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3. Feuerproben

»Boot ahoi!!«

Der Schiffsjunge hatte es im unsichern Scheine der Morgendämmerung zuerst bemerkt, und dann bekam er für seine Aufmerksamkeit von einem Matrosen noch eine Ohrfeige, weil man auf diese Weise ein Boot wohl anruft, aber nicht meldet.

»Und 's ist ja gar kein Boot, 's ist nur ein Floß.«

Auf der Kommandobrücke des englischen Dampfers ›Stag‹ standen der Kapitän und der zweite Steuermann. Jetzt hatten auch diese das fragliche Fahrzeug erspäht; sie richteten die Fernrohre darauf.

»Es ist ein Floß,« sagte der Steuermann.

»Soll der Teufel das Floß holen!« knurrte der Kapitän.

»Nur aus zwei Baumstämmen zusammengebunden.«

»Soll der Teufel die beiden Baumstämme holen!«

»Es ist ein Notsegel errichtet.«

»Soll der Teufel das Notsegel holen!«

»Der Mann winkt.«

»Soll ihn der Teufel frikassieren!«

»Ich glaube, es ist ein Chinese, er trägt solch eine Kleidung.«

Jetzt machte der liebenswürdige Kapitän seinem Aerger in fürchterlichen Flüchen Luft. Wenn es ein Schiffbrüchiger war, warum hatte ihn das Meer nicht gleich verschlungen? Warum mußte der gottverfluchte Halunke auch gerade den ›Stag‹ in Sicht bekommen? Der Kapitän war nämlich mit Dividenden an der Fahrt beteiligt, und die Zeitversäumnis, die er wegen dieses verdammten Kerls hatte, fühlte er in seiner eignen Tasche. Ja, wenn es wenigstens ein zahlungsfähiger Mensch gewesen wäre! Aber ein elender Chinese, ein Kuli ...

Die edle Nächstenliebe und der aufopfernde Todesmut der Seeleute, wenn es gilt, in Seenot Befindliche zu retten, werden eben oft nur von den eisernen Seegesetzen diktiert.

Nach einer kurzen Beratung hielt man es für besser, d. h. für eine Ersparnis an Zeit und Kohlen, direkt hinzufahren und den Mann an Bord zu nehmen, anstatt erst ein Boot auszusetzen und das Floß heranzubugsieren.

Der Signalapparat klingelte, Ruderkommandos – der Dampfer drehte bei, beschrieb einen Bogen und bald lag das Floß längsseit.

Ueber dasselbe ist nicht viel zu sagen. Es bestand aus zwei ungleich langen, roh behauenen Baumstämmen, mit Stricken zusammengebunden, in der Mitte war eine kurze Stange errichtet und an dieser aus einem bunten Seidentuche ein Notsegel angebracht, welches den leichten Wind ausnützen sollte.

Der Steuermann, welcher das Manöver des Anlegens leitete, sah aber auch noch andres. Ihm fielen schon die Knoten auf, und es ist gar nicht so leicht, eine Stange nur mit Stricken zwischen zwei Balken so festzubinden, daß sie aufrecht steht und imstande ist, ein vom Wind geblähtes Segel zu tragen.

»Wenn er das selber gemacht hat, so ist das ein Seemann, und zwar ein fixer. Ja, das ist aber auch kein Chinese, sondern ein Japaner!«

Der seefahrende Engländer unterscheidet seit alters zwischen einem Chinesen und einem Japaner wie wir etwa zwischen einem faulen, lügnerischen Polen und einem fleißigen biedern Pommern. Ein chinesischer Matrose ist ganz undenkbar. Japanische Seeleute aber werden immer mehr gesucht, der Japaner ist sogar das Ideal eines Matrosen. Man muß ihn freilich zu behandeln verstehn.

»Könnt Ihr allein heraufklettern?« rief der Steuermann hinab.

»Warum nicht?« erklang es von unten. Der Mann erfaßte das ihm zugeworfene Tau und schwang sich gewandt an Deck.

Wir brauchen ihn nicht näher zu beschreiben, wollen nur noch angeben, daß sein japanisches Kostüm sehr mitgenommen war.

»Volldampf voraus!« kommandierte der Kapitän auf der Brücke; der Dampfer setzte sich wieder in Bewegung und ließ das improvisierte Floß hinter sich auf dem Wasser zurück.

Lange würde es nicht mehr auf den Wellen schaukeln. Die Rettung des Passagiers hätte nicht mehr lange auf sich warten lassen dürfen.

Noch war die See ziemlich glatt, aber am Horizont ballten sich Wolken zusammen, immer stärker wurde der Wind, und einem nur einigermaßen bewegten Seegange hätte das zusammengebundene Floß nicht standgehalten.

»Was ist Euch passiert?« fragte der Steuermann den Japaner, der schon bewiesen hatte, daß er Englisch verstand.

»Schiffbruch,« war die lakonische Antwort. »Was für ein Dampfer ist das?«

»Der englische ›Stag‹, Kapitän Marrow. Was war's für ein Schiff, mit dem Ihr untergingt?«

»Eine Segeljacht. Wohin geht ihr?«

»Nach Tokio.«

»Das ist gut.«

»Der Kapitän winkt. Geht auf die Brücke!«

Der Japaner folgte der Aufforderung.

Der Kapitän empfing ihn als unnahbarer Kommandant seines Schiffes. Aber Marrow war gar kein solcher Grobian, wie man aus seinen ersten Aeußerungen hätte schließen müssen, denn es wirkte auf ihn schon versöhnend, in dem Schiffbrüchigen – oder in dem ›Aufgepickten‹, wie der Seemannsausdruck lautet – keinen in aller Welt verachteten Chinesen, sondern einen Japaner zu erkennen, und schließlich sah er auf den ersten Blick, daß er keinen gewöhnlichen Mann vor sich haben konnte. Trotzdem aber war er jetzt der unumschränkte Monarch.

»Wer sind Sie?«

»Baron Nogi, Gardeleutnant in der japanischen Armee.«

Vor allen Dingen war der Kapitän froh, daß er einen zahlungsfähigen Passagier bekommen hatte, wenn er sich das auch nicht anmerken ließ.

»Haben Sie Schiffbruch erlitten?«

Der Japaner erzählte. Er hatte mit Freunden, fast lauter Offizieren, eine weite Partie auf einer Segeljacht gemacht, sie waren von einem Unwetter überrascht worden, waren gescheitert. Nogi hatte sich auf ein Felsenriff gerettet, auf dem er neun Tage verbrachte. Er bekam wohl einige Schiffe in Sicht, konnte sich ihnen aber nicht bemerkbar machen.

Am neunten Tage, gestern früh, waren zwei Balken an das Riff getrieben, auch ein Mast mit Tauwerk, also die Planken eines untergegangenen Schiffes.

Nogi hatte die beiden Ballen zusammengebunden und ein Notsegel errichtet; gestern nachmittag hatte er die Felsenklippe verlassen und war die ganze Nacht umhergetrieben. Heute bei Tagesanbruch sichtete er den Dampfer, wurde bemerkt und aufgenommen.

»Sind Sie der einzige Gerettete?«

»Ich war allein auf der Klippe.«

»Sie haben nichts wieder von Ihren Gefährten gesehen?«

»Nein.«

»Wieviele waren an Bord?«

»Die Gesellschaft bestand aus fünfzehn Herren, die Mannschaft aus acht Matrosen.«

»Und die Herren waren meistens japanische Offiziere?«

»Ja. Unter ihnen befand sich auch der Prinz Manimuri, der Neffe des Mikado.«

»Glauben Sie, daß niemand weiter gerettet ist?«

»Ich fürchte nein. Es war, so weit das Auge reichte, die einzige Klippe, auf welche mich die Götter warfen.«

Kapitän Marrow befuhr ständig diese Gewässer, er kannte die Japaner, und daher wunderte er sich nicht, daß dieser hier dies so gleichmütig sagte, daß in dem edlen Antlitz keine Muskel zuckte. Es war eben ein Japaner, dessen erste Tugend die teilnahmlose Selbstbeherrschung ist.

»Das ist allerdings fürchterlich. Sie sind nicht besonders erschöpft.«

»Auf der Klippe nisteten viele Seevögel, ihre Eier dienten mir als Speise und Trank zugleich, ich nahm auch als Proviant welche mit.«

»Das war Ihr Glück. Sie scheinen doch auch praktische seemännische Kenntnisse zu besitzen, das bewies mir Ihr Floß.«

»Ich bin zwischen Inseln geboren worden und habe mich im Jachtsport ausgebildet.«

»Sie begeben sich in Ihre Heimat zurück und werden das Unglück melden?«

»Selbstverständlich! Ich vernahm schon von jenem Herrn, welcher wohl ein Offizier ist, daß Ihr Dampfer nach Tokio geht.«

»So ist es. Herr, ich möchte freilich nicht an Ihrer Stelle sein. – Nun, ich denke, Sie haben nicht nötig, für die Passage zu arbeiten!«

Es war ein zarter Wink mit dem Zaunspfahle – eigentlich war es, da sich der Japaner nicht nur als Edelmann, sondern sogar als Armeeoffizier vorgestellt hatte, sogar eine Beleidigung, aber dem englischen Kapitän war das gleichgültig, und der Japaner blieb regungslos.

»Augenblicklich bin ich mittellos. Da wir selbst die Segel bedienten, hatte ich Uhr und Fingerringe abgelegt, sie ruhen auf dem Meeresgrunde; aber in Tokio werde ich Ihren Forderungen sofort nachkommen, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

»Schön! Nun, mein Dampfer ist auch zur Mitnahme einiger Kajütenpassagiere eingerichtet. Bitte, der Steward steht zu Ihrer Verfügung!«

Baron Nogi war vom Allmächtigen entlassen. Er begab sich wieder die Treppe hinab, um den Steward aufzusuchen.

Auf der Kommandobrücke hatte ein Matrose Messing geputzt und war kurz vor dem Japaner hinabgegangen.

Natürlich wurde er von seinen Kameraden sofort ausgefragt, wer der schiffbrüchige Japaner sei, was er sonst dort oben zu hören bekommen habe.

Baron Nogi schritt eben dem Kajüteneingange zu, der ganz hinten an Deck gelegen war, da plötzlich hörte er etwas, was auf ihn wie ein Blitz aus heiterm Himmel wirken mußte.

Sein Weg führte ihn an zwei Matrosen vorüber, welche an der Bordwand standen.

»Das ist ja der Nobody!« sagte der eine.

»Wahrhaftig, der Nobody!!« rief der andre, sprang nach hinten zu dem Kajüteneingange und steckte den Kopf zur Tür hinein.

»He, Mister – Mister Dingsda!« schrie er. »Kommen Sie schnell rauf, der Nobody ist da!«

Des jungen Japaners Fuß stockte nicht, keine Muskel zuckte in dem gelben Antlitz. Nur sein Auge wanderte durchbohrend von einem der beiden Matrosen zum andern. »Es sind beides englische Matrosen. Ich kenne sie nicht, sie sind mir nie begegnet. Woher haben die mich erkannt? Hat sich mein Gesicht verändert? Trage ich nicht mehr die Maske eines echten Japaners? Hat mich meine Kunst verlassen? – Nein, hier muß irgend ein Rätsel, ein Zufall vorliegen.« Das waren die Gedanken, welche blitzschnell durch den Kopf des Japaners jagten, von dem der Leser weiß, wer es in Wirklichkeit ist.

Noch hatte er den Kajüteneingang nicht erreicht, als aus diesem eine Gestalt hervorgeschossen kam, und vor dem Japaner stand ein kleiner, sehr dicker Kerl mit Bartkoteletten, nur im Hemd, auf dem Kopfe eine Zipfelmütze, an den Füßen Pantoffeln und machte sein respektables Maul so weit als möglich auf.

»Ach, mein lieber Nobody, endlich habe ich Sie wiedergefunden! Sehen Sie, ich kann's schon!«

Und jubb! Die Pantoffeln sausten durch die Luft; der kleine, dicke Mann stand plötzlich auf den Händen und marschierte so an Deck herum.

Nun hatte er aber, jedenfalls direkt aus dem Bett gesprungen, nur ein Hemd an, und das war nicht am Leibe festgeklebt, sondern es fiel herab und stülpte sich ihm über den Kopf.

Tableau! Die Matrosen kollerten sich vor Lachen an Deck. Und unser Nobody hätte sich so gern mitgekollert!

Er durfte es nicht, durfte sich nur verwundert umsehen. Da erblickte er den Steuermann, wie dieser bedeutungsvoll mit dem Finger gegen seine Stirn klopfte und dann die Schultern zuckte.

Für Nobody war das Rätsel überhaupt schon erklärt gewesen. Ein merkwürdiger Zufall diese Begegnung!

Der wunderliche Handläufer hatte sich wieder auf die Beine gestellt, wodurch auch sein Hemd wieder in Ordnung kam; Matrosen brachten ihm seine Lederpantoffeln zurück.

»Nur mit der Zunge will's noch nicht recht gehn ...«

Das dicke Kerlchen reckte die Zunge heraus, packte sie mit beiden Händen und zog daran, freilich ohne sie weiter hervorzubekommen.

»... und mit der tiefen Rückenbeuge ist's auch noch faul, da ist mir immer der Bauch im Wege. Aber mein Taschentuch kann ich schon mit Leichtigkeit auffressen. – Na, mein lieber Mr. Nobody, wie ist es Ihnen denn immer ergangen?«

»Sie verkennen mich, mein Herr!«

Der dicke Hemdenträger machte sein Maul auf und machte es wieder zu.

»Sie sind nicht Mr. Nobody?«

»Nein. Baron Nogi ist mein Name!«

»Sie sind wirklich nicht der Nobody? Nee? Schade.«

Jetzt begann der kleine Dicke, breitbeinig vor dem Japaner hingepflanzt, in der Brustgegend an seinem Hemd herumzutasten.

»Cerberus Mojan!« schnarrte er. »Wo ist denn mein Notizbuch? Ach so, ich bin noch im Hemd. Entschuldigen Sie. zzziyyy Never mindzzz/iyyy, Geschäft ist Geschäft – Cerberus Mojan, Schmieröl, Schwefel, Schokolade! Sie kennen doch die weltberühmte Firma Cerberus Mojan und Ko. in London? Für die reise ich. – Na, Herr Baron, wie wär's denn mit etwas Schmieröl? Geben Sie mir einen Auftrag, es wäre heute mein erster. Nur ein Fäßchen! Haben Sie nicht eine Nähmaschine zu Hause? Sie können's auch innerlich nehmen. Ihnen schadet es überhaupt nichts. Sie haben nämlich die Würmer, das sehe ich gleich Ihrem ...«

»Wahrschau!« riefen ein paar Matrosen, die über Deck ein langes Tau schleppten, Mr. Cerberus Mojan geriet in eine Schleife und endete in einem Wasserfasse.

Der Steuermann hatte dem bedrängten Japaner zu Hilfe kommen wollen, er konnte ihm wenigstens noch eine Aufklärung geben.

»Es ist ein Passagier, den wir in Singapore an Bord genommen haben, außerdem hat er im Schiff noch eine eigne große Ladung von Schmieröl, Seife und Schokolade. Der gute Mann ist etwas spleenig. Wenn er nicht von seinen Artikeln spricht, dann schwatzt er von dem Detektiv Nobody, den er aufsuchen will, um ihm zu zeigen, wie er schon auf den Händen laufen und sein Taschentuch in den Mund pfropfen kann.«

Lachend hatte es der Steuermann gesagt, während er den unfreiwilligen Passagier unter Deck führte, und er nahm sich auch des Hilfsbedürftigen weiter an, indem er ihn mit Kleidern und Wäsche aus seiner Garderobe versorgte, ohne darum gebeten worden zu sein.

Die Kabine, welche der Japaner vom Steward angewiesen bekommen hatte, lag dicht neben der des Steuermanns, so ging dieser, nach und nach die Kleidungsstücke bringend, immer hin und her, und Nobody ließ sich die Gelegenheit nicht entgehn, um noch weitere Erklärungen zu verlangen, soweit jener solche geben konnte.

Daß Mr. Cerberus Mojan wieder einmal auf der Suche nach Nobody war, um von ihm den spiritistischen Apport zu erlernen, und nun in jedem Menschen, ganz gleich, wie er aussah, den Verwandlungskünstler vermutete, das lag ja klar auf der Hand. Die Matrosen wußten um die Manie des spleenigen Engländers und hatten sich den Jux gemacht, zu behaupten, der auf dem Floß angekommene Schiffbrüchige sei der gesuchte Nobody.

Für diesen aber kam es darauf an, zu erfahren, wie Mr. Mojan ihn überhaupt in dieser Gegend vermuten könne.

Der mitteilsame Mann hatte daraus gar kein Hehl gemacht, er erzählte vielmehr jedem, der es hören wollte – und Nobody bekam es während der Fahrt noch oft genug zu hören – wie er nun, nachdem er auf den Händen laufen konnte, sich in New-York bei Mr. World nach Nobodys jetziger Adresse erkundigt habe, aber nur erfahren konnte, daß sich dieser in China aufhielte – und nun war Mr. Mojan eben auf gut Glück hier, um den Hexenmeister zu suchen. –

Sonst ist über die Reise nichts zu berichten. Der Pseudo-Baron Nogi amüsierte sich weidlich über Mr. Mojan, welcher an Bord der einzige Passagier war, wie der ihm von Nobody vorschwärmte, ihm von dessen spiritistischen ›Abtritt‹ erzählte, ab und zu auf den Händen lief, sein Taschentuch auffraß, auch zeigte, wie weit er es schon in der tiefen Rückenbeuge gebracht hatte, wobei er das Taschentuch nur von einem Tisch aufheben wollte, gegen den er sich mit dem Rücken stellte, aber das Tuch verfehlte und, auch noch von einer Bewegung des Schiffes befördert, mit dem Kopfe rücklings in eine große Schüssel Spinat fuhr.

Erwähnt sei nur noch, daß es kein Zufall war, daß der vorgebliche Schiffbrüchige gerade von einem Dampfer bemerkt und aufgenommen worden war, welcher nach Tokio fuhr, das auch Baron Nogis Ziel sein mußte.

Nobody hatte eben Erkundigungen eingezogen, welche Dampfer die Fukienstraße zu jener Zeit, da er von einem solchen aufgenommen zu werden wünschte, passierten, und da die Dampfer ihre ganz bestimmte Linie einhalten, so war es ihm ein leichtes, es so einzurichten, daß er von seinem Floß an Bord eines Schiffes kam, welches ihn gleich direkt nach Tokio brachte.

 

Am dritten Tage lief der ›Stag‹ in die große Bucht ein, an welcher Tokio, die Gartenstadt von zwei Millionen Einwohnern, liegt.

Bei dem schönen Wetter und der ruhigen See war die Bucht sehr von Booten belebt, in denen sich besonders die Frauen der wohlhabenden und vornehmen Japaner mit ihren Kindern spazieren rudern ließen.

Die Familienboote waren zwar mit einem Baldachin bedeckt, aber sonst offen, und so konnte man sehen, daß die meisten geradezu von Kindern wimmelten, während sich stets nur eine einzige Frau darin befand.

Diese einzige Japanerin benahm sich den vielen Kindern gegenüber wie eine Mutter, das konnte man bei jeder Gelegenheit sehen, und hätte man sie gefragt, so würde sie auch stolz erklärt haben, daß alle diese Kinder, deren Zahl in den Booten zwischen einem und wohl fünf Dutzend schwankte, ihre eignen seien.

Natürlich wäre das eine Unmöglichkeit gewesen. Es waren ja auch so viele gleichaltrige Kinder darunter, so eine Frau hätte ja in jedem Jahre Vierlinge haben müssen.

Diese stolze Behauptung der Frauen, die vielen Kinder wären ihre eignen, bedarf einer Erklärung.

Der Japaner lebt in Monogamie, hat also nur eine Frau; aber er darf sich neben dieser rechtmäßigen Gattin noch so viele halten, wie er ernähren kann. Das wird unter Umständen zur Bedingung, nämlich, wenn die rechtmäßige Gattin kinderlos bleibt. Denn Kinderlosigkeit ist die größte Schande des Japaners. Da ist auch der ärmste Tagelöhner gezwungen, noch mehr zu arbeiten, um noch eine Nebenfrau ernähren zu können, mit der er Kinder zu zeugen hofft.

Ist aber Kinderlosigkeit die größte Schande, so ist Kinderreichtum der größte Stolz des Japaners – und der Japanerin! Je mehr Kinder, desto angesehener ist sie. Auf ihrem Kimono, dem weitärmligen Oberkleid, drückt sie die Zahl ihrer Kinder durch Streifen aus, und je mehr Streifen, desto ehrfurchtsvoller wird sie von den Männern gegrüßt, desto neidischer blicken ihr andre Frauen nach.

Doch die Japanerin schmückt sich mit fremden Federn. Die Nebenfrau des armen Arbeiters muß ihre Kinder der kinderlosen Gattin abtreten, die Frau des Reichen und Vornehmen, der sich vielleicht ein Dutzend Nebenweiber hält, gibt deren sämtliche Kinder für ihre eignen aus, zeigt sich mit ihnen stolz in der Oeffentlichkeit. Auf Grund dieser seltsamen Zustände ist auch das Familienleben des Japaners ein überaus glückliches, nicht zu vergleichen mit dem türkischen Haremsleben. Eifersucht gibt es gar nicht. Im Gegenteil, die rechtmäßige Gattin hält den Mann ja erst an, sich möglichst viele Kebsweiber zuzulegen, um mit deren Kindern zu prahlen, und die Frau, die ihr die meisten liefert, ist ihr die liebste, und was der unebenbürtigen Mutter in der Oeffentlichkeit abgeht, das wird ihr zu Hause durch Aufmerksamkeit und Hochachtung ersetzt.

Von der sittlichen Moral dieser merkwürdigen Verhältnisse wollen wir lieber nicht sprechen. Ländlich, sittlich. Gott sei mir Sünder gnädig! Besser offen als in der Heimlichkeit! Aber von der nationalökonomischen Bedeutung dieses Verhältnisses wollen wir sprechen.

Kinder sind ein Segen des Himmels. Dieses Bibelwort ist und bleibt wahr – trotz aller verdammenswürdigen Zeitungsannoncen. Die Juden erkennen die Wahrheit dieses Spruches noch heute an; wollten die Christen ihnen doch hierin nachahmen! Alle Ausgaben, welche die Eltern für ihre Kinder haben, sind Ersparnisse, welche dereinst den Eltern tausendfache Zinsen bringen – und dabei brauchen sie die Kinder nicht auf hohe Schulen zu schicken, brauchen ihnen nicht Klavierunterricht geben zu lassen – vorausgesetzt wird aber, daß sie die Kinder zu liebevollem Gehorsam und zur geschwisterlichen Eintracht zu erziehen verstehn. Und je mehr solcher Kinder, desto fester, desto unerschütterlicher steht solch eine Familie da. Aus einer derartigen Gemeinschaft, in der alle fest und treu zusammenhalten, kommt jeder einzelne vorwärts im Leben, und die ganze Familie selbst, und je zahlreicher die Familie, desto weiter bringt sie es!

Man schaue daraufhin nur einmal um sich! Es ist nicht nötig, deswegen aufs Land zu gehn, wie da ein paar Bauernfamilien, welche alle den Namen des armen Holzhackers tragen, von dem sie abstammen, nach und nach das ganze Dorf aufkaufen, bis sie zuletzt den Rittergutsbesitzer hinausschmeißen. Es ist auch nicht nötig, deswegen nach den fünf Brüdern Rothschild zu blicken.

Und was von der Familie gilt, das gilt vom ganzen Volke.

Landwirtschaft, Bergbau und Industrie machen ein Volk wohlhabend – aber Kinderreichtum ist die Kraft des Volkes! Und dieser Kinderreichtum, dieser Stolz, möglichst viel Nachkommen zu haben, die in Gehorsam und zur glühendsten Vaterlandsliebe erzogen werden, das ist es, was Japan zu einem furchtbaren Gegner macht, der sich nicht niederringen läßt – und die hiermit verbundene Expansionsfähigkeit des japanischen Volkes ist es, die uns Abendländern dereinst gefährlich werden kann. Der Gegensatz zu Japan in dieser Hinsicht ist Frankreich. Die absichtliche Kinderarmut ist Frankreichs Unglück, ist sein Niedergang, kann noch sein Verderben werden. –

Einige Boote hatten sich bei der ruhigen See sehr weit hinausgewagt, und es drohte ihnen ja auch gar keine Gefahr.

Ein solches, durch die vergoldeten Verzierungen wie durch die reiche Tracht der beiden Ruderer als das Privatboot eines Vornehmen gekennzeichnet, hatte sich durch Unachtsamkeit der letztern zu weit dem großen Dampfer genähert, es kam in das Bereich des von der Schraube aufgewühlten Kielwassers, wurde von dem Koloß wie von einem Magneten angezogen, die Ruderknechte wollten es absetzen, sprangen gleichzeitig nach einer Seite, ein einziger gellender Schrei, und das Boot war gekentert!

Der Schrei fand ein Echo an Deck des Dampfers. Außer den zwei Männern und einer Frau fünfzehn Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren in dem von der Schraube aufgewühlten Kielwasser – schon der Gedanke daran war entsetzlich, noch entsetzlicher der Anblick; auch der gefühlloseste Matrose erstarrte im ersten Augenblick vor Schreck, um dann laut aufzuschreien.

Doch sollte es noch gut ablaufen, dank der Besonnenheit und Kühnheit der Zuschauer. Gleichzeitig mit dem gellenden Schrei hatte auf der Kommandobrücke der Signalapparat geklingelt, die Maschine stoppte im Moment, es konnte kein Mensch in die sich noch drehende Schraube hineingeraten sein.

In die erstarrten Matrosen kam Leben; schnell ließen sich diejenigen, welche gute Schwimmer waren, von den andern an ihren Gürteln Seile befestigen, so sprangen sie hinab, die meisten der Kinder waren noch nicht untergesunken, andre eben erst im Untersinken begriffen, paarweise wurden sie an nachgeworfenen Tauen festgebunden und so hinaufgezogen, und die beiden japanischen Schiffer halfen auch brav mit.

Nobody hatte in seiner Kabine gesessen, als der furchtbare Schrei sein Ohr traf, und das nachfolgende Kindergezeter sagte ihm alles.

Wie er an Deck gestürzt kam, sah er viele kleine Kinder, mit denen man sich beschäftigte, während sich im Wasser nur noch einige Matrosen befanden, welche zu tauchen suchten, woran sie aber durch die Seile gehindert wurden.

Der Dampfer, der zuletzt nur ganz langsam gefahren, war mit vorsichtigen Schraubenumdrehungen wieder etwas zurückgegangen.

»Wie viele Kinder sind gerettet?« war Nobodys erste Frage.

»Eins – zwei – drei – dreizehn,« wurde gezählt.

»Wie viele waren es?«

»Die Muschi fehlt,« jammerte einer der japanischen Ruderer, »und sie hatte zwei Kinder im Arm, sie ist gesunken ...«

Der Mann wollte sich wieder über die Bordwand stürzen, Nobody hielt ihn mit Gewalt zurück. »Fort dort unten!« schrie er hinab. »Wenn sie gleich gesunken ist, so muß es auf einer andern Stelle geschehen sein!«

Die Matrosen gehorchten, ließen von ihren fruchtlosen Bemühungen ab. Der an der Bordwand stehende Nobody war gleichzeitig mit dreierlei beschäftigt. Er ließ sich von dem Steuermann beschreiben, an welcher Stelle das Boot gekentert sein mochte, beobachtete die weitere Umgebung dieser Stelle mit starren Augen und entledigte sich gleichzeitig seines Rockes und seiner Stiefel.

Da quoll in einer beträchtlichen Entfernung vom Schiff eine Luftblase empor, zu groß, als daß sie aus der Lunge eines Menschen kommen konnte, es war die von den Frauenkleidern gefangene Luft, und mit einem weiten Hechtsprung über die Bordwand war Nobody im Wasser verschwunden.

Die Sekunden verstrichen. Das Unglück war von den andern Booten gesehen worden, sie eilten herbei, bildeten um den Ort, da man das Auftauchen erwartete, einen weiten Halbkreis, wurden von den Matrosen gewarnt, weiter heranzukommen, und die Männer und Frauen und Kinder blickten in ängstlichem Schweigen auf die glatte Wasserfläche.

Und die Sekunden verstrichen. Es wurde eine halbe Minute daraus. Eine halbe Minute? Nein, für die Zuschauer war schon längst die Ewigkeit angebrochen!

Da kräuselte sich die glatte Wasserfläche; der schwarze Kopf eines Japaners hob sich zuerst empor; tief holte er Atem, dann folgte der Kopf einer jungen Japanerin, dann erschienen ab und zu zwei kleine Köpfe, die aber immer wieder unter dem Wasser verschwanden – doch noch ehe ein Boot zu Hilfen kommen konnte, hatte an Bord des Dampfers ein Matrose geschickt ein Seil geschleudert, Nobody hatte es sofort in seiner Hand und auch schon um das Gelenk gewickelt. Er wurde nach dem Dampfer gezogen. Dadurch kamen auch die Köpfe der beiden kleinen Kinder, welche die bewußtlose Frau krampfhaft in ihren Armen hielt, in jedem eins, über Wasser. Vom Dampfer waren Fallreeps ausgeworfen worden, Strickleitern mit hölzernen Sprossen; an diesen kletterten die Matrosen wie die Katzen hinab, nahmen Frau und Kinder in Empfang und beförderten sie mit vereinten Kräften hinauf; Nobody folgte langsam nach.

»Kata Nogi banzai!!« erscholl es da aus einem Boote.

Und ›Kata Nogi banzai, banzai, banzai!!!‹ erklang es hundertstimmig aus Männer-, Frauen- und Kinderkehlen nach, und enthusiastisch wurden Filzkappen und seidene Tücher geschwenkt; jubelnd klatschten die Kinder in die Hände. »Banzai, banzai, banzai!!!«

Er war erkannt worden, der Baron Nogi, dem der japanische Hurraruf galt, der Liebling des Mikado, der Liebling der ganzen Hauptstadt.

Konnte Nobody mehr verlangen? Nicht einmal das Bad hatte ihm etwas von seiner Maske abgewaschen.

Aber es sollte noch ganz anders kommen.

Die ersten aus dem Wasser gezogenen Kinder hatten sich wieder erholt, eben beugte sich Nobody über die junge, schöne Frau, die er dem nassen Tode entrissen hatte, und die zwar ohnmächtig war, bei der aber keine Wiederbelebungsversuche gemacht zu werden brauchten, als sich den Banzai-Rufen noch andre Laute beimengten.

»Papa, Papa!!« erscholl es jauchzend, und plötzlich wimmelte es um ihn herum von kleinen Geschöpfen in nassen Seidengewändern, plötzlich umklammerten einige Dutzend Aermchen seine Beine, die Händchen packten zu, was sie nur fassen konnten.

»Papa, Papa, mein guter Papa!!«

Diese japanischen Kinder sagten wirklich ›Papa‹.

Denn ob Deutscher oder Spanier, ob Eskimo oder Botokude oder Buschneger, ob Tunguse oder Kalmücke oder Japaner – der Kinder erstes Lallen ist überall ein gleiches, es gibt kein einziges Volk auf der Erde, bei welchem der Vater nicht Papa und die Mutter nicht Mama genannt wird.

Für die Namen der Eltern wenigstens ist von den Kindern die internationale Weltsprache erfunden worden!

»Papa, mein guter Papa!!«

Dann stürzten sie zu der bewußtlosen Frau, nannten sie Mama, küßten sie zärtlich und hingen sich von neuem an den Mann, den sie für ihren Vater hielten.

»So wecke doch die Mama auf! Sie freut sich doch so sehr, daß du wieder da bist! Sie hat uns nur immer von dir erzählt. Sie hatte schon solche Angst, weil du gar so lange ausbliebst ...«

Da kam es dem Manne zum Bewußtsein, daß er Baron Nogis Frau und Kinder gerettet hatte ... doch nein, das wußte er schon lange, dazu hatte es nur des ersten ›Papa‹ bedurft ... nein, seine Kinder, seine eignen waren es, die er dem Tode entrissen hatte, seine eigne Frau... . Nobody wußte nicht, was plötzlich in ihm vorging – es stieg ihm so siedendheiß zum Herzen empor – und noch höher hinauf – aus seinen Augen kam etwas Nasses, das sich mit den Salzwassertropfen verwischte ...

Da schlug die junge, schöne, jetzt so blasse Frau, der man sanft die Kinder aus dem Arme genommen hatte, die Augen auf, sie sah den Mann, sie lächelte verklärt, und verlangend streckte sie die Arme nach ihm aus. »Kata Nogi, Sayadamona,« flüsterte sie glücklich und spitzte den kleinen Mund zum Kuß.

Sayadamona – ich sehe dich wieder, ich habe dich wieder – aber in einem Worte geschrieben – eine Art von Vergißmeinnicht – und ihr Name selbst war Sayadamona!

Und Nobody? Er wäre ein abscheulicher Barbar gewesen, hätte er gezögert. Ja, jetzt erst wäre er zum Lügner geworden, hätte er es nicht getan!

Während die Kinder den vermeintlichen Vater mit Liebkosungen überhäuften, die sich vorzüglich auf seine Beine erstreckten, und während von den Booten, wo man wußte, daß Kata Nogi seine eigne Frau und seine Kinder gerettet hatte, noch immer die Banzai-Rufe erschollen, beugte sich Nobody überquellenden Herzens über die junge Frau, schloß sie in seine Arme und küßte sie, küßte sie immer wieder – und Gabriele hätte dabeisein können, es waren Küsse der reinen Menschenliebe.

»Meine Sayadamona, meine Muschi!« –

Sie hatte sich nur noch nach den Kindern erkundigt, und als sie erfahren, daß alle gerettet, und nachdem sie sich nochmals überzeugt hatte, daß dies wirklich ihr schon vermißter Gatte sei, war sie mit einem glücklichen Seufzer wieder in eine wohltätige Ohnmacht gefallen.

Man legte sie in des Kapitäns Bett, weil dieses an Bord des Schiffes das einzige war. Sonst gab es nur Kojen, in die man hineinkriechen muß.

Die neue Ohnmacht währte nur kurze Zeit, und als Sayadamona erwachte, saß ihr vermeintlicher Gatte neben ihr.

Wieder alles ein Glück und eine Seligkeit, als sie nur seine Hand ergreifen durfte, um sie mit Innigkeit an ihre Lippen zu pressen!

»Wo bist du nur so lange gewesen? Ach, was ich für Angst ausgestanden habe! Ist euch ein Unglück zugestoßen?«

Noboby erzählte – dasselbe, was er dem Kapitän über den Untergang der Jacht berichtet. Wenn Sayadamona bei dem Tod der vielen Offiziere, darunter sogar der Neffe des Mikado, ganz ruhig blieb, so war das keine Herzenskälte, sondern die anerzogene Teilnahmlosigkeit der Japanerinnen gegen alles, was nicht die Familie betrifft, in der sie ganz aufgeht – und wenn sie dennoch Schreck zeigte, so war dies nur der Gedanke, daß dadurch ihrem allein zurückkehrenden Manne Unannehmlichkeiten erwachsen könnten.

Nobody wußte sie zu beruhigen. Jetzt berichtete sie ihm, daß es den andern fünf Frauen und neun Kindern zu Hause gut ginge, wie sich alle nach dem Vater sehnten, dann legte sie sich in die Kissen zurück und schloß die Augen.

»Küsse mich!«

Wie leicht wäre es dem Manne geworden, dies zu umgehn, ohne sie deshalb zurückzustoßen. Er hätte einfach von einem Gelübde gesprochen, welches er den Göttern abgelegt, wenn sie ihn aus dem Schiffbruche retteten – von einem Gelübde, nicht eher seine Frau wieder zu umarmen und zu küssen, als bis alle ›weißen Teufel‹ aus Japan hinausgetrieben worden wären – oder sonst etwas Aehnliches – das hatte sich Nobody ja auch vorgenommen, hatte es Gabriele gesagt – aber wäre diese anwesend gewesen, sie selbst hätte sicherlich verlangt, daß er diese junge Frau, die ihn für ihren Gatten hielt, küßte, denn es wäre eine zu fürchterliche Grausamkeit gewesen, jetzt dieser armen Frau einen Wunsch zu versagen.

Ja, Nobody hatte ein gewisses Anrecht auf sie bekommen, die er gerettet, und wäre der wirkliche Baron Nogi jetzt, als er sie geküßt hatte, in die Kabine getreten, er hätte ihm frei ins Auge blicken können.

Die Liebesszene sollte auch nicht allzu lange dauern.

»Was ist das?« stutzte Nobody plötzlich, als er zufällig einen Blick durch das runde Fensterchen geworfen hatte, auch schon durch Kommandos und durch das Laufen der Matrosen an Deck aufmerksam gemacht. »Wir gehn ja zurück?!«

Er eilte an Deck. Der Dampfer hatte gewendet, fuhr zurück, der Kapitän fluchte wieder einmal wie ein Haiducke.

»Warum dampfen wir denn zurück, anstatt in den Hafen einzulaufen?«

»Die Halunken haben mir zusignalisiert, daß ich auf Reede gehen soll, ich darf nicht in den Hafen, und dagegen ist nichts zu machen.«

»Weshalb dürfen Sie denn nicht in den Hafen?«

»Das zu sagen haben die großnasigen Japaner nicht nötig. Aber ich weiß schon, warum. In Waisin munkelte man etwas von der Pest, man hatte tote Ratten gefunden. Nun mag unterdessen die Pest dort wirklich ausgebrochen sein, und da ist ein Schiff natürlich pestverdächtig. Daß mich auch der Teufel reiten mußte, erst noch einmal in Waisin anzulegen, um ein paar Faß Stockfische mitzunehmen. Jetzt kann ich für acht Tage in Quarantäne liegen.«

Der Kapitän schimpfte weiter wie ein Rohrsperling, als aber die japanischen Sanitätsbeamten kamen, war er gegen sie von äußerster Liebenswürdigkeit. Denn in deren Macht stand es, die achttägige Quarantäne auf drei Tage abzukürzen oder sie auch auf acht Wochen zu verlängern.

Als sie den Passagier sahen, welcher des Steuermanns Sommeranzug trug, nahmen sofort alle Beamten militärische Haltung an, und als die Pflicht erledigt war, näherte sich der erste von ihnen, der Offizierrang einnahm, dem vermeintlichen Baron Nogi und gratulierte ihm mit respektvoller Kameradschaftlichkeit zu dem Glück, daß es gerade der heimkehrende Vater gewesen war, der Gattin und Kinder gerettet hatte. Denn die zurückgekehrten Boote hatten unterdessen schon alles erzählt.

Nobody kannte nicht einmal die Namen der Beamten, wußte sich aber geschickt abzufinden. Im übrigen ging es nicht anders zu, als zwischen europäischen Offizieren, wie die Beamten ja auch solche Uniformen trugen.

»Darf ich den Herrn Baron fragen, wie die Segelpartie ausgefallen ist?«

Nobody hätte es gern erst an vorgesetzter Stelle gemeldet, aber da er es schon dem Kapitän erzählt, war es zu spät.

Er berichtete mit kurzen Worten; der Schreck der Beamten war grenzenlos, und sie brauchten diesen jetzt nicht zu verbergen, im Gegenteil, sie mußten ihrem Entsetzen möglichsten Ausdruck geben, denn durch den Tod des Prinzen, kam auch die geheiligte Person des Mikado mit in Betracht, sein Leid war das Leid aller Japaner.

Die Beamten hatten noch an Bord zu tun, und Baron Nogi wurde von einem Matrosen zu seiner Gattin berufen, welche plötzlich zu sterben meinte.

Das weiter hinausgefahrene Schiff war in die bewegte See gekommen, schaukelte stark, und Sayadamona war von der Seekrankheit gepackt worden, zum ersten Male in ihrem Leben, und da war es begreiflich, daß sie gleich zu sterben meinte. Auch die Kinder fühlten sich mehr oder weniger unwohl.

Hier waren tröstende Worte vergebens, Nobody begab sich wieder an Deck und fragte den Sanitätsbeamten, ob er mit Frau und Kindern gleich sein großes Boot zur Fahrt an Land benutzen könne.

Dem Beamten schien diese Frage, die schon mehr Wunsch war, sehr unangenehm zu sein, bis er offen sagte, daß überhaupt niemand das pestverdächtige Schiff verlassen dürfe.

»Sie, Herr Baron, als Passagier erst recht nicht, auch wenn Sie nur unterwegs aufgenommen worden sind. Sie sind schon drei Tage an Bord.«

»Aber meine Frau, meine Kinder – die sind doch eben erst an Bord gekommen, für sie kann die Quarantäne doch nicht gelten!«

»Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, und das sofort.«

Der Sanitätsbeamte, der auch seemännisch ausgebildet war, ließ mit Flaggen nach der Seewarte signalisieren, daß sich an Bord des ›Stag‹ die Frau und fünfzehn Kinder des Baron Nogi befänden, ob diese die Quarantäne brechen und das Land betreten dürften.

Da auch auf der Seewarte der Unfall schon bekannt geworden war, konnte die Meldung sehr abgekürzt werden, wiederholte Verstandenzeichen forderten dazu auf.

Ferner meldete der Sanitätsbeamte, daß die Baronin Nogi ganz bedenklich erkrankt sei, ein längerer Aufenthalt auf dem Schiffe sei lebensgefährlich, von der eigentlichen Ursache, der Seekrankheit, sprach er gar nicht, da der Sanitätsbeamte aber zugleich Arzt war, war seine Aussage kompetent. Auf alle Kinder zugleich konnte er diese kleine Unwahrheit aus Gefälligkeit zu dem Baron freilich nicht ausdehnen.

»Warten!« hieß es auf dem Turme der Seewarte.

Man mußte ziemlich lange warten, ehe die Antwort kam.

»Frau Nogi an Land.«

»Die Kinder auch?« ließ der Beamte nochmals fragen.

»Nein. Schluß!«

Sayadamona wurde in das Boot gebracht. Die Seekranke befand sich in einem derartigen Zustande, daß sie die Trennung von Gatten und Kindern gar nicht empfand. Sie wollte sterben. Sobald sie das Land betrat, würde das vorbei sein, aber dann war es zu spät, und an Bord des pestverdächtigen Schiffes durfte sie auch nicht wieder. Doch schließlich war es ja nur eine vorübergehende Trennung, über die man später lachen würde.

Nobody aber empfand das Dazwischenkommen der Seekrankheit mit der unfreiwilligen Trennung aus leicht begreiflichen Gründen als eine große Wohltat.

Das erste Wiedersehen war vorüber, und traf er dann mit seiner Frau zusammen, in seinem eignen Hause, so konnte er ihr viel eher etwas von einem Gelübde oder dergleichen vorerzählen.

Auch daß er sich nun einige Tage mit den Kindern allein befand, war sehr günstig. Die konnte er leicht über alle Hausverhältnisse ausfragen.

Der Abend war angebrochen, wieder ruhige See bringend. In der Nacht wurde Nobody durch ein Klopfen an seine Kabinentür geweckt.

Ein Offizier sei gekommen und wünsche den Herrn Baron zu sprechen, er warte in der Kajüte.

Schnell kleidete sich Nobody an. Jetzt mußte er jedenfalls Bericht erstatten.

Der junge Offizier, der mitten in der Nacht, in Begleitung zweier Sanitätsbeamten die weite Ruderfahrt gemacht hatte, roch schon von weitem nach Karbol, man hatte ihn schon desinfiziert, ehe er das pestverdächtige Schiff betrat.

»Baron Nogi?« fragte er kurz.

Dem Detektiv fiel sofort etwas auf. Dieser Offizier trug die Uniform eines in Tokio stationierten Regiments. Sollte er da den Baron Nogi, den Adjutanten des Generalfeldmarschalls, nicht kennen, daß er sich erst davon überzeugen mußte, ob es wirklich der Baron Nogi war?

Es konnte ja sein, daß er erst seit einigen Tagen in Tokio war. Dann hätte Nobody es wagen können, ihn erst nach dem Namen zu fragen, ihn als neuen Kameraden zu begrüßen. Nein, der Detektiv wußte ganz bestimmt, daß dieser Offizier, ihn schon kannte, diese Kürze war Instruktion, er sah sogar den mißtrauischen Blick, der auf ihm ruhte.

Was lag hier vor? Gleichgültig, Baron Nogi ließ sich nicht beirren.

»Bin ich! Was gibt's?«

»Auf Befehl des kommandierenden Generals: Sie sollen den Bericht aufsetzen!«

»Welchen Bericht?«

»Ueber die Segelpartie mit der Jacht, über den Schiffbruch.«

»Ist das dem kommandierenden General schon bekannt?«

»Auf Befehl des kommandierenden Generals: Sie sollen diesen Bericht aufsetzen!« wiederholte der junge Offizier in schneidendem Tone.

»Jetzt sofort?«

»Jetzt sofort! Ich warte hier und nehme ihn gleich mit.«

Gut, konnte geschehen! Nobody ließ sich Papier und Feder besorgen und begann zu schreiben. Die Formalitäten kannte er. Aber daß der junge Offizier inzwischen in der Kajüte auf und ab ging und manchmal dem Schreibenden über die Schulter blickte, das gehörte sich auch nicht. Doch Noboby achtete nicht darauf.

Nach einer Stunde war der ausführliche Bericht fertig, der Offizier nahm ihn mit sich, und der Pseudo-Baron ging wieder in seine Kabine, entkleidete sich, legte sich zur Koje und schlief im nächsten Augenblick wieder den Schlaf des Gerechten.

Was hätte es auch für einen Zweck gehabt, über das merkwürdig schroffe Verhalten des Offiziers sich den Kopf, zu zerbrechen? Mensch, ärgere dich nicht! Nobody würde den Grund schon noch früh genug erfahren.

Am nächsten Morgen sehen wir an Bord des auf Reede ankernden Schiffes eine reizende Szene. Schnell war der Anfall von Seekrankheit vorübergegangen, die fünfzehn Kinder waren wieder mobil, und da es draußen etwas regnete, mußte ihnen die große Kajüte als Tummelplatz dienen.

In Tokio war ein europäischer Zirkus mit Menagerie gewesen, die Kinder hatten ihn besucht, sie wollten ›wilde Tiere‹ spielen.

Papa Nobody war der Raubtierbändiger, sperrte sie zwischen Stühle ein und fütterte die heulenden, knurrenden, fauchenden, kratzenden und beißenden Bestien mit Zucker und Biskuits, trieb die Löwen und Tiger und Bären in einen Käfig zusammen, ließ sie über den Stock und durch den Reifen springen, auf dem Schwebebaume balancieren und auch ab und zu in seine Waden beißen.

Dann kam die Zirkusvorstellung daran. Am meisten hatte den kleinen Japanern das stehende Reiten auf ungesatteltem Pferde imponiert, und das ungesattelte Pferd war Papa Nogi, alias Nobody. Also er galoppierte auf Händen und Knien wiehernd im Kreise herum, und die kleinen Kunstreiter und Kunstreiterinnen machten auf seinem Rücken die schwierigsten Sachen. Die festgeschraubten Tische zeigten sich zum Stafettenreiten wie geschaffen, das ungesattelte Pferd galoppierte unten hindurch, und die auf dem Tische stehenden Künstler sprangen ihm auf den Rücken, daß Nobody die Rippen krachten.

Die japanischen Kinder werden so zum Gehorsam erzogen, daß es auch die vornehmste Japanerin für eine Schande hält, beim Spazierenführen der ganzen Bande eine Gouvernante oder sonst eine beaufsichtigende Person mitzunehmen. Die Kinder müssen der Mutter auf einen Augenwink gehorchen.

Ferner dürfte bekannt sein, daß die Japaner Meister im Ringen sind, es wird, wie das Fechten mit blanken Waffen, mit Leidenschaft ausgeübt, in England und Nordamerika gibt es auch viele japanische Lehrer der Ringkunst. Dieses Ringen ist ein ganz andres als das bei uns übliche; ein professioneller Ringkämpfer würde die Herausforderung eines Japaners gar nicht annehmen, weil es sich dabei nur um hinterlistige Kniffe handelt, was jedoch zu entschuldigen ist, da diese Kampfesweise als Verteidigung in der Notwehr betrachtet wird, und wirklich fabelhaft ist es, wie solch ein kleiner, zierlicher Japaner den größten und stärksten Kerl mit einem einzigen Ruck und Zuck zu Falle bringt. In diese Geheimnisse werden in Japan schon die kleinen Knaben eingeweiht, aber sonst sind sich prügelnde Kinder in Japan genau so unbekannt wie in China.

Hier aber zeigte es sich, daß es nur der Gelegenheit bedurfte, um aus den unnatürlich artigen japanischen Kindern genau solche wilde, unbändige Jungen und Mädels zu machen, wie man sie sonst in aller Welt findet.

Als so ein kleiner Strolch gar zu sehr über den Strang haute, zögerte Papa Nobody nicht lange, legte das Kerlchen übers Knie und verwackelte ihm den Hintern, daß es Zeter und Mordio schrie.

Da hatte Papa Nobody aber etwas Schönes angerichtet!

»Mich auch! Mich auch einmal!!« erklang es jubelnd im Chor, und es half alles nichts, der gute Papa mußte einen nach dem andern übers Knie legen und ihn auspochen, die Jungen wie die Mädels, freilich nicht gar zu derb, aber Nobody rann doch der Schweiß von der Stirn, und wer recht artig war, durfte noch einmal drankommen.

Die japanischen Kinder kannten das ›Uebersknielegen‹ noch nicht, und das machte ihnen nun ein Teufelsvergnügen, besonders, daß sie dabei so recht nach Herzenslust brüllen konnten. Eigentlich hätte Nobody das gar nicht tun dürfen, dadurch hätte er sich verraten können, denn das war eben nicht japanisch.

»Papa, das hast du wohl auf der einsamen Insel gelernt, wo du die Vogeleier gegessen hast?«

Jawohl, und Papa Nogi hatte als Schiffbrüchiger auf der weltverlassenen Vogelklippe für seine Kinder auch noch ein andres Spielchen ausgegrübelt. Er hatte auf der Vogelklippe eben geniale Gedanken gehabt. Da man nun einmal beim Hauen war, wurde das edle ›Schinkenklopfen‹ arrangiert.

Nobody setzte sich auf einen Stuhl, ein Kind legte den Kopf in seinen Schoß, die andern vierzehn Kinder stellten sich im Halbkreise herum, nacheinander schlug jeder den Betreffenden auf sein Hinterteil, bis das Opfer erriet, wer ihn geschlagen hatte, worauf nun dieser eine mehr oder minder große Portion Prügel über sich ergehn lassen mußte. Ach, war das ein Jubel! Und Papa Nogi lachte, daß ihm die Tränen über die Backen kollerten.

Als das edle Spielchen im besten Gange war, wurde es leider unterbrochen.

»Es sind ein paar Herren gekommen, die Sie sprechen wollen,« meldete ein Matrose.

Nobody beschwichtigte die Kinder und begab sich hinaus. In dem Vorraum zur Kajüte standen ein nobel gekleideter Herr und zwei handfeste Männer, lauter Japaner.

»Was wünschen Sie?«

»Sind Sie Baron Nogi, Leutnant im ersten Garderegiment?«

»Der bin ich.«

»Im Namen des Mikado: Sie sind verhaftet!«

Der Herr zog ein Pergament hervor, welches er jenem ausgebreitet zum Lesen hinhielt. Die japanische Schrift legitimierte den Inhaber als Kaiserlichen Kriminalkommissar, welcher beauftragt war, den an Bord des englischen Dampfers ›Stag‹ befindlichen Baron Kata Nogi zu verhaften und ins Untersuchungsgefängnis abzuliefern.

Unserm Nobody war das überhaupt höchst gleichgültig, das versprach ihm nur ein interessantes Abenteuer, das nicht in seiner Berechnung gelegen hatte, so etwas liebte er ja, und als Japaner durfte er keine Unruhe zeigen.

Fragen aber war ihm gestattet. »Weshalb?«

»Dies zu erklären halte ich nicht für nötig, auch wenn ich es wüßte.«

»Ist in Ihrer Begleitung ein Offizier?«

»Nein.«

»Ich bin Offizier, ich kann nur von einem Offizier verhaftet werden.«

»Aber nicht, wenn es sich um eine kriminelle Verhaftung handelt. Ich verhafte Sie auf Kaiserlichen Befehl. Wollen Sie mir folgen?«

»Ich gehorche dem Kaiserlichen Befehl. Lassen Sie mich nur noch einmal zu meinen Kindern gehn.«

Die Beamten warteten draußen, während Nobody in die Kajüte ging und den Kindern sagte, er wolle nur die Mama holen, käme gleich wieder.

In seiner Kabine hatte er nichts mehr zu tun, bekam auch den Kapitän nicht wieder zu sehen. Bei dem Steuermann bedankte er sich, sagte, es würde alles in Ordnung gebracht, dann folgte er den Männern ins Boot, in welchem sich auch ein Sanitätsbeamter befand, der zur Begleitung nach dem pestverdächtigen Schiffe unerläßlich war.

Während der Ueberfahrt nach dem Lande hing Nobody keinen Grübeleien nach. Er würde es ja sehr bald erfahren, warum er, noch dazu auf solch brüske Weise, wie ein Verbrecher, verhaftet worden war.

Zuerst wurde er nach einer Sanitätsstation gebracht, wo er ein desinfizierendes Bad nehmen mußte. Die ihn bedienenden Japaner waren gegen den Baron Nogi von aufmerksamster Unterwürfigkeit; er erhielt einen neuen Anzug, in dem sich jeder Gentleman sehen lassen konnte, und als er sich dem Kriminalkommissar wieder zur Verfügung stellte, wurde die Fahrt in einem geschlossenen Zweispänner mit zugezogenen Fenstergardinen fortgesetzt. Den Kommissar über sein Schicksal zu befragen, mußte Baron Nogi und überhaupt ein Japaner unter seiner Würde halten.

Der Wagen hielt vor einem großen Gebäude; eine Zelle nahm den Untersuchungsgefangenen auf.

»Wann komme ich vor den Richter?« fragte er den Beamten, der ihn begleitet hatte.

»Spätestens innerhalb 24 Stunden, doch kann ich Ihnen sagen, daß die richterliche Untersuchungskommission sofort zusammentritt.«

»Ich komme doch vor ein Militärgericht?«

»Nein, vor das bürgerliche.«

Das war es, was Nobody am meisten frappierte. Er hatte seinen Urlaub nur um einige Tage überschritten. Deswegen wollte er sich verantworten, aber das ging doch nur seine vorgesetzte Militärbehörde etwas an. Was konnte er dafür, daß jene Offiziere und der Neffe des Mikado ihren Tod bei der Segelpartie gefunden hatten? Da konnte doch immer wieder nur ein Militärgericht von ihm Rechenschaft fordern. Oder hatte der wirkliche Baron Nogi etwas auf dem Kerbholz, was ihn vor den Staatsanwalt brachte? Nobody zweifelte daran.

Jedenfalls nahm Nobody diesen unberechneten Zwischenfall durchaus nicht tragisch, ganz im Gegenteil, er wollte sich schon durchhelfen, und wenn er nun einmal die Rolle des wegen irgend etwas angeklagten Baron Nogi spielte, so wollte er diesen herausbeißen, daß jener seine Freude an ihm gehabt hätte.

Er brauchte nicht lange zu warten, so öffnete sich wieder die Zellentür, Nobody wurde von zwei Männern in die Mitte genommen und nach Passieren einiger Korridore in einen Saal geführt.

Hinter Tischen saßen einige alte Japaner in Nationaltracht, die zur Seite auf Stühlen Sitzenden trugen entweder militärische Uniformen oder moderne Kleidung. Die Galerien waren leer, das Publikum hatte zu dieser Voruntersuchung also keinen Zutritt. Es ging alles sehr schnell. Der mittelste Richter blätterte noch einmal in seinen Akten und erhob sich.

»Wie heißen Sie?«

»Baron Kata Nogi.«

»Was sind Sie?«

»Leutnant im Kaiserlichen Gardedragonerregiment.«

»Lebt Ihr Vater noch?«

»Ja.«

»Was ist er?«

»Schatzkämmerer am Hofe des Mikado.«

»Haben Sie dies geschrieben?«

Nobody bekam den Bericht zu lesen, den er diese Nacht geschrieben hatte.

»Ja.«

»Gut. Wir sind nicht mehr im unklaren, wer Sie sein wollen. Sie sind verhaftet worden und stehn vor dem Untersuchungsrichter, weil behauptet worden ist, daß Sie gar nicht dieser Baron Kata Nogi sind.«

Au weh!! Das hätte freilich nicht kommen dürfen! Jetzt konnte er nur gleich die ganze Komödie aufgeben.

Die brauchten ja nur zu verlangen, er solle die Einrichtung seines Wohnzimmers beschreiben, oder wie die Fassade seines Hauses aussah. Das konnte er schon nicht. Auf so etwas war Nobody nicht geeicht. Aber er beschloß im Augenblick, erst einmal die beleidigte Unschuld zu spielen. Vor allen Dingen wollte er erfahren, wie man auf den Verdacht gekommen war, daß er nicht der echte Baron Nogi sei, wo ihn doch sogar Frau und Kinder als solchen anerkannt und er sich bisher noch nicht die geringste Blöße gegeben hatte.

So war sein grenzenlos erstauntes Gesicht ganz der Situation entsprechend.

»Was?! Ich – wäre – nicht – der – Baron Nogi?!«

»Eine große Aehnlichkeit, nichts weiter. Ich gestehe, daß auch ich Sie für den Baron Nogi halten könnte.«

»Na, ich werde doch am besten wissen, wer ich bin, hahaha!«

»Mäßigen Sie sich, Sie stehn vor dem Richter.«

Nobody wurde wieder ernst.

»Wer wagt denn zu behaupten, daß ich nicht der Baron Nogi wäre?«

»Zunächst die Sanitätsbeamten, welche Sie gestern zuerst an Bord des englischen Dampfers sahen.«

»Gerade diese haben mich zuerst als Baron Nogi begrüßt.«

»Ja, wie sollten sie aber auch gleich auf den Verdacht kommen, daß sich ein andrer für Baron Nogi ausgeben könnte? Sie haben den Argwohn erst hinterher gefaßt.«

»Was für einen Argwohn?«

»Daß Sie nicht der Baron Nogi sind.«

»Ja, aber worauf fußt dieser Argwohn?«

»Das werden Sie gleich dann erfahren.«

»Ich berufe mich auf das Zeugnis meiner Kinder und meiner Frau, welche mich als Vater und Gatten erkannt haben.«

»Gerade die Frau Baronin Nogi ist die Hauptklägerin, daß Sie nicht ihr Gatte sein können.«

Jetzt wurde Nobody doch äußerst betroffen, und er verlieh seinem ersten Gedanken lauten Ausdruck. »Hier wird eine Intrige gegen mich gesponnen!!« rief er mit schallender Stimme.

»Sie stehn hier vor dem unparteiischen Richter,« war die würdevolle Ermahnung. »Außerdem ist diese Handschrift hier, die wirklich von Ihnen stammt, gar nicht die des Barons Nogi.«

Oho! Nobody wußte ganz bestimmt, daß die beiden Handschriften niemand, auch nicht der geübteste Sachverständige voneinander unterscheiden konnte.

»Baron Monio Nogi!« rief der Richter.

Einer derjenigen im Kreise Sitzenden, welche japanische Kostüme trugen, ein würdiger Greis, erhob sich.

»Angeklagter, kennen Sie diesen Mann?« wendete sich der Richter zuvor wieder an den in der Box Stehenden.

Nobody stutzte. Was sollte das? War dieser japanische Richter wirklich so dumm, daß er erst einen Mann mit Namen aufrief und hinterher den, welchen er greifen wollte, fragte, wer das sei?

Oder war es eine Falle? Gleichgültig, Nobody beschloß, mit Absicht hineinzugehn, um sich dann wieder herauszuhelfen.

»Das ist mein Vater. – Vater, bin ich dein Sohn, oder bin ich es nicht?«

Der Alte musterte ihn, dann schüttelte er das graue Haupt.

»Er sieht meinem Sohne wohl sehr ähnlich, aber er ist es nicht, ich höre es gleich an der Stimme.«

Jetzt wurde Nobody wirklich ganz perplex. So war dies also tatsächlich sein Vater? Und der Richter hatte ihn erst darauf aufmerksam gemacht? Er wußte gar nicht mehr, was er davon denken sollte.

Offiziere und Zivilisten wurden aufgerufen, sie betrachteten den Untersuchungsgefangenen von allen Seiten und gaben dann einstimmig dasselbe Urteil wie der alte Schatzkämmerer ab, daß jener dem Baron Kata Nogi wohl sehr ähnlich sehe, daß aber doch ein gewisser Unterschied vorhanden sei. Nein, das wäre der Baron Kata Nogi nicht.

»Ich berufe mich auf das Zeugnis meiner Frau, daß ich es doch bin!« beharrte Nobody trotzig.

Eine Seitentür öffnete sich, eine Japanerin ward hereingeführt – Sayadamona. Sie sah sehr bleich aus, mit der größten Angst hafteten ihre Augen an dem Manne, der in der Box stand.

»Sayadamona,« begann Nobody sofort, »ich, der ich gestern dich und zwei unsrer Kinder gerettet habe, ich frage dich ...«

»Ruhe!« gebot der Richter. »Sayadamona Nogi, erkennst du in diesem Mann deinen Gatten, den Baron Kata Nogi?«

Lange blieb die Antwort aus, immer ängstlicher blickte die junge Frau den ihr bezeichneten Mann an.

»Nun?«

»Nein!!« kam es da gellend von ihren Lippen, und gleichzeitig brach sie zusammen, sie mußte hinausgetragen werden.

Und sie hält mich dennoch für ihren Gatten, sagte sich Nobody, ich weiß es ganz bestimmt, es ist ihr befohlen worden, mich zu verleugnen, und ebenso sind alle andern überzeugt, daß ich wirklich der Baron Nogi bin, sie zeugen wider ihr besseres Wissen gegen mich. Was in aller Welt ist das nur für eine Intrige, die man gegen mich oder vielmehr gegen Baron Nogi vorhat?

»Der Unterschied in der Handschrift hätte auch schon genügt, um zu beweisen, daß Sie nicht Baron Kata Nogi sind,« fuhr der Richter fort.

»Na, wer soll ich denn da eigentlich sein?« nahm Nobody jetzt zum Spott seine Zuflucht.

»Sie sind der Mann, welcher in der letzten Minute, ehe Baron Nogis Jacht in See ging, noch an Bord kam und die Fahrt mitmachte.«

»Das ist mir ganz neu.«

»Leugnen Sie es nicht, Sie sind erkannt worden.«

»Von wem?«

»Von zwei Matrosen.«

»Und als wen haben die mich denn erkannt? Wer soll ich denn eigentlich sein?«

Da hob der Richter seinen Arm gegen den Angeklagte und sagte, jedes Wort betonend: »Sie – sind – der – amerikanische Detektiv – Nobody!«

Bombenelement! Nobody glaubte wirklich, er höre eine Bombe platzen. Noch lieber aber hätte er geglaubt, daß er nur träume.

Wie konnten die wissen, daß ...

Da sah er über die Schulter des Richters plötzlich einen Kopf mit einem pfiffigen Gesicht auftauchen, dieser Kopf nickte ihm nochmals energisch zu – und Nobody ließ seine Blicke im Kreise umherwandern, überall bemerkte er ein leises Augenblinzeln, auch von andern wurden die Köpfe ganz heimlich bejahend bewegt ...

Da ging Nobody eine Ahnung auf.

»Gestehn Sie, daß Sie dieser Nobody sind?« fragte der Richter.

»Ja denn, ich gestehe es!«

»Führt den Angeklagten wieder in seine Zelle zurück!« –

Nobody war wieder in seiner Zelle und mit seinen Gedanken allein. Rastlos wanderte er auf und ab, und es ward ihm schwer, in diese auf ihn einstürmenden Gedanken Ordnung zu schaffen – viel schwerer als ihm eine Flucht von hier werden würde.

Sollte er abwarten, wie sich das noch weiter entwickeln würde, oder sollte er sich noch heute nacht den Weg zur Freiheit bahnen?

Dazu mußte er erst das Gitterfenster untersuchen, aber da die Zellentür ein Fensterchen besaß, durch welches er jeden Augenblick beobachtet werden konnte, so wollte er erst den Anbruch der Dunkelheit abwarten.

Die Dunkelheit brach an – da kam der Schließer und brachte eine brennende Petroleumlampe. Das war fatal.

»Ich brauche keine ...«

Nobody verstummte. Dem Schließer war noch ein andrer Mann in die Zelle gefolgt, ein alter Japaner in Nationaltracht. Nobody erkannte ihn sofort wieder: das war der alte Baron Monio Nogi! Dann kam vielleicht jetzt unter vier Augen auch die Lösung der Rätsel. Oder wollte der Alte nur Näheres über das Schicksal seines Sohnes erfahren, den er für tot hielt?

Der Schließer hatte die Lampe auf den Tisch gesetzt und war wieder gegangen. Baron Monio blickte sich zuerst einmal nach dem Fensterchen um.

»Wir sind hier ganz ungestört; bei Todesstrafe darf uns niemand beobachten oder gar belauschen.«

Dann schlich er zu Nobody hin und klopfte ihm mit freundlichem Lächeln auf die Schulter.

»Sehr gut gemacht, mein Sohn, das hast du sehr gut gemacht.«

War das wieder eine jener Fallen, in denen die Japaner so groß sind?

Nein, Nobody konnte dem Menschen durch das Auge ins Herz blicken, und in dem Herzen dieses alten Mannes las er nur väterlichen Stolz auf seinen Sohn.

Trotzdem konnte er ja die Probe machen, auch er konnte eine Falle stellen.

Mit einer abwehrenden Handbewegung trat er zurück.

»Nennen Sie mich nicht Ihren Sohn! Ich bin ein Gefangener, Sie sind ein freier Mann.«

Der Alte tat etwas erstaunt.

»I, sei doch nicht so komisch,« sagte er dann beschwichtigend. »Freilich ist ein furchtbarer Fehler begangen worden, durch welchen du schwer gedemütigt wurdest, und wodurch alles hätte mißglücken können, aber deine Klugheit und rasche Fassungsgabe hat ja alles wieder gutgemacht.«

Nobody horchte hoch auf, und jetzt konnte er auch fragen:

»Was für ein Fehler?«

»Es war doch Leutnant Timitti, welcher heute nacht zu dir kam und dir den schriftlichen Bericht abforderte?«

»Jawohl, es war Leutnant Timitti,« bestätigte Nobody dreist.

»Es hatte aber Leutnant Dimodi sein sollen, der war beauftragt, dich in alles einzuweihen, verstehst du? Es war eine Namensverwechslung, und wie die Verwechslung sonst zustande kam, will ich dir später erklären. Anstatt daß dich nun Leutnant Dimodi in alles einweihte, hat dich Leutnant Timitti schon für den Betrüger gehalten, der sich für den Baron Kata Nogi ausgibt, hihihi.«

Der Alte kicherte vor sich hin, und Nobody ging jetzt eine Ahnung auf, daß er sein Spiel doch noch nicht verloren hatte.

»Aahh so!« sagte er langgedehnt, obgleich er in Wirklichkeit noch gar nichts wußte, und dann durfte er hinzusetzen: »Ja, in was sollte mich denn Leutnant Dimodi eigentlich einweihen?«

»Nun, daß du dich eben für einen falschen Baron Nogi ausgeben sollst, und daß du ... nein, ich verstehe schon, du kannst noch von gar nichts wissen. Hier, setz dich her, ich will dir ausführlich erzählen.«

Sie setzten sich, und Nobody war nicht wenig gespannt auf das, was er nun zu hören bekommen würde. Die Sache schien ja immer verwickelter zu werden.

»Es war dir doch schon im Vertrauen mitgeteilt worden, daß du nächstens in geheimer Mission nach Petersburg gehn solltest,« begann der Alte.

»Jawohl, wenigstens im Vertrauen wurde es mir gesagt.«

»Oberst Kaluno hatte es dir verraten.«

»Ganz richtig, Oberst Kaluno. Wie geht es dem eigentlich?«

»Der ist doch schon seit drei Monaten tot!!« rief der Alte erstaunt.

»Ach so – ja – ich dachte an den andern! Nun, und?«

»Unterdessen hat es sich etwas geändert, oder aber, wir haben alles erst jetzt richtig erfahren. Im russischen Kriegsministerium zu Petersburg ist der Plan ausgearbeitet worden, wie Rußland die Mandschurei besetzen will und sich bei Einmischung von andern Mächten diesen gegenüber verhalten wird, speziell zu Japan. Daß dieser Plan mit Erwägung aller Kriegseventualitäten fix und fertig ausgearbeitet im geheimen Kabinett liegt, wissen wir hier bestimmt. Jetzt handelt es sich darum, in diesen Kriegsplan Einblick zu nehmen, ihn womöglich zu kopieren. Hierzu warst du von vornherein ausersehen. Kein Mensch in Japan kann diese Aufgabe so gut lösen wie du. Aus einem ganz besondern Grunde! Aber gerade bei dir ist ein Hindernis vorhanden. Kennst du die Gräfin Anita Urlewsky?«

Wenn die Frage so gestellt wurde, durfte Nobody getrost verneinen.

»Anita Urlewsky, eine geborene Italienerin, ist die geschiedene Frau des Grafen Urlewsky. Sie hat überhaupt eine dunkle Vergangenheit hinter sich, sie ist eine Abenteurerin gewesen und ist es schließlich noch heute. Das hindert aber nicht, daß das Haus des ebenso schönen wie geistvollen und nicht minder kapriziösen Weibes der Mittelpunkt der schöngeistigen und besonders auch der politischen Welt Petersburgs ist. Dies kommt mit daher, weil sie die ausgehaltene Maitresse des verwitweten Grafen Alexei Petrof ist, des russischen Kolonialministers. Obgleich dieser ganz genau weiß, daß ihm die Gräfin Anita durchaus nicht treu ist – es ist stadtbekannt, daß sie sich jedem Abenteurer hingibt – liegt er doch wie ein Sklave zu ihren Füßen. Außerdem vertraut er ihr vollkommen, sie ist so gut wie seine Sekretärin, seine Mitarbeiterin, und in die tiefsten politischen Geheimnisse eingeweiht. Verstehst du nun, um was es sich handelt? Der mußt du den Kopf verdrehen, daß sie dir den geheimen Kriegsplan ausliefert.«

Hui, dachte Nobody, ist denn der Baron Nogi als solch ein gefährlicher Don Juan bekannt? Davon hat er mir in der Hypnose gar nichts verraten.

»Nein, ich verstehe nicht so ganz,« entgegnete er jetzt. »Du gibst mir von dieser Frau ein unklares Bild. Du sagst, es sei stadtbekannt, daß sie sich jedem Abenteurer hingibt, und in demselben Atemzuge sagst du auch, sie sei die Vertraute eines Ministers, von dem sie in die tiefsten Geheimnisse eingeweiht würde. Wie reimt sich das zusammen? Dem würde die Regierung doch bald einen Dämpfer aufsetzen.«

»Und ich könnte dem entgegnen: das liegt eben in den russischen Verhältnissen. Alles ist von oben bis unten bis ins Mark verfault, und der Beamte, der am meisten stiehlt, tut seine Pflicht am besten. In diesem Falle trifft das aber gar nicht zu. Die Gräfin ist ein ganz rätselhaftes Weib. Sie ist eine Sphinx. Du wirst sie ja noch genau kennen lernen, und an höherer Stelle wirst du auch noch nähere Offenbarungen erhalten. Ja, wohl schwärmt sie für Exzentrizitäten aller Art, jeder Abenteurer ist ihr willkommen, je toller, desto besser, aber ... sie ist dem Manne, der sie aushält und der sich ihr anvertraut, treu. Das heißt, nicht in bezug auf die Liebe – über solche veraltete Ansichten ist die Gräfin Urlewsky erhaben – aber in bezug auf die Geheimhaltung dessen, was man ihr anvertraut. Da ist sie treu wie Gold. Ein ganz außergewöhnliches Weib, diese Urlewsky! Wer sich ihr anvertraut, den verrät sie nicht, da läßt sie lieber ihr Leben. Hierfür hat sie auch schon einen Beweis geliefert.«

»Sie war bereit, ihr Leben zu opfern?«

»Mehr noch, wenigstens für eine Frau, welche weiß, daß sie schön ist und bewundert werden will. Der kleine Finger an ihrer linken Hand ist verkrüppelt. Es war im letzten russisch-türkischen Kriege. Sie war damals fast noch ein Kind. Da fiel sie bei der Belagerung einer Festung den Feinden in die Hände. Sie sollte das Losungswort sagen, welches das Festungstor öffnete. Ein türkischer Offizier setzte ihr die Pistole vor die Stirn. Ein Wort konnte sie retten. Da legte die kleine Anita ihre Hand auf eine glühende Ofenplatte, neben der sie stand, und während ihre Hand fast briet, schaute sie lächelnd den Türken an, der ihr mit der Pistole drohte. Davon ist ihr der verkrüppelte Finger geblieben.«

»Großartig, einfach großartig!!« rief Nobody und sah dabei ganz verklärt aus. »Und was sagte der türkische Offizier?«

»Was der sagte? ›Schade, daß du kein Türke bist!‹ Und mit Ehrenbezeugungen überschüttet, ward Anita zurück in die belagerte Festung gebracht.«

Den Kriegsplan werde ich den Japanern verschaffen, sagte sich Nobody sofort, aber nicht durch die Vermittlung dieses heldenhaften Weibes, die soll meinetwegen keinen Treubruch begehn. Kaufen werde ich sie mir trotzdem, die muß mir gehören, koste sie, was sie wolle, die muß mit nach meiner Insel.

Und laut fragte er:

»Wenn das aber solch ein Weib ist, wird es mir denn da gelingen, die Gräfin so weit zu bringen, daß sie mir den geheimen Plan ausliefert?«

»Dir?« lächelte der alte Schatzkämmerer. »Wenn du so sprichst, dann kennst du dich ja selbst noch nicht einmal. Sieh doch nur, wie dir hier alle die weißen Frauen nachrennen! Die sind ja alle ganz vernarrt in dich! Da ist die Tochter des russischen Gesandten, die kannst du doch auch um den Finger wickeln, während sie sonst von keinem ihrer weißen Landsleute etwas wissen will. Das liegt in deinem Blick, in deinem Auftreten, in deinem ganzen ritterlichen Wesen, du entstammst eben dem berühmtesten Geschlecht der Samurais. Ach, das wird ja so einfach! Mag die exzentrische Gräfin bisher die Liebe auch nur als eine Spielerei betrachtet haben, du zwingst sie doch noch nieder und bändigst sie, wie du noch jedes Weib gebändigt hast, bis es gehorsam zu deinen Füßen lag.«

Hui, dachte Nobody wiederum, seht einmal diesen Baron Nogi an, was das für ein Schwerenöter ist! Und dessen Rolle muß ich nun spielen! Es ist doch gut, daß meine Frau von dieser Eigenschaft meines Doppelgängers nichts weiß.

»Nun ist es selbstverständlich,« fuhr der Alte fort, »daß ein Baron Kata Nogi so etwas nicht unternehmen kann. Ich meine, nicht unter seinem Namen. Du bist verheiratet, und wenn man das auch dort noch nicht weiß, so wird man es doch schnell genug erfahren, du kannst dich der Maitresse des Ministers nicht mehr als glühender Verehrer nähern, und überhaupt, als Baron Nogi, als Adjutant des Generalsfeldmarschalls, und wo du auch schon eine politische Rolle gespielt hast, da würde man bei unserm gespannten Verhältnis mit Rußland sofort Verdacht schöpfen ...«

»Ich verstehe, ich verstehe,« fiel ihm Nobody ins Wort, »als Baron Kata Nogi kann ich mich nicht auf dieses Unternehmen einlassen. Ah, ihr wünscht also, daß ich vorgeblich mit bei dem Schiffbruch der Jacht meinen Tod gefunden haben soll?!«

»Mein Sohn, du bist scharfsinnig wie immer,« zollte ihm der Alte Beifall. »So ist es. In geheimen Sitzungen wurde schon immer beraten, wie man dich wegen jener Sache nach Petersburg schicken könne, ohne daß du als Baron Nogi erkannt wirst. Das ist gar nicht so einfach. Eine Maskierung würde da nichts helfen. Du, der Günstling des Mikado, bist auch der Liebling des ganzen japanischen Volkes, du kannst nicht so einfach verschwinden; unsre Zeitungen würden förmlich gezwungen werden, deine Abwesenheit zu motivieren, und da genügte nicht, so einfach zu sagen, man hätte dich ins Ausland geschickt. Das Volk würde Rechenschaft verlangen, wohin, wozu, und so würden die Zeitungen die Sache breittreten. Ueberdies werden unsre japanischen Zeitungen auch in Petersburg genau gelesen. Kurz, man hätte sich mit deinem Verschwinden beschäftigt und wäre sehr leicht auf die Spur gekommen, daß der Abenteurer, der sich um die Gunst der Gräfin Urlewsky bewirbt, und Baron Kata Nogi ein und dieselbe Person sind.

»Da verbreiteten die von der Spazierfahrt zurückkommenden Boote, die Kunde, wie die Baronin Nogi und ihre Kinder verunglückt waren und kein andrer als der eigne Gatte und Vater sie gerettet habe. Du warst also von der Segelpartie zurückgekehrt. Wir vermuteten aber, die ganze Gesellschaft befände sich an Bord des englischen Dampfers. Solch ein furchtbares Unglück konnte ja niemand ahnen. Die Sanitätsbeamten kamen an Bord, sie brachten deine Erzählung mit zurück, du seist der einzigste der die Katastrophe überlebt hätte!

»In Waninos klugem Kopfe tauchte zuerst der Plan auf. Er eilte zum Minister. Schnell wurde eine geheime Sitzung abgehalten.

»Da kam auch die Anfrage des Sanitätsbeamten, ob deine Frau und Kinder das pestverdächtige Schiff verlassen dürften. Jawohl, wenigstens deine Frau mußte man ins Vertrauen ziehen.

»Der Entschluß wurde gefaßt. Freilich war es unterdessen Abend geworden, ehe man sich über alles klar ward. Leutnant Dimodi sollte dir den Bericht abfordern, die Hauptsache aber war, daß er dir Instruktionen betreffs dessen gab, was man mit dir vorhatte, was du vor dem Richter auszusagen hattest.

»Es war folgendes beschlossen worden: Du bist ein Abenteurer, ein Hochstapler. Seit einiger Zeit hast du die Bekanntschaft des Barons Kata Nogi gemacht und sein Vertrauen zu erwerben gewußt. Du siehst ihm sehr ähnlich und schließt dich der Segelpartie an. Ihr erleidet Schiffbruch. Alle gehn unter. Auch Baron Nogi siehst du in den Wellen versinken. Nur du rettest dich auf eine Vogelklippe. Da kommt dir der Gedanke; du willst die Rolle des Barons Kata Nogi spielen! Das kannst du um so eher, weil du dich wenig in der Öffentlichkeit hast sehen lassen, niemand weiß, daß du mit Kata Nogi verkehrt hast. Aber sonst bist du imstande, seine Rolle zu spielen. Nun wird auch noch das Unglück der Frau und Kinder dein Glück, zufällig mußt gerade du es sein, der sie rettet. – Uebrigens wieder eine Tat, wie sie nur mein Sohn fertig bringt,« setzte der Alte hinzu.

»Es lag im Ratschluß der Götter, die mir stets gnädig gesinnt waren, schon dadurch, daß sie mich den Sohn solch eines vorzüglichen Mannes werden ließen,« wehrte der japanische Nobody bescheiden ab. »Dies also sollte mir Leutnant Dimodi mitteilen.«

»Jawohl. Aber in der Eile, mit welcher gehandelt werden mußte, entstand – durch die ähnlich lautenden Namen eine Verwechslung. Leutnant Dimodi wurde durch ein Versehen zurückgehalten, statt seiner ging Leutnant Timitti ab, der aber nur wußte, daß er dir den Bericht abfordern solle und irrtümlich, weil er nur etwas davon gehört hatte, der Meinung war, daß du wirklich ein falscher Baron seiest.«

»Ja, das merkte ich an seinem Betragen. Und wofür hält mich Sayadamona? Glaubt auch sie, ein falscher Baron hätte sie gerettet und sie geküßt?«

»Nein. Sayadamona ist eingeweiht worden, und Sayadamona ist im Gehorsam erzogen. Aber es ward ihr schwer, dich öffentlich zu verleugnen, es griff sie so an, daß sie in Ohnmacht fiel.«

»Weiß sie, weshalb ich nach Petersburg gehe, daß ich dort ein schönes Weib verführen soll?«

Nobody interessierte sich im Augenblicke mehr für die junge Frau seines Doppelgängers als für alles andre.

»Nein, das braucht sie nicht zu erfahren, wir haben ihr etwas andres erzählt, du müßtest eben auf eine geheimzuhaltende Reise. Und was wäre schließlich dabei, wenn sie wüßte, zu welchem Zwecke du nach Petersburg gehst? Was hat sich eine Japanerin um das Tun und Lassen ihres Mannes zu kümmern? Sayadamona aber ist eine echte Japanerin.«

Trotzdem! Nobody, der viel mehr Herz hatte, als er vorgab, empfand es als eine Wohltat, daß Sayadamona nichts hiervon erfuhr.

»War der Richter eingeweiht?« fragte er dann weiter.

»Ja, wir alle, die Ankläger und Zeugen, gehörten sämtlich zum gelben Drachen.«

Aha! Also auch der gute Papa war Mitglied dieser gefährlichen Verbindung.

Das war aber auch der Beweis, daß Nobody jetzt keine Falle mehr zu fürchten hatte, er wurde wirklich für den echten Baron Kata Nogi gehalten. Denn Nobody konnte in gewissen Fällen überaus mißtrauisch sein.

»Da aber,« fuhr der Alte fort, »ging uns eine fatale Erkenntnis auf. Erst im letzten Augenblick, als wir schon im Gerichtssaale saßen und du vorgeführt werden solltest, erfuhren wir zufällig, daß du überhaupt gar nicht vorbereitet worden warst! Das war eine schöne Geschichte! Zum Glück machte der Richter seine Sache sehr gut, er legte dir die Antworten immer in den Mund – aber noch besser, mein Sohn, hast du deine Sache gemacht. Ist es denn nur möglich, ahntest du denn gleich, was wir mit dir vorhatten?«

Der Alte konnte sich nicht enthalten, dem Sohne liebevoll den Kopf zu streicheln, auf welchen dieser nicht gefallen war.

»Natürlich, natürlich! Eine Ahnung ging mir gleich auf, ich sah doch auch euer Kopfnicken, wenn ich auch noch nicht im geringsten wußte, wohinaus ihr eigentlich wolltet. – Ja, was ist denn das aber für einer gewesen, den ich vorstellen sollte, der ... der ... wie war gleich der Name?«

»Nobody,« kam der alte Schatzkämmerer dem Sohne zu Hilfe.

»Ja, Nobody! Wie kamt ihr gerade auf den?«

»Hast du noch nichts von diesem Nobody gehört?«

Diese Frage war vortrefflich! Denn Nobody hätte nicht so ohne weiteres wagen dürfen, seine Unkenntnis zu verraten. »Nein.«

»Das ist ein amerikanischer Detektiv, der seine Abenteuer in einer New-Yorker Zeitung beschreibt; ›Worlds Magazine‹ heißt das Blatt.«

»So, so. Und dieser Nobody soll ich sein?«

»Ja. Es hatte jemand diesen Einfall gehabt. Dieser Detektiv macht gerade jetzt sehr viel von sich reden, und irgend jemand mußte es doch sein.«

»Aber wie leicht hätte herauskommen können, daß ich nicht dieser Nobody bin! Wenn der nun jetzt aufgetreten wäre, euch zur Rechenschaft gezogen hätte, wie ihr einen Mann, den ihr als Abenteurer, Hochstapler und Betrüger anklagt, mit seiner ehrenwerten Person identifiziert?«

»I, dieser Nobody existiert doch gar nicht,« kicherte der Alte.

»Existiert gar nicht?«

»I wo, das ist doch nur eine vorgebliche Person, eine Phantasiegestalt, die ihre erfundenen Abenteuer in jener Zeitung veröffentlicht, um die Leser zu unterhalten.«

Wartet, dachte der gar nicht existierende Nobody, ich will euch noch einmal einen Beweis davon geben, daß diese Phantasiegestalt wirklich leibt und lebt – einen Beweis, daß euch die Haare zu Berge stehn sollen!

»Aber,« fuhr der Alte fort, »das Publikum glaubt, wie es so oft mit Romanfiguren passiert, wirklich an seine Existenz. Der chinesische Gesandte ist auch so einer, der sich für so etwas interessiert, der erzählt uns viel davon, und daher sind wir über diesen amerikanischen Detektiv, obgleich er gar nicht lebt, genau orientiert. Nun wird er auch als ein großartiger Verwandlungskünstler hingestellt, der sein Gesicht und wohl gar seine Nase verändern, eben das Aussehen jedes Menschen annehmen kann, und das paßte alles so vortrefflich für unsre Zwecke, und da wollten wir eben das Gerücht aussprengen, der falsche Baron Kata Nogi sei jener Nobody, und daraufhin solltest du auch vorbereitet werden.«

Na wartet, dachte der gar nicht lebende Nobody wiederum, ihr sollt mich noch einmal zur Genüge kennen lernen!

»Ja, wir dachten sogar daran, ob du dich nicht als dieser Nobody bei der Gräfin Urlewsky einführen könntest. Denn die schwärmt für alles Abenteuerliche und Sensationelle. Was meinst du, willst du die Rolle dieses Romanhelden in Wirklichkeit spielen?«

Jetzt hätte Nobody dem Alten so gern einmal ins Gesicht gelacht.

Nobody tritt als Baron Nogi auf, und jetzt soll der falsche Baron Nogi den echten Nobody spielen! Das war ja köstlich!

Aber Nobody war nicht sogleich bereit, das mußte er sich wenigstens noch reiflich überlegen, und vorläufig wußte er eine Ausrede.

»Da wäre doch ein großes Hindernis vorhanden.«

»Welches?«

»Wenn dieser Nobody, von dem ich jetzt zum ersten Male höre, ein so geschickter Verwandlungskünstler sein soll, der jede Maske annehmen kann, und die Gräfin Urlewsky verlangt nun einmal von mir, ich soll ...«

»Da hast du allerdings recht,« fiel ihm der alte Japaner ins Wort. »Das war ja auch nur ein Gedanke von uns, das bleibt überhaupt vollkommen dir überlassen. Die Hauptsache ist, daß du deinem Vaterlande den Kriegsplan bringst, den Rußland für die Mandschurei ausgearbeitet hat, schon in der Voraussetzung, daß es dort noch einmal mit Japan feindlich zusammentrifft. Was für einen Wert dieser Kriegsplan für uns hat, brauche ich dir, dem geschulten Taktiker, nicht erst zu sagen, und ebenso weißt du, daß der Plan nicht einfach entwendet werden oder daß man sonst eine Ahnung haben darf, ein Fremder könnte Einblick in ihn genommen haben. Dann würde einfach ein neuer Kriegsplan ausgearbeitet werden.«

»Selbstverständlich! Es muß eine geheime Kopie davon genommen werden.«

»Und dann mußt du die leidenschaftliche Gräfin so in deine Gewalt bekommen, bis sie dir gutwillig den Schlüssel zum Geheimkabinett gibt,« ergänzte der brave Japaner. »Auf jeden Fall aber gebe ich dir den Rat, dich bei ihr als so ein verwegener Abenteurer einzuführen. Sie schwärmt eben für solche Naturen, weil sie selbst eine ist. Schon mancher Abenteurer verdankt ihr sein dauerndes Glück, und es kann ihr gar kein noch so verrücktes Projekt gemacht werden, sie geht darauf ein, schießt die Kosten dazu vor.«

»Was für ein verrücktes Projekt? Kennst du ein Beispiel?«

»O ja. Da erzählen die Europäer, besonders die Spanier, von einem verschollenen Goldlande, das in Südamerika gelegen haben soll. Eldorado nennen sie es. Es sind schon viele Expeditionen aufgebrochen, um es zu suchen, natürlich immer vergebens, denn es existiert nur in der Phantasie von leichtgläubigen Köpfen, und das war auch früher, jetzt denkt niemand mehr an die wirkliche Existenz dieses fabelhaften Goldlandes. Da aber verirrt sich ein spanischer Abenteurer nach Petersburg, lernt die Gräfin Urlewsky kennen, schwatzt ihr von seinen Träumen vor – und wahrhaftig, sie gibt ihm die Mittel, daß der Schwindler eine Expedition nach Südamerika ausrüsten kann.«

»Und weiter?«

»Na, der Kerl ist gar nicht nach Südamerika gegangen, er hat das Geld in Paris verpraßt.«

»War sie da nicht von ihrer Vorliebe für solche Abenteurer kuriert?«

»Durchaus nicht. Gleich darauf fiel sie auf ganz dasselbe herein, sie gab die Mittel her, um von einem Abenteurer das sagenhafte Ophir entdecken zu lassen. Das war ebenfalls ein Schwindler. Und so hat sie schon Unsummen für solche Zwecke ausgegeben.«

»Woher nimmt sie die Mittel? Ist sie vermögend?«

»Nein. Aber die Kasse Alexei Petrofs steht ihr zur Verfügung, und der allerdings ist immens reich.«

»Ist das nicht ein Zeichen der Beschränktheit, daß sie immer wieder das Opfer von Betrügern wird?«

»Beschränktheit? Die ist nicht beschränkt! Nein, sie sagt es selbst, das macht ihr Vergnügen, sie liebt solche unternehmungslustige Personen, welche ihrer nüchternen Mitwelt Hohn sprechen, und vor Betrügern kann sich niemand schützen. Es sind doch auch nicht alle solche. Da ging einmal durch die Zeitungen die Notiz, im nördlichsten Sibirien existierten noch Mammuts, die Eingebornen erzählten von solchen haarigen Ungeheuern – und wenn die Zeitungen das auch nur nacherzählten – warum sollte es nicht möglich sein? Es gibt im nördlichen Sibirien Gegenden, die noch gänzlich unerforscht sind, und das Mammut könnte dort oben wohl noch sein Fortkommen finden. Da meldete sich bei der Gräfin Urlewsky ein junger Russe, ein Bauernbursche, aber schon ein erfahrener Bärenjäger. Der macht sich anheischig, nach jenen Gegenden zu gehn, und wenn er ein Mammut findet, es lebendig mitzubringen. – Jawohl, der Junge erhielt alles, was er zu seiner Expedition brauchte.«

»Nun, und hat er ein lebendiges Mammut mitgebracht?« lachte Nobody.

»Nein, ein lebendiges nicht, aber ein totes, noch ganz wohlerhalten. Es war in Eis eingefroren und hatte sich während Jahrtausenden konserviert. Die Hunde konnten noch das Fleisch fressen. Die Gräfin schenkte diese in der Welt einzig dastehende Seltenheit dem Petersburger Museum. Außerdem entdeckte der Junge noch ein ungeheures Lager von Mammutzähnen, besser als Elfenbein, das brachte der Regierung großen Gewinn, und das alles hat man nur dem abenteuerlichen oder sage meinetwegen verrückten Sinne dieser Gräfin zu verdanken.«

»Gut, jetzt weiß ich, mit wem ich es zu tun haben werde, und diese exzentrische Gräfin gefällt mir immer mehr. Ja, da allerdings werde auch ich als ein verwegner Abenteurer auftreten.«

»Aber nicht als Japaner!«

»Nicht als Japaner?« wiederholte Nobody verwundert.

»Das wäre zu gefährlich. Die Russen werden stets mißtrauisch gegen einen Japaner sein.«

»Als was denn aber sonst?«

»Nun, du bist doch oft genug für einen Franzosen gehalten worden. Wenn sie dich in französischer Uniform sahen, wollten es Fremde gar nicht glauben, daß du ein Japaner seist. Das ist es ja, wovon ich schon oft genug zu dir gesprochen habe. Wir aus der Kaste der Samurais haben eine außerordentliche Aehnlichkeit mit den Südfranzosen. Laß dir einen Knebelbart stehn, wie ihn alle die weißen Teufel tragen, wenn sie recht keck aussehen wollen, und mit deinem vollendeten Französisch kannst du dich getrost für einen echten Franzosen ausgeben.«

»Dann werde ich also als französischer Abenteurer auftreten, und ein Glück ist es, daß ich auch das Russische beherrsche.« Denn das hatte Nobody aus dem Baron heraushypnotisiert; solche Sachen mußte er unbedingt wissen.

»Sonst hätte man dich wohl auch nicht für solch eine Mission ausgewählt,« lachte der Alte. »Nun aber,« fuhr er ernst fort, »berichte mir zunächst über eure Fahrt auf dem ›Drachenkopf‹. Was ist da Furchtbares passiert? Haben denn nur wirklich alle Samurais ihren Tod gefunden? Berichte mir, ich werde es dann gleich weitermelden, es warten genug mit namenloser Spannung auf deinen wahren Bericht.«

Das konnte geschehen. Nobody hatte Zeit genug gehabt, um sich darauf vorzubereiten. Die Wahrheit erzählte er natürlich nicht, sondern die alte Geschichte, nur mit einer Variation und mit andern Namen.

Eben nicht die Segeljacht, sondern jener Dampfer, der ›Drachenkopf‹, welcher die vornehmen Geheimbündler aufgenommen hatte, um mit dem Piratenkapitän die Inseln der chinesischen Seeräuber zu inspizieren, war das Opfer eines Sturmes und der Brandung in unbekannter Gegend geworden, und außer Baron Nogi war kein Mann dem Tode entgangen. Nur dieser hatte sich auf eine Vogelklippe gerettet, war von dem englischen Dampfer aufgenommen worden.

Diese Schilderung war vollkommen glaubwürdig. Der alte Japaner war furchtbar erschüttert. Eine lange Pause trat ein.

»Wie gesagt,« nahm er dann wieder das Wort, »ich kann dir nur mitteilen, was ich so ungefähr gehört habe; ich soll dich nur vorbereiten. Von höherer Stelle wirst du ausführliche Instruktionen für deine Mission erhalten.«

»Instruktionen, wie ich mich der Gräfin zu nähern habe, um von ihr den Kriegsplan zu bekommen?«

Der Alte hatte das Unbehagen herausgehört.

»Mißverstehe mich doch nicht! Wie kann man dir deswegen Instruktionen erteilen? Du mußt doch noch Bestimmteres erfahren. Nein, sonst wird man dir vollkommen freie Hand lassen.«

»Wie lange habe ich Zeit, um den Kriegsplan zu kopieren?«

»Zehn Jahre.«

»Wie lange?«

»Zwanzig Jahre. Ich will damit sagen, daß die Zeit gar keine Rolle spielt, wenn du den Plan nur drei Monate eher bringst, als es zum Kriege zwischen Rußland und Japan kommt, wozu ja aber vorläufig gar kein Grund vorhanden ist. Da müssen die Russen erst die Mandschurei besetzen.«

»Und wenn ich nun meine Aufgabe gelöst habe?«

»Kommst du natürlich als Baron Kata Nogi zurück, und ich denke, der Baron Nogi wird in dem zukünftigen Kriege gegen die Russen noch eine Hauptrolle spielen.«

»Wo soll ich da inzwischen gewesen sein?«

»Das wird sich schon finden. Auch der wirkliche Nogi ist eben dem Schiffbruch entgangen, auch er hat sich auf eine einsame Insel gerettet; er braucht nicht darauf geblieben zu sein, er ist etwa von einem Schmugglerschiffe, das seine Geheimnisse zu wahren hat, aufgenommen worden, konnte nicht wieder herunter, ist irgendwo im Auslande abgesetzt worden, bis ihm endlich die Flucht und die Rückkehr in seine Heimat gelangen. Da findet sich doch stets ein Ausweg. Dann wirst du natürlich mit allen Ehren empfangen. Oder dann kann es ja auch bekannt werden, daß du es gewesen bist, der mit der Entwendung des russischen Kriegsplanes seinem Vaterlande einen unschätzbaren Dienst erwiesen hat.«

Famos, sagte sich Nobody, das paßt ja alles in die Pläne, die ich mit meinen gefangenen Japanern vorhabe!

In Gedanken versunken, malte der alte Japaner mit der Fingerspitze Kreise auf den Tisch, und sofort erriet Nobody diese Gedanken, denn es war kein Zufall, daß der Alte solche Zeichen malte, es war vielmehr eine Unvorsichtigkeit. Diese Kreise bildeten mit ein Erkennungszeichen der Geheimbündler des gelben Drachens. Hierüber hatte sich Nobody von dem hypnotisierten Japaner zur Genüge orientieren lassen, hierüber hatte er auch aus den Papieren des gesunkenen Dampfers einen tiefen Einblick gewonnen.

»Du weißt doch, daß in sechs Tagen Neumond ist,« begann da der Schatzkämmerer wieder.

»Ja, das weiß ich.«

Nobody wußte auch, was jener meinte, aber er wollte ihn lieber selbst sprechen lassen, um ja keinen Fehler zu begehn.

»Da müssen wir im Drachennest sein. Kommst du mit?«

»Vorläufig sitzt im Drachennest noch ein andrer,« lautete die etwas spöttische Antwort. Denn mit dem ›Drachennest‹ war nichts andres als die heilige Insel, die Perleninsel gemeint.

»Hast du auf dem Drachenkopfe etwas davon gehört?«

»Nein. Was?«

»Was wir vorhaben.«

»Nein.«

»Was für Vorbereitungen an der Küste von Formosa schon seit langem getroffen werden.«

»Nein, ich habe nichts darüber vernommen. Was für Vorbereitungen sind das?«

»So höre denn!«

Der Alte begann zu erzählen, und Nobody bekam allerdings etwas zu hören! Es gehörte seine ganze Selbstbeherrschung dazu, um nicht zu erschrecken, um sich nicht zu verraten.

Der alte Japaner hatte sich in Eifer geredet, zuletzt sprang er wie ein Jüngling auf, und wenn er auch mit vorsichtig gedämpfter Stimme sprach, so glühten seine Augen doch in unheimlichem Feuer, und drohend hatte er die Hand erhoben.

»Ihr Maß ist voll! Nicht lange mehr sollen die frechen Eindringlinge sich im Drachenneste wärmen können! Sie sollen den gelben Drachen kennen lernen! Und noch andre sollen ihn sehen! Ganz China soll davon erzählen, wie ein feuerspeiender Drache über das Land und über das Meer gegangen ist, und wie sein Feuer die weißen Teufel verzehrt hat, welche es gewagt haben, in die Höhle des gelben Drachen zu dringen! Dann gehört das uralte Heiligtum wieder uns.«

Von der ungewohnten Aufregung erschöpft, hatte sich der Alte wieder gesetzt, er rang nach Fassung. Nobody ließ ihm nur kurze Zeit dazu.

»Und wie ist es mit mir? Ich habe keine Lust, hier lange gefangen zu sitzen.«

»Du mußt ausbrechen.«

»Dazu brauche ich vor allen Dingen Feilen.«

»Die habe ich dir schon mitgebracht.«

Der alte Japaner blickte einmal vorsichtig nach dem Fensterchen, dann brachte er unter seinem Kaftan ein kleines Päckchen zum Vorschein und ließ es dem Sohne in die Hand gleiten. »Uhrfedersägen und Feilen, alles was du brauchst. Morgen erfährst du, wann du ausbrechen kannst.«

»Weshalb erst morgen?«

»Es müssen doch erst Vorbereitungen getroffen werden, sonst würden die Posten dich erschießen.«

»So müssen sie eingeweiht werden?«

»Natürlich.«

»Das ist gefährlich. Es wäre besser, es würde niemand weiter ins Vertrauen gezogen.«

»Das ist auch nicht nötig. Wenigstens sind es nur solche vom gelben Drachen. Es wird dafür gesorgt, daß morgen nacht nur Drachenbrüder Wache stehn; wir haben ja auch unter den gewöhnlichen Soldaten genug Anhänger zu unsrer Verfügung. Die müssen aber erst instruiert werden.«

»Wie ist hier die Oertlichkeit beschaffen?«

Der Vater konnte ihm das erklären. Das Haupthindernis war eine sechs Meter hohe Mauer. Niemand hätte sie übersteigen können, ohne von den zahlreichen Wachtposten bemerkt und von ihnen festgehalten, im Notfalle erschossen zu werden. »Doch ich muß jetzt gehn, morgen werden wir das Nähere besprechen, auch ob du noch einmal vor ein öffentliches Gericht kommen sollst, wo du alles ausführlich gestehst, so daß es das Publikum hört, damit es von deiner Schuld überzeugt ist.«

»Ist das unbedingt nötig?«

»Nein, nicht unbedingt. Deine Flucht wäre schon Beweis genug, daß du nicht der echte Baron Nogi sein kannst.«

Der Vater verabschiedete sich; zärtlich küßte er den Sohn, seinen Stolz.

Nobody war allein. Er blies die Lampe aus und lauschte. Nichts war zu hören. Der Korridor war erleuchtet, aber das durch das Fensterchen hereinfallende Licht genügte nicht, um den Raum zu erhellen.

»Ihr allmächtigen Götter,« erklang es da leise in der finstern Zelle, »ihr seid dem Manne, welcher nichts mehr zu verlieren hat, stets gnädig gewesen, und deshalb bete ich euch an, die ihr das Schicksal des Menschen in eurer Hand habt. So seid auch diesmal mit mir, daß es mir gelingt, meine Freunde noch rechtzeitig vor dem sichern Untergange zu retten!«

Nobody konnte während dieses Gebetes nicht auf den Knien gelegen haben, er mußte gehandelt haben, denn schon im nächsten Augenblick erscholl in der finstern Zelle ein leises, knirschendes Geräusch.

Der Gefangene hatte den Tisch an das Fenster gerückt und war schon dabei, die Eisenstäbe durchzusägen.

Die Sägen und Feilen waren gut, japanische Arbeit, und der alte Schatzkämmerer hatte an alles gedacht, auch ein Fläschchen mit Oel war in dem Paket gewesen.

Nobody wollte also nicht bis morgen warten. Er hatte einen triftigen Grund dazu, schon heute nacht seine Freiheit wiederzuerlangen. Was schadete es auch? Ob morgen oder heute, durch seine Flucht gab er den Beweis, daß er ein Betrüger war, und das war es ja, was man haben wollte; in der heutigen Nacht konnte er sogar einen noch viel überzeugenderen Beweis geben. Denn dort unten patrouillierten Wachtposten mit scharfgeladenen Gewehren auf und ab, und sie waren noch nicht instruiert, wohl viel Lärm zu machen, aber auf einen Flüchtling, welcher dort durch das Fenster kommen würde, nicht zu schießen, sie sollten ihm vielleicht gar noch über die Mauer helfen.

Die starken Eisenstäbe waren durchgefeilt. Die letzte Sichel des Mondes, der aber manchmal hinter einer Wolke verschwand, beleuchtete ab und zu einen geräumigen Hof, der von einer sehr hohen Mauer umschlossen war.

An der Innenseite dieser Mauer patrouillierten die Wachtposten, zwar einer vom andern weit entfernt, aber doch so, daß auf einer Seite des Gebäudes niemals nur ein einziger Soldat war.

Jetzt trat der Mond wieder hinter eine dunkle Wolke, und da hing Nobody schon außerhalb des Fensters, welches sich in der ersten Etage befand, und man hatte dem Gefangenen wohl mit Absicht eine der am niedrigsten gelegenen Zellen gegeben, morgen würde man ihn auch mit Stricken versehen haben, um sich hinablassen zu können.

Doch Nobody bedurfte ihrer nicht.

Ahnungslos wandelte ein japanischer Soldat die Mauer entlang. Da vernahm er einen dumpfen Fall. Erschrocken fuhr der Mann empor. Schon sah er etwas mit großen Sätzen auf sich zukommen; aber noch ehe er daran denken konnte, sein Gewehr herabzureißen, stand dieses Etwas schon mit dem Sprunge eines Panthers auf seinen Schultern – doch nur für einen Moment, die Schultern dienten nur als Sprungbrett – der Soldat fühlte kaum den Absprung – und mit einem mächtigen Satze war Nobody über die Mauer hinweg.

Es war das Kunststück eines Akrobaten oder eines Clowns gewesen, wie man es nur im Zirkus zu sehen bekommt.

Der japanische Soldat dachte noch immer nicht an sein Gewehr, nicht einmal daran, einen Schrei auszustoßen. Er stand wie vom Donner gerührt da und glaubte, nur eine Vision gehabt zu haben.

Nobody war auf der andern Seite zwar zusammengebrochen, schnellte aber wie eine Sprungfeder wieder empor und eilte weiter, ohne den Kopf zu verlieren.

Hinter ihm wurde es laut, Stimmen schrien, ein Gewehr krachte, jetzt donnerte auch ein Alarmschuß.

Was machte es? Das war noch hinter der Mauer; und kam er nur um die Ecke, so wollte Nobody in Sicherheit sein. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß von gewisser Seite schon Maßregeln getroffen wurden, den entsprungenen Gefangenen nicht wieder zu ergreifen.

Es war erst die neunte Abendstunde, und die Straßen, in denen sich Nobody bereits befand, waren noch sehr belebt; aber in dem Manne, der sich sorglos unter die Menge mischte, hätte niemand einen soeben dem Kerker Entsprungenen vermutet. Das war ja auch kein Japaner, sondern ein Europäer, dem Gesicht mit dem hervortretenden Kinn nach ganz sicher ein Engländer, und der graue Sommeranzug des Steuermanns war nicht auffallend, einen solchen trugen andre auch.

Lange hielt sich Nobody freilich nicht damit auf, so gemächlich durch die Straßen zu bummeln. Er bog in ein Seitengäßchen ein, und jetzt beflügelte er seinen Schritt. Bald hatte er den Hafen erreicht.

An einer Quaitreppe lag ein elegantes Boot, zwei Matrosen saßen darin und schienen auf jemanden zu warten.

Nobody stieg die Treppe hinab.

»Ist Lord Roger an Bord?«

»Nein, an Land.«

»Wo befindet er sich da?«

»Im englischen Klub.«

»Einer von euch rudert mich zur ›Sunbeam‹, der andre holt den Lord, er soll sofort an Bord seiner Jacht kommen.«

Nobody war schon ins Boot gesprungen. Den beiden Matrosen kam das natürlich etwas spanisch vor, sie kannten den Herrn ja gar nicht.

»Wer sind Sie denn?«

»Gehn Sie zu Lord Roger und sagen Sie ihm nur das Wort ›Labyrinth‹, dann weiß er, wer ich bin, und er wird sofort kommen! Er soll zur Ueberfahrt nach seiner Jacht ein andres Boot benutzen.«

»Labyrinth, schön, ich werde es mir merken!«

Der eine Matrose sprang davon, der andre ruderte den ihm fremden Mann nach der stattlichen Jacht, welche in der Mitte des Hafens lag.

Als eine Viertelstunde später Lord Hannibal sein Schiff erblickte, sah er aus dem Schornstein eine feurige Garbe auflodern, dort wurde mit Macht unter den Kesseln geheizt, ohne daß der Eigentümer der Jacht hierzu Befehl erteilt hätte. Aber der Lord wußte nun schon, wer jener fremde Herr war, von dem ihm der Matrose erzählt hatte, und wieder fünf Minuten später steuerte die ›Sunbeam‹ mit Volldampf zum Hafen von Tokio hinaus.

 

Die finsterste Nacht lagerte über der kleinen Felseninsel, auf welcher am Tage die vom Meeresgrunde losgerissenen Muscheln nach Perlen durchsucht wurden. Kein Licht brannte. Auch die im Hafen liegenden Fahrzeuge hatten keine Lampen angesteckt. Es war dies Befehl des Masters, welcher nicht wollte, daß vorüberkommende chinesische Dschonken – denn andre Fahrzeuge würden diese seichten Gewässer wohl kaum aufsuchen – auf diese Felseninsel aufmerksam gemacht würden.

Auch keine Wache war ausgestellt. Die zahlreichen Hunde genügten, und wenn sie sich jetzt auch zum Schütze vor dem kalten Ostwinde, welcher von Formosa herüberwehte, hinter Felsblöcke gelegt hatten, so ließen sie ihre Pflicht doch nicht außer acht.

Wehe dem Chinesen, welcher, die ihm gewährte Freiheit mißbrauchend, es gewagt hätte, die ihm angewiesene Schlafstelle zu verlassen, um an den Strand zu schleichen, denn in diesem Falle konnte er nur an Flucht denken, und sobald er sich des Nachts außerhalb der Felsenkammer zeigte, wäre er von den Bluthunden augenblicklich in Stücke zerrissen worden.

Ebenso aber zeigten die wohldressierten Tiere jedes Lichtchen an, welches sie weit draußen im Meere erblickten, sie taten es schon von selbst, aus Instinkt, weil sie nichts Fremdes in ihrem Reviere duldeten, und auch ohne Lichter hätte sich kein Fahrzeug dem Eiland unbemerkt nähern können, ihre feinen Nasen hätten es schon von weitem gewittert.

Was waren da also menschliche Wächter nötig? Man brauchte die Kraft der ausgeruhten Arbeiter am andern Tage nötig genug.

Da knurrte ein Hund drohend: plötzlich schlugen sie alle zusammen grimmig an; wie wahnsinnig stürzten sie dem Hafen zu, und fast gleichzeitig erschienen an Deck der Fahrzeuge angekleidete Matrosen und kamen aus den Felsenkammern bewaffnete Männer herbeigeeilt. Denn wenn es auch keine Wachtposten gab, so doch eine abgeteilte Wachtmannschaft, die auch unter Deck oder in ihrem Quartier immer bereit sein mußte, einen von den Hunden gemeldeten Feind zu empfangen.

So gut diese Mannschaft aber eingeschult sein mochte, so entstand in der undurchdringlichen Dunkelheit doch einige Verwirrung. Es war absolut nichts zu sehen, man wußte nicht, warum die Hunde anschlugen, ein Mann rannte gegen den andern.

»Lichter an! Die Scheinwerfer in Tätigkeit gesetzt!« ertönte das Kommando.

»Keine Lichter, keine Scheinwerfer!!« schrie eine heisere Stimme.

Ein schmetterndes Krachen folgte diesem Rufe nach, es kam von dort, wo der Hafenrand eingemauert war, aber schräg ins Wasser laufend, daß man ohne Anstrengung Boote hinein- und herausschieben konnte – dann ein Knall, ein blitzähnlicher Lichtschein erhellte für einen Augenblick die finstre Nacht – und in diesem Lichtschein hatte man dort auf jener schrägen Stelle einen Trümmerhaufen gesehen, der vorhin noch nicht dort gelegen – dann glühte dort plötzlich ein großes Kohlenfeuer, jetzt sah man deutlicher, daß der Trümmerhaufen aus verbogenen Eisenplatten bestand, das kaum noch erkennbare Wrack eines kleinen Dampfbootes, das mit großer Gewalt die schiefe Ebene hinaufgerannt und dabei aus den Fugen gegangen war, die glühenden Kohlen waren das herausgeschleuderte Kesselfeuer – dann sah man einen Mann, welcher mit jeder Hand einen Hund bei der Kehle gepackt hatte und die andern, die wütend auf ihn los wollten, durch Fußtritte von sich abzuhalten suchte ...

»Zurück, Leo – kusch dich, Arion – kennt ihr Bestien euern Herrn und Meister nicht?!«

Ja, die Bluthunde kannten ihn, und zwar nicht nur an seiner Stimme; winselnd krochen sie ihm zu Füßen, und jetzt hatten auch die Inselbewohner ihn erkannt.

»Der Master!« ging es erstaunt von Mund zu Mund.

»Ich bin's. Wo ist Mr. Zeel?«

»Hier,« meldete sich der von Nobody eingesetzte Kommandant der Insel, dem die eventuelle Verteidigung oblag, ein geborener Holländer und ehemaliger Artillerieoffizier, der als Instrukteur nach China gegangen war.

»Alle Mann in die Forts!!« schrie Nobody, den man gar nicht wiedererkannte, so aufgeregt war er. »Alle Mann an die Geschütze!! Kein Licht, kein Licht!«

Alles stob auseinander; aber die Unordnung war nur eine scheinbare. Jeder Mann eilte an seinen Posten, und so entwickelte auch Nobody nur seine höchste Schnelligkeit, trieb die Leute zur größten Eile an. Das war noch keine Aufregung.

Nobody war in ein Fort geeilt, welches mit dem zweiten telephonisch verbunden war, er gab Kommandos, und was in dem einen geschah, wurde auch in dem andern ausgeführt.

Ohne zu erklären, was für eine Gefahr denn drohe, noch weniger, wie er plötzlich hierherkäme, ließ er die sämtlichen Geschütze nach Osten richten, und zwar die Mündung nach oben, als gelte es, in einem großen Bogen zu schießen, er selbst stellte sich an ein außergewöhnlich langes, aber dünnes Rohr, welches kleine Granaten schoß, stemmte den ausgeschnittenen Bügel an der Schulter fest.

»Ich schieße zuerst!!« schrie er, und es ward auch in dem zweiten Fort gehört. »Immer zwei bis drei Meter über ...«

Doch diese Erklärung sollte nicht erfolgen.

Ein gellender Schrei des Entsetzens übertönte das Kommando.

»Der gelbe Drache, der gelbe Drache!!« heulten die aus den Felsenkammern hervorgekommenen Chinesen und warfen sich platt an den Boden, preßten das Gesicht gegen den Stein, nur um das Schreckliche nicht sehen zu müssen, was ihnen im nächsten Augenblick den Tod bringen mußte.

Aber auch die weiße Mannschaft der Insel schrie vor Schreck laut auf, und wer keinen Laut hervorbrachte, dem sträubte sich vor Entsetzen das Haar auf dem Kopfe.

Urplötzlich war vor ihnen, vielleicht hundert Meter in der Luft, eine Lichtmasse aufgetaucht, ein feuriges Ungeheuer, ein kolossaler Drache, der ein intensiv gelbes Licht ausstrahlte.

Deutlich konnte man jedes Glied an ihm erkennen, den aufgerissenen, von furchtbaren Zähnen starrenden Rachen, die glühenden, tellergroßen Augen, die mächtigen Pranken, den langen Schweif ...

Es braucht nicht näher beschrieben zu werden. Es war eben ein schreckenerregender, feuerspeiender Drache, welcher hoch in der Luft mit ziemlicher Schnelligkeit auf die Insel zuschwebte – und zwar direkt auf sie zu! Denn jetzt senkte er sich herab.

Dem gellenden Schrei war eine Todesstille gefolgt. Was nicht mit dem Gesicht auf der Erde lag, das stierte mit entgeistertem Auge zu dem Ungeheuer empor, von ihm den feurigen Tod erwartend.

»Er muß ins Meer stürzen, ehe er über der Insel schwebt, sonst sind wir verloren!!« durchdrang da Nobodys Kommandostimme die Todesstille. »Aber nicht auf den Drachen selbst schießen, zwei bis drei Meter darüber halten!!!«

Ein Feuerstrom entfuhr dem langen Geschütz, welches seinen Namen Feuerschlange mit Recht führte, das repetierende Rohr wurde von Matrosen mit Granaten bedient, ein Schuß krachte nach dem andern, und plötzlich kam das glühende Ungetüm in eine schaukelnde Bewegung.

»Getroffen! Drei Meter über den Kopf halten! Feuer!!!«

Jetzt feuerten auch andre Geschütze, man hörte ein zischendes Pfeifen in der Luft, und schnell senkte sich der Drache herab, er fiel in das Wasser. Das von ihm ausgehende Licht ward immer schwächer, bis es ganz verlöschte.

»In die Boote!! Den Scheinwerfer in Tätigkeit gesetzt!!«

Hals über Kopf stürzten die hierzu bestimmten Matrosen in die Boote, und als sie abstießen, leuchtete ihnen bereits der blendende Strahl eines elektrischen Scheinwerfers voraus.

Der Höllenspuk hatte überhaupt schon durch den Erfolg der Kanonenschüsse seine ganze Zauberkraft auf die Gemüter verloren, und ... da lag er, der Drache, im tageshellen Scheine des elektrischen Lichtes erst recht alles Märchenzaubers beraubt ... eine Theaterdekoration, ein mit Leinewand überklebtes Gerippe aus Bambusstäben, dem die Granaten und Hartkugeln übel mitgespielt hatten!

»Vorsicht!« warnte Nobody. »Unten an dem Drachen ist eine Dynamitbombe befestigt, grade genügend, um uns alle wegzublasen, wenn sie auf die Insel gefallen wäre. Ich selbst will sie versenken.«

Sein Boot mußte dicht an das Ungeheuer heranrudern, er suchte mit den Händen unter Wasser, zog sein Messer und schnitt Stricke durch.

Nur die schwere Granate hatte die hohle Figur aufrecht gehalten. Als das Gewicht versank, legte sich der Drache auf die Seite, so daß die Leute durch ein großes Loch Einblick in das Innere bekamen.

An den Bambusstäben waren überall kleine Oellämpchen von gelbem Glase angebracht. Sie waren teils von den Geschossen zersplittert worden, teils infolge des Luftdruckes verlöscht.

Außerdem war im Innern noch eine Art von Korbstuhl angebracht.

»Hier schwimmt ein Mann!« erscholl es aus einem andern Boote.

»Haltet ihn fest, bindet ihn, ehe er Selbstmord begeht!!« schrie Nobody.

»Das ist der Japaner, welcher in dem Drachen saß und uns die Bombe auf den Kopf werfen sollte, wenn der Drache über unsre Insel hinwegstrich«, setzte Nobody, sich an den in seinem Boote befindlichen Zeel wendend, erläuternd hinzu.

»Ja, durch welche Kraft aber wurde denn der Drache in der Luft gehalten und fortbewegt?« fragte der Holländer.

»Der hing einfach an einem Luftballon, und die Fortbewegungskraft war der Wind. Nur daß der Ballon gerade hierher kam, das ist nicht so einfach – diese japanischen Pfiffköpfe verstanden den Wind meisterhaft zu berechnen, dieser Ballon kommt nämlich von Formosa her, und doch verstand der Luftschiffer ihn ohne jedes Steuer und ohne jeden sonstigen Apparat ganz genau nach dieser Insel zu lenken, nur durch Berechnung aus freier Hand, wo an der Küste von Formosa er den Luftballon aufsteigen lassen mußte, um gerade hier über diese Insel hinwegzustreichen. Und zwar war es ein wirklicher Luftballon – nicht mit Gas, nur mit Luft gefüllt, die erhitzt wurde, wodurch sie sich verdünnte und so den leichten Drachen und den Mann trug.«

»Von Formosa bis hierher?« fragte der Offizier in aufrichtigem Staunen.

»Jawohl. Schließlich warum auch nicht? Die Montgolfiers hatten zuerst auch keine andern Luftballons, und die haben noch ganz andre Fahrten gemacht. Von Formosa bis hierher sind es etwa sieben Kilometer, dazu brauchte der Ballon bei diesem Winde nur eine halbe Stunde. Die Luft wurde erst stark mit einem Holzfeuer angeheizt, so daß der Ballon sehr hoch stieg, dann führten ihm die vielen Flämmchen durch eine besondere Leitung noch genügend heiße Luft zu, daß er sich in der Schwebe halten konnte. Ich bewundere nur, wie dieser Japaner so genau die Flugrichtung berechnen konnte.«

Der Offizier hätte gern gefragt, woher Nobody dies alles so genau wußte, er mußte doch selbst an Ort und Stelle gewesen sein, wo der Drachenballon aufstieg, aber er unterließ es. »Wie konnte der Drache plötzlich so aufleuchten? Erst war doch gar nichts von ihm zu bemerken?«

»Sehen Sie an jeder Glaslampe unten ein kleines, schwarzes Bündelchen? Das ist ein zusammengerolltes schwarzes Tuch. Ein Zug an einer Leine, und sämtliche Lampen sind verhüllt, und ebenso plötzlich leuchten sie wieder. Eine gerade durch ihre Einfachheit überaus ingeniöse Konstruktion. Die Brüder vom gelben Drachen haben aber auch länger denn zwei Monate daran gearbeitet, ehe sie dieses Ungeheuer, ihr Symbol, fertig hatten, welches uns mit einer Dynamitbombe beschenken sollte.«

Mr. Zeel schauerte leicht zusammen. Erst jetzt kam ihm voll und ganz zum Bewußtsein, was aus ihnen geworden, wäre Nobody nicht wie ein Schatten der Nacht im letzten Augenblicke als rettender Engel erschienen.

Denn hätte wohl jemand daran gedacht, auf den feurigen Drachen zu schießen? Es hätte überhaupt niemand auch nur einen Gedanken gefaßt. Sie waren ja alle vor Entsetzen wie gelähmt gewesen – sie wären sämtlich vom Erdboden weggefegt worden!

»Ja, wo ist denn nun aber der eigentliche Ballon?« fragte Mr. Zeel wieder.

Auch Nobody hatte schon um sich gespäht, er hob die Hand, mitten im elektrischen Lichtschein stehend, winkte, daß der Scheinwerfer vom Fort aus die weitere Meeresfläche absuchte.

Aber nichts war zu sehen.

»Von dem Winde kann er noch nicht so weit fortgetrieben worden sein. Die zerschossene Hülle hat sich vollgesaugt und ist gesunken.«

»Die seidene Hülle?«

»Seidene Hülle? Der ganze Ballon war bloß von Papier. Ja, darin haben die Japaner auch etwas los. Aber das mit dem Papier haben sie erst von den Chinesen, nur ist es von ihnen noch mehr vervollkommnet worden.«

Der schwimmende Japaner war aufgefischt und derart mit Stricken umwunden, daß er eher einem Taubündel glich als einem Menschen, in Nobodys Boot abgeliefert worden. Der erlegte Drache wurde als Trophäe ins Schlepptau genommen, es ging wieder dem Lande zu, wo jetzt, nachdem Nobody die Erlaubnis hierzu gegeben hatte, überall Lichter aufflammten.

»Das ist das Beiboot von Lord Rogers Jacht,« sagte Nobody beim Aussteigen zu Zeel, auf den Trümmerhaufen von Eisenplatten deutend, neben dem noch immer das ausgeschüttete Kesselfeuer glühte. »Ich bin nämlich zum Japaner geworden, bin auch schon in alle Mysterien des gelben Drachen eingeweiht worden, der nächstens hier seine jährliche Zusammenkunft abhalten wollte, und da mußten doch zuerst die in dem Heiligtume hausenden weißen Teufel hinausgejagt oder besser gleich vernichtet werden.

»Ich hörte also von dem Anschlage, vernahm alle Einzelheiten; in Tokio lag Lord Rogers Jacht, alles auf Verabredung, die benutzte ich, um hierherzujagen. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit. Aber wie ich auch gefahren bin! Zuletzt mußte ich in diesen seichten Wasserstraßen das kleine Beiboot der Jacht benutzen. Kein Matrose hatte Zeit, mir nachzuspringen. Fort ging es! Wie eine Hasenjagd! Dort liegt es! Ich konnte nicht mehr stoppen, es schusselte gleich die Mauer hinauf.«

Mehr erfuhr der Offizier nicht von Nobody, und es genügte auch. Den ausführlichen Bericht würde man dereinst lesen können.

Diese Worte waren nicht von dem gefangenen Japaner vernommen worden. Auf Nobodys Geheiß hatte man ihn schon in eine der unterirdischen Felsenkammern gebracht und auf eine Matratze gelegt.

Lange brauchte er nicht zu warten, so trat Nobody ein, in seiner eigentlichen Gestalt – wenn dieser Mann eine solche hatte. Jedenfalls war er jetzt kein Japaner mehr, sondern ein Europäer. Sein kurzgeschorenes und schwarzgefärbtes Haar hatte er mit einer Mütze verdeckt.

Forschend betrachtete er den auf der Matratze liegenden Japaner, einen Mann mittleren Alters, mit sehr intelligentem Gesicht.

Jener rührte sich nicht, er schloß unter dem Blick die Augen.

»Was würden Sie tun, wenn ich Ihnen jetzt die Fesseln löste?«

Keine Antwort.

»Wer sind Sie?«

Keine Antwort. Der Japaner regte sich nicht.

»Jetu Mijako!«

Da zuckte der Gebundene zusammen und öffnete erschrocken die Augen.

»Ja, ich kenne Sie,« fuhr Nobody fort. »Sie sind Kapitän bei der Luftschifferabteilung in Nagasaki.«

Der Japaner riß die Augen noch weiter auf.

»Im übrigen sind Sie ein kühner Mann, den ich bewundere. Die unter Ihnen explodierende Dynamitbombe hätte auch Sie getötet.«

»Woher ...« Der Mann brachte kein Wort heraus, so erschrocken war er darüber, daß er beim Namen genannt wurde.

»Woher ich Sie kenne? Ich weiß noch mehr. Sie handelten auf Befehl des rechten Auges vom gelben Drachen, und dieses sogenannte rechte Auge heißt für gewöhnlich Mota Musane und ist für gewöhnlich japanischer Staatssekretär. Oder ist es nicht so?«

Jetzt prägte sich im Antlitz des Gefangenen ein förmliches Entsetzen aus, ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. »Ein weißer Teufel, und er weiß alles!!«

»Ich weiß wahrscheinlich vom gelben Drachen noch viel mehr als Sie.«

»Ein weißer Teufel!!« wiederholte der Japaner stöhnend.

»Ja, ein weißer Teufel, aber auch ein guter Teufel,« lächelte Nobody. »Wollen Sie mir jetzt gefälligst antworten, was ich Sie frage? Geheimnisse will ich nicht von Ihnen erfahren, das habe ich nicht nötig.«

»Fragen Sie!«

»Was würden Sie tun, wenn ich jetzt Ihre Fesseln löse?«

»Dann seien Sie edel und geben Sie mir ein Messer!«

»Um sich den Leib aufzuschlitzen?«

»Ja. Ich muß!«

»Das werden Sie aber nicht tun!«

»Der Weg zur Heimat ist mir verschlossen, für mich gibt es nur noch den Tod!«

»Sie werden sich vielmehr sofort zu Mota Musane begeben und ihm melden, wie Ihre Drachenexpedition mißglückt ist.«

Für solch ein Ansinnen hatte der Japaner nur ein Lächeln.

»Und werden ein Schreiben an ihn mitnehmen,« fuhr Nobody fort.

»Was für ein Schreiben?«

»Hören Sie: ich bin der Mann, der den Krieg führt gegen die Piraten, welche harmlose Dschonken überfallen und plündern und die Besatzung niedermetzeln, und diese Piraten werde ich weiter bekämpfen. Aber ich will Frieden schließen mit dem gelben Drachen, welcher nicht will, daß England China mit Opium vergiftet, in dieser Hinsicht will ich ein Freund und Verbündeter des gelben Drachen werden, ich will auch diese Insel freiwillig zurückgeben, und die Bedingungen, unter welchen ich dies tue, sollen Sie mitnehmen und dem Staatssekretär, einem Oberhaupte des gelben Drachen, übergeben. – Haben Sie da ein Recht, aus gekränktem Ehrgeiz sich das Leben zu nehmen? Nein, Ihre erste Pflicht ist, dieses Schreiben zu überbringen. Sehen Sie das ein?«

»Wenn es so ist, ja,« erklang es ohne Zögern.

»Gut, und ich traue Ihnen. Haben Sie Waffen bei sich?«

Der Japaner blieb die Antwort schuldig.

»Ihr Schweigen ist auch schon eine Bejahung. Aber antworten Sie offen! Haben Sie Waffen bei sich?«

»Ja.«

Nobody zog sein Messer. »Ich zeige Ihnen dadurch Vertrauen, daß ich Ihnen die Banden löse, ohne Ihnen vorher die Waffen zu nehmen. Sie könnten mich töten; aber Sie würden einen Freund des gelben Drachen töten.«

Er durchschnitt die Stricke. »Sie sind ein freier Mann, Sie sind mein Gast!«

Der Japaner stand auf und dehnte die Glieder. –

Noch in derselben Nacht wurde er von Matrosen in einem Boote nach einer der Küste von Formosa nahen Felseninsel gebracht, von welcher aus er sich den auf ihn wartenden Mitgliedern des gelben Drachen bemerkbar machen konnte.


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