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2. Vorbereitungen

Der Leser kennt das Märchen von den sieben Zwergen, die in sieben Bettchen schlafen.

So lagen sie da, aber nicht sieben Zwerge, sondern sieben erwachsene Japaner, von einem Graubart an bis zum bartlosen Jüngling, und sie lagen nicht in weichen Bettchen, sondern auf Pritschen, die allerdings mit Matratzen belegt waren, aber oben und unten an dem starken Brette waren eiserne Ringe eingelassen, und an diese waren Hände und Füße mit kurzen Ketten geschlossen.

So lagen die Gefangenen auf dem Rücken da, wie die geprellten Frösche, unfähig, ein Glied zu rühren. Sie trugen noch dieselben japanischen, stark mitgenommenen Kleider, in denen man sie aus dem Wasser gefischt hatte, denn es waren die Japaner von dem in den Grund gerammten Dampfer, die gerettet worden waren, obwohl sie es gar nicht gewollt hatten.

Alle hatten die Augen geschlossen; ihre Brust ging ruhig.

Die sieben Pritschen standen in einem geräumigen, sonst leeren Zimmer, durch dessen Mitte ein weicher Teppichläufer ging, und auf diesem wanderte mit geräuschlosem Schritt ein in einfache Seemannstracht gekleideter Mann auf und ab, am Gürtel den Entersäbel und zwei Revolverfutterale. Es war der Wächter.

Die Tür ging auf. Der uns schon bekannte Mr. Hawsken, Nobodys Sekretär, trat ein, gefolgt von Hammer und einigen andern Männern, welche rauchende Speisekessel, Teller und andres Geschirr trugen.

Beim Anblick der sieben Japaner schien Hawsken zu stutzen; fragend sah er den Wächter an.

»Die sind ja gefesselt!? Wer hat das angeordnet?«

»Mr. Paulsen.«

»Hat das der Master befohlen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Unsinn! Das kann er nicht gewollt haben, denn wen der Master einschläfert, der liegt fester als in Fesseln. Zum Essen müssen sie sich auch frei bewegen können. Hole den Schlüssel! – Auf meine Verantwortung!«

Während der Matrose gehorchte, ging Hawsken von einem der noch immer wie schlafend Daliegenden zum andern, setzte jedem zwei Fingerspitzen auf die Augen und schob so die Lider in die Höhe. Bei allen sah er von den Augen nur das Weiße, so waren die Pupillen nach oben verdreht.

»Alles in Ordnung; sie schlafen wie die Gelenkpuppen.«

Schon war der Schlüssel zur Stelle; die Fesseln wurden aufgeschlossen.

Hawsken hieß die Männer mit ihren rauchenden Schüsseln zurücktreten, er selbst blieb in der Mitte des Zimmers stehn. Man sah, wie er sich sammelte, seine Willenskraft konzentrierte.

Das Nächstfolgende war nur denen verständlich, welche Japanisch sprachen. Wir können es natürlich nur auf deutsch wiedergeben.

»Tausendeins!!« rief Hawsken, nicht besonders laut, aber energisch.

Wie von einer Viper gestochen, zuckte der erste Japaner von links zusammen, blieb aber noch liegen.

»Tausendeins! Hörst du mich sprechen?«

Keine Antwort! Hawsken warf einen ängstlichen Blick nach der Tür und machte ein Gesicht, als habe er eine Dummheit begangen.

»Tausendeins! Du wirst mir gehorchen, ich befehle es dir!«

»Ich gehorche dir,« murmelte jetzt der Schläfer dumpf.

»Steh auf!«

Der Japaner stand mit geschlossenen Augen von der Pritsche auf.

»Setze dich!«

Der Hypnotisierte setzte sich auf den Rand der Pritsche.

»Tausendzwei!!«

Jetzt zuckte der zweite Schläfer zusammen.

»Tausendzwei! Du wirst mir gehorchen, ich befehle es dir!«

»Ich gehorche dir.«

Und so ging es weiter, bis alle sieben Japaner auf ihren Pritschen saßen. Es war ihnen auch schon ein gemeinsames Stichwort suggeriert worden, auf welches sie alle zusammen reagierten, und durch dieses wurden sie zum Essen kommandiert wie eine Reihe Soldaten. Also sie wurden nicht etwa von fremder Hand gespeist, sondern sie selbst aßen, nur, daß alles nach Kommando geschah, wenn es auch durchaus keinen automatischen Eindruck machte. So etwas kann man ja bei jeder Vorstellung über Hypnotik sehen, und wer da glaubt, das Medium des Hypnotiseurs stelle sich nur so und esse die rohe Kartoffel mit Hochgenuß als einen Pfirsich, weil es dafür bezahlt wird, dem ist eben nicht zu helfen.

Diese sieben Japaner aber bekamen keine rohen Kartoffeln zu essen, sondern gekochte, und dazu noch Reis und Hammelbraten mit Curry, was sie auch im wachen Zustande nicht verschmäht hätten – wenn sie nicht den Tod der leckersten Gefangenkost vorzogen.

Hawsken schien es sehr eilig zu haben; er sah beständig nach der Taschenuhr, und kaum hatte einer der Japaner seine Teller geleert, als ihm durch das persönlich geltende Stichwort befohlen wurde, sich zu entkleiden, immer weiter und weiter, bis er völlig nackt dastand.

Der Hypnotiseur besah sich den nackten Menschen von hinten und von vorn und machte sich Notizen. Jedes Muttermal, jede Narbe am Körper wurde gewissenhaft verzeichnet.

Unterdessen waren schon andre Vorbereitungen getroffen worden. Arbeiter hatten einen Meßapparat hereingebracht, wie er zum Messen der Körperlänge von Rekruten gebraucht wird, der Japaner mußte sich darunterstellen, dann maß ihm ein andrer mit der Schusterlade die Länge seiner Füße, ein dritter die der Hände, ein vierter nahm das Maß des Brustumfanges und der einzelnen Glieder.

Es ging also noch viel genauer zu als bei einer Rekrutenaushebung, und so wurden alle sieben Japaner behandelt.

»Der Master kommt!« ging es da flüsternd von Mund zu Mund.

Er kam, der Herr und König, jetzt wirklich unnahbar wie ein Tyrann auftretend! Aber das war nur scheinbar. Das kam nur daher, weil er seine ganze Aufmerksamkeit auf die sieben nackten Japaner richtete, deshalb für seine Untergebenen gar keinen Blick hatte; wie wenig sich diese aber daraus machten, sah man aus ihrem ungezwungenen Verhalten auch bei Anwesenheit des Gebieters.

Hinter Nobody schritt ein junger Araber in orientalischem Kostüm. Er trug mit gewisser Feierlichkeit ein Tischchen, das aus lauter kleinen Kästen und Schubfächern zusammengesetzt zu sein schien. Dann kam noch ein andrer Mann, ein Neger, welcher einen großen Wandspiegel trug. Die beiden, der Braune und der Schwarze, waren sich voll und ganz bewußt, was für wichtige Dinge ihnen anvertraut waren.

Nobody schritt die Reihe der nackten Japaner ab, jeden einzelnen von oben bis unten mit durchbohrenden Blicken musternd, und schenkte dann dieselbe Aufmerksamkeit ihrer Rückseite. »Was meinen Sie, Mr. Hawsken, wen soll ich wählen?« wandte er sich nach seiner Untersuchung an den Sekretär.

»Diesen hier, tausendsechs, denn seine Gesichtsbildung ist der Ihren am ähnlichsten, auch Größe und Schultermaß stimmen fast ganz genau, und der Schnurrbart wird Sie doch nicht stören.«

»Aber die Füße, lieber Hawsken, die Füße!! Meine Latschen sind ja drei Meter länger als die des Mannes!«

Dabei hatte Nobody selbst sehr kleine Füße. Allerdings ist die ganze japanische, wie die malaiische Rasse durch besonders zierliche Füße ausgezeichnet.

Der Größenunterschied brauchte jedoch nur ein auffallender, wenn auch noch so geringer zu sein, so genügte das für Nobody, um den vorgeschlagenen Mann als unbrauchbar für seinen Zweck zu verwerfen.

»Der dort scheint mir geeigneter. Was für eine Nummer ist das?«

»Tausendvier. Der ist aber bedeutend dicker.«

»Voller, wollen wir sagen. Schadet nichts, ich bin im strapaziösen Dienste des gelben Drachen etwas abgemagert.«

»Dabei aber nicht so breitschultrig.«

»Arbeit macht breite Schultern.«

»Die Stirn tritt stark vor.«

»Die habe ich mir eingerannt. – Jawohl, den nehme ich! Eine Hauptsache ist, daß er gerade solche große Latschen und Pfoten hat wie ich, und daß er bartlos ist, ist mir auch sehr angenehm.«

Es waren nur zwei bartlose Japaner vorhanden, der eine fast noch ein Kind, der andre ein junger Mann, vielleicht, nach unsern Begriffen geschätzt, zwischen zwanzig und dreißig.

Nach Hawskens Angaben wäre es ein dicker, aber dabei schmalschultriger und womöglich noch engbrüstiger Mensch mit einem Wasserkopfe gewesen, und Nobody gab ihm auch noch Elefantenfüße und Bärentatzen.

Natürlich handelte es sich hierbei nur um feine Unterschiede im Gegensatz zu Nobodys Proportionen. In Wirklichkeit war es ein Mann vom harmonischsten Körperbau, vom vollendetsten Ebenmaß, und dieses Gesicht war tatsächlich schön und edel zu nennen, die Nase stolz gebogen, die Backenknochen so wenig hervortretend, daß man kaum den Mongolen erkannte. Aber wenn wir auch schon öfters hervorgehoben haben, daß auch Nobody edle, aristokratische Züge besaß, so war es trotzdem ein vollkommen andres Gesicht, so verschieden wie Schwarz und Weiß. Der eine war eben ein Mongole, der andre ein Germane.

»Mr. Hawsken, lassen Sie die andern sich wieder anziehen!«

Der betreffende Japaner, welcher hier die Nummer tausendvier erhalten hatte, mußte stehnbleiben. Nobody trat zurück, ging um ihn herum und musterte ihn so von allen Seiten aufs eingehendste. Dann riß er aus seinem Notizblock ein Blatt, schrieb etwas darauf und gab es dem jungen Araber, den wir schon einmal kennen gelernt haben, damals an Bord der Wetterhexe, wo er seinem Herrn beim Umkleiden behilflich sein mußte. Hassan lief davon.

Jetzt wiederholte Nobody die Manipulation, die wir ihn schon einmal bei der hypnotisierten Marguérite haben machen sehen; er griff dem Japaner in den Nacken, gar nicht so sanft. Wie Nobody damals seinem Freunde erklärt hatte, erzeugte er dadurch eine besondere Art von Starrkrampf. Freilich war dazu wohl ein besondrer Griff nötig.

Ein augenblicklicher Erfolg desselben war jedoch nicht zu bemerken.

»Du hast mir zu gehorchen, verstehst du?!« sagte Nobody im schärfsten Tone.

»Ich gehorche dir,« murmelte der Hypnotisierte.

»Oeffne deine Augen!«

Langsam schoben sich die Lider hinauf, aber von den Augen war nur das Weiße zu sehen.

»Blicke mich an!«

Da kehrten die Augen in ihre natürliche Stellung zurück.

Der Japaner mußte nach einem Fenster marschieren, wobei Nobody ihn immer scharf beobachtete, er brachte ihn in das beste Licht, und Nobody studierte so lange des Hypnotisierten Züge, bis der Araber zurückkam.

Er brachte ein Paket, dem Nobody zwei vollständige japanische Kostüme entnahm, die Kleidung eines Vornehmen, eins genau wie das andre.

Das eine Kostüm legte er handbereit auf einen Stuhl neben dem Japaner.

»Du bist ja nackt! Kleide dich an!«

Der Hypnotisierte gehorchte, und er bedurfte durchaus keiner weitern Kommandos, brauchte auf nichts aufmerksam gemacht zu werden, er legte ganz sachgemäß ein Kleidungsstück nach dem andern an. Auch von schwerfälligen Bewegungen, wie sie die Hypnotisierten sonst zeigen, war gar nichts zu bemerken. Es war eben wiederum eine andre Art der Hypnose. Ein uneingeweihter Zuschauer hätte den Mann überhaupt gar nicht für hypnotisiert gehalten.

»Zieh dich wieder aus!«

Der Japaner tat es.

»Zieh dich wieder an!«

Und so mußte sich der Hypnotisierte noch zweimal an- und wieder ausziehen, von Nobody immer scharf beobachtet.

Jetzt entkleidete sich dieser schnell selbst und legte dafür das zweite japanische Kostüm an. Aber das tat er in ganz eigentümlicher Weise. Er stand dabei vor dem Spiegel, der an die Wand gelehnt worden war, blickte immer hinein, auch schon, während er die gelbseidenen Beinkleider anzog, hielt inne, zog die Hosen wieder aus, wieder an, stockte, fing wieder von vorn an, ebenso wollte er mit den andern Kleidungsstücken nicht fertig werden, und am meisten Arbeit hatte er mit einem ärmellosen Jäckchen. Das zog er wohl ein halbes Dutzendmal an und wieder aus.

»War's so richtig, Mr. Hawsken?«

»Da wage ich wirklich kein Urteil abzugeben.«

»Das sollten Sie aber eigentlich. Herr Hammer, Sie haben doch zugesehen, wie sich der Japaner anzog.«

»Ja.«

»Zog ich mich mit genau denselben Bewegungen an wie der Japaner?«

»Nee, bei dem ging's ein bißchen fixer,« lautete die treuherzige Antwort.

»Tausendvier! Zieh dich aus!«

Der Japaner tat es, doch ließ es Nobody diesmal nur bis zu der ärmellosen Jacke kommen, diese mußte jener aber auch gleich dreimal hintereinander aus- und wiederanziehen.

»Jetzt habe ich seine eigentümliche Bewegung dabei heraus,« sagte Nobody, als er, immer in den Spiegel blickend, die Weste endgültig anlegte.

Der Japaner mußte sich setzen, so daß ihm das Licht voll ins Gesicht fiel; Nobody setzte sich ihm gegenüber; zwischen beide wurde das Tischchen gestellt. Ein Druck, und an der Platte richtete sich ein Spiegelchen auf. Nobody strich sich mit den Fingern durch die blonden Locken.

»Hassan! Abschneiden! So kurz wie der dort. Schnell!«

Da mußten gar viele Locken fallen, denn der Japaner trug sein schwarzes Borstenhaar sehr kurz.

»Was?!« rief Hawsken erschrocken, als der Araber aus seinem Kaftan schon eine lange Schere gezogen hatte. »Ihr Haar wollen Sie deshalb abschneiden lassen? Kann es denn nicht wie immer eine Perücke tun?«

»Nein. In diesem Falle nicht. Das hier wird für die Dauer. Wenn ich aus diesem Hanswurstkostüm wieder heraus bin, kann man mir wieder Zöpfe flechten.«

Während die Schere klapperte, war Nobody nicht untätig. Er blickte über den Spiegel hinweg den Japaner an und begann dabei sein Gesicht mit den Händen zu massieren. Dann öffnete er verschiedene Kästchen des Tischchens und arbeitete mit Puderquaste und Farbepinsel.

»Schwarz,« sagte er, als er über die Schulter dem Friseur ein Fläschchen reichte, mit dessen Inhalt sein Haar eingesalbt wurde.

Es ging sehr schnell. Nach zehn Minuten war die ganze Toilette beendet. Nobody stand auf.

Nobody? Unter den im Zimmer befindlichen Männern war kein einziger, der den Verwandlungskünstler nicht schon mehrmals bei seinen Maskierungen, wenn er Toilette machte, beobachtet hätte, August Hammer ja nicht ausgeschlossen, und doch war das Staunen jedesmal das gleiche, immer wieder mochte man so etwas gar nicht für möglich halten.

Dort stand ganz genau derselbe Japaner, der dort auf dem Stuhle saß – ganz genau derselbe! Der Ausdruck, daß sie sich ähnelten wie ein Ei dem andern, hätte ihnen noch gar nicht genügt. Nein, das waren eben vollkommen dieselben.

Nur Nobody selbst fand noch etwas an der Ähnlichkeit auszusetzen. Der Japaner mußte sich neben ihm vor den Spiegel stellen, Nobody verglich lange, massierte seine Lippen und die Nase, dann faßte er mit den Fingerspitzen die Haut neben seinen Augen; hüben und drüben entstanden Fältchen, er nahm die Hände zurück, und die Fältchen blieben stehn.

Hierauf untersuchte er die Finger des Japaners, griff zur Schere und verschnitt jenem die sehr langen Fingernägel.

Noch eine Generalmusterung – endlich war er zufrieden. –

In einem Gemach, welches halb einem Damenboudoir, halb einem Künstleratelier glich, saß Gabriele und arbeitete mit dem Modellierholz an einem zum menschlichen Kopfe bestimmten Tonklumpen.

Es klopfte, und nach ihrem ›Herein‹ trat Hawsken ein.

»Der Master bittet, Ihnen eine Ueberraschung bereiten zu dürfen,« war die höfliche Anmeldung für den Gatten.

»Er soll nur hereinkommen,« lautete die weniger zeremonielle Antwort, und Gabriele fing gleich von vornherein zu lachen an; denn sie kannte doch ihren Mann! Und in Ueberraschungen war der groß. Wenn Nobody auf der Insel weilte, so war es überhaupt manchmal, als wenn er nichts weiter als Unsinn im Kopfe hätte, und wenn er sich dann ausgetobt hatte und mit ernsthafter Miene sagte: ›jetzt will ich erst ein Viertelstündchen regieren‹ – so klang das erst recht urkomisch aus seinem Munde.

Es sollte hiermit auch angedeutet werden, wie ahnungslos Gabriele war.

Der Sekretär ging wieder zur Tür und öffnete sie weit.

»Tausendvier!« rief er im Kommandotone. »Komm herein!«

In gleichem Takt marschierten zwei junge, pompös gekleidete Japaner herein, einer wie der andre, die siamesischen Zwillinge, nur daß sie nicht zusammengewachsen waren.

»Halt!« kommandierte Hawsken, und die beiden standen wie die Soldaten.

»Missis möchten sagen, wer von den beiden Nobody ist.«

Gabriele lachte immer noch, als sie zur Prüfung schritt. Zuerst wollte sie sich auf ihren Künstlerblick verlassen, aber der ließ sie im Stich.

»Wirklich, ich finde auch nicht den geringsten Unterschied,« begann sie jetzt zu staunen. »Ich könnte ja untersuchen, wer von den beiden eine Perücke hat, aber das will ich nicht, ich will nur ...«

Sie trat vor die beiden hin und verglich ihre Hände. Die des einen waren etwas schmäler und länger als die des andern. Wir brauchen nicht zu wissen, wem diese angehörten, Gabriele mußte doch die Hand ihres Mannes kennen, und sie war ihrer Sache sicher.

»Hier, das ist der Mann meiner Wahl!«

»Soooo?« ließ sich da plötzlich der andre Japaner vernehmen. »Ich denke, der bin ich?«

Die junge Frau hatte trotz aller ihrer Kenntnis falsch gewählt, und während sie ganz verblüfft dastand, die Hand des einen Japaners noch in der ihren, ging der andre lachend auf sie zu und schloß sie in seine Arme.

»Nein, Gabriele, zwischen uns gibt es keinen Unterschied; du konntest nur raten, und du hast zufälligerweise falsch geraten!«

Er machte gegen den Sekretär eine leichte Verbeugung, dieser ging.

Der echte Japaner war steif in der Stube stehn geblieben.

»Tausendvier!« kommandierte Nobody. »Komm hierher, setze dich hierhin!«

Der Japaner gehorchte. Er bewegte sich zwar ganz natürlich, aber ... der Blick der Bildhauerin mochte doch noch etwas andres erkennen, dieses Kommandieren war ja überhaupt auffällig.

Mit scheuen, sogar ängstlichen Augen blickte sie nach dem Manne.

»Der ist wohl hypnotisiert?« fragte sie leise.

»Gewiß, alle sieben befinden sich in hypnotischem Schlafe. Auch in den festesten Ketten würden sie sich noch den Kopf einzurennen wissen.«

»Ach, bitte, Alfred, laß ihn doch nicht hier bei mir, ich ...«

Nobody warf einen Blick auf Gabriele, die plötzlich sehr bleich geworden war, sprang schnell nach der Tür und rief Hawsken zurück. Dieser hatte den Hypnotisierten bald wieder hinausbugsiert.

»Entschuldige, ich dachte nicht daran, daß dich so etwas erschrecken könnte.«

Nobody küßte Gabriele zärtlich die Hand und ließ sich in einem Fauteuil nieder. Sie setzte sich wieder an ihren Arbeitstisch, faltete aber die Hände im Schoß.

»Nein, erschrecken durchaus nicht, aber ... mir, dem in wilder Freiheit aufgewachsenen Weibe, ist schon der Gedanke entsetzlich, daß der Wille eines Menschen so beeinflußt werden kann, bis er nur noch ein Automat ist. Ich weiß nicht ... ich kann mich nicht ausdrücken ... ich fühle es ... solch ein Hypnotisierter wirkt auf mich fast nervenlähmend.«

»Ich verstehe dich vollkommen,« entgegnete Nobody, »und ich teile ja ganz deine Ansicht, wie ich dir schon oft gesagt habe. Ich beweise meinen Widerwillen gegen die Hypnose auch durch die Tat. Es wäre mir doch ein leichtes, Margarete durch einen posthypnotischen Befehl von ihrem unglücklichen Wahne zu heilen, aber es empört mich, einen Menschen so für sein ganzes Leben zum Sklaven eines fremden Willens zu machen. Doch was soll ich mit diesen sieben geretteten Japanern anfangen? Wie gesagt, ich könnte sie binden und knebeln, wie ich wollte, sie würden doch noch ein Mittel finden, Selbstmord zu begehn. Ein eigentümliches Volk, die Japaner! Das hängt mit ihrer buddhistischen Religion zusammen, welche die Wiedergeburt predigt. Was tut's, wenn ich sterbe? Ich komme immer wieder. Was täte es, wenn unsre ganze Nation durch einen Krieg aufgerieben würde? Mann für Mann werden wir wiederkommen, bis der Sieg unser ist. Denn der Japaner ist kein Indier. Dieselbe Lehre von der Wiedergeburt, welche den Indier zum jämmerlichen Weichling entnervt hat, entflammt den Japaner zu den heroischsten Taten. Ich aber denke anders über den Selbstmord. Es geht gegen mein Gewissen, Japans edelste Söhne freiwillig sterben zu sehen, weil sie zufällig in meine Gefangenschaft geraten sind.«

»Japans – edelste Söhne?« wiederholte Gabriele staunend. »Du sprichst doch nicht von jenen sieben Japanern?!«

»Gewiß, eben von diesen. Hast du es denn noch nicht vernommen? Ich glaubte, Flederwisch, dem ich ausführlich berichtete, hätte es dir erzählt. Nur drei von den Aufgefischten sind gewöhnliche Matrosen. Der Kapitän ist eigentlich auch nichts weiter, spielt nur eine hohe Anführerrolle im gelben Drachen. Aber von den drei andern ist der eine, der Graubärtige, Korvetten-Kapitän in der japanischen Kriegsmarine – der, den du eben gesehen hast, dessen Maske ich jetzt angenommen, das ist Baron Nogi, Leutnant im Gardedragonerregiment, Adjutant des Fürsten Tikono. Und weißt du, wer der Jüngling ist? Das ist Prinz Manimuri, der Neffe des Mikado.«

Gabriele war außer sich vor Staunen. Sie wollte es erst gar nicht glauben.

»Ja, wie kommen die denn aber nur auf den Dampfer, der doch mit der chinesischen Piratenbande zusammenarbeitete?«

»Na, die gehören eben alle mit zum Geheimbunde des gelben Drachen. Ich habe dir doch schon gesagt, daß dieser unter seinen Mitgliedern die edelsten und sogar die mächtigsten Männer Japans zählt.«

»Ja, wie können aber nur aktive Offiziere gemeinschaftliche Sache mit einem Piratenkapitän machen, ganz offen mit ihm auf den Raub auszugehn?!«

»Nun, so ist es allerdings nicht. Ich habe ja alles aus ihnen heraushypnotisiert. Eine Inspektionsreise nach den Pirateninseln wollten sie schon einmal mitmachen! Da haben die Herren Offiziere eine Segelregatta verabredet und sich vom ›Drachenkopf‹ von einer gewissen Insel abholen lassen. Nur einmal für einen oder zwei Tage! Nun kannst du dir aber denken, wie denen jetzt zumute ist! Als Besatzung eines Piratenschiffs gefangen! Sechzehn Japaner waren drauf, vier sind bei dem mörderlichen Zusammenstoß getötet worden, fünf haben sich gleich im Wasser den Leib aufgeschlitzt oder sich den Dolch ins Herz gestoßen, lauter Offiziere oder hohe Staatsbeamte, wenn auch nicht gerade Prinzen und Barone. Die sieben hier würden sich doch ebenfalls sofort töten. Was bleibt ihnen denn auch andres übrig? Zurück können sie nicht wieder.«

»Kannst du nicht ruhig mit ihnen sprechen? Du sicherst ihnen deine Teilnahme zu, gibst ihnen dein Ehrenwort, nichts zu verraten, sie haben bei der Segelregatta Schiffbruch erlitten, du hast sie auf deine Jacht aufgenommen ...«

»Höre auf, Gabriele! Wenn du so sprichst, dann kennst du die Japaner noch nicht. Bei den Matrosen ginge das vielleicht, aber doch nicht bei den Offizieren. Das sind stolze Samurais. – Na, lassen wir das jetzt! Ich werde doch noch ein Mittel finden, sie wieder in allen Ehren nach ihrer Heimat zurückschicken zu können, und bis dahin müssen sie eben schlafen. – Ich wollte jetzt mit dir über etwas sprechen, Gabriele, ich wollte mir deine Erlaubnis zu etwas einholen!«

»Meine Erlaubnis?« lächelte die junge Frau. »Seit wann hast du denn die nötig?«

»Bitte, es kann doch einmal der Fall eintreten. Die Sache ist die: endlich ist es mir gelungen, ein führendes Mitglied des gelben Drachen lebendig in meine Hände zu bekommen ...«

»Und nun willst du, nachdem du dich über alles orientiert hast, dich selbst in chinesischer oder japanischer Maske in die Höhle des gelben Drachen wagen und die Rolle eines Anführers spielen,« fiel ihm Gabriele gleichmütig ins Wort. »So geh doch!«

Es war eine ehemalige Wüstenräuberin, die so sprach, und sie wußte, daß sie keinen Spießbürger, sondern den Detektiv Nobody geheiratet hatte.

»So geh doch, dazu brauchst du meine Erlaubnis doch nicht!«

»Gestatte mal gütigst, daß ich vorläufig noch ein bißchen hier bei dir bleibe!« scherzte Nobody, es klang aber etwas gezwungen. »Nein, ich denke an etwas andres. Da käme nur der Piratenkapitän in Betracht, und das ist ein kleiner Mehlsack, in dessen Haut passe ich nicht. Außerdem beabsichtige ich, mit den Piraten, soweit sie im Dienste des gelben Drachen stehn, Frieden zu schließen. Das sind gar keine so unrechten Kerls. Vor allen Dingen gefällt es mir, daß sie alles Opium, was sie den Dschonken abnehmen, ins Meer versenken. Gern und freiwillig tun sie es ja nicht, sondern der gelbe Drache befiehlt es ihnen, und dieses Vieh ist es ja auch, das ich ganz gern etwas poussieren möchte. Trotzdem will ich noch immer in seine Höhlengeheimnisse dringen. Ich will noch mehr wissen, als ich als Piratenkapitän erfahren kann, und jetzt ist gerade die beste Gelegenheit, um mit demselben Schlage auch noch eine andre Fliege zu klatschen. Da ist der Baron Nogi, wie gesagt, Leutnant beim Leibregiment, Adjutant des japanischen Generalfeldmarschalls – soll ein höllisch schneidiger Kerl sein, der Baron Nogi nämlich – und klug dazu – ist schon im Generalstabe gewesen – außerdem ist es ganz bestimmt, das habe ich alles aus ihm heraushypnotisiert, daß er nächstens in geheimer Mission nach Petersburg geschickt wird, wird dort der japanischen Gesandtschaft beigesellt – da gäbe es für mich noch etwas andres auszuspionieren als nur die Geheimnisse des gelben Drachen, da handelt es sich um die höchste und allerhöchste Politik ...«

Nobody brach ab.

Nur der Blick seiner Frau hatte ihn verstummen lassen. Auch er war Mensch. Und eine Frau ist immer eine Frau.

»Alfred ... du willst ... doch nicht ... etwa ...?«

»Ja, ich will sehr stark,« nickte Nobody.

»Die Maske ... dieses japanischen Barons ... annehmen?«

»Habe ich bereits angenommen. Du, meine eigne Frau, hast mich ja nicht einmal von ihm unterscheiden können.«

»Du willst ... als dieser Baron Nogi ... nach Japan gehen?«

»Jawohl, nach Tokio.«

»Als Baron ...«

»Jawohl, ich habe auch Zutritt bei Hofe. Ei gewiß, ich bin immer einer von den ersten mit – ich bin doch der persönliche Adjutant des Fürsten Tikono – und mein Papa ist Schatzkämmerer des Mikado.«

»Als japanischer Offizier ...«

»O, ich will meine Dragoner schon auf dem Exerzierplatze drillen – bis sie rauchen.«

»Und du willst doch nicht etwa nach ...«

»Nach Petersburg? Ei freilich, das gibt ja gerade den Hauptspaß. Jawohl, ich gehe als geheimer Kurier nach Petersburg. Na, was denn? Nogi, Nobody – das klingt schon ganz ähnlich, wir fangen alle beide mit No an und hören mit i auf, und ich will überall durchkommen. Nur die japanische Kriegsschule fehlt mir; diese Kenntnisse kann ich nicht aus ihm heraushypnotisieren, aber sonst alles, was ich brauche. Mir soll einmal jemand nachweisen, daß ich nicht wirklich der Baron Nogi wäre.«

Gabriele schüttelte erst den Kopf, dann blickte sie zum Himmel empor. Dort oben sah sie vielleicht schon die fürchterlichsten Verwicklungen, die ihrem Manne drohten.

Dann aber, als sie sich ihm wieder zuwandte, sagte sie ganz gelassen: »Wenn du das Unternehmen für angebracht hältst, und wenn du glaubst, daß es dir gelingen wird, so tue es doch! Was brauchst du dazu meine Erlaubnis?«

Der eiserne Nobody wußte dann später nicht mehr, was mit ihm eigentlich vorgegangen war. Er kannte sich selbst nicht mehr. Wie gesagt, er war eben auch nur ein Mensch, und vor ihm saß seine Frau – noch dazu seine junge Frau.

Jetzt tastete er immer an der rechten Seite seiner gelben Pluderhose herum, und da er dort keine Tasche fand, fand er auch sein Taschentuch nicht, und er hätte sich doch so gern einmal die Nase geschneuzt.

»Ja, siehst du ... es ist wegen ... die Sache ist die ... du hast doch schon von der Baronin Nogi gehört?«

Nobody kam es vor, als ob er einen Frosch im Halse sitzen habe.

»Du meinst die Mutter des Barons? Nein, wie soll ich die kennen?«

»Nicht die Mutter, sondern ... sondern ...«

»Seine Frau? Ach so, er ist wohl schon verheiratet?«

»Ja, natürlich ist er schon verheiratet!« platzte Nobody heraus und war froh, daß es ihm endlich gelungen war. »Warum soll er denn nicht verheiratet sein?!« setzte er noch förmlich entrüstet hinzu. »Er ist doch alt genug dazu?!«

Es kam etwas ganz andres, als er erwartet hatte.

»Hat er schon ein Kind?« fragte Gabriele lebhaft.

Es war der erste Gedanke einer jungen Frau gewesen.

»Ei freilich ... ei gewiß ...«

»Einen Jungen?«

»Ei ... einen Jungen ... jawohl, ich glaube, 's ist ein Junge ... und ... und ...«

»Und ein Mädchen?«

»Jawohl, zwei ... zwei ... das heißt, eigentlich sind's zwei ... zwei Dutzend!«

Gott sei Dank, nun war's überstanden!

Gabriele aber machte natürlich große Augen.

»Was? Habe ich dich recht verstanden? Dieser Baron Nogi hätte schon vierundzwanzig Kinder?«

»Jawohl – vierundzwanzig – oder zwei Dutzend – zwei Dutzend oder vierundzwanzig, das ist doch ganz genau dasselbe, nicht wahr? Na, warum soll er sie denn nicht haben? Der hat eben jung angefangen.«

»Aber ich bitte dich, vierundzwanzig Kinder! Dieser Japaner ist doch noch keine dreißig!«

»Nee, das nicht, aber ... aber ...,« jetzt tastete Nobody krampfhaft an der linken Hälfte seiner gelben Seidenhose herum, ohne eine Tasche finden zu können. »Na, du kennst doch die japanischen Verhältnisse, er hat eben neben seiner ersten Frau noch fünf andre, das sind zusammen sechse – von jeder hat er also viere, sechsmal vier ist vierundzwanzig, und ... und ... das ist doch gar nicht zu viel? Meinst du nicht?«

Gabriele antwortete nicht, sie sah ihren Mann nur starr an – lange Zeit.

»Ah so, jetzt beginne ich erst zu verstehn, was du eigentlich willst,« begann sie dann zu flüstern, immer noch mit jenen starren Augen. »Du willst ja diesen Baron Nogi vorstellen, seine Kinder werden dich Vater nennen, seine Frau und seine Kebsweiber werden die deinen sein ...«

Plötzlich erhob sich Gabriele; hoheitsvoll stand sie vor ihm, als sie ihm die Hand hinhielt. »Also dazu willst du meine Erlaubnis haben? Du bedarfst ihrer nicht, denn ich kenne dich. Ich weiß, daß du mich liebst, und ich weiß, daß du ein Mittel finden wirst, um mir treu bleiben zu können.«

Auch Nobody war aufgesprungen, nahm hastig die dargebotene Hand, beugte sich tief darüber, küßte sie und eilte wortlos hinaus.

Als er in seinem Ankleidezimmer das japanische Kostüm mit seinem gewöhnlichen Anzuge vertauschte, wußte er, wie schon gesagt, selbst nicht, was mit ihm passiert war, daß er seiner Frau gegenüber so vollständig die Fassung verloren hatte. »Nur die verfluchte Pluderhose ist schuld daran,« murmelte er, als er diese abriß. »Ein Glück nur, daß die japanischen Offiziere schon europäische Uniformen tragen.«

Als er das Haus verließ, stieß er mit Kapitän Flederwisch zusammen.

»Hallo, Alfred! Hast du schon mit deiner Frau darüber gesprochen?«

»Ueber was?« fragte der Stehngebliebene ganz harmlos.

»Daß du die Rolle des Barons Nogi spielen willst?«

»Ja, ich habe es Gabriele mitgeteilt.«

»Nun, hat sie es dir erlaubt?«

»Erlaubt? Was erlaubt?« stellte sich Nobody ganz erstaunt. »Was hat mir meine Frau zu erlauben?«

»Na, zum Teufel, hast du ihr denn auch gesagt, daß der Japaner eine ganze Menge Frauen und Kinder hat, bei denen du nun den Gatten und den Vater vertreten mußt?«

»Ja, natürlich habe ich ihr das gesagt! Was ist da weiter dabei?«

»Und sie ist so ohne weiteres damit einverstanden?!« rief Flederwisch in ehrlichem Staunen.

Jetzt war es Nobody, der sich hoheitsvoll emporrichtete.

»Wenn du so sprichst, so kennst du meine Gabriele noch lange nicht! Es ist ein herrliches Weib! Ich wußte, daß sie nicht im geringsten an meiner Treue zweifelt, und sie weiß, daß ich der Mann bin, um aus jeder Lage einen Ausweg zu finden, und deshalb durfte ich ihr ganz frei und offen mit drei Worten sagen, was ich beabsichtige, und ich brauchte sie nicht erst um irgend welche Erlaubnis zu bitten, was du Pantoffelheld wahrscheinlich getan hättest. Nur dreier Worte bedurfte ich. – Mahlzeit!«

Ohne ob dieser kolossalen Flunkerei etwas errötet zu sein, drehte sich Nobody stolz um und ging seiner Wege.

»He, Alfred, noch einen Augenblick!«

Nobody blieb noch einmal stehn, Flederwisch war ihm nachgekommen.

»Na, was denn?«

»Wieviel Würmer hat dieser Japaner, die du jetzt deine eignen nennen mußt?«

»Würmer? Ich bitte, von meinen Nachkommen etwas respektvoller zu sprechen. Vorläufig vierundzwanzig.«

»Das sind gerade zwei Dutzend.«

»Dumme Bemerkung!«

»Du, Alfred, ich habe eine große Bitte an dich – wenn du nun einmal so viele Kinder hast, da kommt es dir auf ein paar mehr doch auch nicht an – ich habe nämlich drei unerzogene Kinder, kleine Schwarze, die laufen in Afrika nackt mang die Brombeeren herum – die könntest du doch eigentlich adopt ...«

»Alberner Kerl!« sagte Nobody und ließ jenen stehn.

»Und in Hinterindien habe ich auch noch viere!« schrie Flederwisch ihm nach.

Nobody hörte nicht.

»Und in Honolulu habe ich sechse auf den Affenbrotbäumen herumklettern!!«

»Wa – was?! Du hast sechs Kinder auf Honolulu?«

Ach du großer Schreck! Der lange Flederwisch knickte so zusammen, daß die kleine Turandot ihn bequem beim Ohrläppchen nehmen konnte.

»Aber, meine Turandot, das war doch nur ...«

»Und in Hinterindien hast du vier?«

»Aber, mein bestes Turandottel,« jammerte Flederwisch, schon beim Ohrläppchen davongeschleift, immer mit geknickten Knien.

»Und in Afrika laufen von dir drei Kinder nackt mang die Brombeeren herum? Komm mal mit, beichte mal weiter!«

»Aber, mein allerliebstes Turandottelchen ...«

»Schon gut, komm mal mit!«

 

An die Ausführung des kühnen Unternehmens konnte nicht sofort gedacht werden.

Fast ununterbrochen, von früh bis abends stellte Nobody an den hypnotisierten Japaner Fragen, denn dieser erzählte nicht von selbst, es mußte alles aus ihm herausgeholt werden, und hierbei kam die ganze Kunst des Interviewers zum Vorschein.

Eine Woche hatte Nobody hierzu angesetzt. Wollte man diese Fragen und Antworten aufschreiben, so würden sie dicke Bände, eine ganze Bibliothek füllen, und dann hätte Nobody alles dies auswendig lernen müssen, denn so etwas behielt doch auch das fabelhafteste Gedächtnis nicht.

Was hätte Nobody nicht alles wissen müssen, um wirklich als der zurückgekehrte Baron Nogi auftreten zu können, daß ein Mißtrauen gegen seine Echtheit gar nicht aufkam! Das ist ja überhaupt ein Ding der Unmöglichkeit. Das geht vielleicht bei einem seit vielen Jahren Verschollenen, der in die Heimat zurückkehrt, aber doch nicht so wie hier in diesem Falle, wo Nogi gleich wieder seine alten Beschäftigungen und Gewohnheiten aufnehmen mußte.

Nur eine Möglichkeit hätte es gegeben: Der bei der Segelregatta Verunglückte stellte sich etwas geistesgestört. Dann hätte er sich nach und nach in die Verhältnisse hineinfinden können. Dann aber wäre ihm alles das entgangen, worauf es ihm hauptsächlich ankam. So z. B. wäre der Baron Nogi doch nicht mehr als geheimer Kurier nach Petersburg geschickt worden, wenn er nur ein einziges Mal das leiseste Zeichen von Geistesgestörtheit verraten hätte.

Aber für unsern Nobody lag ja auch der Hauptreiz darin, sich aus eigner Kraft überall durchzuhelfen. Mitten hineingestürzt und nun los! Hier, ich bin der Baron Nogi, Leutnant bei den Gardedragonern, Adjutant des Generalfeldmarschalls Tikono – melde mich zur Stelle, Exzellenz!

Was brauchte er die Namen seiner vierundzwanzig Kinder zu wissen? Wenn er nur zwei beim Namen rufen konnte, so genügte das schon, die andern erfuhr er nach und nach von selbst.

Aber z. B., ob es dem Gardeleutnant erlaubt war, sich von einer japanischen oder sonstigen Zeitung, über sein Abenteuer bei der Segelregatta interviewen zu lassen, das mußte er wissen! Und so etwas brauchte er sich doch nicht zu notieren. Also alles, was er nicht im Kopfe behalten konnte, brauchte er auch gar nicht erst zu fragen. Er notierte sich einige Adressen, nichts weiter. Er konnte sich doch kein Nachschlagebuch anlegen, das er in Tokio fortwährend zu Rate zog.

Trotzdem nun gedachte er nicht weniger als eine Woche zu gebrauchen, um durch zahllose Fragen nur einigermaßen Einblick in die Verhältnisse zu bekommen, in denen sich Baron Nogi bisher bewegt hatte.

Nicht vergessen darf werden, daß er den Hypnotisierten auch schreiben ließ, was dieser in seinem Zustande genau so konnte wie im Wachsein, und der geniale Detektiv, welcher das Japanische in Wort und Schrift vollkommen beherrschte, malte die Zeichen sofort genau so nach, daß sie von denen seines Doppelgängers gar nicht zu unterscheiden waren.

»In Japan soll doch ein weitverbreitetes Spionagesystem herrschen,« meinte Gabriele einmal bei Gelegenheit.

»Ja, im Spionieren sind die Japaner groß. Die Regierung hat überall ihre Spione, ein zweites System geht vom gelben Drachen aus, und in die Geheimnisse dieses Ungeheuers glaube ich eben als Baron Nogi eindringen zu können.«

»Unterhält Japan auch im Auslande Spione?«

»Ganz gewiß. Man kann annehmen, daß die Hälfte aller jener galanten Jüngelchen, die in unsern Kulturstädten studieren oder als Volontäre Stellung nehmen, von der Regierung besoldete Spione sind.«

»Ich denke immer, wenn Baron Nogi als Spion nach Petersburg geschickt und dort der japanischen Gesandtschaft beigesellt wird, so soll er Spionagedienste verrichten.«

»Das denke ich auch.«

»Wie stellst du dich dazu? Wirst auch du spionieren?«

Nobody hielt lange die Schultern emporgezogen.

»Ich weiß, was du meinst; aber Spionage muß sein und ist durchaus kein unredliches Gewerbe. Ich will dir ganz offen meine Meinung sagen: wenn es einmal zum Kriege zwischen Rußland und Japan kommt, was über kurz oder lang geschehen muß, so stelle ich mich unbedingt auf Seite Japans. Denn diese Insel steht unter englischer Oberhoheit, das muß ich anerkennen, und England wird sich mit Japan verbünden, wenn nicht direkt, dann im geheimen.«

»Weshalb?«

»Weil der Zankapfel zwischen Rußland und Japan Korea ist, und wenn sich Rußland dort festsetzt, so hat England sein Indien verloren. Da ich nun gegenwärtig unter dem Schutze der englischen Flagge stehe, werde ich auch nicht gegen das Interesse Englands handeln. – Dann zweitens: Ich bin geborner Deutscher. Ich bin ein Germane. Der Todfeind des Germanen ist aber nicht der Japaner, nicht der Mongole, sondern der Slave, und der Träger des Slaventums ist der Russe. Der Rassenhaß der Slaven gegen die Germanen wird charakterisiert durch den Nationalhaß der Tschechen gegen die Deutschen. – Also ich sympathisiere, arbeite und fechte niemals für Rußland, sondern für Japan.«

»Es gibt eine Art von Spionage, welche Verrat oder doch Vertrauensbruch ist.«

»Wie weit ich da gehn darf, das überlasse ich meinem Gewissen. Wenn ich die japanische Uniform angezogen habe, so bin ich nicht mehr der Detektiv Nobody, sondern der japanische Leutnant Baron Nogi, und ich habe mich auch genug mit ihm unterhalten, um zu wissen, daß er ein Ehrenmann ist, mag er auch mit chinesischen Piraten unter einer Decke stecken; das hängt alles eng mit seiner glühenden Vaterlandsliebe zusammen, und jedenfalls werde ich stets so handeln, daß Baron Nogi dereinst als braver Offizier und als Ehrenmann in sein Vaterland zurückkehren kann.«

»Ja, aber was soll inzwischen mit ihm geschehen?«

Da waren die beiden wieder bei dem toten Punkt angelangt.

Man konnte es auch von den Hypnotisierten zu hören bekommen. Für sie gab es nur noch eines: den Tod. Sobald sie nur eine Hand frei und in dieser ein Messer hätten, würden sie sich den Leib aufschlitzen, und auch in Ketten würden sie sich an der nächsten Wand den Kopf zerschmettern. Man brauchte ihnen nur eine einzige Minute die Willensfreiheit zu geben.

Man konnte sie ja jahrelang im hypnotischen Schlafe halten. Das geht. Das ist schon gemacht worden. Aber wenn sie dann erwachten, und sie erinnerten sich an alles, so war es immer wieder die alte Geschichte, die Heimat war ihnen verschlossen, nun erst recht, so suchten sie lieber den Tod, oder aber sie erwachten und erinnerten sich an nichts mehr, sie waren Kinder, Tiere, Blödsinnige, und da war der Tod denn doch besser.

»Ich wüßte ein Mittel,« meinte Nobody sinnend, »um die kuriosen Käuze, die ich aber doch hochachte, dem Leben zu erhalten. Man muß sie in eine andre Welt versetzen. Ich denke an eine einsame Insel. Das wäre auch ein höchst interessantes Experiment. Man bringt die Hypnotisierten hin, weckt sie und verschwindet schnell. Sie haben keine Ahnung, wo sie sind. Ich wette zehn gegen eins, daß sie da nicht mehr an Selbstmord denken, sondern an Erhaltung ihres Lebens, wozu natürlich Gelegenheit geboten sein muß. Aber wo solch eine Insel hernehmen?«

»Nun, da gibt es doch im Stillen Ozean eine Unmenge,« entgegnete Gabriele, »wir haben sie doch hier ganz dicht in der Nähe, sie sind bewässert und fruchtbar, etwaige Bewohner werden entfernt ...«

»O nein, das ist nichts,« fiel ihr Nobody ins Wort. »Die sieben japanischen Robinsons würden schnell Mittel und Wege finden, solch eine Insel wieder zu verlassen, und es brauchte ihnen nur zum Bewußtsein zu kommen, daß sie dies können, daß sie die Möglichkeit haben, in die Welt zurückzukehren, so ist auch schon wieder die Selbstmordlust des buddhistischen Japaners da. Nein, ich meine etwas ganz, ganz andres. Ich denke eben an eine für sich abgeschlossene Welt.«

Eine Lösung dieser Frage sollte auf wundersame Weise geschehen.

Trotz seiner Beschäftigung mit Nogi hatte Nobody auch noch für andres Interesse, und vor allen Dingen ließ er sich immer Bericht erstatten, was sein Schützling August Hammer trieb.

Dieser war dem Sekretär Hawsken zugeteilt worden, arbeitete an dessen Seite im Bureau, von dem aus die Inseln verwaltet wurden.

Es war nichts besonders Erfreuliches, was Nobody über seinen Schützling zu hören bekam, wenigstens hatte er sich betreffs des jungen Mannes ganz andre Hoffnungen gemacht.

Wohl war dieser ein überaus fleißiger und ordnungsliebender Arbeiter, aber im übrigen – ein unverbesserlicher Träumer!

Die Arbeitszeit auf der Insel war eine sehr mäßige, doch anstatt nun seine Freizeit dazu zu benutzen, sich das Inselleben zu betrachten und sich mit allem vertraut zu machen, saß August, sobald er abkommen konnte, stundenlang auf einem ins Meer vorspringenden Felsenriff und blickte unverwandt nach dem hohen Schwefelberge. Wenn man ihn einmal brauchte, so wußte man ganz bestimmt, daß man ihn dort fand. Für alles andre hatte er nicht das geringste Interesse. Was gab es an dem nackten Felsenberge zu sehen? Einige Chinesen meißelten unter Anleitung eines Ingenieurs Stufen hinein. Die Arbeit schritt äußerst langsam vor sich, denn es lag in der Natur der Sache, daß auf dem schmalen Wege nur sehr wenige Hände beschäftigt werden konnten; es vermochten ja kaum zwei Menschen nebeneinanderzustehn, die andern mußten nur den Schutt wegräumen.

Schon drei Monate wurde an diesem Gemsenwege gearbeitet, und die Stufen waren kaum 100 Meter hinaufgekommen. Schätzte man die Höhe des Berges auf 1000 Meter, so bedurfte es also einer Arbeitszeit von dreißig Monaten oder zwei und ein halbem Jahr, um das Plateau zu erreichen.

Was tat es? Es war ein Werk für die Ewigkeit. Dann wollte Nobody als erster Mensch, der den jungfräulichen Berg betreten, oben eine Flagge aufpflanzen und vielleicht auch einen Leuchtturm errichten.

Allerdings konnte das Plateau auch in bedeutend kürzerer Zeit erreicht werden, innerhalb weniger Tage. Unersteigbar ist ja keine Felsenwand. Es mußten hohe Leitern angelegt werden, am obern Ende wurden Eisen in die Wand getrieben, sie dienten wieder als neue Stützpunkte der Leiter, und sobald eine Terrasse erreicht war, konnte der darunter liegende Weg mit Leichtigkeit verbessert werden. Freilich wäre es eine furchtbar gefährliche Kletterpartie gewesen, und Nobody hatte so wenig Interesse an dem nackten Felsenplateau, daß er nicht an so etwas dachte.

Was nun hatte der junge Mann beständig die an der Treppe arbeitenden Chinesen zu beobachten? Er war eben ein unverbesserlicher Träumer, und das war das, was der tatkräftige Nobody am allerwenigsten leiden konnte, und das hätte er auch nicht von dem jungen Matrosen erwartet. Irren ist menschlich, und Nobody hatte sich eben geirrt.

Aber es sollte anders kommen.

Es war am vierten Tage, seitdem sich August Hammer auf der Insel befand, als er sich früh am Morgen dem Master melden ließ.

Nobody war gerade mit dem Japaner beschäftigt.

»Ich habe keine Zeit. Was will er?«

»Danach habe ich ihn nicht gefragt,« entgegnete der Diener, welcher sich, falls Nobody einmal etwas brauchte, immer mit in dem Zimmer befand, in welchem der Hypnotisierte vorgenommen wurde.

»Jedenfalls will er die Insel wieder verlassen, er ist der Sache schon überdrüssig geworden. Er soll heute mittag wiederkommen.«

Der Diener ging, kam wieder.

»Herr Hammer läßt sich nicht abweisen. Er sagt, er hätte Ihnen eine wichtige Entdeckung mitzuteilen, die er gemacht habe.«

Nobody stutzte. Das war etwas, was ihm gefiel.

Hammer mußte eintreten.

»Es ist wegen des Schwefelbergs,« begann er. »Da oben kann kein nacktes Felsplateau sein, sondern der Berg ist hohl, bildet ein Tal, und dieses Tal hat Vegetation und ist mit einer Tierwelt belebt.«

Und der junge Matrose begann für seine Behauptungen den Beweis zu führen. Schon mit bloßen Augen hatte er auf dem Berge spezifische Landvögel erkannt, deren Namen er aufführte. Sie flogen nicht von und nach dem Berge, sondern sie waren früh und abends da; dort oben war ihre Heimat. Auch Raubvögel schwebten hoch in der Luft und stießen mit Vehemenz herab, also auf eine erspähte Beute.

»Sie stoßen auf kleinere Vögel.«

»Ich habe einen Adler gesehen, welcher, als er wieder aufstieg, etwas zwischen den Fängen trug. Ich hatte ein Fernrohr bei mir – es war ein vierfüßiges Tier, vielleicht ein Fuchs oder ein Hase.«

Mit immer größern Augen betrachtete Noboby den jungen Mann, welcher so still und bescheiden vor ihm stand und dennoch seine Ansichten auf das bestimmteste zu verfechten wußte.

»Es ist ja möglich, daß auf dem Plateau eine Vegetation entstanden ist. Es ist sogar möglich, daß es dort oben in 1000 Meter Höhe vierfüßige Tiere gibt, wenn es mir auch nicht ganz klar ist, wie die hinaufgekommen sein sollen, wie aber kommen Sie zu der Ansicht, daß der Berg ein Tal enthalten könne?«

»Gestern, am Sonntag, habe ich eine Segelpartie um den ganzen Berg herum gemacht. In der Nacht zuvor hatte es stark geregnet, auch gestern rieselte es den ganzen Tag, und ich habe auf keiner Seite des Berges einen Wassersturz herabkommen sehen. Das Regenwasser fließt nach innen ab.«

Da plötzlich sprang Nobody auf und blickte zur Decke empor.

»Nun sind wir schon drei Monate hier und haben den Schwefelberg tagtäglich vor Augen gehabt,« rief er, »und wir alten, erfahrenen Männer müssen uns erst von diesem Jungen auf das Phänomen aufmerksam machen lassen, daß von dem vermeintlichen Plateau kein Wasser abfließt!!«

»Ich hätte Sie nicht gestört und Ihnen meine Mitteilung erst heute mittag gemacht,« fuhr Hammer fort, »wenn ich nicht gehört hätte, daß noch heute vormittag der Fesselballon geprüft werden soll, und dann geht er doch gleich ab nach der Perleninsel.«

Das war auch wieder etwas, woran selbst Nobody nicht gedacht hatte.

Es war ein Luftballon angeschafft worden, der auf der Perleninsel gefesselt angewendet werden sollte, um die ausgiebigsten Muschelbänke auf dem Meeresgrunde ausfindig zu machen, so daß die Taucher nicht erst lange zu suchen brauchten. Je höher man sich nämlich befindet, desto tiefer kann man in das Wasser hinabblicken. Wenn von Deck eines ankernden Schiffes aus gar nichts vom Grunde zu sehen ist, so braucht man nur auf eine Raa zu steigen, um ganz deutlich den Anker und den ganzen Grund zu erkennen, und je höher man steigt, desto klarer wird alles. Natürlich gibt es dabei eine Grenze, und schlammig darf das Wasser auch nicht sein.

Der Fesselballon war erst gestern hier angekommen, heute sollte er geprüft werden, wozu schon die Vorbereitungen getroffen wurden. Auf den Inseln waren Kohlen gefunden worden; man bereitete sich bereits sein eignes Leuchtgas, und nach der Felsenklippe sollte solches in komprimiertem Zustande mitgenommen werden. Aber daran, den Ballon zu benutzen, um einmal auf den Schwefelberg hinaufzukommen, hatte Nobody wirklich nicht gedacht. Allerdings hatte er bisher auch kein besonderes Interesse dafür gehabt.

»Ja, mein lieber Freund, da sind Sie wohl im Irrtum. Sie kennen die Beschaffenheit eines Fesselballons nicht. 1000 Meter steigt der nicht, höchstens 200. Weiter reicht das Seil nicht.«

»Ohne Fesselleine, meine ich.«

»Ach so, eine freie Fahrt! Ob der Ballon 1000 Meter Höhe erreicht?«

»2000 Meter und noch mehr, und die Fesselleine ist so schwer, daß der Ballon noch stark belastet werden muß, sonst würde die Abfahrt nicht gelingen, der Ballon wäre gar nicht zu halten und würde gleich wie eine Kanonenkugel emporschießen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Nobody überrascht.

»Ich habe mich bei dem Ingenieur erkundigt.«

»Sie haben dem Ingenieur von Ihren Beobachtungen erzählt, wie Sie der Ansicht sind, daß der Schwefelberg ein Tal enthält?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»So etwas tue ich nicht. Ich habe niemandem gesagt, was ich beobachtete und was ich dachte, und als ich meiner Sache ganz sicher war, wollte ich zuerst zu Ihnen gehn. Was brauchen die andern zu wissen, was ich treibe und denke? Wenn Sie es wollen, werden es die andern schon schnell genug zu erfahren bekommen. Ich habe den Ingenieur scheinbar aus Neugierde ausgefragt, wie hoch so ein Ballon steigen kann, wenn kein schweres Tau daranhängt.«

Nobody warf dem Sprechenden einen langen Blick zu, dann sah er zum Fenster hinaus nach dem aufsteigenden Rauch und den über den Schwefelberg streichenden Wolken. »Es ist gerade Südwind, der Ballon würde von dem Berge wegtreiben, und meine Wetterbeobachter erklären, daß dieser Südwind noch einige Wochen anhalten wird.«

»In zwei Stunden haben wir direkten Nordwind,« sagte Hammer.

Ueberrascht blickte Nobody ihn an. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich sah vorhin Delphine schwimmen, nach Süden, sie änderten ihre Richtung immer mehr, beschrieben förmlich einen Bogen, bis sie ihre Tour direkt nach Norden fortsetzten, und wenn die Delphine das tun, dann springt stets der Wind innerhalb zwei Stunden um.«

»So? Das müßten meine Seeleute doch auch wissen, und die haben mir noch nichts gesagt.«

»Das glaube ich schon.«

»Das glauben Sie schon?«

»Ja, mir hat es doch auch niemand gesagt.«

»Woher haben Sie es denn erfahren?«

»Das habe ich in den drei Jahren, die ich auf See fuhr, immer an den Delphinen beobachtet. Sie schwimmen stets gegen den Wind.«

»Ja, das weiß ich auch. Und wenn sich der Wind dreht, so wenden sie sich ihm eben immer wieder entgegen.«

»Aber sie ändern ihre Richtung schon immer ungefähr zwei Stunden vorher,« beharrte Hammer. »Wie sie wissen können, woher zwei Stunden später der Wind kommen wird, das kann ich freilich auch nicht sagen, das ist wohl Instinkt. Aber 's ist so, ich habe es wohl hundertmal beobachtet.«

»Haben Sie diese Beobachtung Ihrem Kapitän oder sonst jemandem mitgeteilt?«

August zögerte etwas, ehe er Antwort gab. »Nein,« sagte er dann kleinlaut.

»Weshalb nicht?«

»Man hätte mich ausgelacht, und dann braucht man das ja bei der Segelschiffahrt auch gar nicht zu wissen, da richtet man eben die Segel so, wie man es gerade braucht, um den Wind am besten ausnützen zu können.«

»Wenn Sie recht haben,« sagte Nobody mit Nachdruck, und es klang sogar feierlich, »wenn in zwei Stunden der Wind wirklich von Norden kommt, dann sollen Sie ... gehn Sie zu der Ballonstation und sagen Sie den Ingenieuren, sie sollen den Ballon zu einer freien Fahrt fertig machen!«

In des jungen Mannes Augen blitzte es auf, als er zur Tür schritt.

»Halt!«

Jener blieb stehen.

»Wissen Sie, was für einen Beweis ich Ihnen soeben gegeben habe?«

»Ja.«

»Nun?«

»Dadurch, daß Sie den Ballon schon klar zu einer freien Fahrt machen lassen, was sehr viel Arbeit erfordert, zeigen Sie, daß Sie nicht an der Richtigkeit meiner Behauptung zweifeln. Sie schenken mir Vertrauen.«

»Gut gesagt, und so ist es. Jetzt gehn Sie, ich komme sofort nach.«

Der Wind drehte sich wirklich, bis er nach zwei Stunden direkt aus Norden kam und so blieb.

Jetzt erst machte Nobody einem andern Menschen Mitteilung, wie richtig sein Schützling prophezeit hatte, auch von den Beobachtungen, daß sich auf dem Schwefelberg kein Plateau befinden könne, und zwar war es seine Frau, der er zunächst alles erzählte, und Nobody sprach mit triumphierenden Worten.

»Und habe nicht auch ich recht gehabt?« setzte er dann mit womöglich noch größerm Triumph hinzu. »Ich weiß wohl, auch ihr habt euch heimlich belustigt, weil ich in diesem dummen August so Großes erkennen wollte, geradeso wie auch Kapitän Grohmann mich auslachte. Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und das bin ich! Dieser so stille Junge ist ein Pfiffkopf, auf den ein Dutzend kluge Schwätzer gehn; was der spricht und tut, das hat alles Hand und Fuß, denn sonst spricht er eben nicht, und das habe ich ihm gleich auf den ersten Blick angesehen. Na, nun sage nichts mehr – auch du hast gedacht, ich hätte mich nur in den Wahn verrannt, in dem Jungen müßte durchaus etwas Großes stecken. Jawohl, ich werde allerdings noch etwas Großes aus ihm machen!« –

Unter Leitung des Mr. Mitchell, Ingenieurs und speziellen Aeronauten, war der große Ballon gefüllt worden und harrte der Befreiung von seinen Fesseln.

Da er dazu bestimmt war, ein 200 Meter langes, sehr starkes Hanfseil zu tragen, welches 18 Zentner wog, so mußte mindestens ebensoviel Sand als Ballast mitgenommen werden. Der Wind würde den Ballon sofort gegen den sich in nächster Nähe erhebenden Schwefelberg treiben, aber das schadete nichts ... Die Luftbewegung war nur schwach, und die Felswände waren so glatt, daß sie der starken Seidenhülle nichts anhaben konnten; auch die Gondel würde jeden Anprall aushalten, gerade weil sie nur aus elastischen Bambusstäben zusammengesetzt war.

Außer Nobody und Mitchell sollte auch August Hammer die Fahrt mitmachen. Obgleich man nur einmal über den Berg hinwegtreiben wollte, wurden für alle Fälle auch Waffen und genügend Proviant und alles sonst Nötige mitgenommen, um selbst eine lange Ballonfahrt aushalten zu können.

Alles war fertig. Der freigelassene Ballon schoß in die Höhe und ging dann in schräger Richtung gegen die Felswand los, sprang wie ein Gummiball ab, dann klatschte die Korbgondel daran, und das wiederholte sich immer wieder.

Es gab tüchtige Püffe, nichts weiter.

Zehn Minuten waren vergangen, man näherte sich dem Ende der Felswand. Zum Glück war der Grat überall abgerundet.

Aufkreischend flogen Möwen und andre Vögel davon, auch bunte Papageien, kehrten aber sofort wieder nach dem Plateau zurück und verschwanden. Wohin, das mußte man in den nächsten Augenblicken erfahren.

Doch der Ballon hatte zu steigen aufgehört, er kam in die Schwebe. Er selbst befand sich schon über dem Grat, die Gondel noch darunter. Da verlor der Ingenieur seinen Hut, er fiel in die Tiefe, und schon die Verminderung um dieses geringe Gewicht veranlaßte ein merkliches Steigen.

Nun bloß noch ein Säckchen Sand über Bord geschüttet, und der Ballon riß die Gondel in die Höhe! Frei schwebte diese nach Süden über den Berg dahin.

»Sapristi!!« erklang es erstaunt.

Man mußte sich beeilen, um nur einen allgemeinen Ueberblick zu gewinnen. Denn weht auch nur ein schwacher Wind, so legt ein solcher doch noch mindestens 10 Meter in der Sekunde zurück, so schnell segelt dann auch der Ballon; da waren die 4000 Meter, welche man vor sich hatte bis zum andern Ende des Berges, gar rasch durcheilt.

Nicht ein Plateau sah man, auch keine Einsenkung, sondern das Innere des Berges war hohl; er bildete also einen Kessel, welcher von einer natürlichen Mauer umschlossen war, die sich auch nach innen jäh hinabsenkte, nicht einmal Vorsprünge zeigend, noch weniger Terrassen.

So ganz regelmäßig war die Mauer freilich nicht. Die Breite des obern Randes wechselte schon auf dieser Seite vielleicht zwischen 5 und 30 Metern, aber auf der andern Seite schien die Wand durchweg sehr dünn zu sein. Dieser obere Teil der Felsenmauer, der sich aber auch etwas nach innen neigte, so daß alles Regenwasser ebenfalls in das Innere des Berges abstießen mußte, war dicht mit Vogelnestern bedeckt.

Was für ein wundersames Naturspiel war das? War das ein erloschener Krater? Das sah gar nicht so aus.

Man hatte jetzt keine Zeit, solche Fragen zu beantworten, nicht einmal sie aufzustellen, der Blick mußte sich beeilen, und er wanderte hinab in die Tiefe.

Und was bekam das Auge zu sehen? Tief, tief dort unten wucherte eine üppige Vegetation; die hervortretenden Spitzen mußten mächtige Bäume sein, durch grüne Triften schlängelten sich Bäche als silberne Fäden, sie endigten im glänzenden Spiegel eines Sees ...

»Was tun Sie?« schrie der Ingenieur erschrocken.

Nobody hatte die Leine des Ventils gezogen, augenblicklich begann sich der Ballon, der sich gerade in der Mitte des Kessels befand, zu senken.

»Ich will mir die ummauerte Insel dort unten näher ansehen; diese Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehn,« war die gelassene Antwort.

»Wir kommen nicht wieder heraus, wir sitzen in einer Falle!!«

»Das lassen Sie meine Sorge sein! Bringe ich Sie hinein, so bringe ich Sie auch wieder heraus. Regulieren Sie das Ventil, daß nur eben so viel Gas entweicht, wie zum langsamen Abstieg nötig ist.« Der Ingenieur gehorchte. Leider mußte, da jetzt gerade die Sonne hinter einer Wolke hervortrat und auf den Ballon brannte, etwas mehr ausgelassen werden, als sonst nötig gewesen wäre.

Da hier innerhalb der himmelhohen Mauern eine vollständige Windstille herrschte, senkte sich der Ballon mit der Gondel schnurgerade hinab. Nach physikalischen Gesetzen mußte sich der Fall immer mehr beschleunigen – wenn auch nicht mit dem freien Falle eines Steines vergleichbar – doch schon das Auswerfen einiger Hände voll Sand genügte, um das wieder aufzuheben.

Eine Patrone, welche Nobody über Bord warf, fiel gerade auf eine Waldblöße, nur von wenigen Bäumen bestanden, und da die Gondel genau dieser Richtung folgte, und man das Sinken des Ballons vollständig in seiner Gewalt hatte, so mußte es eine ideale Landung werden, wie ein Luftballon sie nur selten gehabt hat. Die Gondel strich an den Zweigen einer riesenhaften Platane vorbei, welche an Höhe mit einigen Bäumen Kaliforniens und Australiens wetteiferte – Bäume, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen können – in den Aesten suchte schnatternd eine Herde Affen das Weite – dann versank die Gondel in einem grünen Grasmeer.

Nur ein ganz sanfter Stoß erfolgte. Mr. Mitchell hatte Zeit gehabt, den Landungsplatz zu mustern und Instruktionen zum Manöver zu erteilen. Auch Nobody ließ sich von dem erfahrenen Aeronauten anstellen.

Sofort, als die Gondel aufstieß, zog Mitchell das Ventil, um noch etwas Gas herauszulassen. Unterdessen waren Nobody und Hammer schon herausgesprungen, jeder eilte mit einer Leine dem nächsten ihm bezeichneten Baume zu, um das Seil daran zu befestigen. Dann folgte ihnen der Ingenieur mit einem dritten.

Aber das war eine schwere Arbeit! Nämlich durch dieses Gras zu kommen. Drei Meter war es mindestens hoch. Dabei waren die Halme gar nicht so stark, nicht etwa wie Rohr, wie das Präriegras, sondern ganz dünn und weich. Trotzdem oder gerade deswegen legte es sich wie Schlingen um die Beine, und die Füße wurden förmlich von einem Grasfilz umstrickt. Doch sie kamen durch; den Standpunkt der Bäume hatten sie sich genau gemerkt; der noch faltenlose, wenn auch schon viel kleiner gewordene Ballon war gefesselt.

Ein Hase war vor Nobody aufgesprungen; ein wildes Huhn hätte er bald totgetreten; ein riesiger, prachtvoller Schmetterling mußte wirklich den Tod durch Nobodys Fuß erleiden. Langgeschwänzte Affen, Opossums, weiße Eichhörnchen und andre Baumtiere schauten aus den Zweigen den Arbeitern zu.

Sie trafen sich an der Gondel wieder.

»Na, was sagst de denn dazu,« fing Nobody mit dem Refrain eines allbekannten Gassenhauers an.

»Man möchte es gar nicht glauben,« meinte der Ingenieur.

Hammer äußerte gar nichts. Es war auch von hier aus nicht viel zu sehen, nicht einmal der nächste Baum. Viel mehr als der riesige Graswuchs mit tropischen Blumen, auf denen sich prachtvolle Schmetterlinge schaukelten, von Käfern aller Art belebt, war nicht zu bewundern. Dann entdeckte man noch oben an den Grashalmen das winzige Nestchen eines Kolibris.

»Wenige Schritte von hier ist ein ziemlich breiter, aber seichter Bach, in dem können wir marschieren,« sagte Mitchell, aus der Gondel ein großes Messer mit schwerer Klinge nehmend, zum Kappen der Taue bestimmt.

»Jawohl, dort drüben an meinem Baume fließt er vorüber,« bestätigte Hammer, »ich habe auch schon viel Fische drin gesehen.«

»Was wollen Sie mit dem Kappmesser?« fragte Nobody.

»Uns einen gangbaren Weg durch das Gras hauen,« entgegnete der Ingenieur; »wir werden es noch oft brauchen; ich sah von oben auch Schlingpflanzen zwischen den Bäumen hängen.«

»Nein,« entschied jedoch Nobody, »es wird kein Weg gebahnt! Was wir niedertreten, richtet sich schnell wieder auf, doch abgeschnittenes Gras bleibt lange sichtbar, und ich will dieser ummauerten Wildnis ihre Jungfräulichkeit lassen. Dagegen werden wir Waffen mitnehmen, wir könnten auch mit Raubtieren zu rechnen haben.«

Sie bewaffneten sich mit Gewehren und Revolvern, und nachdem sie einmal den breiten, aber seichten Bach erreicht hatten, konnten sie in demselben schnell fortkommen, bekamen auch mehr von der Vegetation und Tierwelt zu sehen.

Die drei Männer, welche schon in allen Weltteilen gewesen waren, wurden sich einig, daß sich hier die indische Flora und Fauna mit der australischen vermischte. Besonders die Insekten gehörten Indien an, die sehr zahlreichen weißen Eichhörnchen speziell Java, das Opossum, kleine Känguruhs und andre Beuteltiere hatten ihre Heimat in Australien. Aber auch Amerika und Europa kamen in Betracht. Die überall herumschwärmenden Kolibris, nicht viel größer als Hummeln, wie Diamanten schillernd, sind nur in Amerika zu Hause; nur in Südamerika kommen Affen mit Wickelschwänzen vor. Die Hasen, von denen es hier wimmelte, erinnerten an Europa, desgleichen die im Wasser spielenden Forellen. Dasselbe galt von der Pflanzenwelt. Neben dem australischen Gummibaum stand der indische Baobab mit Brotfrüchten. Um das riesige Farnkraut von Neuseeland schlang sich die Vanille, und am Stamme eines deutschen Apfelbaumes gedieh die westindische Ananas.

Das war aber doch nur dem Anscheine nach der Fall.

Nobody fing einen der blitzschnellen Kolibris mit der Hand, ein Kunststück, welches ihm so leicht keiner nachmacht, und untersuchte das winzige Tierchen, das gleich am Herzschlag verendet war.

»Nein, das ist kein amerikanischer Kolibri,« erklärte er. »Es ist nur ein sehr kleiner und sehr bunter Vogel; er baut sein Nest auch an Grashalmen, aber sonst hat er mit dem amerikanischen Kolibri keine Aehnlichkeit, es ist eine ganz andre Art. Dasselbe gilt von den Affen. Das sind indische Affen, bei denen sich hier nur Klammerschwänze ausgebildet haben, und das sind auch keine nordeuropäischen Hasen, das sind keine Gebirgsforellen, obwohl sie so aussehen. Betrachten Sie sie nur näher! Die haben ja die Augen ganz oben am Kopfe und das Maul weit unten.«

Ebenso war es mit den Pflanzen. Der Apfelbaum glich in den Blättern ganz seinem deutschen Vetter, aber in der Frucht fand man einen Steinkern. Die Ananas enthielt eine milchige Flüssigkeit.

Die Sache war die: diese von einer natürlichen Mauer eingeschlossene Insel besaß in der Tier- und Pflanzenwelt ihre eignen Spezies, die sich im Laufe der Jahrtausende selbständig entwickelt hatten.

Das steht durchaus nicht ohne Seitenstück da. Es gibt vielmehr eine ganze Menge von Inseln, deren jede ein besonderes Insekt, Reptil, Raubtier oder sonst etwas hat, was nirgends anderswo in der Welt zu finden ist, und diese Inseln sind von keiner Mauer abgeschlossen.

Das stärkste Beispiel aber liefern die Gallopagos-Inseln, die Heimat der riesigen Lederschildkröten, die nur hier ihre Eier ablegen. Alexander von Humboldt hat auf diesen Gallopagos-Inseln mehr als hundert neue Arten von Insekten, Muscheln und Vögeln gefunden, welche sonst nirgends auf der Erde anzutreffen sind, nirgends fortkommen!

Wer löst dieses Rätsel? Humboldt hat es nicht vermocht. In ihre tiefsten Geheimnisse, in die der Schöpfung und was damit zusammenhängt, läßt sich die Natur nicht blicken.

Warum gibt es in Irland keine Frösche und Eidechsen? Was für Anstrengungen haben nicht schon Gelehrte und Gartenbesitzer gemacht, wegen der vielen Schnecken die überaus nützliche Kröte in Irland einzubürgern! Schiffsladungsweise hat man sie aus Frankreich importiert! Alles vergeblich! Die Tiere sterben, obgleich das feuchte Irland mit seinem frischen Gras der Existenz dieser Lurchen doch so günstig zu sein scheint – nach menschlichem Ermessen!

Sinnend betrachtete Nobody das tote Vögelchen in seiner Hand, sinnend die mächtigen Farnwedel, die so dünne Stengel hatten, das mit den schlanken Halmen so ungeheuer emporgeschossene Gras, und dann blickte er zum Himmel empor, wo die Wolken von einem stärker gewordenen Winde gejagt wurden, während sich hier unten auch nicht das leiseste Lüftchen regte.

»Wie diese Tiere hierhereingekommen oder wie sie sonst hier entstanden sind, weiß ich nicht,« sagte er, »aber das eine steht fest: nur hier können sie existieren, nirgends anders, und vergebens würde man versuchen, sie lebend von hier fortzubringen! Schon der kleinste Windhauch würde auf sie wie ein tödliches Gas wirken!«

Im übrigen zerbrach sich Nobody nicht weiter den Kopf über die Rätsel der Weltschöpfung. Er nahm alles, wie es war. Etwas andres aber fiel ihm ein.

»Seltsam, ganz seltsam!« murmelte er. »Da mußte Flederwisch auf mein Geheiß den Kokotten in Monte Carlo etwas von einer Insel an der afrikanischen Küste vorphantasieren, von einem Felsenberge, der in seinem Innern ein Paradies berge, von dem kein Mensch etwas wisse – und hier im Stillen Ozean finde ich in Wirklichkeit solch eine Felseninsel. Seltsam!«

Sie wateten weiter in dem Flüßchen, bis sie den kleinen See erreichten. Von Schlangen und Raubtieren hatten sie bisher noch keine Spur bemerkt, aber überall flohen Hasen und hühnerähnliche Laufvögel vor den Herren der Schöpfung.

»Mir kommt es fast vor,« meinte Mr. Mitchell, »als hätten die Tiere doch schon einmal unangenehme Bekanntschaft mit Menschen gemacht, sie sind gar so scheu!«

»Hören Sie,« entgegnete Nobody, »daß im andern Falle die Tiere dem Menschen freudig entgegenspringen, das halte ich für einen faulen Schwindel. Ich habe ein Buch des französischen Afrikareisenden Leblanc gelesen; darin schildert er, wie er in eine Oase gekommen ist, die noch von keinem menschlichen Fuße betreten worden war, und wie da die Gazellen ihm aus der Hand fraßen, die Vögelchen sich ihm gleich auf den Kopf setzten und ihm die Läuse absuchten. Wenn dieser Monsieur Leblanc so etwas erzählt, dann glaube ich fast, daß er überhaupt nicht in Afrika gewesen ist. Ich war auch in Gegenden, von denen ich bestimmt weiß, daß ich der erste Mensch dort gewesen bin, aber alles, was da kreucht und fleugt, riß vor mir wie Schafleder aus. Teufel noch einmal, soll so ein Hase auch nicht erschrecken, wenn solch ein zweibeiniges Ungeheuer anspaziert kommt?«

Da auch der beste Ballon aus der stärksten Seide immer Gas ausläßt, konnte der Aufenthalt auf der Insel nur von kurzer Dauer sein, und Nobody wollte ihn dazu benutzen, zu untersuchen, ob es irgend eine Stelle gebe, wo die Felswand von innen zu ersteigen sei.

Den See mühsam umgehend, fand man einen zweiten Bach, den man aufwärts verfolgte, bis man auch wirklich die steile Felswand erreichte. Aber immer an dieser entlangzugehn, das war wegen der Dichtigkeit der Vegetation, und besonders wegen der Schlingpflanzen, wenn man kein Messer gebrauchen wollte, unmöglich, und da das Terrain neun bis zehn Quadratkilometer umfaßte, so hätte man doch wenigstens einen Tag gebraucht, um sich mit dem Messer einen Weg zu bahnen.

So gaben die Herren ihren Vorsatz vorläufig auf. Sie fanden einen dritten Bach, der ebenfalls einer Felsspalte entsprang, und machten sich auf den Rückweg, zunächst wieder nach dem See.

»Wie ich vom Ballon aus gesehen habe,« sagte der Ingenieur, »befindet sich an der östlichen Seite ein noch viel größerer See.«

»Dort, wo die äußere Felswand so ganz steil ohne Terrassen in das Meer hinabstürzt?« fragte Nobody.

»Ja, er grenzt dicht daran, sein Wasser spült daran, und auf der andern Seite das Meer. Es ist dort so tief, daß es auch für die größten Schiffe fahrbar ist, und gerade dort scheint die Mauer sehr dünn zu sein. Wenn da gesprengt würde, und der Niveauunterschied zwischen See und Meer ist nicht zu groß, was wir mit dem Barometer leicht feststellen können, so ließe sich hier eine unüberwindliche Festung mit sicherm Hafen schaffen.«

»Hm, daran habe ich auch schon gedacht. Aber wozu alles in eine Festung verwandeln und mit Kanonen spicken? Nein, mit diesem ummauerten Paradiese habe ich etwas andres vor. Das ist ja gerade, was ich mir gewünscht habe. Hierher kommen meine sieben Japaner, und diese als Robinsons in ihrer Entwicklung beobachten zu können, das ist auch etwas, was noch nicht dagewesen ist. Brauchen wir aber eine Festung, so kann das noch immer im Handumdrehen ...«

»Mr. Nobody!« rief da Hammer, der etwas vorausgegangen war.

Er hatte das Ufer des Sees schon erreicht; dort stand er, noch im Wasser des Baches, und deutete mit ausgestrecktem Arme auf das Land.

Schnell waren die beiden andern an seiner Seite, und was sie da zu sehen bekamen, das war allerdings dazu angetan, ihre Bestürzung zu erregen.

Das Ufer des Sees war mit kurzem Grase bestanden; an einer Stelle war dieses niedergetreten, und hier lagen viele Muschelschalen, mit Gewalt erbrochen, ferner Gräten und Köpfe von Fischen, und zum Ueberfluß waren in dem weichen Sande dicht am Wasser auch noch große Spuren abgedrückt.

»Ein menschlicher Fuß!!« rief der Ingenieur.

»Und was für mächtige Quadranten hat der Kerl!« setzte Nobody in seiner trocknen Weise hinzu; dann fuhr er fort: »Geht barfuß, hat sehr lange Nägel an den Zehen, ißt Muscheln und Fische roh. Ob er kein Feuer besitzt oder solches überhaupt nicht kennt, ist deshalb noch die Frage.«

Er hob einige Muschelschalen auf und betrachtete sie aufmerksam.

»Die hier scheint er aufgerissen zu haben, aber an diesen beiden hier sind die Spuren von Zähnen zu erkennen. Daraus wäre zu schließen, daß es ein vollkommener Wilder ist, der nicht einmal ein Steinmesser besitzt. Gibt es aber einen solchen Wilden? Nein. Nun, wir werden uns den Burschen gleich näher besehen, die Spur ist noch ganz frisch. Habt ihr Stricke oder Riemen bei euch? Nein? Dann schnallt eure Patronengürtel ab!«

Sofort begann Nobody, das Auge an den Boden geheftet, am Ufer des Sees entlangzugehen, bis er in das Gebüsch drang. Die Nachkommenden konnten die geringe Spur im Grase, welcher Nobody so schnell und sicher folgte, nicht bemerken. Außerdem wußte sich dieser viel geschickter durch die Schlingpflanzen zu winden, als sie, so daß sich der Abstand von seinen Gefährten immer mehr vergrößerte.

Weit sollte er nicht zu gehn brauchen. Er hatte eine kleine Waldblöße erreicht, über welche sein scharfes Auge die Spur im Grase deutlich hinweglaufen sah, und wenn er auch seine Umgebung beobachtete, so war sein Hauptaugenmerk doch auf diese Spur gerichtet, als er plötzlich hinter sich ein heiseres Brüllen vernahm, und ehe er sich umwenden konnte, wurde sein Hals von riesenhaften Fingern umklammert.

Seine Begleiter hatten gesehen, wie sich das furchterregende, haarige Ungeheuer von hinten auf ihren Master geworfen hatte und ihn zu erdrosseln, ihm wohl auch die Zähne in den Hals zu schlagen suchte.

»Ein Gorilla!!« schrie der Ingenieur und sprang mit gezogenem Jagdmesser seinem Herrn zu Hilfe.

Aber Nobody brauchte diese nicht. In dem Augenblick, als er die Finger an seinem Halse fühlte, drehte er, obgleich sein Kopf wie in einen Schraubstock eingespannt war, sich um, packte mit der einen Faust die haarige Kehle des Ungeheuers, die andre Faust führte in dessen Bauch einen furchtbaren Boxer-Hieb, den auch kein Gorilla hätte aushalten können.

Das haarige Ungeheuer, welches den Menschen wohl um Kopflänge überragte, ließ denn auch sofort sein Opfer los, schloß die Augen, stöhnte auf gräßliche Weise und taumelte zurück – da war Nobody schon wieder bei ihm, umschlang ihn, hob ihn aus, schmetterte ihn zu Boden, und zwar so, daß er auf den Bauch zu liegen kam, und als der Ingenieur zur Stelle war, kniete Nobody schon, zwischen seinen Zähnen Lederriemen, auf dem Rücken des Ungetüms und preßte ihm hinten die Arme zusammen.

»Bindet ihm die Füße, ich übernehme die Hände!!«

Das Fesseln war schnell geschehen, so sehr sich die menschliche Bestie auch wand, was aber eher von Magenkrämpfen infolge des Fausthiebes herrühren mochte, denn sie stöhnte und rang nach Atem.

Sobald Nobody mit dem Binden der Hände fertig war, sprang er auf und verfolgte noch einmal die Spur. Denn er hatte diese ja vor sich gehabt, und der Affenmensch war ihm von hinten angesprungen.

Allein bald überzeugte er sich, daß der Wilde hinter der Waldblöße im Gebüsch um diese herumgeschlichen war, um dem Manne, der ihn verfolgte, heimtückisch in den Rücken zu fallen, was ihm freilich schlecht bekommen war.

»Es ist nur der eine,« sagte Nobody, wieder aus dem Gebüsch tretend, »und ich bezweifle sehr, daß es noch ein andres solches Wesen auf der Insel gibt.« Die beiden Zurückgebliebenen waren soeben erst mit dem Fesseln der Füße fertig geworden. Staunend betrachteten sie das Ungeheuer, von dem sie vorläufig allerdings nur den Rücken sehen konnten, und mit keinem geringeren Staunen heftete der Ingenieur dann seine Augen auf den zurückkommenden Nobody.

»Das war ein Meisterstück, wie Sie diese Bestie überwältigten! Jeder andre wäre verloren gewesen.«

»Es ist kein Affe, es ist ein Mensch,« sagte Hammer.

»Ja, und ich halte ihn nicht für einen wirklichen Wilden, sondern für einen verwilderten Menschen. Hierbei ist nämlich ein großer Unterschied. Nun, betrachten wir ihn von der andern Seite!«

Sie rollten ihn herum, daß er auf den Rücken zu liegen kam. Keiner von den dreien hatte bisher das Gesicht sehen können.

Es war ein sehr großer Mann, etwas über zwei Meter groß, hager, aber breitschultrig, sehnig und muskulös. Der ganze Körper war mit rotbraunem Haar bedeckt, mit Ausnahme der obern Partie des Gesichtes, der Knie, der Hände und der Füße. Dieses Körperhaar war nicht allzu lang. Dagegen reichte ihm das Haupthaar fast bis an die Kniekehlen, und von Mund und Wangen wucherte ein rotbrauner Bart bis hinab auf den Leib.

Und das Gesicht selbst? Wohl machte es einen schrecklichen Eindruck, aber das kam daher, daß es jetzt vor Furcht verzerrt war; die blutunterlaufenen Augen rollten in wilder Angst von einem der Männer zum andern. Die gelbbraune, lederartige Haut kam noch dazu; aber sonst waren es menschliche, ganz normale Züge: kein hervortretendes Kinn, was besonders den Tiermenschen charakterisiert, nicht einmal aufgeworfene Lippen, keine abstehenden Ohren.

»Das ist ein Kaukasier, ich erkenne es aus der Schädelbildung,« sagte Nobody, »ich halte ihn sogar den Zügen nach für einen Germanen.«

Er beugte sich über ihn.

»Sprechen Sie deutsch? Speak English? Parlez-vous français? Parla ...«

Er hatte ihm den Kopf streicheln wollen. Da schnappte das Ungeheuer nach Nobodys Hand, wobei ein wahrhaftes Wolfsgebiß zum Vorschein kam.

»Das Luder beißt,« sagte Nobody, nahm noch einen Lederriemen und schlang ihn dem Wilden um Kinn und Kopf, daß er den Mund nicht mehr öffnen konnte.

»Nachdem wir hier schon Wunder genug zu schauen bekommen haben,« nahm der Ingenieur das Wort, »ist da die Annahme zu kühn, daß wir es hier mit einem menschenähnlichen Wesen zu tun haben, welches die von aller Welt abgeschlossene Insel ebenfalls selbständig erzeugt hat?«

»Nein, das will mir nicht recht in den Kopf,« entgegnete Nobody. »So ganz unmöglich wäre es ja nicht, aber dann, dem werden Sie doch beistimmen, müßte es auch noch andre solche Geschöpfe hier geben, vor allen Dingen auch weibliche. Geboren worden muß der Kerl doch sein. Nein, das ist ein Mensch, der sich hierherein verirrt und den Ausweg nicht wieder gefunden hat, sich nicht zu helfen wußte und so nach und nach zum Tiere herabgesunken ist. Solche verwilderte Menschen sind oft gefunden worden, besonders in den großen Wäldern Amerikas und Sibiriens, und immer war ihr Körper mit dichten Haaren bedeckt. Die Natur gibt ihnen als Ersatz für die verlorne Kleidung einen Pelz.«

»Ja, wie soll er aber hierhergekommen sein?« meinte der Ingenieur.

»Das weiß ich vorläufig auch noch nicht.«

»Sollte es ein Loch in der Felswand geben, durch das man kriechen kann?«

»Das wäre mir sehr fatal, und das bezweifle ich auch.«

»Dann hätte dieser Mann, der doch sicher schon jahrelang hier haust, den Ausgang doch auch wieder gefunden.«

»Das denke ich ebenfalls,« entgegnete Nobody, der aber sonst seinen eignen Gedanken nachzuhängen schien.

»Oder sollte es möglich sein, außen an der Felswand emporzuklettern?«

»Nein, das ist ganz und gar ausgeschlossen, daraufhin habe ich diese selbst schon zu genau untersucht.«

»Ja, wie soll er aber sonst über die himmelhohe Mauer gekommen sein?«

»Das ist das erste Rätsel, welches es jetzt zu lösen gilt, und mir auch ganz unerklärlich.«

August Hammer hatte dieser Unterhaltung still zugehört. »Ich wüßte wohl, wie er über die Felswand kommen konnte,« ließ er sich plötzlich vernehmen.

Lebhaft wandte Nobody sich ihm zu.

»Nun?«

»Was heißt, ich meine nur, so ganz unmöglich ist es doch nicht.«

»Sprechen Sie nur Ihre Ansicht aus! Wie konnte er hierhereingelangen?«

»Einfach geradeso wie wir – mit einem Luftballon!«

Der Ingenieur brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Dieser nackte Wilde – in einem Luftballon – hahaha!«

»Na na, was gibt es denn da zu lachen?« sagte aber Nobody sehr ernst. »Lächerlich ist vielmehr, daß wir es für eine Unmöglichkeit halten, über die Felswand zu kommen, da wir uns doch selbst hier befinden, und warum sollte es denn so ganz ausgeschlossen sein, daß auch dieser Mann einst einen Luftballon benützt hat? Er wird ein gebildeter Mensch gewesen sein, ich glaube es sogar ganz bestimmt. Auch er hat, wie dieser junge Mann hier, an dem Schwefelberge merkwürdige Beobachtungen gemacht, ist auf die Vermutung gekommen, daß hier oben kein flaches Plateau sein könne; sein Wissensdurst hat ihn einen Luftballon besteigen lassen, er gelangte in dieses Tal, aber nicht wieder heraus, der erschöpfte Ballon trug ihn nicht mehr. Warum soll das nicht möglich sein? Merkwürdig freilich wäre der Zufall, wenn wir Luftschiffer hier einen Kameraden getroffen haben sollten. – Mr. Mitchell, bleiben Sie hier, bewachen Sie den Gefangenen! Ich werde die rückwärtsführende Spur des Mannes verfolgen, vielleicht finde ich noch etwas, woraus ich Schlüsse über ihn ziehen kann. Hammer begleitet mich.«

Nobody hatte darauf gehalten, daß die Umgebung des Platzes, auf welchem man die Ueberreste der Mahlzeit gefunden hatte, nicht zertreten worden war. Jetzt untersuchte er diesen und hatte im Grase bald die Fährte gefunden, welche der Affenmensch zurückgelassen hatte, als er zuerst hierhergekommen war.

Von dem jungen Matrosen begleitet, welcher freilich in dem kurzen Grase nichts von einer Spur zu unterscheiden vermochte, verfolgte Nobody diese.

Sie führte erst in das Dickicht, dann wieder an den See zurück, und um diesen herum, wo man den Fußabdruck im weichen Sande wahrnehmen konnte.

Es kam vor, daß manchmal mehrere Spuren nebeneinanderherliefen oder sich kreuzten, aber Nobody vergewisserte sich, daß sie immer nur von ein und demselben Manne herrührten, was besonders im Schlamm sehr leicht zu konstatieren war, weil jenem Affenmenschen der Nagel der linken großen Zehe halb abgerissen war und dies bei jeder Spur immer wieder zum Vorschein kam.

Nach etwa einer Stunde dachte Nobody an die Rückkehr. Er war überzeugt, daß sich auf der Insel nur dieser einzige Mensch befand. Derselbe kannte kein Feuer, nährte sich von Muscheln und Fischen, fing auch Hasen und Vögel, jedenfalls nur im Sprunge mit den Händen; das Fleisch verzehrte er roh, riß es aus dem Balge heraus. Hiervon hatte Nobody Spuren gefunden, und ferner, was ihm sehr wichtig war, ein Nachtlager auf ebner Erde. Größere Raubtiere konnte es hier also nicht geben, jedenfalls auch keine Schlangen, sonst hätte der Affenmensch für die Nacht ganz sicher einen Baum erstiegen.

»Hier liegt ein flaches Stück Holz, Master!« rief da der etwas zurückgebliebene Matrose.

Nobody kehrte um, sah jenen mit ausgestreckter Hand dastehn, gewahrte auch schon das längliche, flache, viereckige Holz; aber Hammer stand davon noch etwa fünf Schritte entfernt und deutete nur darauf, wodurch er in Anbetracht seiner Bemerkung einen etwas dämlichen Eindruck machte.

Da lag eine Frage sehr nahe. »Warum heben Sie das Holz nicht auf?«

In dieser Frage fehlte ein Wort, das Wörtchen ›denn‹, welches wohl schwerlich jemand vergessen hätte.

»Ich wollte es nicht anrühren, Sie könnten doch etwas Besondres daran bemerken, vielleicht nur, wie es liegt, was mir entgeht.«

Nobody warf dem Sprecher schweigend einen seiner langen Blicke zu. Dann ging er langsam auf das Holz zu, den Boden und seine Umgebung musternd, sogar nach oben blickend, wo sich die Zweige der Bäume über ihm wölbten, und hob es auf. Das Stück Holz glich einem kurzen, dicken Lineal, in der Mitte lief der Länge nach eine Rille, die in einem Loche endete. Ferner bemerkte Nobody zu beiden Seiten der Rille vertiefte Striche.

»Ein Thermometer. Oder doch das Brett eines Thermometers. Was für ein System? Fahrenheit. Das läßt auf einen Engländer oder Amerikaner schließen.«

Als er die andre Seite betrachtete, fand er zwei Buchstaben eingeschnitten: R. S. »Und was für Holz ist das? Das ist ja ...« Erst hatte er es mit dem Fingernagel ritzen wollen, und als das nicht ging, probierte er es mit dem Taschenmesser; aber auch das konnte kaum eindringen.

»Das ist eisenhartes Teakholz. Demnach ist der Mann wirklich ein wissenschaftlicher Forscher. Denn dieses Holz, welches sich weder in Hitze noch Kälte wirft, wird nur für die feinsten Instrumente verwendet, diese werden aber dadurch sehr teuer, weil es sich so außerordentlich schwer bearbeiten läßt. – Doch halt, wir wollen nicht voreilig sein! Jener verwilderte Mensch könnte auch nur der Begleiter, der Diener des Mannes gewesen sein, der dieses Thermometer einst benutzte. Nun, auf dieser ummauerten Insel kann ja nichts verloren gehn, was nicht verwest; von einem hier Verstorbenen müßten wir wenigstens das Skelett finden.«

Dies war auch der Grund, warum Nobody jetzt jede weitere Untersuchung aufgeben wollte. Auf dieser Insel konnte ihnen ja nichts entgehn, und es war Zeit, an die Rückfahrt mit dem Ballon zu denken.

Der Affenmensch sollte gleich mitgenommen werden.

Nobody teilte dem Ingenieur mit, was er gefunden hatte, dann wollte man den behaarten Mann nach dem Ballon tragen. Als er sich wehrte, was auch den drei Männern kaum möglich machte, ihn aufzuheben, wurde ein junger Baumstamm gefällt, wobei das Kappmesser sehr zustatten kam, der Gefangene daran gebunden, dann nahm Nobody das eine Ende über die Schulter, vorn trugen die beiden andern, und so wurde in dem seichten Bache zurückgewatet.

Noch eine Biegung, und der Ballon mußte ihnen zu Gesicht kommen. Das war auch der Fall, aber ...

»Der Ballon läßt Gas aus!!« rief der Ingenieur erschrocken.

Noch stand die ovale Hülle aufrecht, noch war keine Falte zu bemerken, aber sie hatte doch ganz bedeutend an Umfang abgenommen.

Der Ballon hatte noch keine Prüfung bestanden; diese Fahrt hierher war sie gewesen, und die Seidenhülle erwies sich als nicht ganz dicht. Denn wenn auch stets etwas Gas entweicht – schon nach zwei Stunden darf eine solche Abnahme des Gases nicht bemerkbar sein. Trotzdem glaubte der Aeronaut, wie er versicherte, daß man noch über die tausend Meter hohe Felsenwand gelangen könne, selbst unter Mitnahme des sehr schweren Affenmenschen. Natürlich mußte dementsprechend Ballast zurückgelassen werden.

Allein Mr. Mitchell schien beim Anblick des schwindsüchtigen Ballons und bei Erwägung der Aussicht, hier unter Umständen eingekerkert zu sein, etwas den Kopf verloren zu haben. Als wissenschaftlich ausgebildeter Aeronaut hätte er nicht nur ›glauben‹ dürfen, sondern gleich eine sichere Berechnung über die noch vorhandene Tragkraft des Ballons anstellen müssen, was er aber nicht tat.

Hals über Kopf wurde der Affenmensch in die Gondel geworfen, die drei Männer sprangen nach und begannen einen Sandsack nach dem andern auszuladen. Jeder wog 25 Pfund, 70 hatte man mitgenommen gehabt, 67 waren noch vorhanden. Der Sandsäcke wurden immer weniger, doch weder Gondel noch Ballon wollte sich rühren.

»Hören Sie, Mr. Mitchell,« meinte Nobody, »wenn der Ballon auch ohne Sand nicht in die Höhe geht, dann wollen wir den schönen Sand doch lieber gleich in der Gondel lassen.«

»Er muß, er muß,« versicherte der Ingenieur, dem der Schweiß von der Stirne perlte. »So weit erschöpft ist der Ballon noch lange nicht, daß er nicht vier Menschen tragen kann. Das sind wenigstens noch zehn Zentner Ballast.«

»Na, wenn er muß, dann mal weiter!«

Endlich, es waren nur noch 18 Säcke in der Gondel, begann diese leicht zu schaukeln. Von einem Erheben aber war noch gar keine Rede.

Unterdessen hatte der Ingenieur seine Ruhe wiedergefunden; er ließ die Arbeit einstellen, er wollte die Tragkraft des Luftschiffes berechnen. Er maß den Umfang des Ballons, wobei er auch hinaufklettern mußte. Dann, als er in seinem Notizbuch gerechnet hatte, machte er ein sehr besorgtes Gesicht.

»Es ist keine Möglichkeit vorhanden, daß wir über die Felsenwand kommen.«

»Nette Geschichte das!« meinte Nobody. »Wenn wir nun diesen schweren Kerl zurücklassen?«

»Den habe ich gar nicht mitgerechnet.«

»Wieviel trägt denn der Ballon noch?«

»Mit fünf Zentnern würde er gut aufsteigen. Aber jetzt steht die Tragfähigkeit zur Abnahme des Gases in einem ganz andern Verhältnis als vorher, drei Zentner müssen wenigstens nach und nach abgegeben werden, um zwei Zentner in 1000 Meter Höhe zu bringen.«

»Aha, ich verstehe. Wenn aller Ballast heraus ist, können wir drei aufsteigen, können sogar den Kerl dort mitnehmen.«

»Jawohl. Aber Sie würden nicht weit kommen.«

»Sie nicht, wohl aber ich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach: ich nehme Sie, Herrn Hammer und den dort als Ballast mit, werfe nach Bedarf einen nach dem andern über Bord. Würde ich dann über die Felswand kommen?«

»Ja, dann allerdings,« lachte der Ingenieur, aber sein Lachen kam nicht recht vom Herzen.

»Na, dann nehme ich anstatt Menschen eben Sand als Ballast mit.«

»Was wird aber aus uns?«

»Sie bleiben einfach hier. Ja, das hilft doch nichts. Nur einer kann wieder heraus, und ich erlaube mir, hierzu mich selbst vorzuschlagen. Ich habe auch die meiste Berechtigung dazu. Ich muß unbedingt heraus. Ich muß mich als Baron Nogi dem Mikado zur Stelle melden. Mein Urlaub ist abgelaufen. Ich muß als geheimer Kurier nach Petersburg. Auf mich warten sechs Frauen. Ich habe vierundzwanzig hungrige Kinder zu Hause. Nur ich bin derjenige, welcher!«

Nobody hatte dies in einer Weise gesagt, daß auch der sonst so stille Hammer in ein schallendes Gelächter ausbrach. Nur der Ingenieur stimmte nicht in dieses ein.

»Na,« lachte auch Nobody, als er Mitchell auf die Schulter klopfte, »machen Sie mal nicht so ein trübseliges Gesicht. Daß ich Sie hier nicht in der Mausefalle sitzen lasse, können Sie sich wohl denken, und drei Jahre, bis die Chinesen mit der Steintreppe fertig sind, brauchen Sie auch nicht zu warten. Wenn Sie innerhalb von drei Tagen nicht wieder heraus sind, dann ... will ich diesen Luftballon, aber knallvoll, als Pille verschlucken. Unterdessen können Sie hier wie im Schlaraffenland leben; es wächst Ihnen ja alles in den Mund, die gebratenen Hasen laufen herum, und Decken haben Sie auch, um sich ein Nachtlager zu bereiten. – Also vorwärts!«

Die Vorbereitungen wurden getroffen, daß Nobody allein abfuhr, und bald sollte es sich zeigen, wie gut es gewesen, daß nicht der Ingenieur allein in die Höhe gestiegen war, um Hilfe zu holen. Denn der wäre trotz aller seiner aeronautischen Weisheit nicht über die Felswand gekommen, und dann wäre es ein für allemal zu spät gewesen, sich durch eigne Kraft zu befreien.

»Der Affenmensch wird gut gepflegt, bleibt aber gebunden und wird immer von einer Person bewacht,« war Nobodys letzte Anordnung. »Fertig?«

Die Taue wurden gekappt; mit 14 Sandsäcken ging der Ballon in die Höhe.

Jetzt lagen aber, wie schon gesagt, ganz andre Verhältnisse vor als bei der Abfahrt.

Um nur die Hälfte des Weges zurückzulegen, hatte Nobody schon 7 seiner Sandsäcke opfern müssen. Da aber der Ballon augenblicklich noch immer stieg, glaubte er beim Auswerfen des letzten Sackes die Felswand bequem überfliegen zu können, denn das mußte geschehen, sobald Ballon und Gondel über den Rand des Plateaus hinauskamen, wo sie von dem frisch wehenden Winde erfaßt wurden. Aber das sollte nicht gelingen. Das ahnte Nobody schon, als er nur noch einen einzigen Sack Ballast zur Verfügung hatte.

Der Ballon war, wenigstens noch 10 Meter unterhalb der Windzone, und 25 Pfund wollten jetzt gar nicht mehr viel bedeuten. Wohl schnellte der Ballon etwas empor, sank aber ebenso schnell immer wieder hinab. Ob nun Nobody diesen Sack hinauswarf oder andre schwere Gegenstände, die sich noch in der Gondel befanden, wie z. B. ein Taubündel, das war gleichgültig. Jetzt war alles Ballast. Nobody hob Sack und Taurolle auf den Rand der Gondel, stürzte sie gleichzeitig hinab – hoch flog der Ballon, berührte schon mit seinem obern Rande die fast greifbar deutliche Windzone – da sank er wieder.

Ein kleines Faß mit Wasser folgte nach, ein Gewehr ... beides hatte kaum einen sichtbaren Erfolg. Jetzt merkte der schlaffgewordene Ballon es eben nicht mehr, wenn nur ein Hut davonflog, jetzt kamen schon Zentner in Betracht.

In der Gondel war nichts mehr, nur noch der Luftschiffer selbst, und stetig sank der Ballon. Da zog Nobody seinen Nickfänger aus der Tasche, klappte ihn auf, nahm ihn zwischen die Zähne, sprang in das Netzwerk, hing sich in die Knie, verstrickte sich mit den Füßen, und so, den Kopf nach unten, durchschnitt er sämtliche Stricke, welche die Gondel hielten – und wie diese in die Tiefe stürzte, so sauste der Ballon hoch in die Luft.

Noch im Kniehang schwebte Nobody über den schmalen Felsgrat und erblickte 1000 Meter unter sich den Meeresspiegel. Dann richtete er sich auf, setzte sich in den Stricken zurecht und ließ noch etwas Gas aus.

In schräger Richtung ging es hinab, und wenige Minuten später schaukelte der erschöpfte Ballon wie eine riesige Schwimmblase auf den Wogen des Stillen Ozeans. Nobody hatte kurz vorher, um nicht unter dem Ballon im Strickwerk verwickelt zu werden, einen Kopfsprung gemacht.

Als er wieder auftauchte und seinen Blick dem Schwefelberge zuwandte, sah er hinter diesem eine Rauchwolke vorkommen.

Seine Hoffnung sollte nicht getäuscht werden. Auf der Insel war der Schwefelberg nicht aus den Augen gelassen worden; man hatte den Abstieg des kühnen Luftschiffers und Trapezkünstlers beobachtet, und sofort ging ein kleiner Dampfer ab, um ihn und den Ballon aufzufischen.


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