Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25. Menschenjäger

Unter dem mächtigen Baum, welcher sich mit seinen mannesstarken Zweigen alle anderen Bäume fernhielt und so mitten im sonst undurchdringlichen Urwald eine kleine Lichtung geschaffen hatte, brannte in der Nacht ein zu verlöschen drohendes Feuer. An diesem lag schlafend ein Mensch; ob Mann oder Weib, ob jung oder alt, konnte man nicht unterscheiden, denn unter der Decke sah nichts weiter hervor als zwei Soldatenstiefel, eine Mütze und der Lauf einer Büchse.

Wenn wir aber noch hinzufügen, daß die Mütze aus fuchsfeuerrotem Pelzwerk bestand, wie es in Indien niemand trägt, so wird der liebe Leser sofort wissen, daß dieser sorglose Schläfer den Namen Dick Red führt, es sei denn, diese Mütze hätte jemand ihm gestohlen und sich aufgesetzt.

Doch Dick ließ sich nichts stehlen, er war es wirklich, und sehr sorglos und müde war er auch, sonst hätte er wahrhaftig nicht so ruhig hier im Grase geschlafen, wo Schlangen mit ihm unliebsame Bekanntschaft machen konnten, und wo ab und zu laut und vernehmlich das Geheul eines blutdürstigen Panthers erklang.

Möglich, daß Dick einen sehr leisen Schlaf hatte und sich sagte: wenn der Panther hier ist, so habe ich noch immer Zeit genug, mich zu erheben, und raschelt es neben mir, so schlage ich die Schlange tot. Jetzt regte und rührte er sich noch nicht, obgleich das Geheul des Panthers immer drohender und hungriger klang.

Dick merkte auch nicht, wie sich die Büsche teilten und ein beturbanter Kopf mit glühenden Augen zum Vorschein kam. Einige Minuten waren diese Raubtieraugen im menschlichen Kopf unverwandt auf den Schläfer geheftet. Als sich dieser nicht rührte, schlüpfte ein bis auf den Schurz nackter, brauner Mensch hervor, schlangengleich, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. In seiner Hand hielt er eine kurze Schlinge, unter dem Turban hing ein schwarzes Seidentuch. Ein Thag also hatte sich Dick zum Opfer ausersehen.

Nicht genug damit, auch auf der anderen Seite der Lichtung schlüpfte ein halbnackter Indier hervor und bewegte sich ebenso geräuschlos auf den Schläfer zu, nur daß dieser Mann in der Hand keine Schlinge trug, sondern ein blitzendes Messer.

Langsam, Zoll für Zoll glitten sie auf den Schläfer zu. Kein Zweig knackte, kein Blatt raschelte. Armer Dick, jetzt hat deine letzte Stunde geschlagen, wenn du nicht bald erwachst! Er erwachte nicht, er merkte nichts. Nun hatten ihn die beiden Thags von den zwei verschiedenen Seiten zu gleicher Zeit erreicht, und diesmal war ihr Verfahren, ein auserkorenes Opfer zu töten, ein ganz anderes als sonst. Sie mußten wissen, was für einen gefährlichen Gegner sie vor sich hatten.

Der eine hob das Messer und richtete es auf die Herzgegend des Schläfers zum Stoß. Der andere kroch noch etwas mehr herum und machte die Schlinge bereit, sie dem Ahnungslosen um den Kopf zu legen und zuzuziehen. Gelang es nicht, ihn mit der Schlinge zu töten, so fuhr ihm das Messer in das Herz. Dann war das Opfer zwar nicht mehr für die Kali gefallen, aber die Thags waren doch einen ihrer grimmigsten Feinde losgeworden.

Leise, vorsichtig schickte sich der Bhutote, der Erdrosseler, an, dem Schläfer die Schlinge unter den Kopf zu schieben, wozu er erst die Pelzmütze etwas heben mußte.

Da plötzlich sauste aus den Zweigen des Baumes etwas Großes, etwas Unbeschreibliches auf sie herab, ein Gespenst, oder etwas, wie eine riesige Fledermaus mit ausgebreiteten Flügeln anzusehen. Während es durch die Luft sauste, konnte man es nicht erkennen. Es fiel direkt auf die beiden Thags; die Fänge des Ungeheuers packten gleichzeitig deren Genicke und drückten sie wuchtig zu Boden. Im Sturz bohrte der eine Thag sein Messer noch in den Körper des Schläfers doch dieser schrie weder, noch röchelte er; denn das Ungeheuer, das sich von dem Baume herabgestürzt hatte und wie ein Vampir auf ihnen lag, war niemand anders als Dick selbst, nur mit Hemd und Hose bekleidet, barfuß und ohne Mütze.

»Habe ich euch endlich erwischt!« rief er grimmig und schüttelte die beiden am Kragen.

»Das hattet ihr Halunken wohl nicht gedacht, daß ich da oben sitze und euch beobachte, wie ihr herumschleicht. Mein Grab habt ihr auch schon gegraben; ja, wartet, da kommt ihr selbst hinein. Beguckt euch nur das Ding da ordentlich, das ist nichts weiter als meine Stiefel, mein Rock, meine Mütze und darüber meine Decke. Ja, beguckt's euch nur ordentlich – da – da.«

Dabei stieß er die Gesichter der beiden immer und immer wieder kräftig auf die Stiefelschäfte, und die Thags konnten zappeln wie sie wollten, von diesen eisernen Fäusten kamen sie nicht los.

Endlich kniete er auf dem einen und preßte ihn zu Boden, während er den anderen mit den von seinen Hüften gelösten Lederriemen band. Ebenso verfuhr er mit dem zweiten, dann packte er die beiden an ihren Gürteln und trug sie, als wären es Bündel Wäsche, seitwärts hinter den Baum, wo sich wirklich ein ganz frisch gemachtes Grab befand.

»So, da legt euch beide einstweilen hinein und denkt über eure Schandtaten nach,« sagte er und warf sie in das Grab, aber so, daß des einen Kopf zu den Füßen des anderen zu liegen kam; »morgen sprechen wir noch miteinander, und dann sollt ihr noch etwas erleben.

Diesmal aber mache ich's anders.«

Ohne sich noch weiter um die Thags zu kümmern, ging Dick an das Feuer zurück und begann sich hastig anzukleiden. Als er die Decke zurückschlug, zeigte sich ein Haufen Gras und Zweige, der zu einem menschlichen Körper geformt war. Der Gürtel, den Dick jetzt umschnallte, war rings mit pergamentähnlichen, vertrockneten Kopfhäuten bedeckt, von denen noch die schwarzen Haare herabhingen.

»Was heult der Panther so?« murmelte er, während er sich ankleidete. »Er will etwas anschleichen und wird durch Furcht zurückgehalten. Doch wovor fürchtet sich denn der Panther? Höchstens vor dem Tiger oder vor dem Menschen. Es müssen Menschen sein. Ich habe mir da oben lange genug den Kopf über dieses sonderbare Geheul zerbrochen.«

Dick untersuchte die lange Büchse und wanderte mit unhörbaren Schritten der Richtung zu, aus welcher das Panthergeheul erscholl. Bald merkte er daß das Tier Kreise beschrieb; einmal kam es ihm so nahe, daß Dick das gelbe Fell durch die Blätter schimmern sah, und da der Panther jedenfalls ebensogut in der Nacht sehen konnte wie Dick selbst, diesen aber, der sich nicht einmal duckte, doch nicht erblickte, so mußte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit nur auf einen Punkt richten, er mußte von irgend etwas völlig beherrscht werden.

Die Kreise, die er zog, wurden immer enger, und Dick näherte sich dem Zentrum ebenfalls.

Da sah er endlich, was den Panther anzog; er hatte es auch schon vorher manchmal zu hören vermeint.

Es klang wie das Miauen von kleinen Pantherkatzen; sie riefen die Mutter, aber diese wagte sich noch nicht heran, weil dort, von woher das Miauen kam, zwei Menschen standen.

Der Panther hatte noch kein Menschenblut gekostet, er fürchtete noch den aufrechtgehenden Herrn der Schöpfung. Hatte er sich aber erst einmal überzeugt, daß er dieses auf zwei Beinen umherstolzierende Wesen mit dem leichtesten Sprunge über den Haufen warf, dann war es mit seiner Scheu vor dem Menschen für immer vorbei.

Dicks Augen sahen, daß die beiden Menschen einander gegenüber an zwei Palmen gebunden waren, unfähig, sich zu rühren; zu ihren Füßen lagen vier kleine Katzen, ja, er konnte sogar erkennen, daß diese mit den Schwänzen zusammengebunden waren. Die Gesichter der beiden Menschen vermochte er freilich noch nicht zu unterscheiden, er hörte sie aber flüstern. Sie nahmen wahrscheinlich Abschied von der Welt; denn das näher und näher kommende Heulen des Panthers konnten sie nicht mißdeuten.

Die Gefesselten waren englische Soldaten, und das genügte Dick. Er hob die Büchse und legte den Kolben an die Wange.

Der Panther hatte seine Furcht besiegt, die Kindesliebe hatte sie verdrängt. Ehe er seine Jungen freudig umspringen und belecken durfte, mußte er diese beiden Menschen vernichten, denn diese hielt er natürlich für die Störer seines Familienglücks.

Den Körper dicht auf den Boden geschmiegt, die glühenden Augen auf den größeren der beiden Gefangenen gerichtet, schlich er mit zitterndem Schwanz vorwärts.

Jetzt duckte er sich zum Sprunge.

»Lebe wohl, mein lieber, lieber Jim!« hörte Dick eine helle Stimme auf englisch sagen.

Ein Feuerstrom, ein Knall, nicht lauter als ein Peitschenschlag, der Panther sprang – und fiel mit erloschenen Augen zwischen den beiden Gefangenen nieder. Die sichere Kugel aus Dicks Büchse war ihm durchs Auge ins Gehirn gedrungen und hatte den sofortigen Tod herbeigeführt.

Dicks Messer durchschnitt des englischen Soldaten Fuß- und Handfesseln; der Mann wußte noch nicht, wie ihm geschah.

»Alle Wetter, das ist ja Jim Green.«

»Dick Red!« rief der Befreite und fiel dem rotbärtigen Mann halb weinend vor Freude um den Hals.

»Und hier ist auch noch einer,« erklang es von der anderen Seite.

»Hol' mich der Teufel, das ist ja –das ist ...«

»Bob, der Trommeljunge. Nun sei so gut, und mache auch mich los.«

»Wer wäre das? Das ist ja ...«

»Bob, der Trommeljunge, mein Kamerad,« fiel Jim ein.

»Ich dachte – na, meinetwegen!«

Damit schnitt Dick auch Bobs Banden durch, und jauchzend fielen sich die beiden Befreiten an die Brust, wobei Bob aber nicht vergaß, dem Gefährten ins Ohr zu flüstern, ihn nicht zu verraten.

»Was macht ihr denn eigentlich hier?« examinierte Dick. »Nehmt ein Panthernest aus, koppelt die Jungen mit den Schwänzen zusammen und bindet euch dann selbst gegenüber an Bäumen an! Habe doch in meinem ganzen Leben nicht solche Dummheiten gesehen!«

»Das wäre allerdings ein Kunststück,« lachte Bob.

»Nein, wir sind von dem Haupttrupp abgeschnitten worden und ...«

»Weiß schon, weiß schon!« fuhr ihn Dick grob an. »Halte mich nur nicht für gar zu dumm. Was ich noch nicht weiß, das könnt ihr mir später in aller Gemütlichkeit erzählen.

Erst wollen wir einmal diesen Katzen den Hals umdrehen.«

»Die armen Tiere,« sagte Bob bedauernd. »Sie haben schon die Mutter verloren.«

»Ja, und wenn diese armen Tiere größer werden, dann lieben sie Menschenfleisch über alles, und die liebe Mutter hätte euch bald mit Haut und Haaren verspeist. Na, wenn ich nicht gekommen wäre, hätten euch diese Schufte bald einen schönen Streich gespielt.«

Dick tötete die Jungen, ließ alles liegen und führte die beiden an das Feuer zurück. Zuerst mußten sie erzählen, wie sie hierher und an die Palmen gekommen waren. Dicks Augen blickten beim Zuhören drohend, und seine Faust ballte sich.

Daß in der Nähe ein Kampf stattgefunden hatte, wußte er schon; er konnte auch aus den hinterlassenen Toten und Fährten mit Bestimmtheit behaupten, daß die Engländer zwar nicht Sieger geblieben wären, sich aber die Feinde vom Leibe gehalten und ihren Weg ungehindert fortgesetzt hätten. Die Indier ließen endlich vom Kampfe ab und wendeten sich einer anderen Richtung zu.

Wahrscheinlich hatten sie den heimlichen Überfall noch einmal mit besserem Erfolg versuchen wollen.

Dann begann Dick so kurz und schnell wie möglich seine Erlebnisse zu erzählen, denn er war kein Freund vom Reden. Die beiden Freunde erfuhren von dem verzweifelten Kampf in der Burg der Thags, von der Befreiung der Gefangenen, und Dick vergaß nicht, hinzuzufügen, mit welcher Bravour sich sein Bruder August dabei benommen hatte, ebenso verweilte er länger bei Reihenfels.

»Mister Reihenfels ist tot!« unterbrach ihn Jim.

Es dauerte lange, ehe Dick dies glauben wollte, und daß Canning ihn habe erschießen lassen, glaubte er überhaupt nicht.

»Das ist wieder solch eine niederträchtige Hinterlist von den braunen Schuften gewesen!«

zürnte er. »Na, gnade ihnen Gott, nun nehme ich noch weniger Rücksicht auf diese Kerle.

Bisher war ich ehrlich bemüht, Nancys Tod zu rächen, nun treibe ich's doppelt schlimm, denn Reihenfels' Tod kommt auch noch auf ihr Kerbholz. Ich ruhe nicht eher, als bis ich dieser sogenannten Begum von Dschansi gegenüberstehe. Und dann will ich doch einmal sehen, ob sie sich unter meinen Händen in drei Teile zerlegen kann.«

Dick hatte also die jüngsten Ereignisse von Delhi schon gehört, das wunderbare Auftreten der Begum, und machte nun auch seine Gefährten damit bekannt.

»Unsinn ist's.« murrte er. »Eine Schwindlerin ist sie; ebenso wie jener Gaukler. Aber ich will ihnen diese Schwindelei schon austreiben. Mein Weg führt mich jetzt nach Delhi, dort will ich einmal die Begum zum Kampf herausfordern.«

»Und wo sind Mister und Miß Woodfield?«

»Auf dem Wege nach Bombay, Charly begleitet sie. Von dort wollen sie sich nach England einschiffen. Ob letzterer mitgeht, weiß ich noch nicht. Wenn sie nur Bombay glücklich erreichen! Den einzelnen Reisenden lauert die braune Bande hier überall auf.«

»Warum bist du nicht mit Mister Woodfield gegangen?«

»Warum nicht? Weil ich mir etwas anderes vorgenommen habe. Nancys Tod will ich rächen, und ebenso die Enttäuschung des alten Vaters. Nicht eher will ich ruhen, als bis ich diesen schurkischen Gholab gefunden habe, der Nancy im letzten Augenblick erstochen hat, und habe ich ihn, dann gnade ihm Gott!«

Dick hatte wie zum Schwure die Hand aufgehoben.

»Unterdessen beschäftige ich mich mit den übrigen Indiern, besonders mit den Thags. Ich mache förmlich Jagd auf diese. Jeden, den ich treffe, werde ich töten – und noch mehr.

Anfangs habe ich sie skalpiert, damit ich wußte, wieviel ich auf dem Konto hatte, aber der Gürtel ist voll; nur die Burschen, die mich besonders interessieren, werden noch skalpiert.

Dann machte ich bei jedem Toten einen Ritz in den Büchsenkolben – er ist voll, es geht kein Einschnitt mehr darauf, dann auf den Messergriff – er ist schon ganz gerieft.«

Nicht ohne Schaudern blickten die beiden auf den Mann, der so kaltblütig von solch einer Sache sprach. Dick war kein Soldat, der von seinen Führern das Kommando bekam, sich auf die Feinde zu stürzen, sondern er beschlich den Gegner und tötete ihn. Erst jetzt bemerkten sie, daß seine Hose wie sein lederner Rock von Blut förmlich starrten – von Menschenblut.

»Du kamst zur rechten Zeit,« begann Jim wieder. »Nur eine Minute, eine Sekunde später, und wir wären eine Beute des Panthers geworden. Was führte dich hierher?«

»Ich wollte nach Delhi, gab aber Mister Woodfield erst noch ein tüchtiges Stück das Geleite, wodurch ich viel weiter südlich kam. Wir hatten ordentliche Kämpfe zu bestehen, denn die Gegend, durch die wir kamen, wimmelte von feindlichen Indiern. Als wir eine bessere Gegend erreichten, trennte ich mich von meinen Gefährten und wollte direkt nach Delhi, habe mich aber, ich muß es offen gestehen, gründlich verlaufen. Wo mögen wir uns hier befinden?« »Südwestlich von Delhi, aber weit ab.«

»Das weiß ich auch,« brummte Dick. »In der Richtung und in der Himmelsgegend irre ich mich nie. Ich meine, wie die Gegend hier wohl heißt. Es muß doch alles einen Namen haben.«

»Vielleicht sind wir in Berar, vielleicht zwischen Delhi und Berar. So genau können wir das nicht bestimmen. Du mußtest doch unterwegs Dörfer passieren, wo du fragen konntest.

Die Dorfbewohner halten mehr zu den Engländern, als den Rebellen.«

»Jawohl, das Fragen hat sich was. Es ist ganz merkwürdig. Wohin ich kam, da schrieen sie immer ein Wort und rissen aus, was das Leder hielt. Sie fürchteten sich wahrscheinlich vor meinem roten Bart oder vor meiner Pelzmütze, kurz, wohin ich kam, da rannte alles in voller Flucht davon. Oft bin ich durch ein Dorf gewandert, das von den Bewohnern völlig verlassen war. Ich konnte aus den Hütten nehmen, was ich wollte, niemand hinderte mich daran, weil niemand da war. Das Dorf war aber niemals verlassen, sondern die Bewohner hielten sich im Walde versteckt und lugten mit ängstlichen Gesichtern nach mir. Ich konnte noch so viel winken und freundliche Grimassen schneiden, sie kamen nicht; und erst nachdem ich das Dorf verlassen hatte, schlichen sie wieder nach ihren Wohnungen. Dabei riefen sie, wo ich nur gesehen wurde, mir immer dasselbe Wort zu.«

»Was für eins war es?«

»Es klang ungefähr wie Mahanloggi.«

»Das heißt so viel wie Menschenjäger.« sagte Jim.

»So so, hm, den Namen könnte ich mir wohl verdient haben. Aber woher kennt man mich da, wo ich noch gar nicht gewesen bin?«

»Deine Erscheinung ist sehr auffällig, die Leute kannten dich schon der Beschreibung nach.«

Es entstand eine Pause. Die beiden konnten sich eines Grausens nicht erwehren, bei diesem Mann zu sein, der sich in kurzer Zeit den Namen eines Menschenjägers erworben hatte.

»Nun merke ich schon lange, daß die Thags sich förmlich verschworen haben, mich zu töten,« fuhr Dick dann fort. »Wahrscheinlich, weil ich ihnen damals im Felsentempel so zugesetzt habe. Sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt, und natürlich mache ich sie auch kalt, sobald ich sie erwische. Den ganzen Tag heute beobachtete ich wieder zwei von diesen Burschen, die sich die möglichste Mühe gaben, auf meiner Spur zu bleiben. Am Abend lief ich schneller, um einen Vorsprung zu gewinnen, machte hier ein Feuer an, bereitete aus Laub einen Haufen, legte eine Decke darüber, schob Stiefel und Mütze so darunter, daß sie nur etwas hervorsahen, als ob ich im tiefsten Schlafe neben dem Feuer läge. Ich selbst kletterte auf diesen Baum und beobachtete. Nicht lange dauerte es, so kamen auch die beiden Burschen und paddelten hier nebenan in aller Stille ein Grab aus, das auszufüllen ich später die Ehre haben sollte. Höflich sind die Kerle, das muß man ihnen lassen: sie machen dem, den sie erwürgen wollen, vorher ein Grab und tragen ihn selbst zur Gruft. So erspart der Tote wenigstens die Begräbniskosten.«

Dick erzählte weiter, was wir schon wissen.

»Wo sind denn die beiden?« riefen die Zuhörer nach Beendigung der Erzählung erschrocken.

»Ich will sie euch zeigen, bevor wir ans Essen denken.«

Er führte sie hinter den Baumstamm. Die beiden Thags lagen noch immer bewegungslos in dem Loche, in derselben Lage, wie Dick sie hineingeworfen, und hatten die Augen geschlossen. Aber dieser ließ sich nicht täuschen.

»Hei, wie sie sich abgearbeitet haben, die Lederriemen zu zerreißen und abzustreifen,« lachte er, »der eine hat sich die Handgelenke halb zerschnitten, und der andere hat zu beißen versucht. Ja ja, meine Püppchen, reißt und beißt nur, das ist Büffelleder und keine Baumwolle. He, du,« er gab dem einen Thag einen derben Fußtritt, »schlafe nicht, jetzt ist noch keine Zeit dazu.«

Der Mann zuckte nicht mit den Augenlidern.

»Na, wartet, morgen werdet ihr schon sprechen lernen, wenn euch die Ameisen in den Magen kriechen.«

Diese letzten, für Jim und Bob unverständlichen Worte wirkten bei den beiden Thags.

Plötzlich schlugen sie die Augen auf und starrten den Sprecher erschrocken an; dem einen entfuhr sogar ein Laut des Schreckens.

»Ja ja, starrt mich nur an. Der eure sauberen Gefährten immer in die Ameisenhaufen hängt, das bin ich. Morgen soll aber nur einer hineinkommen, der andere sieht zu, damit er erzählen kann, wie ich mit den Thags verfahre. Einen nach dem anderen hänge ich noch in den Ameisenhaufen.«

»Wohin?« fragte Jim bestürzt.

»In den Ameisenhaufen. Das muß ein angenehmes Gefühl sein, wenn man, die Beine nach oben, mit dem Kopfe in einem Anreisenhaufen hängt, und die Ameisen kriechen durch die Nase ins Innere und fressen sich durch die Eingeweide.«

»Das ist grausam,« schauderte Bob.

»Bah, grausam! Von Schlangen sich in die Augen beißen und sich dann das Gehirn aussaugen zu lassen, ist auch nicht gerade hübsch. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Marter um Marter, so habe ich's unter den Indianern gelernt und finde es auch ganz gut.«

Sie kehrten an das Feuer zurück, Dick breitete vor seinen Gefährten getrocknetes Fleisch und harte Brotfladen aus, welche er wahrscheinlich schon vor längerer Zeit selbst zwischen zwei heißen Steinen gebacken hatte, und sah, langhingestreckt eine Pfeife rauchend, den hungrigen Gästen mit gemütlichem Augenblinzeln zu.

Obgleich es den beiden anfangs in Gesellschaft dieses unheimlichen Mannes, den sie erst jetzt richtig kennen lernten, nicht recht schmecken wollte, so nötigte doch der Hunger sie zum Zulangen.

»Nun, Bob,« begann Dick nach einer Pause, behaglich an der schmutzigen Holzpfeife ziehend, »hast du nicht Appetit nach Eierkuchen?«

Verwundert blickte der Gefragte auf.

»Ich nach Eierkuchen?«

»Bist du nicht ein Liebhaber von Eierkuchen?«

»Nee.«

»Höre, du flunkerst. Früher aßt du sie gern.«

»So, woher weißt du denn das?«

»Ich sehe es dir an.«

Dick blinzelte so schlau nach dem Burschen hinüber, daß Jim, wie Bob nicht anders glaubten, als Dick wüßte um des letzteren wahren Charakter, er erinnere sich noch jenes Zusammentreffens zu Wanstead in der Hütte des alten Moore. Was selbst Jims verliebte Augen nicht entdeckten, das hatten die scharfen Augen des Trappers sofort bemerkt.

Schon wollte Bob ihn bitten, seine Entdeckung nicht auszuplaudern, als Dick in seiner gemütlichen Weise schon fortfuhr.

»Ich fragte nur so, weil ich nämlich Eier habe. Eierkuchen kann ich nun freilich nicht machen, aber essen wollen wir sie doch.«

Den beiden war noch nicht recht klar, was Dick eigentlich vorhabe, als er aufstand und sich den Gürtel ein Loch enger schnallte. Dann kletterte er mit der Schnelligkeit eines Affen den Baumstamm hinauf und verschwand in den Zweigen.

»Eßt ihr auch Vogelnester gern?« klang es von oben herab.

»Nein, danke!« lachten die beiden.

»Es ist aber ein indisches, und indische Vogelnester soll man doch essen können.« »Aber nicht von dieser Sorte. Laß es nur oben!«

Nach einer Minute kam Dick wieder am Stamme herabgerutscht, stülpte vorsichtig die Mütze vom Kopfe und entnahm dieser acht ziemlich große Eier.

»Die habe ich vorhin in Nestern liegen sehen, während ich die beiden Kerls beobachtete,« erklärte er; »einige habe ich in jedem Nest liegen lassen. Wie steht's nun, hart oder weich kochen?«

»Hast du denn einen Topf?«

»Nein.«

»Oder eine Pfanne?«

»Auch nicht.«

»Womit willst du sie denn kochen? Auf Feuer legen?«

»Da würden sie bald platzen.«

»Ja, worin denn sonst?«

»In meiner Mütze.«

»Ach, geh du willst uns foppen.«

»In dieser Mütze,« sagte Dick feierlich, die Kopfbedeckung zärtlich betrachtend, »habe ich schon manches Ei gekocht. oftmals heißes Wasser gemacht, um Wunden auszuwaschen, ja, ich habe mir sogar Grog darin gebraut.«

»Dann ist sie mit Blech gefüttert,« lachte Bob.

»Naseweiser Bursche, lerne erst die höhere Kochkunst kennen! Von so etwas versteht ihr Stadtmenschen nun freilich nichts, nicht einmal die Soldaten, und die Mädels nun gleich gar nichts. Eierkuchen ohne Eier, nur aus Butter, Brot und Käse machen und in Schmierseife backen, das kann ich allerdings auch nicht, das verstehen nur die irischen Mädels mit Papierwickeln in den Zöpfen, weißen Strümpfen und Holzpantoffeln, wie man aber Eier in der Mütze kocht, das will ich euch jetzt zeigen.«

Er entfernte sich vom Feuer. Die Zurückgebliebenen sahen sich an.

»Er ist verrückt geworden,« flüsterte Jim.

»Er weiß, wer ich bin,« entgegnete Bob ebenso leise.

»Nein, sonst hätte er's schon gesagt.«

»Er stichelt immer.«

»Aber nur für mich. Ich war ja damals auch dabei, seine Rederei gilt nur mir. Ruhig, er kommt zurück!«

Dick brachte seine Mütze mit Wasser gefüllt und setzte sie neben das Feuer hin. Dann stöberte er in dem Feuer, und es zeigte sich, daß auf dem Boden und in der Mitte desselben eine Menge Steine ausgebaut waren, die weiß glühten.

»Die habe ich schon hineingelegt, als ich das Feuer anbrannte,« erklärte Dick, »denn gleich als ich hierherkam, sah ich oben die Nester. So, nun paßt auf, wie's gemacht wird.«

Der Trapper schien für Hitze ganz unempfindliche Hände zu besitzen, denn er holte mit der bloßen Hand einen nach dem anderen von den weißglühenden Steinen heraus und warf ihn in die Mütze, daß das Wasser aufzischte. Der Mütze selbst schadete diese Prozedur nichts. Die erkalteten Steine entnahm er dem schon heiß gewordenen Wasser und legte sie wieder ins Feuer, und nicht lange dauerte es, so begann das Wasser Blasen zu werfen.

Da nahm Dick einen trockenen Zweig, brach ihn in zwölf Teile und gab diese Jim. Dann räusperte er sich und blickte feierlich nach Bob hinüber.

»Bob, warst du schon in deinem Leben einmal in der Kirche?«

»Ja, als ich getauft wurde, aber darauf kann ich mich nicht mehr recht besinnen,« lachte Bob.

»Pst, nicht lachen, das verdirbt die Eier. Sonst nicht?«

»Oft genug, weil ich mußte!«

»Kannst du das Vaterunser beten?« »Vorwärts und rückwärts.«

»Dann kannst du«s noch weit bringen. Also jetzt wirst du das Vaterunser zwölf mal beten, ohne Anstoß, nicht zu schnell und nicht zu langsam, gerade wie der Pastor in der Kirche. Und du, Jim, legst jedesmal, wenn Bob Amen sagt, ein Hölzchen an die Erde, und wenn du das zwölfte hinlegst, dann rufst du so laut, wie du kannst: Halt! Dann sind die Eier hart.«

Er brachte das Wasser wieder zum Kochen und legte die Eier hinein.

»Jetzt kann's losgehen, bete!«

Bob fing an.

»Haaalt, nicht so schnell,« ermahnte der Koch, »so ist's recht. Die Augen brauchst du dabei nicht zu verdrehen, das wird hier nicht bezahlt.«

Geschickt wußte er das Wasser im Kochen zu halten, indem er noch immer die erkalteten Steine herausnahm und heiße wieder hineinlegte, jetzt aber sehr vorsichtig und sich zweier Hölzer bedienend, damit er nicht die Eier zerbrach.

Beim zwölften Amen rief Jim ein Halt, und Dick entnahm der Mütze die acht Eier, die sich wirklich als hartgekocht erwiesen. Salz war vorhanden, und so setzten die drei sich bald um das Feuer, die Eier verzehrend, wobei Dick seinen Gefährten den Löwenanteil überließ.

Nach dieser Mahlzeit traf man Vorbereitungen zur Nachtruhe, Dick schürte das Feuer, überzeugte sich noch einmal, daß die Fesseln seiner Gefangenen in Ordnung waren und legte sich dann ebenfalls nieder.

Die beiden jungen Freunde schliefen die ganze Nacht hindurch den festesten Schlaf; sie hörten nicht die Stimmen der Wildnis, das Heulen der wilden Tiere; Dick dagegen hob bei jedem verdächtigen Geräusch den Kopf und lauschte, sank aber immer gleich zurück und schlief wieder ein. Er schlief eben nur mit einem Ohre.

Beim ersten Morgengrauen, als die Tagesvögel den ersten Laut von sich gaben, erhob sich Dick schon und begab sich zu den beiden Thags. Diese lagen noch immer so wie gestern, aber sie stellten sich nicht mehr schlafend und teilnahmslos, sondern schauten mit allen Zeichen der Furcht auf den kleinen roten Mann.

»Nun schlägt wohl euer Gewissen? Ja, die Rache kommt.«

Er ließ sich jetzt nicht weiter mit ihnen ein, packte jeden bei seinem Leibgurt und trug die Hilflosen in den Wald hinein. Er hatte sich wahrscheinlich schon gestern in der Umgebung des Lagerfeuers orientiert, denn er schritt geradeswegs dahin und stieß bald auf einen Ameisenhaufen, von dem er schon gestern gesprochen hatte.

Es war ein mittelgroßer Bau. Diese kleinen, schwarzen, indischen Ameisen, deren Biß an Schmerzhaftigkeit den unserer deutschen noch übertrifft, waren schon fleißig bei der Arbeit.

Sie räumten die während der Nacht herabgefallenen Blätter und Ästchen aus dem Wege, welcher nach der benachbarten Kolonie führte, einige waren bemüht, einen in seiner Ruhe überrumpelten Grashüpfer zu bändigen, und eine Unzahl der schwarzen Tiere war gar damit beschäftigt, einen großen, toten Frosch nach dem Bau zu schleppen. Ruckweise rückte der Kadaver, dessen Gewicht das einer Ameise millionenfach überstieg, Millimeter nach Millimeter dem Bau näher, und immer mehr Ameisen strömten hinzu, um dieses Frühstück dem Lager zuzuführen. Einige Schritte davon sah man das gleiche Manöver sich an einem toten Vogel wiederholen.

Die indische Ameise ist wegen ihrer Gefräßigkeit nicht nur bekannt, sondern berüchtigt, sie kann der Schrecken eines ganzen Dorfes werden, es gibt kein Mittel, sie bei ihren Wanderungen aufzuhalten, Ströme überbrücken sie mit ihren eigenen Körpern, Feuer wird von ihnen erstickt, und das Haus, welches von ihnen überfallen wird, Palast oder Hütte, muß von den Bewohnern verlassen werden, denn was nicht gerade von Stein oder Metall ist, das fällt den eisernen Kauwerkzeugen der Ameisen zum Opfer; sie verschlingen sowohl die Gardinen am Fenster als den zurückgelassenen Vogel im Bauer. Selbst Menschen werden ihnen oftmals zur Beute. Finster deutete Dick nach dem wimmelnden Ameisenhaufen und blickte dann abwechselnd die beiden Männer an. Diese überfiel plötzlich ein Zittern.

»Wißt ihr, wer ich bin?«

Er mußte die Frage noch einmal wiederholen.

»Mahanloggi,« stammelte der eine.

»Diese Antwort rettete dir das Leben, dir wenigstens, denn ich habe beschlossen, daß nur einer von euch leben bleiben soll, und zwar der, der am schnellsten antwortet.«

»Du bist der Mahanloggi,« sagte jetzt auch der andere.

»Zu spät, mein Freund, das hättest du eher sagen sollen. Nur du wirst sterben, und dein Genosse soll erzählen, wie du geendet hast. Sage,« wandte er sich wieder an den anderen, »hast du schon Leichen gesehen, welche in Ameisenhaufen hingen?«

»Schon sehr, sehr viele.«

»Und was dachtest du, wer sie hineingehängt hätte?«

»Ein böser Geist.«

»Warum nicht ein Mensch?«

»Weil – weil kein Mensch es sein konnte.«

»Warum nicht?«

»Die Bäume, an denen die Leichen hingen, waren oft so dick, daß kein Mensch hinaufklettern kann. Und dann – dann waren die Leichen stets die von Thags.«

»Stimmt!« nickte Dick. »Nur Thags hänge ich in die Ameisenhaufen. Versteht ihr euere Gefangenen zu martern, so verstehe ich es nicht minder.«

Der Indier richtete sich mit einem Anflug von Stolz auf.

»Faringi, wir opfern der heiligen Kali.«

»Gut, und meine Opfer sind auch heilig. Nun, Bursche, ich will dich schonen, sogar leben lassen, und das aus dem Grunde, damit du erzählen kannst, daß ich es bin, der jedem ihm begegnenden Indier, der mich für einen Engländer hält und mich töten will, zuvorkomme, indem ich ihm den Schädel einschlage.«

»Das weiß ich; du bist bei einer solchen Tat gesehen worden, und deshalb heißt du Mahanloggi.«

»Ja, ich bin ein Menschenjäger, und noch manchen werde ich zu seiner Kali schicken.«

»Bis die Kali dich strafen wird, wenn du nicht in die Hände der Begum fällst.«

»Schweig davon!« sagte Dick verächtlich. »Höre mich vollends an. Ich lasse dich also leben, damit du auch allen Thags erzählen kannst, daß ich es bin, der ihre Genossen in die Ameisenhaufen hängt; denn bis jetzt konnte noch niemand davon Zeugnis geben.«

»Die Thags werden dir doch einmal die Schlinge über den Kopf werfen.«

»Oho, Bursche, du wirst übermütig, seitdem du weißt, daß du den Ameisen entgehen sollst.«

»Bleibe ich leben, so werde ich dich auch weiter verfolgen.«

»Mit der Schlinge?«

»Mit der Schlinge!«

»Gut, daß du es gleich sagst. Ich werde dir die Möglichkeit nehmen, daß du noch Schlingen werfen kannst. Aber leben bleibst du doch. Nun sieh zu, wie angenehm es ist, von Ameisen gefressen zu werden. Ja, ja, von mir könnt ihr lernen.«

Der andere Thag konnte ein Angstgeheul nicht unterdrücken, als Dick auf ihn zuging und er so sein letztes Stündchen kommen sah. Er wäre jederzeit bereit gewesen, freiwillig in den Tod zu gehen, er hätte seinen Kopf sofort dargeboten, falls ihm ein Opfer entgangen wäre, aber die Aussicht, gemartert zu werden – das ertrug er nicht.

Dick weidete sich an seiner Angst.

»Elender Wicht,« donnerte er ihn dann an, »wenn du einen anderen martern willst und bist nicht imstande, selbst eine Marter zu ertragen, so müßtest du eines hundertfachen Todes sterben. Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz – das will ich jetzt einmal an dir beweisen, Bestie du.«

Wieder stieß der Thag ein Jammergeschrei aus, als er Dick Ernst machen sah. Der Trapper löste von seinen Hüften den wohl zwanzig Meter langen Lasso, befestigte die Schlinge um die Füße des Mannes, legte ihn lang auf den Boden hin und schritt mit dem anderen Ende des Lassos dem Baume zu, an dessen Fuß sich der Ameisenhaufen befand. Der Baum war allerdings viel zu dick, als daß ein Mensch ihn hätte ersteigen können, der niedrigste Ast über dem Bau so hoch, daß er nur mit einer hohen Leiter zu erreichen gewesen wäre.

Beim Anblick des ihnen unbekannten Lassos wußten die Thags sofort, wie der Menschenjäger seine Opfer in die Schwebe brachte.

»Dick, das darfst du nicht, das ist unmenschlich grausam!« erscholl eine Stimme, und Jim und Bob traten aus dem Buschwerk. Das Geschrei des Thags hatte sie geweckt und herbeigeführt.

Als sich Dick an Bob, der dies gerufen hatte, wendete, war sein Gesicht nicht mehr das gemütliche von gestern abend. Eine furchtbare Entschlossenheit, ja, blutdürstige Grausamkeit war darin zu lesen.

»Was dürfte ich nicht?« herrschte er den Jungen an. »Durften diese da Menschen quälen? Durften sie Nancy ihr ganzes Leben lang gefangenhalten für nichts und wieder nichts, nur damit sie um das Mädchen herumtanzen konnten, und durften sie sie dann auch noch niederstoßen? Pack dich fort, Weibsbild, wenn du den Anblick nicht ertragen kannst!«

Dick hatte zu verstehen gegeben, daß er Bobs Geschlecht kenne, und daß er keine fremde Einmischung in seine Absichten dulden würde.

Die beiden wollten sich abwenden, um das kommende, gräßliche Schauspiel nicht anzusehen, aber wie von einer geheimen Macht wurden sie an den Platz gefesselt und mußten der Vollstreckung beiwohnen.

Es war dies dieselbe Macht, welche die Volksmenge zum Richtplatz zieht, wobei das schöne und schwache Geschlecht am stärksten vertreten ist, dieselbe Macht, welche den Zuschauer zwingt, die Augen auf den Seiltänzer auf dem Turmseil zu richten. Ob er wohl herunterfällt? denkt angstvoll jedes Herz, und stürzt er, dann ist es erst interessant. Ein Seiltänzer drei Fuß über dem Boden würde wohl wenig Zuschauer haben; dann tut er sich ja nicht weh, wenn er stürzt.

Dick warf das Ende des Lassos über den Ast hinweg, daß er es wieder in die Hand bekam, und kletterte an dem jetzt doppelten Lederriemen auf den Ast, auf welchen er sich rittlings setzte.

Trotz allen Wehegeheuls wurde der Thag über den Boden geschleift, ein Ruck, er flog über den Ameisenhaufen hinweg, so daß er ihn vorläufig noch nicht berührte, und Dick zog ihn zu sich herauf.

Aber dies hatte keinen anderen Zweck, als daß ihm nun ein Strick an die Füße gebunden wurde, an welchem er so weit herabgelassen wurde, bis das lange Haar eben den Ameisenhaufen berührte.

Noch war Dick nicht wieder an dem Lasso herabgerutscht, als die Zuschauer schon mit Schrecken sahen, wie die in ihrer Ruhe gestörten Ameisen in hellen Haufen die Haare zu erklimmen begannen. Sie verbreiteten sich über das Gesicht, über den Körper, und die die Nase passierten, verschwanden in deren Löchern.

Das Schmerzgeheul gellte durch den Wald – die Ameisen begannen ihre Arbeit.

»Geht an das Feuer, nehmt eure Waffen und schlagt den Weg nach Norden ein! Ich komme nach!« befahl Dick den beiden Soldaten, und diese gehorchten schweigend.

Sie sahen noch im Fortgehen, wie Dick die Fesseln des anderen Thags löste, als wollte er ihm die Freiheit geben, und hörten, wie er zu ihm sagte: »Frei sollst du sein, daß du wieder zu den Deinigen gelangen kannst, aber deinem Freunde da wirst du nicht helfen, auch niemals wieder die Schlinge werfen können. Dafür will ich sorgen.«

Wie Dick dies anfangen wollte, wußten sie nicht, besprachen sich auch nicht darüber, denn sie waren erschüttert von dem eben Gesehenen.

Es schien, als ob Dick schon mehrere Thags solch einem fürchterlichen Tode überliefert hätte.

Schweigend ergriffen Jim und Bob ihre Sachen und schlugen die angegebene Richtung ein. Noch drang an ihr Ohr das Heulen des Aufgehängten, aber es wurde schwächer und schwächer, er kreischte nur noch. Wie mochte es dem anderen Thag zumute sein? Ob ihn dieses Schauspiel wohl von weiteren Mordtaten abschreckte? Oder ob es ihn nur zu noch grimmigerer Rache aufforderte? Was hatte Dick mit ihm vor?«

Die Antwort sollte sofort auf diese stumme Frage erfolgen.

Ein furchtbarer, nicht zu beschreibender, markerschütternder Schrei, dann noch einer, nur etwas schwächer als der erste, ein nachfolgendes Jammern, und alles war wieder still, selbst die Tiere des Waldes vergaßen erschrocken ihr gewöhnliches Lärmen.

Jim und Bob sahen sich an; Entsetzen spiegelte sich in ihren Gesichtern wider. Dick hatte auch mit dem anderen Thag etwas Schreckliches vorgenommen, aber was? Er hatte doch gesagt, er schenke ihm die Freiheit, damit er seinen verbrecherischen Genossen erzählen könne, wie Dick die Thags bestrafe.

Da gesellte sich dieser zu ihnen und versuchte ein möglichst gemütliches Gesicht zu machen.

»Hast du auch den anderen getötet?« fragte Jim leise.

»Getötet? Gott bewahre, dann könnte er ja seinen Kameraden nichts erzählen.«

»Aber er hat doch geschrieen.«

»Der Kerl ist eben ein Waschlappen, wie alle anderen Indier.«

»Du hast ihn wirklich freigegeben?«

»Gewiß, er kann hinlaufen, wohin er will.«

»Dann wird er wohl zuerst seinen Genossen befreien?«

»Das wäre einmal zu spät, denn die Ameisen kann er doch nicht wieder herauspusten, und dann kann er ihn auch gar nicht losknüpfen, obwohl er vollkommen frei ist. Laßt's gut sein, Kinder, erzählen wir uns von etwas anderem. So z. B. kannst du, Bob, mir zum besten geben, wie du so verrückt sein konntest, dir die Haare abzuschneiden, die Röcke auszuziehen und unter die Soldaten zu gehen. Ihr irischen Mädels habt doch den Teufel im Leibe.«

Bob sah sein Geheimnis verraten und erzählte alles offen, was den Trapper höchlichst ergötzte. Er versprach, es für sich zu behalten.

Nach einigen Stunden Weges beschloß Dick Halt zu machen, da es Zeit zum Frühstücken wäre. Dann wollte er versuchen, ein Dorf zu erreichen, denn seine Nahrungsmittel reichten für die drei höchstens noch für eine Mahlzeit aus, und auch diese schon versprach dürftig genug zu werden.

Da lichtete sich vor ihnen der Wald; sie erreichten eine Art von Hohlweg, und aus den vielen Spuren, und auch aus solchen von den Rädern der schweren, indischen Fuhrwerke, konnte man annehmen, daß er nach einem Dorfe führte.

Nun war aber schwer zu entscheiden, ob man links oder rechts gehen mußte, denn schlug man den falschen Weg ein, so konnte man vielleicht noch tagelang marschieren, in der entgegengesetzten Richtung dagegen nur kurze Zeit.

»Wir müssen uns aufs Raten verlegen,« sagte Dick. »Wohin wollen wir gehen, Bob, links oder rechts?«

»Rechts,« entgegnete der Trommler auf gut Glück.

»All right, dann gehen wir links.« »Warum fragst du mich denn erst, wenn du doch nicht auf mich hörst?« sagte Bob gekränkt.

»Das will ich dir erklären. Ehe ich etwas beginne, wobei ich zwei Wege einschlagen kann, frage ich gern erst ein Frauenzimmer um Rat. Dann aber tue ich immer gerade das Entgegengesetzte, und bis jetzt bin ich noch immer gut dabei gefahren.«

Nach dem Frühstück, bei welchem die letzten Vorräte verzehrt wurden, schlugen sie also den Weg nach links ein, aber erst am Nachmittag erblickten sie die ersten Häuser eines Dorfes.

Jim und Bob hatten während der letzten Tage schon tüchtige Strapazen durchgemacht, das letzte Abenteuer hatte sie auch stark mitgenommen, und so war es kein Wunder, wenn sie sich nach Ruhe sehnten, und zwar nach einer Nacht unter Dach und Fach.

Dazu war aber Dick nicht zu bewegen. Seit er in der Burg der Thags durch Gase betäubt worden war, hatte er geschworen, sein Haupt nie wieder unter dem Dache irgendeines Hauses niederzulegen, wenigstens hier in Indien.

Seine beiden Gefährten sollten jedoch keine Rücksicht auf ihn nehmen, sie sollten sich ins Dorf begeben, zuerst vorsichtig, falls Rebellen dort lagen, sich ein Quartier suchen, am anderen Morgen hierher zurückkehren und die Vorräte mitbringen, die sie bekommen könnten.

»Wenn Hilfe nötig ist,« schloß Dick, »bin ich immer bei der Hand. Machen wir ein Haus aus, in welches ihr euch einquartiert.«

»Jedes größere Dorf wie dieses dort,« sagte Jim, »hat zwei größere Häuser, die sich gegenüberliegen: das, in welchem der Ortsvorsteher wohnt und die Karawanserei. In einem von diesem sind wir sicher.«

»Gut, so weiß ich euch zu finden.«

»Warum kommst du denn aber nicht erst selbst mit?« fragte Bob. »Du kannst dann ja wieder umkehren?«

»Die Erklärung habe ich dir schon einmal gegeben, Kind,« entgegnete Dick. »Wenn ich in einem Dorfe gesehen werde, so ist hundert gegen eins zu wetten, daß alle Bewohner die Flucht ergreifen, als käme der Teufel in eigener Person. So ist es bis jetzt immer gewesen, und so würde es wohl auch diesmal sein.«

Jim und Bob begaben sich, die Gewehre auf den Schultern, nach dem Dorfe. Solche einzelne, gut bewaffnete Soldaten, welche durch Wildnisse und kultivierte Gegenden marschierten, waren nicht selten; es waren Flüchtlinge oder Versprengte. Dick blieb zurück und hütete sich, vom Dorfe aus gesehen zu werden.


 << zurück weiter >>