Man entsann sich auch plötzlich, wie scheu Diego herumgeschlichen war, wie er sich von allen Festlichkeiten fernhielt, wie er jedem Weibe ängstlich aus dem Wege ging, ja, man erzählte sich auch noch andre Geschichten, besonders Dirnen, an denen es in Jefferson nicht fehlte, wußten allerlei von ihm.

Der Sheriff traf ein. Einige Männer, die außer den beiden Konstablern den Sicherheitsdienst verrichteten, hatten sich ihm angeschlossen, um den Gefangenen vor der voraussichtlichen Wut des Volkes zu schützen.

Man sah es ihnen an, wie ungern sie ihres Amtes walteten.

Und die Empörung blieb nicht aus. Die Männer rotteten sich zusammen, folgten dem Zuge, umschwärmten ihn unter drohenden Ausrufen.

»An den nächsten Baum mit dem verfluchten Spanier! – Lyncht den Knabenschänder! – Freie Bürger, laßt ihr euch das gefallen? – Nieder mit den Spaniern!« So klang es durcheinander; am meisten lärmten die Weiber, auf Diego mit den Fingern zeigend, vor ihm ausspuckend.

Dieser schritt fessellos in der Mitte, den Kopf tief auf die Brust geneigt, wirklich einem Schuldigen gleichend.

Nur die Gegenwart des Sheriffs hielt das Volk ab, die Konstabler mit Gewalt auseinanderzutreiben und an dem Gefangenen seine Wut auszulassen. Man wußte, daß der Sheriff nicht mit sich spaßen ließ.

Trotzdem nahm die Situation einen immer drohenderen Charakter an.

»Ruhe, Leute!« übertönte Pattersons sonore, mächtige Stimme den Lärm. »Dieser Mann ist wegen eines Verdachtes verhaftet. Es muß erst bewiesen werden, daß er die Tat begangen hat. Wollt ihr, Bürger, einen Mann ohne Verurteilung hängen?«

Die Ansicht teilte sich.

Die einen schrien: Hoch lebe Richter Lynch! Nieder mit dem Knabenschänder! Er hat es doch getan, er ist ein Spanier. Er wird uns entwischen! Die andern jubelten dem Sheriff zu und verlangten das Zusammentreten des Gerichts, und gerade die Leute, die dieses forderten, waren besonders rohe und verwahrloste Menschen, was der beobachtende Nobody sofort bemerkte.

Der Verhaftete ward in das stark gebaute Gefängnis gebracht, welches von der Menge belagert wurde. Die sorgte schon dafür, daß er nicht entsprang.

Patterson betrat sein Haus, mit ihm Nobody.

Nach einigen Stunden verließen beide es wieder, um sich nach dem Building zu begeben, wo sich inzwischen die Jury versammelt haben mußte.

Patterson verabschiedete sich freundlich von seiner Gattin. Er hatte die ganze Zeit allein in seinem Zimmer gesessen.

Missis Patterson wollte eben ihren häuslichen Arbeiten nachgehn, da ward die Tür geöffnet.

»Gott sei Dank, Mary, daß du kommst ...«

Nein, das war die Schwägerin nicht.

Auf der Schwelle stand ein junger Mann. Oder war's ein Knabe, der die Kleider eines Erwachsenen angezogen hatte? Eine ganz seltsame Erscheinung!

Er war klein, der Anzug schlotterte um den Körper, die Beinkleider waren hoch aufgekrempelt, die Hände verschwanden völlig in den Aermeln, der Hut war tief in die Stirn gerutscht. Was man von dem Gesicht noch sehen konnte, war wieder merkwürdig: ein wunderbar kleiner, zierlicher Mund, überhaupt alles so fein und zart, das Näschen, die Ohren! Der Teint war wie Milch und Blut, das Antlitz war weiß und zart wie frisch gefallener Schnee, aber auf jeder Wange zeichnete sich scharf ein großer, roter Fleck ab.

Die großen, schönen Augen, in denen es unsicher flackerte, musterten die Hausfrau mit dem Ausdruck der größten Spannung.

»Wohnt Mister Patterson hier?« fragte eine weiche, bebende Stimme.

»Ja, aber er ist zur Gerichtssitzung.«

»Nicht wahr, er ist doch der Sheriff von Jefferson?«

»Jawohl. Wünschen Sie etwas von ihm?«

»Ja – nein – wenn Sie Missis Patterson sind?«

»Die bin ich.«

»Die Frau des Sheriffs?«

»Ja.«

»Des Sheriffs, welcher am ersten Juni stets auf die Freundschaftsinsel kommt?«

Die Frau war selbst so mit ihren eignen Gedanken beschäftigt, daß sie die Merkwürdigkeit der Fragen gar nicht beachtete.

»Jawohl.«

»Und das ist seine Wohnung?«

»Natürlich.«

»Sie lieben Ihren Mann wohl recht sehr?«

»Und ob ich ihn liebe!« Jetzt blickte Missis Patterson doch erstaunt auf. »Was wünschen Sie eigentlich?«

»O – nichts – ich fragte nur so. Also Mister Patterson ist in der Gerichtssitzung?«

»Ja, heute wird das Urteil über Diego gesprochen.«

»Danke sehr, ich will hingehn und ...«

Die letzten Worte erstarben in einem unverständlichen Murmeln. Noch einen langen Blick durch das Zimmer gleiten lassend, noch einen stechenden auf die Frau werfend, entfernte sich der junge Mann, der sich so seltsam benahm.

Das Building war ein niedriges Gebäude, nur einen einzigen großen Saal bildend. Er war dichtgedrängt voll, meist von Stromschiffern und Trappern. Ein abgegrenzter Teil war für Bürger von Jefferson reserviert. Alles stand, nur die Geschworenen nicht, welche die Bänke an der Hinterwand einnahmen. Niemand trug eine Amtstracht, nicht einmal das Sonntagsgewand.

Wie sie von der Arbeit kamen, so pflegten die Leute jetzt ihres Ehrenamtes.

Die Verhandlung war im besten Gange. Es wurden lange Reden gehalten, aber kurzer Prozeß gemacht.

Vor dem Richter stand zwischen zwei Konstablern Diego, so niedergeschlagen wie immer, einfach seine Unschuld beteuernd.

»Sie erlauben wohl, ich bin so klein,« sagte da hinter einem riesigen Stromschiffer ein feines Stimmchen.

Der Riese drehte sich um, sah den zarten, kleinen Wicht, dessen Gesicht unter dem Hute fast verschwand, und trat lachend zur Seite.

Das Wort ›ich bin so klein‹ wirkte immer so humoristisch, daß jeder dem neugierigen Kerlchen Platz machte.

So kam er in die erste Reihe.

»Sie erlauben, wo ist denn der Sheriff?« wandte er sich dann an den Nachbar.

»Ihr seid wohl fremd hier? Dort steht er ja.«

»Der?!« Die Augen des Kleinen verschlangen Patterson.

Nur einer der Anwesenden kannte den Kleinen.

Nobody stand in einer Ecke, und leise murmelte er vor sich hin:

»So ist sie doch gekommen. Carmen hat sich überzeugt, daß der geliebte Mann sie schnöde betrog. Die Katastrophe, die ich ahnte, bricht herein. Ich werde sie nicht aufhalten. Man soll dem Schicksal nicht gebieten wollen. Ich würde es am wenigsten tun!«

So sprach der Mann, der für so viele Menschen, die von den Pfaden des Gesetzes abgewichen waren, selber zum vernichtenden Schicksal geworden war!

Wer vermöchte die Widersprüche zu lösen, die in der Seele Nobodys lebten!

Das Urteil Diegos war schon so gut wie gesprochen.

»Mister Diego,« fragte der Sheriff eben, »gestehn Sie, an dem Knaben Pedro einen Lustmord begangen zu haben?«

Da geschah etwas, was niemand erwartet hatte – es war ein Donnerschlag aus heiterm Himmel.

»Er ist unschuldig!« schrie eine gellende Stimme. »Bürger der Vereinigten Staaten, dort, der Sheriff ist der Hauptmann einer Piratenbande, die auf der Freundschaftsinsel haust – und ich bin sein Weib! Charles, hahaha!!«

Eine Totenstille folgte dem gellenden Gelächter. Alles blickte auf den kleinen Mann, der auf den Sheriff deutete.

Diesem quollen die Augen aus den Höhlen. »Carmen!«

Es war nur gehaucht worden, dieses Wort, und doch hatte jeder es vernommen.

»Ja, Carmen! Tod dem Verräter!«

»Tod dem Verräter!« schrie auch der Sheriff plötzlich.

Was sich jetzt entspann, ist nicht so schnell zu erzählen, wie es sich zutrug.

»Carmen!« schrie in diesem Augenblick Diego.

»Verrat!« donnerte der Sheriff. »Her zu mir, Piraten, zu eurem Kapitän! Alles ist verloren, Tod über sie alle, besetzt die Boote!«

Alles dies geschah gleichzeitig, in einem Moment.

In des Sheriffs Hand blitzten zwei Revolver, er schoß in die Menge.

Als erstes Opfer fiel Carmen.

Eine unbeschreibliche Verwirrung entstand.

Die einen standen in lähmendem Entsetzen da, die andern zogen Revolver, eilten zum Kapitän und schossen die, welche zurückblieben, wie Schlachtvieh nieder.

Undurchdringlicher Pulverrauch füllte im Nu den Saal. Pfiffe, Wehrufe, Wutgebrüll klangen durcheinander.

Nobody stand noch an der Wand. Da – eine Kugel riß ihm den Hut vom Kopfe, eine zweite streifte seinen Arm – der Sheriff feuerte auf ihn.

Nobody war unbewaffnet.

»Schuft!« murmelte er. »Du willst es nicht anders!«

Im Nu war er im Freien.

»Nach dem Hafen,« schrie er und sprang vor. »Verlegt den Piraten den Weg nach den Booten!«

Noch wußte niemand, was denn das bedeute.

Dem Verwegensten sträubte sich das Haar vor Entsetzen. Man glaubte einen bösen Traum zu haben.

Die Flußräuber drängten durch die Hintertür, die nach dem Hafen führte. Sie stürzten durch die Straße, an der Spitze der Sheriff. Alles wurde niedergeschossen, was ihnen in den Weg kam; sie drehten sich im Laufen um und feuerten zurück, obgleich ihnen niemand folgte. Es war eine furchtbare Menschenschlächterei. Wer war Freund? Wer war Feind? Nur die Schießenden kannten sich untereinander. Piraten? Wo waren Piraten? Was schossen die denn? War denn der Sheriff plötzlich toll geworden?

Vier große Boote stießen ab, voll besetzt mit Männern, welche sich mit Macht in die Riemen legten. Wie Pfeile schossen die Fahrzeuge über das Wasser. Es waren mindestens achtzig Mann.

Nobody war in eine Menge eingekeilt, er konnte sich nicht rühren. Er wußte, daß er die Fliehenden nicht aufhalten konnte.

Da stürzte ein alter Trapper mit flatternden weißen Haaren vor, stieß einen Wutschrei aus.

»Er hat meinen Jungen ermordet!«

Der Mann hob die einläufige Büchse hoch, zielte einen Augenblick und schoß.

Hohnlachend winkte Patterson mit der Hand.

»Ihr oder wir! Wir sind Piraten, ich bin der Hauptmann. Meine Kriegserklärung habe ich gegeben. Cutting Knife, jetzt wollen wir sehen, wer Sieger bleibt, du oder ich!«

Nobody antwortete nicht. Er achtete nicht darauf, daß die Menge fast ehrfurchtsvoll den Namen des berühmten Westmannes, wiederholte.

Die Boote verschwanden hinter der Insel.

Was nun?

Die ganze Stadt, das heißt, was darin zurückgeblieben war, befand sich in einer Art Betäubung.

Jene Männer dort gehörten doch gar nicht zur Freundschaftsinsel? Sie hatten in der Stadt Frauen und Kinder.

Da ertönte Nobodys Stimme, jedem hörbar.

»Zurück! Räumt den Platz! Die Piraten haben Kanonen auf der Insel. Sie werden unter Euch feuern!«

Ungläubig starrte man ihn an.

Woher wollte er das wissen? War er denn auf der Insel gewesen?

Da stieg auf dieser ein Wölkchen auf, ein donnernder Schall, eine Kugel tanzte über das Wasser. Gleichzeitig wurde an einem hohen Maste eine rote Flagge gehißt – die Piratenflagge.

Wieder lähmendes Entsetzen!

Das zweite Wölkchen, der zweite Donner, die Verwirrung war unbeschreiblich.

»Zurück in die Stadt!« rief Nobody, und jetzt gehorchte man ihm.

Der alte Trapper bildete den Anlaß dazu.

»Tut, was der Fremde will. Es ist Cutting Knife! Ich kenne ihn!«

Zum zweiten Male ward der Name des berühmten Westmannes genannt, und abermals wiederholten ihn tausend Stimmen.

»Er soll uns gegen die Schufte führen! Wir müssen das Räubernest vernichten!« Unter diesen Rufen wälzte sich die Menge in die Stadt zurück.

Nobody berief mehrere der erfahrensten Männer zu sich ins Building. Dort schilderte er ihnen kurz, wie die Verhältnisse auf der Insel lagen, und dann entwickelte er seinen Plan.

Die staunende Bewunderung, die man dem verwegenen Manne dafür zollte, daß er die Insel allein betreten hatte, ward noch überboten durch die, die dem von ihm entworfenen Plan gebührte.

»Führe uns, Cutting Knife! Wir folgen dir!« schrien die Männer, und die Menge draußen stimmte in den Ruf ein. Dann zerstreute sie sich. Alles in der Stadt und auf der Insel blieb still bis zum Abend.

Als die Finsternis tief genug war, bewegte sich eine Schar kühner Männer unter der Führung Nobodys am Ufer des Mississippi stromaufwärts.

Auf ein Zeichen machten alle Halt. Die Bowiemesser wurden gezogen. Man hieb Strauchwerk ab und verband es derart, daß es jenen Büschen glich, die fast ununterbrochen auf dem mächtigen Strome dahintreiben.

Nach kurzer Zeit war alles bereit.

Mit flüsternder Stimme gab Nobody noch einmal seine Anweisungen, dann glitt er als erster ins Wasser, verborgen hinter dem grünen Blätterwerk, an dem er eine Doppelbüchse befestigt hatte, sowie den Patronengürtel.

Die Strömung war reißend. Sie führte den kühnen Mann sofort mit sich hinweg; aber Nobody war nicht umsonst als Cutting Knife der berühmteste Westmann. Er ward bald Herr über die Flut und konnte seine ganze Aufmerksamkeit der Gegend vor ihm zuwenden.

Lautlos folgten ihm in gleicher Weise die andern Männer.

Es war eine ganz gefährliche Schwimmtour.

Verbarg das Wasser einen Baumstamm, der im Boden wurzelte, die Spitze nach oben, also einen Snak, so wurde der Leib des Schwimmers aufgeschlitzt, und an den Küsten der Insel sollten künstliche Snaks gelegt worden sein. Da hieß es ganz flach schwimmen.

Außerdem kam eine Menge Treibholz, das mit Quetschungen drohte, und schließlich die Landung – das allergefährlichste.

Etwas Großes, Dunkles tauchte auf – die Freundschaftsinsel! Nobody hatte richtig gesteuert. Mit rasender Geschwindigkeit sauste er darauf zu; jetzt passierte er Treibholz; er wand sich hindurch, geriet zwischen schon angetriebenes Dickicht und saß fest. Eine Zeitlang blieb er still liegen. Nichts war zu hören als das Rauschen der Strömung. Da faßte er mit der einen Hand die Büchse und den Patronengürtel am Riemen und zog sich mit der andern Hand vorwärts. So kam er aus dem Wasser und auf schwimmende Baumstämme zu liegen.

Ein Glück, daß es so dunkel war, sonst hätte ihn ein hier aufgestellter Posten schon aus weiter Ferne bemerken können! Er setzte, immer liegend und rutschend, seinen Weg fort und erreichte das feste Land.

Hier war kein Busch, kein Unterholz, kein Baum mehr, alles nur Grasboden.

Nobody hatte eben mit der dunklen Nacht gerechnet. Nur heute war es möglich gewesen, solch ein Unternehmen zu wagen. Er mußte liegen bleiben, mindestens noch eine halbe Stunde, bis die andern kamen. Wer dann noch nicht da war, kam überhaupt nicht.

»Still, hörst du nichts?« flüsterte eine Stimme.

»Ein Busch ist wieder angetrieben,« entgegnete eine andre, »oben hat's neulich Sturm gegeben, daher kommen jetzt so viele Büsche an.«

Es war natürlich, daß hier Posten aufgestellt worden waren.

Der Lauscher lag am Ufer, aber ganz dicht am Wasser.

»Wenn sich die aus Jefferson nun in solchen Büschen versteckten und sich so heranschmuggelten?« fragte die erste Stimme wieder.

»Unsinn, bei der Strömung! Die würden nicht schlecht Wasser zu schlucken bekommen.«

»Nun, ich hab's einmal gesehen, wie sich Indianer so an eine Insel treiben ließen, auf der ihre Feinde versteckt lagen.«

»Ja, aber hier geht das nicht. Lehre mich doch den Mississippi nicht kennen.«

Jetzt hätten die andern schon hier sein können, aber kein Busch trieb an.

Eine Zeitlang schwiegen die beiden.

»Wir sitzen hier wirklich wie in einer Mausefalle,« begann dann der eine wieder.

»So schlimm ist es nicht. Wir haben draußen unsre Spione, und wenn wir merken, daß man ernstlich gegen uns vorgeht, dann rücken wir aus. Halten kann uns niemand. Aber so eilig haben wir es nicht; ehe die zur Besinnung kommen, kann noch lange Zeit vergehn, und Proviant haben wir für mindestens ein Jahr.«

»Ich möchte doch, ich wäre erst fort von hier.«

»Du, sage das – nicht so laut! Du hast auch dem Kapitän beigestimmt, hierzubleiben und erst zuzusehen, was die drüben anfangen, und wie sie Mund und Nase aufsperren, wenn wir sie mit Granaten bombardieren.«

»Du willst mich gar anzeigen?«

»Das nicht, aber der Kapitän hat feine Ohren.«

»Teufel, was ist das? Da kriecht etwas!«

Auch Nobody bemerkte, teils zu seinem Schrecken, teils zu seiner Freude, daß sich neben ihm ein dunkler Gegenstand bewegte.

Das war ein Mensch, ein Trapper, der gelandet war!

»Faß ihn, faß ihn – ein Spion!«

Zwei Gestalten stürzten aus der Nacht hervor. Der am Boden liegende Körper sprang auf, ebenso schnell war Nobody, er schnellte vor, nur ein einziger Schrei, zwei Menschen lagen bewußtlos am Boden – die beiden Wachen.

»Diego!« flüsterte Nobody, namenlos überrascht.

»Ich bin's.«

»Wie seid Ihr hierhergekommen? Wo sind die Trapper?«

»Ich weiß nicht.«

So hastig wie das Gespräch auch geführt würde, es war keine Zeit, es fortzusetzen. Die Rufe und der Schrei waren gehört worden. Schritte und Stimmen kamen näher.

Im Nu hatte Nobody seinen Plan gefaßt.

»Auseinander!« schrie er und sprang davon.

Auf der Insel wurde es lebendig; ein furchtbarer Tumult entstand, Nobody hörte Kommandos, ja, er glaubte sogar, Pattersons Stimme unterscheiden zu können. Da kam es auch hinter ihm heran. Es krachte in den Büschen.

Die Trapper aus Jefferson waren da.

»Her zu mir!« schrie Nobody. »Hier ist die Pulverkammer. Wir müssen sie besetzen.«

Er kannte dieselbe von seinem ersten Besuche auf der Insel her, und sofort sprang er auf die Erdböschung, hinter der die Munition der Piraten verborgen war. In demselben Moment leuchtete es grell auf. Im Scheine von Fackeln erkannte Nobody den Piratenkapitän. Dieser aber achtete zunächst nicht auf ihn.

Wie entgeistert starrte Patterson den Mann an, der mit erhobenem Revolver ihm gegenüberstand.

»Diego!« tönte ein Schrei durch die Nacht.

»Ich bin's! Stirb, Frauenräuber, Mädchenverführer!«

Zwei Schüsse krachten zu gleicher Zeit. Dann war es, als wenn die Erde zusammenstürzte. Ein furchtbares Dröhnen erscholl.

Nobody ward rückwärts zu Boden geschleudert und fühlte einen brennenden Schmerz an der Schulter. Das Bewußtsein verlor er keine Sekunde. Sofort war er wieder aufgesprungen und spähte umher.

Er konnte nichts erkennen, denn dichter Pulverdampf wogte über der Insel, und dazu kam die Finsternis der Nacht.

»Es ist zu Ende!« murmelte Nobody. »Die Explosion, die ich verhindern wollte, ist doch erfolgt. Der wahnwitzige Spanier hat direkt in die Pulverkammer geschossen. Meine Tätigkeit hier ist zu Ende. Die Ueberlebenden werden sich in Jefferson zusammenfinden!«

Ohne zu zögern, stürzte Nobody sich in den Strom und ließ sich der Stadt zutreiben. –

Es ist hier kein Raum, die Ereignisse zu schildern, die dem nächtlichen Kampfe folgten. Nur das sei erwähnt, daß die wenigen unverwundeten Piraten, ihres Führers beraubt, noch in der Nacht entflohen, um ihr Treiben anderwärts fortzusetzen. Die Gattin Pattersons erfuhr nie, daß sie schmählich betrogen worden war, daß sie einen Verbrecher geliebt hatte, sie war wahnsinnig geworden. Mary aber, des Sheriffs Schwester, endete ihr Dasein durch Gift, als sie die fürchterliche Klarheit erlangte. Jenny Tanner endlich war seit der Verhaftung Diegos spurlos aus der Gegend verschwunden.

Nobody selbst entzog sich den Dankesbezeugungen der Bürgerschaft von Jefferson. Er wollte den Ort noch am folgenden Tage verlassen, um Jean Matelas nach San Francisco zu folgen. Vorher aber sollte er noch eine unerwartete Begegnung haben.

Er betrat das Krankenhaus, um zu sehen, wieviel seiner Begleiter nach der Freundschaftsinsel dort lägen. Seine eigne Verwundung, eine Quetschung, war ganz unbedeutend. Von einem Krankenzimmer trat er ins andre. Die Augen der Verwundeten leuchteten, wenn Cutting Knife ihnen Worte der Anerkennung für ihre Tapferkeit sagte. Sie galten diesen Männern mehr, als einem europäischen Krieger ein Orden.

Nobody betrat die letzte Stube. Hier lag ein Mann auf einem Lager, das derart eingerichtet war, daß er ganz mit Riemen festgeschnallt werden konnte.

Ein kleiner, dicker Kerl war's. Er war wirklich vollständig gefesselt. Nur die Hände waren noch beweglich. Sie hielten ein Zeitungsblatt. Der Mund stand offen und ward nur von Zeit zu Zeit mit hörbarem Knall geschlossen.

Der sonderbare Kranke schaute auf.

Sein Gesicht verklärte sich, als er den Eintretenden erkannte.

»Guten Tag, Mister Nobody!« rief er freudestrahlend.

»Ich bin Cutting Knife!«

»Jawohl, weiß schon. Sind hinter dem Matelas her, sind trotzdem der Nobody,« erwiderte der Dicke. »Schade, daß ich festgebunden bin! Ich kann schon wieder mehr, trainiere mich eben – werden mich bald einweihen können.«

Nobody mußte innerlich lachen über den komischen Kauz, den er zuletzt ganz unerwartet an Bord des ›Stag‹ getroffen hatte, der ihn selber in der Maske des Barons Kata Nogi an Bord nahm.

Die Manie dieses Cerberus Mojan, von Nobody den spiritistischen Apport zu lernen und den berühmten Detektiv überall, an allen möglichen und unmöglichen Orten zu suchen, schien jedoch seit der letzten Begegnung noch viel schlimmer geworden zu sein.

Was bedeuteten aber die gepolsterten Riemen, mittels deren der kleine Dicke an das Lager festgebunden war?

»Sie sind doch Mister Nobody,« beharrte Cerberus Mojan, »wenn Sie jetzt auch als Cutting Knife auftreten. Warten Sie nur eine Minute, bis mein Wärter kommt oder, bitte, klingeln Sie selbst einmal nach ihm. Dort an der Wand ist die Klingel! Der Mann soll mich losbinden, dann werde ich Ihnen zeigen, daß ich schon bedeutende Fortschritte gemacht habe!«

»Bedaure, Sir,« entgegnete Nobody höflich, »ich bin leider wirklich kein andrer als Cutting Knife.«

»Wahrhaftig?«

»Ganz sicher!«

»Schade!« seufzte der gefesselte Cerberus. »Ich freute mich schon so, daß Sie mich nun endlich in die Geheimnisse des spiritistischen Abtritts einweihen würden.«

»Ich?« fragte der angebliche Cutting Knife.

»Ja, Sie, das heißt, wenn Sie der Teufelskerl, der Nobody wären.«

»Nun, vielleicht treffen Sie ihn noch.«

»Hoffentlich! Werde aber wieder tüchtig aufpassen müssen, damit er mir nicht entgeht.«

»Und vor allem gesund werden!« meinte Nobody. »Denn Sie sind anscheinend schwer erkrankt – verwundet – wie?«

»Verwundet?« wiederholte Cerberus. »Wissen Sie denn nicht, daß hier das Zimmer für Hundswütige ist?«

»Für Tollwutkranke?«

»Na und ob! Ich habe eben einen Anfall überstanden – brauchen keine Angst zu haben, daß ich beiße, ich warne allemal erst meine Umgebung, und außerdem bin ich hier festgeschnallt –«

»Aber, Mister –«

»Cerberus Mojan, Schmieröl, Schwefel, Schokolade,« schnarrte der Dicke. »Kennen doch die Firma? Wollen Sie mir nicht eine Tonne Schwefel abkaufen oder ein Fäßchen Schmieröl?« Er machte eine Bewegung, als wollte er sein Notizbuch hervorziehen, konnte aber die Arme nicht bewegen. »Ach so – ich bin ja festgeschnallt!«

Nobody lachte herzlich. Er durfte das ja, er mußte es sogar, um seiner Rolle als Cutting Knife treu zu bleiben.

»Erlauben Sie, was soll ich denn mit dem Zeuge anfangen?«

»Na, wenn Sie keinen Schwefel und kein Schmieröl brauchen können, dann kaufen Sie einen Zentner Schokolade!«

»Wozu?«

»Zum Essen!« schnaubte Cerberus. »Zum Kochen! Zum Trinken! Wenn Sie mal von Indianern überfallen werden, und Sie werfen den Kerls Schokoladentafeln an die Schädel, da tut man Ihnen sicher nichts!«

»So, so! Das muß ich mir merken und werde es gelegentlich probieren.«

»Also einen Zentner Schokolade?« schmunzelte der Dicke.

»Warten Sie noch! Erzählen Sie mir lieber erst, wie Sie von der Tollwut erfaßt wurden.«

»Ja, das ist allerdings hochinteressant. Das hängt aber mit dem Nobody zusammen –«

»Da bin ich wirklich gespannt!«

»Na, da müssen Sie wissen, daß ich ihn beinahe erwischt hätte – auf einem Dampfer – drüben bei den japanischen Inseln – da kam ein Schiffbrüchiger an Bord – Baron Kata Nogi – der konnte doch der Nobody sein – ich glaube, er war es auch – aber weil ich noch nicht alle Kunststücke konnte, da gab er sich nicht zu erkennen.«

»Es ist aber auch verteufelt schwer, was er alles verlangt.«

»Sagen Sie mal, Mister Cutting Knife, können Sie auf dem Kopfe stehn? Können Sie Ihr Taschentuch fressen? Nicht? Ich kann's! Nur das andre kann ich noch nicht. Das Taschentuch an die Fersen legen und mich rückwärts so weit niederbeugen, daß ich es mit den Zähnen fassen kann!«

»Das muß allerdings sehr schwierig sein,« sagte Nobody.

Cerberus seufzte betrübt.

»Aber lernen werde ich's doch. Ich habe mich nämlich an einen japanischen Zauberdoktor gewandt, die können alles, und der sagte mir, nachdem er mich eingehend untersucht hatte, daß ich erst gesund werden müßte, ehe ich die Rückenbeuge fertig brächte –«

»Von der Tollwut?« lachte Nobody. »Wie sind Sie denn zu der gekommen? Haben Sie sie schon lange?«

»Das ist's ja eben. Beinahe dreißig Jahre.«

»Was? Sie sind seit dreißig Jahren wutkrank?«

»Jawohl!«

»Und das haben Sie jetzt erst gemerkt?«

»Freilich. Der Japaner hat mich daran erinnert. Hören Sie nur zu! Denken Sie, vor etwa dreißig Jahren habe ich einmal einen kleinen Köter von einem Strolch gekauft, der die merkwürdige Eigenschaft besaß, Bier zu saufen ...«

»Der Strolch?«

»Unsinn, den Hund meine ich. Zuerst soff er Wasser, dann aber plötzlich nicht mehr, er rührte Wasser nicht mehr an und trank keinen Tropfen mehr. Ich paßte, auf und erwischte ihn eines Tages, wie er hinüber in die Brauerei läuft – mein Bruder besitzt in San Francisco eine Brauerei – und aus einem Holznapfe, in den aus einem lecken Faß Bier läuft, dasselbe säuft. Da erzählen mir die Brauburschen, daß der Köter jeden Tag hinüberkommt und alles ihm zugängliche Bier säuft; die Brauer machen es sich natürlich zum Jux und geben ihm noch extra welches. Ich hatte nun auch meinen Spaß daran, gab ihm Bier, soviel er wollte, und da kam es denn oft genug vor, daß das Vieh besoffen wie eine Radehacke war. Dann stand ihm allemal der Schaum vorm Maule, es torkelte, schnappte, heulte, kollerte herum, rollte mit den Augen und so weiter.«

»Das Tier war eben betrunken.«

»Jawohl, das dachte ich mir damals auch, weiter nichts ...«

»Deutsche Studenten halten sich oft genug Hunde, die Bier saufen.«

»Mein Köter soff aber überhaupt kein Wasser.«

»Weil er genug Bier bekam.«

»Herr, trauen Sie der Erfahrung eines alten Mannes, der am Rande des Grabes steht: hundstoll war das Vieh, darum wollte es kein Wasser saufen, so steht die Sache. Das aber wußte ich damals eben nicht. Da beißt mich das Tier eines Tages, als es wieder so herumtorkelt und Schaum vor der Schnauze hat, in die Hand, nicht derb, nur ein bißchen, daß ich es gar nicht beachte. Ich lache darüber. Gut, die Sache geht ihren Gang. Die kleine Wunde heilt, mein Hund fällt eines schönen Tages in seiner vermeintlichen Besoffenheit in einen Braubottich und wird zu Mus zerkocht. Nur die Knöchelchen hat man wiedergefunden; da war aber das Bier schon längst getrunken.«

»Es muß gut geschmeckt haben.«

»Warum nicht? Hundebouillon soll sehr gesund sein. Beschwerden sind nicht eingelaufen, im Gegenteil, der Porter wurde sehr gelobt. Im Laufe der Zeit wurde ich sehr krank. Ich bin überhaupt ein geplagter Mann. Zuerst bekam ich Kopfschmerzen, daraus wurde Ohrensausen, das ging in die Knie und wurde Rheumatismus, der zog sich in die Nase und bildete sich zu einem Polypen aus, der auf die Wanderung ging, sich im Leibe herumfraß, wobei er natürlich täglich an Gewicht zunahm, bis er sich zuletzt nahe dem Herzen festgesetzt hatte, wo er jetzt noch sitzt und gemütlich weiterfrißt. Dazu gesellten sich erst ein, dann zwei Bandwürmer, die sich ganz unglaublich vermehrten; ein Schweinebraten brachte mir eine Legion Trichinen in den Leib – kurz, mein ganzes Leben bestand und besteht noch jetzt in einem unaufhörlichen Kampfe gegen Polypen, Bandwürmer, Trichinen und andre Tiere, die sich in meinem Leibe ein Stelldichein geben.«

»Das alles haben Sie aber erst von dem japanischen Arzte erfahren?« lachte Nobody.

»Freilich! Was ich sonst noch durchgemacht habe, damit will ich Sie verschonen. Erwähnen will ich nur noch Hühneraugen, Eingeweideverschlingung, Nasenbluten, Tuberkulose, Hexenschuß, Lungenschwindsucht, Darmbrüche, Haarausfall, Rippenfellentzündung, Pusteln auf dem Rücken, Diphtheritis – es ist einfach schrecklich, was ich leiden muß, und jeden Morgen staune ich, daß ich die Sonne noch sehe. Wenn man so mit Krankheiten behaftet ist, wundert man sich nicht, wenn sich gewisse Symptome zeigen, als da sind: heftiger Durst, Arbeitsunlust, langer Schlaf, Heißhunger, unmäßiges Gähnen, Einschlafen der Beine, Husten, Niesen und so weiter. Jetzt auf einmal fängt der Japaner auch noch an und redet von der Hundswut! Besondere Kennzeichen: Heftiger Durst, aber Abscheu vor Wasser, Gestalt und Gesichtszüge verfallen, Müdigkeit, Husten, sogar Erbrechen, Speichelfluß und vor allen Dingen öftere Wutanfälle. Herr, du meine Güte, ich denke, mich rührt der Schlag! Das paßte ja alles auf mich! Ich habe nämlich einen furchtbaren Widerwillen gegen Wasser, nicht beim Waschen oder Baden, sondern nur beim Trinken. Wein, Bier, Schnaps, alles, alles kann ich trinken, literweise, eimerweise, ohne abzusetzen. Aber Wasser? Bring' ich nicht hinunter, wenn nicht mindestens zur Hälfte Kognak oder so etwas Aehnliches darin ist. Und das treibe ich nun schon seit bald dreißig Jahren.«

»Es ist entsetzlich!«

»Nicht wahr? Und merke nichts davon, reise in der ganzen Welt herum und halte mich für kerngesund!«

»Schrecklich!«

»Mein Durst war und ist auch jetzt manchmal so groß, daß ich meine zwanzig halbe Liter vom stärksten Porter trinke, ohne aufzustehn, und stehe ich dann endlich auf, so habe ich immer noch Durst, ich trinke also noch ein paar Maß Ale, das ist leichter – ist nichts, der Durst wird nur noch größer, zwei, drei Flaschen Wein tun's auch nicht. Gewöhnlich verläßt mich dann die Besinnung – früher dachte ich, ich hätte einen kleinen Rausch gefangen – aber es ist eben ein Ohnmachtsanfall, ein Symptom der Hundswut. Erwache ich dann am Morgen, so plagt mich stets Kopfweh und schon wieder der schreckliche Durst. Neben meinem Bett steht die Wasserflasche. Glauben Sie, ich brächte es fertig, einzuschenken und Wasser zu trinken?«

»Wirklich nicht?«

»Gott bewahre, Pale-Ale muß es sein, das hat am meisten Kohlensäure, danach stößt es einen so hübsch auf. Das ist aber noch lange nicht alles. Da ist nun der Speichelfluß. An dem leide ich nämlich auch schrecklich, ohne daß ich es bisher sonderlich beachtete. Gehe ich da zum Beispiel einmal an einem Hotel vorbei, sitzt hinter der großen Fensterscheibe ein Herr und ißt gebratene Wachteln. Ich sage Ihnen, Sir, ob Sie es glauben oder nicht, das Wasser schoß mir gleich eimerweise im Munde zusammen. Und solche gefährliche Symptome übersieht man nun in seiner Leichtfertigkeit! Das beste Zeichen aber, daß ich von einem tollen Hunde gebissen worden bin, sind meine Anfälle von Wut und Tobsucht. Bin ich nicht ein ganz anständiger Mensch?«

»Gewiß doch, Mister Mojan!«

»Habe ich Sie schon einmal beleidigt?«

»Wie sollten Sie?«

»Habe ich Sie jetzt schon einmal einen Büffel, ein Rabenaas, einen Ochsenfrosch genannt oder so etwas Aehnliches?«

»Mit keiner Andeutung.«

»Auch nicht ein vorsündflutliches Riesenschwein?«

»Auch das nicht.«

»Nun sollten Sie sehen und hören, wenn ich meinen Wutanfall bekomme. Da werfe ich mit Titulaturen um mich, die mir sonst gar nicht in den Sinn kommen, fluche, tobe und möchte alles kurz und klein schlagen. Sie werden's schon noch an mir erleben. Erst hielt ich es nur für Jähzorn – jawohl, Tobsucht ist es, der Ausbruch der Hundswut, die mir vor dreißig Jahren eingeimpft worden ist. Da hörte ich von dem berühmten Cutting Knife –«

»Also von mir?«

»Ja, und daß Sie hinter einem Diebe her seien, der die Pläne von Goldfeldern gestohlen hat. Aha, dachte ich, das ist der Nobody, und wenn du auch noch schwerkrank bist, hin mußt du doch. Ich also schleunigst von Tokio nach San Francisco, von dort hierher – natürlich mit meinem Neffen Leckebald zusammen –«

»Mit wem reisten Sie?«

»Mit meinem Neffen.«

»Wie heißt der?«

»Leckebald.«

»Merkwürdiger Name!« dachte Nobody.

»Sehen Sie, Sie sind schwerhörig. Leckebald könnte nun bald kommen, mich abzuschnallen. Mein Wutanfall wiederholt sich nicht so bald. Das merke ich nämlich allemal zuvor und warne. Ich könnte beißen, wissen Sie, und mein Biß steckt natürlich an.«

»Sie beißen?«

»Na und wie! Ich habe mich schon immer gewundert, warum ich stets meine Zigarrenspitzen durchbeiße. Nun weiß ich, woher das kommt.«

Ein hübscher Junge von etwa fünf Jahren trat ein, rund wie eine Tonne, mit Backen wie ein Posaunenengel; wenn der sich bückte, mußten die Höschen platzen.

»Soll ich dich losschnallen, Lecke-Onkel?«

»Jawohl, Leckebald, schnalle mich sorglos ab, ich tue keinem Menschen mehr etwas.«

Bald waren die Riemen und Bänder von den kleinen, fetten Gliedern gelöst.

Mister Mojan legte seine Hand auf den lockigen Kopf des Kindes. Stolz leuchtete aus seinen Augen.

»Jawohl, das ist mein Neffe – und mein Erbe, Erbe der Weltfirma Cerberus Mojan. Ich bin nämlich unverheiratet. Gott soll mich bewahren, daß ich heirate! Eine Frau ist die schlimmste Krankheit, die man sich auf den Hals laden kann – die ist chronisch. Sage dem Herrn, wie du heißt!«

»Leckebald.«

»Deinen richtigen Namen.«

»Lecke-Balduin.«

»Weiter.«

»Lecke-Mojan.«

»Aus welcher Stadt bist du?«

»Aus Lecke-San Francisco.«

»Hören Sie, wie klug mein Neffe schon ist! Wie alt bist du?«

»Fünf Lecke-Jahre.«

»Wo warst du denn jetzt?«

»Bei der Lecke-Schwester!«

»Erlauben Sie,« sagte Nobody, unter Tränen lachend, »warum setzt der Junge denn vor jedes Wort ›Lecke

»Nicht vor jedes Wort, nur vor die Hauptwörter. Wissen Sie, der Junge stottert ein bißchen; bei jedem groß geschriebenen Wort stolpert die Zunge, wenn er aber das Wort ›Lecke‹ davorsetzt, dann bringt er's gleich heraus. Das ist nur so eine Angewohnheit.«

»Der arme Junge!« bedauerte Nobody.

»Arm? Was? Arm? Der ist mein Erbe.«

»Ich meine, das tut mir sehr leid.«

»Ich verstehe Sie nicht. Wenn er so einen Onkel hat, wie ich, da kann er sich sein Stottern leisten. Nicht wahr, mein Leckebald, lecke du nur ruhig weiter. Andre sagen vor jedem Wort äh, äh, oder zzziyyy goddamzzz/iyyy oder zzziyyy bloodyzzz/iyyy, und du setzt deine Lecke davor. Passen Sie auf, wie gescheit der Junge schon ist. Leckebald, wer ist der reichste Mann?«

»Mein Lecke-Onkel.«

»Wie heißt der?«

»Lecke-Cerberus Lecke-Mojan.«

»Womit handelt der?«

»Mit Lecke-Schmieröl, Lecke-Schwefel, Lecke-Schokolade.«

»Der Junge weiß einfach alles. Wie hoch wird das jährliche Einkommen deines Onkels geschätzt?«

»Auf hu – hu – hu ...«

»Hundert kannst du klein schreiben, tausend meinetwegen groß.«

»Auf hundert Lecke-Tausend Dollar,« platzte der Junge heraus.

»Wieviel in bar wirst du erben?«

»Vier Lecke-Millionen.«

»Was sonst noch?«

»Eine Lecke-Papiermühle.«

»Weiter.«

»Eine Lecke-Seifenfabrik.«

»Ich will ihn nicht alles herbeten lassen, sonst könnten Sie glauben, ich wollte protzen. Ich will Ihnen nur zeigen, wie enorm gescheit der Junge ist.«

»Kolossal!«

»Nicht wahr? Eigentlich sieht er etwas dumm aus, aber er ist es nicht im geringsten. Blicken Sie ihm einmal ins Auge!«

Nobody tat es.

»Merken Sie nichts?«

»Nein.«

»Gar nichts?«

»Er hat schöne, blaue Augen.«

»Den Hundewurm hat er im Auge.«

»Was?«

»Leckebald, was hast du im Kopfe?«

»Einen Lecke-Hundewurm.«

»Ja, so ist's. Er hat einmal einen Hund geküßt, da ist ihm ein Hundewurm durchs Auge in den Kopf gekrochen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Woher? Woher? Aus meiner Erfahrung. Ich hatte nämlich auch schon einmal einen Hundewurm, habe ihn aber mit Rizinusöl wieder herausbekommen. Die Zuckerkrankheit hat er auch.«

»Wer?«

»Hier, der hier.«

»Ich habe die Lecke-Zuckerkrankheit,« bestätigte der Kleine.

»Daher wird er auch so dick. Ob er die Schwindsucht hat, weiß ich noch nicht recht, zur Vorsicht lasse ich ihn täglich zwei Stunden heiße, trockene Luft inhalieren.«

Nobody staunte. Dieser Cerberus Mojan hatte seit seinem Aufenthalte in Aegypten und den Abenteuern mit Jochen Puttfarken entschieden Fortschritte in der Verrücktheit gemacht. Es sollte noch besser kommen.

»Wie kamen Sie denn aber in das Krankenhaus?« fragte er.

»Wie? Nun, darf denn ein Hundswütiger draußen herumlaufen? Seit ich weiß, wie schwer krank ich bin, gehe ich in jeder Stadt ins Krankenhaus!«

Eine Glocke ertönte.

»Schon wieder essen,« seufzte Mojan, »und ich habe so gar keinen Appetit. Sie erlauben doch, Mister, daß wir unsre Mahlzeit in Ihrer Gegenwart einnehmen, wenn Sie uns noch mit derselben beehren wollen?«

»Bitte sehr!«

»Im Saale mag ich nämlich nicht speisen, es ist mir schrecklich, zuzusehen, wenn die gefräßigen Menschen so über das Essen herfallen und schlingen. Im übrigen brauchen Sie keine Angst zu haben, ich beiße Sie nicht. Ich fühle es stets im voraus, wenn es kommt, und lasse mich festschnallen. Dann freilich geht's los, ich rase und schnappe um mich, daß es nur so eine Art hat.«

Zwei Anstaltswärter trugen auf, Mojan und Leckebald setzten sich und aßen: zuerst Suppe und einige leichte Vorspeisen, dann etwas Massives, Beefsteak, dann Zwischenspeisen, verschiedene Sorten Braten, dann Fisch und Geflügel, dazu Kompott und Salat, zuletzt Torte, Eis, Früchte und schließlich auch noch Butterbrot und Käse.

Mojan aß, wie man sagt, wie ein Scheunendrescher, dabei klagte er fortwährend über Appetitlosigkeit, die ihm jede Tafelfreude verderbe, auch Leckebald leckte ganz hübsch, er fütterte seinen Hundewurm mit.

Der Onkel trank erst leichte, dann feurige Weine, der Neffe schenkte sich fleißig aus einer dickbauchigen Flasche eine hellgelbe Flüssigkeit ein und goß sie stets mit einem Zuge hinter.

Nobody war zum Mitessen aufgefordert worden, aber er hatte dankend abgelehnt. Er blieb trotzdem, um dieses spaßige Kerlchen noch weiter kennen zu lernen. Er wollte sich, ehe er von Jefferson schied, einen Scherz mit Cerberus Mojan machen, gleichzeitig aber versuchen, den Mann von seiner törichten Manie zu kurieren.

»Daß Ihr Neffe nur nicht zu viel trinkt,« meinte er einmal.

»Das schadet nichts, das ist gesund.«

»So eine ganze Flasche muß ihm doch in den Kopf steigen.«

»In den Kopf steigen?«

»Was für Wein ist denn das?«

»Wein? Hahaha, das ist doch Rizinusöl!«

Mojan war fertig, band die Serviette ab, aber nur, um sie mit einem andern Zipfel in die Halsbinde zu stecken.

Wie er immer zu dem aufwartenden Diener sehr höflich gewesen war, so wandte er sich auch jetzt freundlich an ihn.

»Bitte, Sir, nun fehlt nur noch meine spezielle Nachspeise.«

»Sie wünschen, Mister?«

»Um meinen Feuerpudding bitte ich. Ich hatte ihn für mich allein bestellt, der Junge soll das heiße Zeug nicht essen.«

»Aber – Mister Mojan – ich weiß nicht – das Menü ist alle – und die Köchin ...«

Cerberus zog drohend die Stirn in Falten.

»Wie? Habe ich Ihnen heute morgen nicht das Rezept zu dem Feuerpudding eigenhändig aufgeschrieben?«

Der Diener fuhr mit der einen Hand hinters Ohr, mit der andern in die Brusttasche.

»Das Rezept habe ich noch hier,« sagte er kleinlaut.

»Was, nicht abgegeben?«

»Ich hab's – vergessen.«

Wie von einer Natter gestochen fuhr der Dicke auf.

»Ha, ich kriege ihn – jetzt kommt's,« keuchte er. »Sie – Sie – Sie Brüllaffe – Sie Mantelpavian – lassen Sie sich im zoologischen Garten ausstellen – Sie Wiedehopf, stinkiger – vergessen – vergessen – da hört doch alles auf – meinen Feuerpudding zu vergessen – ich steche Ihnen die Gabel in den Bauch, daß Sie Ihre Eingeweide auseinanderfitzen können – Sie voll Jauche gefülltes Känguruh – Sie sind ja dümmer als – als – als wir alle zusammengenommen – Sie noch gar nicht entdeckter Mistkäfer – gehn Sie weg – gehn Sie weg – ich beiße Sie ...«

So wütend Mojan auch war, Furcht vor dem Tobsüchtigen schien man nicht zu haben.

Der Diener stand nur unter seiner Schuld zusammengeknickt da, Leckebald tauchte eine Pfirsiche in Rizinusöl und verzehrte sie, und Nobody lächelte.

»In wieviel Minuten ist der Flammenpudding fertig?«

»In zwanzig Minuten.«

»Wenn er dann nicht auf dem Tisch steht, in hellen Flammen – dann – dann – ich beiße sie alle, alle, die Köchin auch – daß sie hundswütig werden – in zwanzig Minuten – so lange warte ich noch mit meinem Tobsuchtsanfall – fort, Sie zerfressene Heringsfratze – Sie choleraverseuchter Hungerlappen!«

Der Diener schoß zur Tür hinaus, Mojan schnappte nach Atem, wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah nach der Uhr.

»Zwanzig Minuten warte ich noch, dann aber bricht bei mir die Hundswut aus, länger schiebe ich sie nicht auf. Das ist gesundheitsschädlich!«

In zwanzig Minuten stand denn auch die Eierspeise auf dem Tisch. Mojan zündete den darübergegossenen Likör an, ließ ihn eine Weile brennen und verzehrte dann das so bereitete Gericht mit Behagen.

»So, nun kann der Wutausbruch losgehn,« sagte er befriedigt, sich den Mund wischend. »Passen Sie auf, Mister, jetzt können Sie etwas erleben, wie ich tobe und um mich schnappe. Daß niemand meinem Mund zu nahe kommt, besonders nicht, wenn Schaum davorsteht! Schnallt mich fest!«

Er legte sich nieder, die Hände über dem Bauch gefaltet, und wurde so festgeschnallt.

Leckebald leckte unterdessen die Teller ab.

Nachdem sich die Wärter entfernt hatten, erklärte Mojan noch, wie sich die Tollwut bei ihm äußern würde, und schloß die Augen.

»Passen Sie auf, jetzt geht's gleich los!«

Nobody blieb noch im Zimmer. Aber der biedere Dicke begann nicht zu toben, nicht mit den Händen in der Luft herumzugreifen, nicht zu schnappen und die Zähne zu weisen, auch kein Schaum trat ihm vor den Mund, dagegen dauerte es nicht lange, so fing er auf eine fürchterliche Weise an zu schnarchen.

Es war, als wenn ein halbes Dutzend Sägemühlen sich in voller Tätigkeit befänden. Und dabei blieb es.

Leckebald hatte die Teller mit der Zunge poliert und schlich auf den Zehenspitzen zu Nobody.

»Jetzt tobt Lecke-Onkel.«

»Macht er das immer so?«

»Jedesmal nach dem Lecke-Essen. Leckebald geht nach der – der – Lecke-Küche, die – die Lecke-Köchin sagt, ich sei ein – ein Lecke-Leckermaul und – und – gibt mir immer Lecke-Leckerbissen. Heute – heute hat sie noch Lecke-Pfannkuchen, und – und Leckebald hat noch solchen Lecke-Hunger.«

»Gott segne deine Studia, mein Junge!«

Leckebald ging nach der Küche, um sich noch richtig sattzuessen.

Nobody verließ ebenfalls das Zimmer. Er suchte den Arzt des Krankenhauses auf und hatte mit dem Herrn eine lange Unterredung, die sehr lustig zu sein schien, denn die beiden lachten wiederholt laut auf und konnten sich dann allemal gar nicht wieder beruhigen.

Endlich erhob sich Nobody und betrat den Raum wieder, wo der tobsüchtige Cerberus Mojan festgebunden auf seinem Lager ruhte. Er schnarchte noch immer. Nicht lange aber, so geriet er mit dem Sägen aus dem Takt, ein Astloch war ihm im Wege, es kamen Mißtöne in die Harmonie, er verschluckte sich, leiser und leiser wurden die Töne, bis sie in einem Moll-Akkord ausklangen.

Da gähnte er und schlug die Augen auf.

»Aaaah! Glücklich wieder einen Tobsuchtsanfall überstanden. Nun, wie war's? Sind Sie immer hier geblieben?«

»Ja, es war einfach schrecklich.«

»Habe ich mich gewälzt?«

»Sie versuchten die Fesseln zu sprengen.«

»Sehen Sie! Habe ich um mich geschnappt?«

»Ich bekam ordentlich Angst.«

»Die brauchen Sie nicht zu haben, die Riemen halten. Wie war's denn mit dem Schaum?«

»Wie Schlagsahne stand er Ihnen vorm Mund.«

»Und giftig ist diese Schlagsahne, sage ich Ihnen! Die dürfte niemand auf die Schokolade tun. Habe ich gebrüllt?«

»Es klang wie die Posaunen am jüngsten Gericht.«

»Wie lange wahrte denn der Anfall?«

»Gute zwei Stunden.«

»Nun denken Sie einmal, und solche Anfälle habe ich täglich zweimal, einen nach dem Frühstück und einen nach dem Mittagessen! Nach dem Kaffeetrinken, so gegen fünf, habe ich auch noch Neigung, in Tobsucht zu fallen, aber die unterdrücke ich stets. Ein Glück, daß ich wenigstens des Nachts gut schlafen kann, sonst käme ich noch ganz auf den Hund. Abmagern tue ich ja ganz schrecklich. Finden Sie nicht, daß ich schon wieder etwas magerer geworden bin?«

»Ich habe es gleich bemerkt.«

»Und was ich bei solchen Tobsuchtsanfällen für merkwürdige Visionen habe! Das geht auf keine Kuhhaut. So war mir jetzt gerade, als ob ich mich in einem Wald befände, aber das waren keine Bäume, sondern Gaslaternen, an denen Kokosnüsse wuchsen. Eine pflücke ich ab, so groß wie eine Kegelkugel, stecke sie in den Mund, knacke sie auf, und was ist darin? Lauter Trichinen, Myriaden von Trichinen, es kribbelt und wiebelt nur so darin. Ich aber fahre mit einem Löffel hinein, um sie zu essen, mit einem Male aber sind's keine Trichinen mehr, sondern gebratene Wachteln. Weiter ging's nicht. Es ist gerade, als ob man solchen Unsinn träume. Das ist's ja aber eben, das sind die Visionen, von denen der Hundswütige geplagt wird. Wo ist denn Leckebald?«

»Der wollte studieren gehn.«

»Studieren? So? Wohin denn?«

»In die Küche, vielleicht auch zur Lecke-Schwester.«

»Das macht er recht. So ein Junge, will studieren! Ja, ein kluger Junge ist er, davon machen Sie sich keinen Begriff. Als wir einmal im zoologischen Garten sind und vor einem Käfig stehn, in dem eine ungeheure Riesenschildkröte ist, da sagt Leckebald plötzlich: ›Du, Onkel, das ist wohl eine Elefantenlaus?‹ Ich erkläre ihm, daß es eine Riesenschildkröte ist. ›Nein, das ist eine Elefantenlaus‹, behauptet aber Leckebald, packt mich am Rockfittich und schleift mich nach dem Elefantenstall.

»Dort hängt ein Bild an der Wand mit einem Tier darauf, das ganz wie eine große Schildkröte aussieht, und darunter steht: ›Elefantenlaus, tausendmal vergrößert.‹

»Ich hatte es ihm gezeigt, und Leckebald hatte es sich gemerkt. Es ist einfach großartig, was der für einen Verstehstemich im Kopfe hat.

»Wie wir zum Beispiel vor einem Gorilla stehn, schreit er mit einem Male: ›Du, Onkel, da sitzt ja Nick Daniel ohne Hemd!‹ Nick ist nämlich mein Nachbar, der wirklich so ein Affengesicht hat.

»Hören Sie, wie der Junge gescheit ist! Ich hätt's vergessen. Junge, du mußt Arzt werden.«

Leckebald hatte sich mittlerweile wieder ins Zimmer geschlichen.

»Ach nein.«

»Was willst du denn sonst werden?«

»Kon – Kon – Kon ...«

»Na, was denn? Konteradmiral?«

»Nee, Lecke-Konditor.«

»Ach was, Kuchen kannst du dir genug kaufen, Geld bekommst du ja einmal. Junge, du mußt Künstler werden. Leckebald hat nämlich außerordentliches Talent; wenn der ein Stück Kreide in die Hände kriegt, schmiert er alle Wände voll. Nicht etwa so wie andre Kinder, nein, man kann ganz genau unterscheiden, ob's einen Menschen oder eine Lokomotive vorstellen soll. Also Künstler mußt du auf alle Fälle werden, Leckebald, das heißt nur so aus nobler Passion, zum Zeitvertreib.«

Plötzlich verstummte Cerberus. Er begann schrecklich zu stöhnen und sich zu winden, purpurrot im Gesicht.

»Mein Magen! Mein Magen!«

»Lassen Sie ihn sich doch einmal herausschneiden!« meinte Nobody ernsthaft.

»Sie haben gut reden, Sie täten's auch nicht. Ueberlegt habe ich mir die Sache auch schon, aber da ist mir etwas eingefallen, was ich in einer Zeitung gelesen habe. Da haben sie auch einem Manne den Magen aufgeschlitzt, der Arzt nimmt bei der Sezierung und Reinigung eine Prise, macht seine Sache, setzt den Magen wieder hinein, flickt den Bauch zusammen, und die Geschichte ist gut.

»Mit einem Male findet der Arzt seine silberne Schnupftabaksdose nicht, kehrt alles um, die Dose ist fort.

»Nach einigen Jahren stirbt der Mann, nicht etwa infolge der Magenoperation, nein, am Delirium.

»Der Magen soll aufgemacht werden, um zu sehen, ob die Wände vom Schnaps recht angegriffen sind. Derselbe Arzt ist wieder dabei.

»Was findet man darin? Eine silberne Schnupftabaksdose. Der Arzt hatte sie aus Versehen in den Magen gelegt, und da war sie dringeblieben.«

»Und der Schnupftabak?« lachte Nobody.

»Noch ganz frisch, die Dose schloß gut, nur sie selbst war von der Magensäure etwas angegangen. Der Arzt bot gleich seinen Kollegen eine Prise an. Der Mann hat also jahrelang eine gefüllte Schnupftabaksdose mit sich im Bauche herumgetragen.

»Sehen Sie, so etwas könnte bei mir auch passieren, und deshalb lasse ich es lieber bleiben. Schließlich legt der Arzt aus Versehen eine Dynamitpatrone in meinen Magen und näht ihn zusammen – oder gar eine Spieluhr, die ein Jahr lang geht und aller Stunden die Nationalhymne spielt. Brrr, nein, da behalte ich lieber meine Polypen!«

Die gewaltige Ueberladung des Magens machte aber doch noch einmal ihre Wirkung geltend. Mr. Cerberus Mojan schlief wieder ein und schnarchte gewaltig. Sofort eilte Nobody hinaus und kehrte mit dem Arzte und einigen Lazarettgehilfen zurück. Ein geheimnisvolles Treiben begann in der Krankenstube, unterbrochen von Kichern und Flüstern.

Endlich erwachte der Dicke wieder. Er blickte verstört um sich.

Auf seinem Leibe war es ihm so naßkalt, vor seinem Bett, auf dem er wie immer festgeschnallt lag, stand der Arzt, die Hemdsärmel hoch aufgekrempelt, ein blutiges Messer in der Hand und machte ein sehr ernstes Gesicht.

»Was – was – ist denn los?« stotterte Mojan.

»Mister Mojan, wie befinden Sie sich?« fragte der Doktor.

»Ich? Ich danke. So lala. Habe ich recht getobt?«

»Nein, Sie waren chloroformiert.«

»Ich – chloroformiert? Warum denn?«

»Sie haben nicht ohne Grund über Magenschmerzen geklagt.«

»Das tue ich nie.«

»Ich wußte es, die Sache stand sehr schlimm mit Ihnen, und – Mister Mojan, fassen Sie sich, erschrecken Sie nicht – ich habe Ihnen den Magen herausgenommen!«

Das sonst rote Gesicht des Dicken wurde kreideweiß; er schloß die Augen und stöhnte.

»Ich hole mir Ihre Erlaubnis nachträglich. Meine Pflicht, Sie am Leben zu erhalten, gebot es mir.«

»Meinen – Magen – will – ich – wieder haben!« flüsterte der Operierte.

»Er wird gereinigt.«

»Mir – ist – so – leer – im – Bauche.«

»Interessiert es Sie denn gar nicht, zu erfahren, wie Ihr Inneres aussieht?«

Cerberus blinzelte, sah etwas Blutiges vor sich, schloß die Augen schnell wieder und schlug sie dann ganz auf. Ein aufgeschnittener, sehr großer Magen, frisch und blutig, ward ihm vorgehalten.

»Das – ist – das ist – mein Magen?«

»Das ist Ihr Magen!«

»O – o – mir wird schlecht – einen Whisky muß ich trinken.«

»Sie vergessen ganz, daß Sie keinen Magen mehr im Leibe haben. Der Whisky würde, direkt zwischen die Eingeweide laufen.«

»Richtig – richtig!«

»Und diese verbrennen.«

»Nein – nein – ich mag keinen Whisky!«

»Außerdem habe ich Ihre Speiseröhre von innen verstopft.«

»Verstopft – womit?«

»Mit einem Gummistöpsel.«

»Ah – ich sterbe!«

»Nein, Sie werden nicht sterben!«

»Ich fühl's!« hauchte Cerberus. »Um was wetten wir?«

»An dieser Operation werden Sie nicht sterben.«

»Garantieren Sie mir?«

»Ja. Mit meinem Kopfe.«

»Gut – gut – aber – aber – vergessen Sie nicht – den Gummistöpsel – wieder herauszunehmen.«

»Seien Sie ohne Sorge!«

»Und – und – nichts mit in den Magen aus Versehen hineinnähen.«

»Was denn?«

»Keine – Schnupftabaksdose!«

»So etwas passiert mir nicht!«

»Keine englische Spieluhr.«

»Torheit.«

»Und – den Gummipfropfen nicht vergessen.«

»Nein, beruhigen Sie sich! Ihr Magen freilich befindet sich in einem abscheulichen Zustande.«

»Ich ahnte es.«

»Der Inhalt war haarsträubend.«

»Haar – Haar – Haare waren darin?«

»Noch ganz andre Dinge. Sie hatten ganz recht mit Ihrer Behauptung, wir haben alles gefunden. Wollen Sie sich den Inhalt nicht einmal ansehen?«

Mojan blickte nach dem Tisch, er sah darauf Becken mit blutigem Inhalt stehn.

»Zuerst dieser Polyp – er ist bereits tot.«

Der Dicke schauderte zusammen.

So ein Vieh da, wie ihm vorgehalten wurde, hatte er noch nie gesehen. Aber auch der gelehrteste Naturforscher hätte das Tier nicht klassifizieren können, wenn er der Sache nicht auf den Grund ging. Es war eine faustgroße, weiche Kugel, in allen Farben schillernd, mit Saugarmen und mit einem Kopfe, aus dem rote Augen und ein großes Maul mit spitzen Zähnen hervorsahen.

Dem Leser darf verraten werden, daß es ein toter Tintenfisch war, mit verschiedenen Farben übergossen. An ihm war eine kleine Kartoffel befestigt, die zum Kopf bearbeitet worden war.

»Ja, das ist er – der Polyp,« flüsterte Mojan mit schwacher Stimme, »so habe ich ihn mir vorgestellt – nur nicht so groß!«

»Darf ich ihn dem Museum vermachen?«

»Meinetwegen – aber mit meinem Namen – in Cerberus Mojans Magen gefunden. Also – er war doch nicht mehr am Herzen?«

»Nein, im Magen! Er war eben dabei, ein Beefsteak zu verzehren, das Sie zu zerkleinern schon die Freundlichkeit gehabt hatten.«

»So eine Canaille. Wie kam er denn in den Magen?«

»Durch die Magenwand!«

»Da muß doch aber – ein Loch darin sein?«

»Und was für eins! Hier, sehen Sie!«

»Heilt das zu?«

»Natürlich, wenn der Magen erst wieder im Leibe angenäht ist. Es kommt ein Pflaster darauf. Numero zwei: ein Bandwurm, 72 Meter 86 Zentimeter 11 Millimeter lang.«

Vor Mojans Augen ward ein endloses, nasses Band mehrmals durch die Stube gespannt.

»Bald 73 – Meter – so ein Vieh!«

»Ich habe schon größere gesehen.«

»War er denn – in meinem Magen?«

»Natürlich.«

»Ich denke – Bandwürmer sind – nur in den Eingeweiden?«

»Ach so, ja, nur die hintern Hälften waren darin, die Köpfe staken in den Eingeweiden. Wir bekamen sie aber heraus.«

»Die – die – Köpfe ...?«

»Drei Stück liegen hier. Der zweite ist etwa 60 Meter lang, der dritte 40 Meter.«

»Drei Stück auf einmal!« stöhnte Cerberus.

»Wollen Sie sie sich als Andenken aufbewahren? Etwa in Spiritus aufsetzen?«

»Nein – danke – hängen Sie sich – die Bandwürmer – an die Uhrkette! Haben Sie – Trichinen?«

»Ich? Nein. Sie aber auch nicht.«

»Keine gefunden?«

»Keine Spur davon!«

»Trichinen sind auch nicht – im Magen.«

»Ich habe mir auch erlaubt, Ihnen ein Stückchen Muskel aus dem linken Oberarm zu schneiden und dasselbe mikroskopisch zu untersuchen. Ich versichere Sie, daß Sie keine einzige Trichine im Körper haben.«

»Ein Stückchen Muskel – ausgeschnitten!« wimmerte der Dicke.

»Es ist bereits wieder eingenäht, und die Wunde wird narbenlos heilen – natürlich nur, wenn Sie sich danach halten.«

Mojan spürte plötzlich einen brennenden Schmerz am Arm.

»Ferner haben wir dies in Ihrem Magen gefunden.«

Eine verrostete Haarnadel ward ihm vorgehalten.

»Eine Haarnadel! – Wie kommt denn die hinein?«

»Das frage ich Sie auch.«

»Und verrostet!«

»Nein, von der Magensäure zerfressen.«

»Haarnadeln im Bauch – o, diese verfluchten Weiber!« stöhnte Mojan.

»Wissen Sie nicht, daß Sie einmal eine Haarnadel aus Versehen verschluckt haben?«

»Nein – ja – wie lange mag ich sie schon im Magen haben?«

»Der Zerstörung durch die Magensäure nach schließe ich auf zehn bis zwölf Wochen.«

»Es kann stimmen – vor drei Monaten – ja – ist Leckebald in der Stube?«

»Nein.«

»Gut – braucht es auch nicht zu hören – vor drei Monaten – die Miß Betty – vom Ballett – das Frauenzimmer hatte so viel Haarnadeln auf dem Kopfe – da mag ich eine verschluckt haben – ohne daß ich es wußte – na, wenn ich aber erst wieder nach San Francisco komme – das heißt lebendig!«

»Durch das Aufschneiden des Magens und Herausnehmen des unverdaulichen Inhaltes habe ich Ihr Leben um mindestens zehn Jahre verlängert. Haben Ihnen denn die Sachen nicht recht viel Schmerzen gemacht?«

»Sie wissen es ja – und was für welche!«

»Zum Beispiel diese Hosenknöpfe, die sich in einer Falte des Magens festgeklemmt hatten.«

»Diese – Hosen – Hosen – Hosen im Magen,« stotterte Mojan.

»Nein, ein ganzes Paar Hosen nicht, nur zwei Hosenknöpfe sind es.«

»Das genügt auch schon.«

»Sie haben eine sehr weite Speiseröhre, müssen das Essen sehr sorgsam zerkleinern.«

»Werde – werde – mir – eine Mahlmaschine anschaffen.«

»Ihre Zähne genügen auch. Nun fand sich in Ihrem Magen noch dieser Schlüssel, jedenfalls ein Hausschlüssel.«

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Mojan den mächtigen, verrosteten Schlüssel an.

»Ein – ein – Hausschlüssel! Deshalb war's mir immer so schwer im Magen!«

»Das kann ich mir denken! Wie kommt der Schlüssel in Ihren Magen?«

»Ich weiß nicht – ja – ich erinnere mich – konnte einmal des Nachts den Hausschlüssel nicht finden – und hatte ihn doch eingesteckt.«

»Waren Sie betrunken?«

»Nein – ein bißchen.«

»Sehen Sie, und da haben Sie den Hausschlüssel, anstatt in das Schlüsselloch, in Ihren Mund gesteckt und wie eine Stange Spargel hinuntergeschluckt. Wie lange ist das schon her?«

»Vier Jahre.«

»So sieht er auch aus. Nun ist bloß dieses noch ...«

»Immer noch etwas? Mein Gott, mein Gott, hast du mich denn nur ganz und gar verlassen?!«

»Danken Sie lieber Gott, daß er mir eingab, Ihnen den Magen aufzuschneiden! Also, nun noch eine durchlöcherte Scheibe und ein Ring, sowie ein röhrenähnlicher Gegenstand aus Horn.«

»Eine ganze Maschinerie!«

»So schlimm ist es nicht. Es hat zu einem sogenannten Nutsch oder Zulp oder Lutscher gehört. Den Gummi haben Sie verdaut. Lutschen Sie denn?«

»Ich? Nein – nein – niemals.«

»Es kann auch nicht anders sein, als daß Sie ihn schon als Kind verschluckt haben.«

»So ist es.«

»Demnach tragen Sie den Lutscher länger als vierzig Jahre im Magen mit sich herum.«

»O, diese verdammten Lutscher – ich habe es doch immer gesagt – darum war es mir manchmal so weichlich im Magen.«

»Nun können Sie desto glücklicher sein. Ihr Magen ist jetzt wieder wie der eines neugebornen Kindes – nur etwas größer.«

»Sonst war nichts weiter darin?«

»Nein.«

»Gar nichts weiter?«

»Hat Ihnen das nicht genügt?«

»Keine Schnupftabaksdose?«

»Nein, Sie Unzufriedener.«

»Keine volle Tintenflasche? Ich hatte nämlich früher die Angewohnheit, an der Feder zu lecken.«

»Ich glaube, Sie können noch scherzen. Die Operation ist noch nicht vorüber.«

»Was? Noch immer nicht?« schrie Mojan erschrocken.

»Der Magen muß doch erst wieder hineingesetzt werden! Oder wollen Sie lieber ohne Magen herumlaufen?«

»Um Gottes willen nicht,« kreischte der Gefolterte, »setzen Sie ihn ein – setzen Sie ihn ein – aber vergessen Sie nicht, vorher den Gummipfropfen herauszunehmen!«

»So schnell geht das nicht, mein Freund. Einige Stunden müssen Sie sich ohne Magen behelfen.«

»Einige Stunden! Ohne Magen! Warum denn nur? Mir ist schon so furchtbar leer im Bauche.«

»Der Magen muß natürlich erst gereinigt werden, naß mit Bürste, Sand, Seife und Soda, dann wird er in den Rauchfang zum Trocknen gehängt, dann wird er noch einmal angefeuchtet, und ich nähe die Löcher zusammen, schließlich wird er mindestens zwei Stunden in Karbol gelegt – zum Desinfizieren. Dann erst werde ich ihn wieder kunstgerecht annähen.«

»Mein Gott, mein Gott,« jammerte Mojan, »so furchtbar lange!«

»Versuchen Sie einstweilen zu schlafen.«

»Ich kann nicht! Und nähen Sie ihn nur ja nicht verkehrt an, das Unterste zu oberst.«

»Seien Sie ohne Sorge, auf so etwas verstehe ich mich.«

»Und den Gummipfropfen ...«

»Den nehme ich vorher heraus, verlassen Sie sich darauf!«

»Sonst könnte ich ja gar nichts mehr essen und trinken.«

»Ja, mein lieber Herr, mit Essen und Trinken müssen Sie sich überhaupt in der nächsten Zeit äußerst vorsehen, sonst garantiere ich für nichts. Ihr Magen wird natürlich zuerst äußerst empfindlich sein. Nur etwas zu viel, etwas Scharfes – und ein Blutsturz wäre die nächste Folge; dann würden die Nahtwunden in Brand geraten, der Magen in Fäulnis übergehn und schließlich ...«

»Hören Sie auf – hören Sie auf!« lispelte Mojan mit schwacher Stimme, und ein Zittern ging durch seinen Körper.

Der Arzt hatte seine Sachen, den Magen und die blutigen Reliquien eingepackt und verließ das Zimmer.

Stumm und bleich lag Mojan da – wie ein geprellter Frosch. Auf Nobodys Fragen antwortete er nicht.

Nur als Leckebald hereinkam, fand er einmal die Sprache wieder.

Er richtete die Augen mit traurigem Ausdruck auf den mit offnem Munde und gespreizten Fingern dastehenden Jungen.

»Dein armer Onkel hat keinen Magen mehr.«

»Ach, nee – die – die – die Lecke-Schwester hat mir wirklich nichts vorgelogen?«

»Was sagte sie denn?«

»Sie hätten meinen Lecke-Onkel geschlachtet.«

»Es ist wirklich so.«

»Und dabei hat sie furchtbar gelacht.«

»Diese Canaille!«

Infolge der Seelenabspannung schlief Mojan bald ein, vergaß aber sogar das Schnarchen.

Nobody harrte auch jetzt noch bei ihm aus. Er hatte den Arzt überredet, den Scherz auszuführen, weil er hoffte, Cerberus Mojan würde infolge der Komödie von seinen krankhaften Vorstellungen geheilt werden. Schließlich trug ja auch Noboby mit an diesen schuld, denn er hatte durch Puttfarken doch zuerst den Dicken zu dem Wahne gebracht, daß der Erlernung des spiritistischen Apports allerlei Leibesübungen vorausgehn müßten. Daß Mojan so ganz verrückt werden würde, hatte Nobody freilich nicht ahnen können. Jedenfalls wollte er versuchen, ihn zu kurieren.

Cerberus Mojan erwachte nach mehrstündigem Schlafe und sah zu seinem Erstaunen abermals, außer Cutting Knife, den Arzt an seinem Lager stehn. Derselbe reichte ihm lächelnd die Hand.

»Ich gratuliere, Mister Mojan!«

»Wozu denn?«

»Der Magen ist wieder an Ort und Stelle.«

Ein Lächeln huschte über das Vollmondgesicht.

»Drum – mir ist auch nicht mehr so leer im Bauche,« lispelte er. »Alles gut gegangen?«

»zzziyyy All right!zzz/iyyy«

»Haben Sie mich chloroformiert?«

»Sie befanden sich in Narkose.«

»Richtig angenäht?«

»So, wie der Magen bei einem gesunden Menschen liegen muß.«

»Haben Sie den Darm nicht anzunähen vergessen?«

»Im Gegenteil, habe ihn angenäht.«

»Und der Gummipfropfen?«

»Ist herausgenommen.«

»Nichts im Magen liegen lassen?«

»Nichts.«

Dann bekam Mojan Vorschriften wegen seiner Diät: einige Tage überhaupt nichts essen, keinen Bissen, nur hier und da einen Löffel lauwarmes Wasser.

Später etwas körperliche Bewegung, die sich mit der Zeit steigerte: Freiübungen, Treppensteigen, Holzhacken und ähnliches, aber auch schon einige flüssige Nahrung. Uebermäßig essen oder verschlingen, wie früher, durfte er sein ganzes Leben lang nichts wieder, das wäre sein sofortiger Tod, und außerdem befände er sich dann immer in Gefahr, wieder solche unverdauliche Gegenstände zu verschlucken.

Mojan sagte zu allem ja. Als er zum ersten Male aufstand, überzeugte er sich, daß sein Leib und der linke Oberarm mit Bandagen umwickelt waren. Die Wunden bekam er niemals zu sehen, denn meist wurden sie ihm im Schlafe verbunden, oder er war dabei doch festgeschnallt.

Drei Tage lang erhielt er wirklich keinen Bissen zu essen, nichts als lauwarmes Wasser, und der Hunger, der sich einstellte, ist begreiflich.

Aber Mojan verlangte nach keinem Essen, trotzdem er tatsächlich sehr abmagerte. Sein Bauch fiel mit rapider Geschwindigkeit ein, sein fettstrotzendes Gesicht bekam Falten. Gefährlich für seine Gesundheit war diese Pferdekur nicht, der Arzt beobachtete ihn sorgsam. Die eiserne Natur des Dicken hätte noch etwas ganz andres ausgehalten.

Nach drei Tagen bekam er wieder kleine Rationen – und Mojan fühlte sich plötzlich wirklich gesund. So geschmeckt hatte es ihm noch niemals in seinem ganzen Leben. Auch von der Hundswut war er kuriert. Man hatte es ihm versichert, und er glaubte es, denn er fühlte sich so ungemein wohl.

Nobody, der schon am Tage der vorgeblichen Operation abgereist war, erhielt unter dem Namen Cutting Knife ein Telegramm nach San Francisco – folgenden Inhalts:

»Cerberus Mojan vollständig geheilt, ist bereits unterwegs, Nobody zu suchen. Leckebald bei ihm!«

Da lachte Nobody und sagte:

»Ich bin neugierig, wo ich den närrischen Kauz wiedertreffen werde, und was für neue Mucken er sich dann angewöhnt haben wird!«


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