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22. Dollamore

Im Artilleriepark zu Delhi befanden sich unter den erbeuteten Geschützen nach modernem System auch noch sechs von jenen alten, ungeheueren Kanonen, mit denen die Radschas ihre Burgen auszurüsten pflegten. Sie hatten keinen Zweck mehr, sie waren zu schwerfällig, sie mußten von vorn geladen werden, und zwar mit Kugeln von enormem Gewicht, oder aber mit gehacktem Blei. Die modernen Granatengeschütze hatten sie längst verdrängt.

Dennoch spielten sie auch in diesem Aufstande wie schon in den früheren eine Rolle. Vor ihre Mündungen wurden die Gefangenen gebunden und mit einer tüchtigen Pulverladung weggeblasen, wie der Ausdruck dafür lautete, und zwar mit Recht, denn die Körper der Unglücklichen zerstoben in Atome. Diese Todesart war schließlich an sich nicht grausam, aber man ließ die Opfer stunden-, ja tagelang vor den Mündungen der Geschütze stehen und die Todesangst gründlich auskosten.

Man versetze sich nur in die Lage eines solchen Gefangenen. Er steht vor der Mündung, hinter sich im Rohre weiß er einen Zentner Pulver; ein Indier mit brennender Lunte steht daneben und fährt immer mit dem glühenden Schwamm wie spielend über dem Zündloch hin und her. Wann wird der Funke in das Pulver fallen? Wann wird der Körper in hunderttausend Stücke zerrissen werden? Auf einer indischen Festung standen fünf junge englische Gefangene vor den Kanonenmündungen. Im letzten Augenblick kapitulierte die Festung, die Gefangenen wurden befreit und den Ihrigen ausgeliefert – als Wahnsinnige. Vier von diesen fünf lebten noch lange in einem Irrenhause in der Nähe von London. Sie litten an einem harmlosen, aber unheilbaren Wahnsinn; bei allen vieren war dieser vollkommen gleich. Sie waren in beständiger Angst, in die Luft gesprengt zu werden. Ehe sie sich setzten, sahen sie unter den Stuhl, unter das Sofa, unter den Tisch; eine darunter stehende Fußbank jagte ihnen namenloses Entsetzen ein, desgleichen der Anblick eines Ofenloches, einer Röhre usw. Sie hatten zwei Nächte und einen Tag vor den Mündungen des Geschützes gestanden, jeden Augenblick gewärtig, weggeblasen zu werden. Zweien von ihnen war in dieser Zeit das Haar schneeweiß geworden.

Der Schuppen, in welchem die riesigen Kanonen standen, war dicht umdrängt, man jauchzte, schrie und wartete mit Ungeduld, bis eine derselben von einigen Sepoys und Pferden auf die Straße bugsiert würde.

Dollamore, der Anführer der Gurgghas, den die Rebellen mehr fürchteten und haßten als die Engländer selbst, sollte heute nacht weggeblasen werden, und der Schuß war zugleich das Signal für ein anderes, waghalsiges Unternehmen.

Die Begum, die bisher die Gefangenen geschont, hatte dies angeordnet, sie selbst wollte auch das Unternehmen, einen Ausfall, als Führerin leiten. Das Geschütz war fix und fertig, sogar schon mit der Pulverkartusche geladen. Die Pferde brauchten nur noch vorgespannt zu werden. Dann ging es hinaus auf den Wall, Dollamore wurde vorgebunden, und im Scheine der Nachmittagssonne konnte er nochmals das Lager seiner Freunde sehe, ebenso wie diese ihn sahen, ohne helfen zu können.

So, angesichts seiner Freunde, sollte jeder Verräter sterben.

Ein Sepoy nahm den Verschlußdeckel vom Geschützrohr ab und blickte in dieses, das ihm in einem Durchmesser von einem halben Meter finster entgegengähnte. Ein Schauer durchlief den Körper des Mannes, seine Hand zitterte, als er den Deckel wieder aufsetzte.

Die zehn Pferde wurden vorgespannt und langsam setzte sich das schwere Geschütz in Bewegung, daß die Steinfliesen ächzten und einige zerbrachen.

Wüstes Geschrei empfing die Kanone, die jetzt über die Straßensteine rollte und sie zu Staub zermalmte. Unbarmherzig mußten die Pferde angetrieben werden, obgleich sie schon ihr möglichstes taten, als freuten sie sich ebenfalls darauf, den Verhaßten vor die Mündung gebunden zu sehen.

Endlich stand das ungeheuere Geschütz oben auf dem Wall, dem Hauptlager zugekehrt.

Mit Fernrohren, ja, schon mit bloßen Augen mußten die Engländer sehen können, was hier oben vorging.

Außer den zum Geschütz gehörenden Sepoys und den Offizieren durfte niemand den Wall betreten. Das Volk war unten versammelt; man reckte sich auf den Fußzehen empor, und die Frauen hielten die Kinder in die Höhe. Sie sollten sehen, welchem Tode ein Verräter an Indien verfallen war.

Jetzt verwandelte sich das Jubelgeschrei in ein Wutgeheul; denn den Wall entlang wurde Dollamore geführt. Schwere Ketten hielten den riesenstarken Mann in Banden. Noch immer ging der junge Hüne aufrecht einher; bedeckten ihn jetzt auch nur Lumpen, der königliche Anstand war noch derselbe, noch blickte das Auge ebenso feurig und trotzig wie früher.

Als er zuerst und dann noch später durch die Straßen Delhis geführt worden war, mußte er stets von einer starken Wache umgeben sein, weil er sonst vom Volke zu Tode gesteinigt worden wäre. Jetzt, da er den letzten Gang antrat, der ihn vor die Mündung der Kanone führte, war ein Schutz seiner Person nicht mehr nötig. Aber Spott, Hohn und Schmähungen bekam er genug zu hören, die seine stolze Haltung jedoch nicht zu beugen vermochten.

Da verstummte das Volk für einen Moment. Von zahlreichen Offizieren begleitet, kam die Begum zu Pferde angesprengt. Der Panzer, den sie wieder angelegt hatte, schimmerte im Sonnenglanze.

Ihr Handwink befahl, die Prozedur fortzusetzen; sie stellte sich und ihre Begleiter aber so auf, daß der Gefangene im englischen Lager gesehen werden konnte.

Ein vierfacher Strick aus bestem Hanf band Dollamore mit dem Rücken an die Kanone; derselbe Strick fesselte auch hinten seine Hände, denen man vorher die Ketten abgenommen hatte, aber nicht eher als bis sie wieder unschädlich gemacht waren. Und hätte Dollamore die Stärke von zehn Riesen besessen, diesen Strick hatte er nicht zerreißen können. Die Hände lagen so, daß sie sich gerade in der Mündung des Geschützes befanden; die Füße blieben frei.

Die Umstehenden hofften vergebens, daß der junge Nabob Zeichen von Angst von sich geben würde. Ruhig stand er da, niemanden beachtend, die großen, glänzenden Augen unverwandt auf das englische Lager geheftet, das sich im Sonnenschein vor ihm ausbreitete.

Den scharfen Augen Dollamores entging es nicht, wie man ihn von dort aus beobachtete.

Zahlreiche Fernrohre und Feldstecher waren nach ihm gerichtet, andere hielten die Hand über die Augen, während sie nach dem Festungswall spähten, ja, der junge Krieger glaubte sogar, deutlich Lord Canning erkennen zu können, wie er im Kreise von Offizieren sprach und nach ihm deutete.

Für diese starb er – und er starb gern; denn obgleich er nicht in der Feldschlacht seinen Tod fand, wußte er doch, daß ihm auch diese Hinrichtung als Heldentod angerechnet würde. Die Begum drängte ihr Pferd vor ihn hin und sah ihn lange an, als er sie aber nicht einmal anblickte, sondern gleichgültig den Kopf wendete, unterdrückte sie die Frage oder Worte, die sie für den Gefangenen gehabt hatte.

Gleich darauf sprengte ein Reiter aus dem Lager und näherte sich dem Festungswall, eine weiße Flagge schwingend. Die Begum selbst winkte ihn heran und unterhandelte mit ihm.

Es war ein Abgesandter Lord Cannings und bot für Dollamore drei der gefangenen indischen Offiziere, welche man sich auswählen könne.

»Sage Lord Canning, er soll seine Gefangenen ebenso vor die Kanonen binden lassen, wie das mit diesem Verräter geschieht,« entgegnete das Mädchen.

»Bei uns sind solche barbarische Gebräuche nicht im Gange,« sagte der Abgesandte unklugerweise.

»Richtig, ihr wendet nur die Folter bei Weibern an, wenn die Männer die Steuern nicht aufbringen können; ihr nehmt die Kinder von der Mutter Brust und laßt sie hungern, bis Klagegeschrei die Mütter wahnsinnig macht, und ihr erschießt Unschuldige, die ihr der Verräterei beschuldigt, weil ihr euch ihrer entledigen wollt. Dollamore ist mir nicht feil.«

»Verlange einen Preis für ihn, an Geld oder an Gefangenen, soviel du willst – es soll alles gewährt werden.«

»Gut denn, so sage Lord Canning, er soll mir den Mann senden, dessen Todesurteil er letzte Nacht um zwei Uhr unterschrieben hat, dann wird Dollamore euch ausgeliefert. Geh und melde das deinem Herrn, und wenn du in fünf Minuten nicht außer Schußweite bist, dienst du uns als Zielscheibe.«

Der Abgesandte warf sein Pferd herum, sprengte zurück und – kam nicht wieder.

Dollamore hatte diese Verhandlung gleichgültig mit angehört.

»Heute mitternacht werde ich dich in das Lager hinübersenden,« wandte sich das Mädchen an ihn, »sieh zu, daß du es lebendig erreichst. Man sagt ja, du sollst einen stählernen Körper besitzen, nun, so wird dir das Pulver auch nichts schaden. Und dieser Schuß wird das Signal sein, daß wir wie Heuschrecken über die Faringis herfallen und sie mit dem Schwerte züchtigen.«

Dollamore lachte laut und verächtlich auf. Diesmal öffnete er seinen Mund zur spöttischen Antwort.

»Willst du, Mädchen, das Schwert gegen die Engländer erheben? Dann laß dir erst solch ein Spielzeug anfertigen, welches du nicht mit beiden Händchen zu heben brauchst.«

Dunkle Röte übergoß das Gesicht des Mädchens, aber sie unterdrückte ihre heftige Antwort.

»Es ist schade, daß ich dich nicht mehr eines Besseren belehren kann. Hast du von der Begum von Dschansi schon gehört?«

»Wohl habe ich schon von ihr gehört, von jenem Mädchen, welches die Tochter der Kali und des Sewadschi sein soll. Bist du dieses Mädchen?«

»Ich bin es.«

»Und du willst Indien befreien?«

»Wenn Brahma es will, ja.«

»O, du unglückliches Indien,« rief Dollamore wehmütig aus, »wann wirst du begreifen, daß du, dir selbst überlassen, hoffnungslos verloren bist? Du brauchst einen fremden und strengen Herrn, der dich lehrt und zugleich knechtet; denn wehe dir, wenn du unter deine Radschas verteilt wirst. Sie werden dich schinden und treten, bis sie den letzten Blutstropfen aus dir gesaugt haben, und dann werden sie sich selbst auffressen. Mädchen, ich stehe vor meinem Tode und bettele nicht um mein Leben. Aber höre mich an, ich beschwöre dich. Ich, ich sterbe für die Freiheit Indiens, nicht ihr, die ihr mit Feuer und Schwert gegen eure Unterdrücker kämpft. Ihr müßt Unterdrücker haben, die euch knechten, aber sie lehren euch zugleich, und wenn ihr genug von ihnen gelernt habt, dann wird sich von ganz allein das Blatt wenden; denn ihr seid doch die Herren in diesem Lande, steht den Faringis an nichts nach, und dann wird eine ganz andere Macht befehlen, daß die Engländer Indien verlassen.

Ihr Wahnsinnigen, die ihr glaubt, durch Gewalt euch unabhängig zu machen von jenem Inselreich im Norden! Mädchen, ebenso, wie alles Fabel ist, was man von dir sagt, daß du ein überirdisches Wesen, daß du unverwundbar und unwiderstehlich seist, daß du dich unsichtbar machen und an verschiedenen Orten zugleich sein könntest, ebenso unmöglich ist es, Indien durch Gewalt zu befreien. Die Zeit wird kommen, da es frei sein wird, aber nicht durch Gewalt und Kampf.«

Ein unwilliges Gemurmel folgte diesem leidenschaftlichen Ausbruch, einer der Offiziere hob die Säbelscheide, um dem Lästerer ins Gesicht zu schlagen, doch des Mädchens drohender Blick lähmte seinen Arm.

Sie war die einzige, welche still blieb, ja, sie wurde sogar nachdenklich. Ohne Antwort ritt sie davon, die Begleiter ihr nach.

Dollamore stand wieder allein und blickte unverwandt nach dem Lager, in welchem die Feinde seines Vaterlandes waren, das er liebte, und gegen welches er doch gekämpft hatte. Er tat es in der besten Überzeugung und mit gutem Gewissen, denn er hatte recht. Wehe dem indischen Volke, wenn alle diese kleinen Fürsten die Herrschaft wieder in die Hände bekämen! Ja, der Traum von einem König oder einer Königin war ganz gut, aber es war nur ein Traum – wenigstens jetzt noch. England, oder vielmehr die anglo-indische Kompanie, war nichts weiter als eine von Gott gesandte Zuchtrute für Indien.

Das begriffen die unten versammelten Hindus, Kulis und Parias nicht, ihr Unwille wurde immer lauter, sie griffen nach Kot und Steinen, und Dollamores Leben wäre vielleicht um einige Stunden noch verkürzt worden, wenn die Wache die Menge nicht mit Hieben der flachen Klinge auseinandergetrieben hätte.

Die Erwartung, den Gehaßten sterben zu sehen, hielt die Menge selbst von den sonst so heiligen Waschungen ab, welche bei Sonnenuntergang stattfinden. Dichtgedrängt, Kopf an Kopf, standen sie unten am Wall.

Da plötzlich ward eine Stimme in der Menge laut.

»Hütet euch, man wird ihn doch noch befreien,« krächzte jemand.

Als wäre dies eine Prophezeiung gewesen, die in Erfüllung gehen mußte, so brach der Unwille wieder los. Das Volk hatte Lust, den Gefangenen selbst zu töten und verlangte wenigstens stürmisch, die verhängnisvolle Lunte sollte schon jetzt dem Zündloch genähert werden.

Statt aller Antwort ließ der wachthabende Offizier, der wahrscheinlich sehr strenge Instruktion hatte, die Leute zurücktreiben und die nächsten Straßen besetzen. So war jetzt niemand anders bei Dollamore als die Wache.

Die Sonne sank tiefer und tiefer, es wurde Nacht, und noch stand er vor der Mündung.

Was war ihm gesagt worden, was hatte er aus den vielen Rufen des Volkes herausgehört? Zu Mitternacht würde er in Atomen in die Lust hinausgeschleudert werden, hinüber in das Lager, vielleicht wurde es noch von einem blutigen Fetzen erreicht, und der Schuß sollte zugleich das Signal für einen Ausfall sein, der unter der Führung der Begum stattfand.

Trotzig lachte Dollamore auf, als er an die schlanke, zartgebaute Gestalt des Mädchens im Panzerhemd dachte. Sie unverwundbar und unüberwindlich! Eher glaubte er, sie könne sich unsichtbar machen und an verschiedenen Orten zugleich erscheinen. War doch er, der löwenstarke Mann, von der Übermacht, allerdings von einer gewaltigen und hinterlistigen, überwunden worden.

Er strengte einmal die schwellenden Muskeln zum Zerspringen an, gab aber bald den Versuch auf. Jetzt war es vollkommen Nacht. Friedlich schauten die Sterne auf das Gefilde, von welchem bald Schlachtgeschrei, Schwerterklang und Schmerzgeheul widerschallen sollte.

Auf dieser Seite schwiegen die Geschütze, dagegen spielten sie nach wie vor auf der nördlichen Seite, den Pionieren die Arbeit zu erschweren. Die Schanzgräben waren übrigens bald fertig, man wartete nur noch auf General Nicholson und seine schwere Artillerie.

Da erklang taktmäßiger Schritt; eine Patrouille näherte sich auf dem Festungswall der Riesenkanone. Voran schritt ein in einen langen Mantel gekleideter Offizier. Dieser schien mit dem wachthabenden Kameraden einen Wortwechsel zu haben, schließlich entfernte sich letzterer mit seinen Leuten. Dollamore hatte gar nicht darauf geachtet.

Der neue Offizier, anscheinend eine schlanke, mittelgroße Figur, trat auf Dollamore zu.

Die Sepoys hielten sich entfernt.

»Leutnant Dollamore,« flüsterte eine unterdrückte Stimme.

Des Indiers Feuerauge durchdrang die Finsternis und erblickte ein bartloses Gesicht, doch konnte er es nicht genauer erkennen, weil der Mann mit der Hand einen Mantelzipfel davor hielt. Aber diese Stimme kam ihm merkwürdig bekannt vor. Vorläufig schwieg er.

»Erkennst du mich?« erklang es weiter, sehr leise.

»Nein. Wenn du ein Freund der Rebellen bist, so sprich nicht mit mir.«

»Ich bin dein Freund.«

»Beweise es!«

»Ich will dich befreien. Wagst du, diese sechs Meter hohe Mauer hinabzuspringen?«

Ein Hoffnungsstrahl blitzte in der umnachteten Seele des unglücklichen Mannes auf.

Aber verkaufen wollte er seine Ehre nicht.

»Ich wage es. Und wo bleibst du?«

»Ich bleibe vorläufig in der Stadt und treffe später wieder mit dir zusammen.«

»So bist du ein Freund der Rebellen.«

»Nicht mehr.«

»Du hältst zu den Engländern?«

»Nein.«

»Zu wem sonst?«

»Zu dir allein.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Dollamore, ich opfere alles, alles, was ich besitze, und was ich noch zu hoffen habe, um deinetwillen, um dich zu retten, um mit dir vereint zu leben; denn – ich liebe dich.«

Jetzt wußte er, wen er vor sich hatte, und ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Nein, man verkannte ihn völlig.

»Verrat!« rief seine dröhnende Stimme. »Wo ist die Wache?«

»Tor, Wahnsinniger! So fliege denn ins Jenseits, und ich werde mich an diesem Anblick ergötzen!« zischte es noch einmal, dann huschte die Gestalt im Mantel davon und ebenso schnell stoben die mitgebrachten Soldaten auseinander.

Dafür stürmten der wachthabende Offizier und seine Leute herbei.

»So bin ich doch betrogen worden!« schrie ersterer. »Ich dachte mir gleich, daß der Befehl gefälscht war. Was gab es?«

»Ayda, Nana Sahibs Weib, bot mir die Freiheit an, wenn ich zusammen mit ihr entflöhe,« entgegnete Dollamore laut.

Furchtbar erschrocken zuckte der Offizier zusammen.

»Schweig, Unseliger!« herrschte er den Gefangenen rauh an. »Ehe du mich unglücklich machst, renne ich dir den Degen durch den Leib.«

Dollamore wußte, woran er war.

Der Offizier durfte den Gefangenen nicht entfliehen lassen, sonst war sein Tod gewiß, aber ebenso, wenn Nana Sahibs Weib ihren Zorn an ihm ausließ, daß er sie verriet. Der Wachthabende konnte froh sein, daß Dollamore den Anschlag selbst und absichtlich verraten hatte. Warum, dies den Gefangenen zu fragen, hielt er unter seiner Würde.

Wie früher patrouillierten die Soldaten auf und ab, immer näher kam die Stunde heran, da das Geschütz ihn hinaus in die Ewigkeit schleudern sollte. Er berechnete am Stand der Sterne, daß bis zur Mitternacht höchstens noch eine Stunde fehlen könne.

Eine Stunde noch von der Ewigkeit getrennt! Wem mochte er dann wohl gegenübertreten? Einer Kali? Einem Brahma? Irgendeinem Gott oder einem Nichts? Und wann begann wohl das Spiel mit der Lunte, die über das Zündloch fuhr? O, Dollamore fürchtete nicht, daß er erbeben würde.

Da, was war das? Seine auf dem Rücken gebundenen Hände waren von etwas Weichem, Warmem berührt worden, fast wie von einer menschlichen Hand. Torheit, ein Mensch! Aber was war es gewesen? Da, noch einmal; kleine Finger legten sich in sanftem Druck um sein starkes Handgelenk.

»Dollamore!« flüsterte es, so leise, daß er es eben noch vernehmen konnte.

Wahrhaftig, in dem Kanonenrohre war ein Mensch – oder nein, ein Engel, der ihn auf die Ewigkeit vorbereiten wollte.

»Dollamore, kennst du mich? Nein, antworte nicht,« fuhr es hastig fort, »du kennst mich nicht mehr. Ich bin Sakuntala, die Parsin, eine der Töchter von Beludschistan, welche sterben, wenn sie lieben und nicht wiedergeliebt werden.«

Der junge Indier stand wie versteinert da, er glaubte seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen.

Er kannte die Sage von den Mädchen von Beludschistan, doch eine Sakuntala kannte er nicht.

»Dollamore,« flüsterte es fort, »erinnere dich, wer ich bin. Es war zu Siwas Fest, am Tage des großen Aufstandes. Da wollte sich eine Bajadere Wischnus nicht unter die Räder des Götterwagens werfen. Ein Fakir ergriff sie und schleuderte sie vor die Räder. Doch ein Mann sprang aus der Menge, riß sie zurück und brachte sie in ein Haus. Dieser Mann warst du, die Bajadere war ich. Erkennst du mich nun?«

Wie Schuppen fiel es von Dollamores Augen.

Ja, jetzt kannte er dieses Mädchen. Was aber sollte dies alles bedeuten? Wie kam sie in das Kanonenrohr? Er hatte Sakuntala längst für tot gehalten, des Feuertodes gestorben, denn sie hatte sich dem empörten Volke selbst ausgeliefert, um sein, Dollamores, Leben nicht in Gefahr zu bringen.

Es war eine hochherzige Tat gewesen, wie sie nur der Liebe entspringen kann; hatte doch Sakuntala, als sie sich unter die Menge warf, selbst mit ihrem letzten Schrei gestanden, daß sie ihn liebe.

Dollamore hatte das heldenmütige Mädchen noch lange betrauert, es gab noch jetzt Stunden, da ihm die Tränen in die Augen kamen, dachte er an sie.

Aber lebte sie denn wirklich noch? Er umschlang mit den Fingern eine kleine, weiche Hand und drückte sie leise. Ja, das war Fleisch und Blut.

Das Mädchen schwieg, wahrscheinlich, weil eben ein Sepoy vorüberging, dessen Schritt sie hörte.

Als der Mann sich etwas entfernt hatte, fuhr sie fort: »Wenn du mich erkannt hast, so drücke meine Hand nochmals, aber sprich nicht!«

Er drückte ihre Hand innig, und sie erwiderte den Druck.

»Ich wurde gerettet durch meine Freundin, ich kann dir nicht erzählen, wie alles kam – man stieß mich aus dem Tempel – gestern hörte ich, du solltest vor die Kanonenmündung kommen – ich versteckte mich in dem Schuppen und kroch dann unbemerkt in das Rohr – ich wollte mit dir sterben –« Der Soldat näherte sich wieder, sie brach ab. Dollamore drückte ihr dankbar die Hand. Es ist doch schön, in der Not, in Leben und Tod, eine treue Seele zu wissen.

Als die Schritte verklungen waren, begann sie abermals:

»Ja, ich wollte mit dir sterben, dich nicht befreien, denn ich glaubte, du liebtest – jetzt weiß ich es besser – jetzt will ich dich befreien, ich kann es, ich habe meinen Dolch bei mir.

Willst du, so drücke mir die Hand, willst du lieber sterben, so drücke sie nicht.«

Dollamore zögerte lange. Wie gern hätte er mit dem Mädchen gesprochen, aber es war unmöglich.

Seine Befreiung war nicht allzu schwierig. Der Sprung von der sechs Meter hohen Mauer war für ihn eine Kleinigkeit, in der Finsternis wollte er schon entkommen. Dann war er frei, wieder vereinigt mit den Engländern.

Aber Sakuntala? Mit Zentnerschwere fiel ihm dieser Gedanke aufs Herz. Dann war das Mädchen verloren, sie, die ihr Leben für ihn gewagt. Entweder sie wurde beim Herausschlüpfen bemerkt und festgenommen, oder sie fand ihren Tod beim Signalschuß – mit ihm zugleich.

Das Mädchen ahnte, was in ihm vorging.

»Entschließe dich schnell,« flüsterte sie, »und nimm keine Rücksicht auf mich. Ich sterbe gern, ach so gern für dich, wenn ich weiß, daß du mir dankbar bist und mich in deiner Erinnerung behalten willst.«

Er drückte ihr zärtlich die Hand.

»Soll ich deine Banden durchschneiden?«

Noch ein Händedruck, und sofort begann ein scharfes Messer an dem Strick zu sägen und zu schneiden.

Dollamore spannte die Muskeln an, er schloß die Augen und blinzelte nach dem auf und ab gehenden Offizier, er blinzelte nur, damit man nicht seinen glänzenden Blick wahrnehmen konnte, der an dem Degen des Offiziers hing, denn diese Waffe mußte er haben. Wohl wollte Dollamore den Sprung von der Mauer machen, aber nicht allein, sondern mit Sakuntala, und dazu war es nötig, daß er die Wachmannschaft niedermachte. Das war eine Kleinigkeit für Dollamore.

Das Messer hörte auf zu schneiden, obgleich erst der erste der zähen Stricke durchschnitten war. Wie die übrigen, so hatte auch das Mädchen im Geschützrohr ein näherkommendes Pferdegetrappel gehört.

Schon vorher war es Dollamore gewesen, als vernehme er in der Ferne, vielleicht in einem weit abgelegenen Viertel Delhis, leises Waffengeklirr und dumpfes Stimmengemurmel. Auch das Volk begann sich wieder heranzudrängen.

Es war wieder die Begum, welche mit ihren Offizieren geritten kam. Diesmal sprang sie vom Pferd.

Sie war ganz in Stahl gehüllt, auf den schwarzen Locken saß der goldene Helm mit dem fliegenden Drachen, und an der Seite hing ein Schwert, welches für ihren Arm viel zu schwer schien. Sie vermochte es wohl mit einer Hand zu heben, daß sie es aber regieren konnte, war ganz unmöglich.

Seltsam, wie sich das Volk verhielt! Einige waren vor Erstaunen ganz außer sich, die Begum hier zu sehen.

»Sie ist es nicht,« rief sogar einer, »die Begum befindet sich am zweiten Tor an der Spitze der Reiter. Eben sah ich sie noch dort.«

Der Mann wurde verlacht und zum Schweigen gebracht.

Die Begum ergriff selbst die Lunte und ließ sie in Brand setzen.

»Nun, Dollamore, zeige, daß du, wenn du auch an deinem Vaterland zum Verräter geworden, doch noch ein Mann geblieben bist. In fünf Minuten wirst du in Atome zersplittert sein. Oder wünscht du, leben zu bleiben und zuzuschauen, wie ich über die Engländer herfalle?«

Dollamore lachte nur verächtlich, antwortete aber nicht. Er fühlte, wie das Messer wieder mit doppelter Schnelligkeit schnitt. Bald mußte er frei sein – und dann wehe denen, die ihn hindern wollten! Das Mädchen gab die Lunte einem Offizier und trat selbst zurück. Sie wollte Zeuge des Schauspiels werden, das sie zum ersten Male zu sehen bekam.

Der Offizier trat hinter die Kanone, hob die Lunte und sah nach der Begum, ein Kommando erwartend.

Da plötzlich vernahm man einen Knall wie vom Bersten von zähen Stricken, Dollamores Arme flogen mit einem Ruck seitwärts, die Stricke um seinen Leib fielen von selbst ab, im nächsten Augenblick stand er neben dem Offizier, riß dessen Säbel aus der Scheide, und mit gespaltenem Kopfe sank der Mann zu Boden.

Alles dies war das Werk eines Augenblickes gewesen.

Wohl zogen die Umstehenden ihre Degen, aber sie griffen den jungen Riesen nicht an, der im Besitz einer Waffe war. Dagegen schlugen die Soldaten die Gewehre an.

»Zurück,« rief die Begum und drang mit gezücktem Schwert auf Dollamore ein.

»Willst du wirklich probieren, ob du unverwundbar bist?« lachte dieser wild auf. »Nun, so beweise es!«

Das Fechten war Dollamores Handwerk; blitzschnell und von allen Seiten sausten die Hiebe auf das Mädchen ein, aber gleich im Anfang erlahmte seine Hand vor Staunen; denn das schlanke Madchen schwang das starke Schwert, als wäre es ein Strohhalm; sie selbst griff nicht an, sie parierte nur, und ehe sich's Dollamore versah, schlang sich die Schwertspitze um sein Degengefäß, es ward ihm aus der Hand gerissen mit unwiderstehlicher Kraft, und in weitem Bogen flog seine Waffe durch die Luft.

Dollamore war über diese Fechtkunst des Mädchens völlig erstarrt. Er merkte nicht einmal, wie sie sich von hinten auf ihn warfen und ihn abermals banden.

War dieses Weib wirklich ein übernatürliches Wesen, die Tochter der Kali, daß sie ihn, Dollamore, wie ein des Fechtens unkundiges, schwaches Kind, ohne Schwierigkeit entwaffnen konnte? Das Mädchen weidete sich augenscheinlich an dem Schrecken des Besiegten.

Triumphierend ergriff sie die Lunte.

»Du sollst noch nicht sterben, Dollamore,« rief sie, »du sollst mich vor deinem Tode erst noch völlig kennen lernen. Daß ich unbesiegbar bin, hast du an dir selbst gesehen, nun erkenne auch, daß mich weder Raum noch Zeit zu binden vermögen.«

Sie näherte die Lunte dem Zündloch, da aber schrie Dollamore so schrecklich auf, daß sie betroffen den Arm senkte.

»Halte ein,« rief er, »oder binde mich erst wieder vor, ehe du die Kanone abfeuerst!«

Verwundert blickten alle nach ihm diese Worte konnte sich niemand erklären. Doch die Erklärung fand sich von selbst, als aus dem Geschützrohr eine weibliche Gestalt, phantastisch gekleidet, einen Dolch in der Hand, schlüpfte und auf Dollamore zueilte.

»Sakuntala, die Bajadere!« erklang es einstimmig.

»Sie war es auch, welche die Stricke zerschnitten hat, denn sie sind zerschnitten,« fügte die Begum hinzu, einen davon aufhebend und betrachtend. »Wie ist das zugegangen? Wie kommt die Bajadere in das Geschützrohr? Nicht eher sollt ihr beide sterben, bis ich dies erfahren habe.«

»Dollamore muß sterben, jetzt sterben,« erklang eine Stimme drohend aus der Menge.

Ein Blitz zuckte aus den Augen der Begum über die Umstehenden.

»Wer war es, der das sagte?« Ehe er sich's versah, wurde schon ein Mann von hinten gepackt und vorgeschoben. Er war der Unzufriedene gewesen.

»Vor die Mündung mit ihm,« befahl die Begum hart; »wer mich wortbrüchig machen will, der verdient den Tod! Nicht eher sollen diese beiden sterben, als bis ich erfahren habe, was hier vorgegangen ist. Vor die Mündung mit diesem Mann!«

Gehorsam ergriffen die Sepoys den sich Sträubenden und um Erbarmen Heulenden und banden ihn an das Geschütz. Ein Offizier nahm die Lunte.

In der Ferne ertönte das Waffenklirren lauter.

»Es ist Zeit – Feuer!« kam das Kommando von den Lippen des Mädchens, während die Menge, aus deren Mitte der Unzufriedene gerissen worden war, von stummem Entsetzen ergriffen war.

Ein feuriger Strahl, ein furchtbarer, die Ohren betäubender Donner, die Kanone sauste zurück, wie die Umstehenden von dem Luftdruck zurückgeschleudert wurden, und verschwunden war der Mann vor der Mündung. Was er gewünscht, das hatte er an sich selbst erfahren müssen.

Das Gesicht des Mädchens war geisterhaft bleich geworden; zugleich drückten die Züge aber auch eiserne Strenge aus. Erschüttert stand der gefesselte Dollamore daneben, die Bajadere hatte wie schützend die Arme um ihn geschlungen, die Zwergin um den Riesen.

Im gleichen Moment sah man einen Zug von dunklen Gestalten ein Tor Delhis verlassen.

Nach der Schnelligkeit, mit der er über das offene Feld eilte, mußte er aus Reitern bestehen.

Sie jagten der Richtung zu, in welchem sich das Lager der Buranis befand.

Doch die Begum beobachtete nicht den Erfolg ihrer Krieger, welche einen Ausfall unternahmen, um den Feind zu schädigen. Als wäre nichts geschehen, wandte sie sich wieder an die beiden.

»Nun zu euch,« begann sie, »ich will erfahren, wie dieses Mädchen in das Kanonenrohr kommt. Du heißt Sakuntala und bist eine Bajadere, wie ich gehört habe. Was veranlaßt dich, die du das Gelübde der Keuschheit abgelegt hast, dein Leben für einen Mann aufs Spiel zu setzen?«

Sie erhielt keine Antwort, weder Dollamore noch Sakuntala öffneten den Mund.

»Sie ist aus Wischnus Tempel gestoßen worden, weil sie sich vor den Rädern des heiligen Wagens geflüchtet hat,« rief einer aus der Menge, und der Mann hätte vielleicht noch mehr erzählt, wenn ihm nicht von der Begum Stillschweigen geboten worden wäre.

»Von dir selbst, Sakuntala, will ich es erfahren. Mich deucht, du liebst diesen Mann.«

Die Bajadere fand die Sprache wieder, aber sie gab keine Antwort.

»Du sagst, Begum, du brächest dein Wort nie,« begann sie ohne Furcht und schaute das Mädchen, welches hier allein und unumschränkt zu befehlen hatte, fest an.

»Sahst du nicht eben, wie schnell ich das ausgeführt wissen will, was ich gesagt habe? Nein, ich breche mein Wort nicht. Doch wozu diese Frage?«

Wie freudig richtete sich Sakuntala auf und rief:

»Nun, so darfst du auch weder mein Leben noch das Leben dieses meines Freundes bedrohen.«

»Ich dürfte es nicht?« fragte die Begum erstaunt. »Da täuschst du dich. Euer beider Leben gehört mir, denn auch das deine ist verwirkt, weil du den Verräter zu befreien gesucht hast.«

»Du darfst es nicht, Begum, oder du bist wortbrüchig. Nicht eher sollen diese beiden sterben, hast du vorhin gerufen, als bis ich alles erfahren habe, und weder von mir noch von meinem Freunde sollst du ein Wort darüber hören. Dies ist das letzte, was ich sprach.«

Über das Gesicht des kriegerischen Mädchens huschte ein schwaches Lächeln, die Indier dagegen wollten in ein unwilliges Murmeln ausbrechen, weil die Bajadere durch eine List den Willen der Begum zu ändern und sich zu retten suchte. Doch der Unwille wurde im Keime erstickt; denn in diesem Augenblick erscholl in der Ferne das Kriegsgeheul der Indier, ihr Schlachtruf, dem alsbald ein Schreckensgeschrei folgte. Erst nach und nach hörte man auch die anfeuernden Rufe der Engländer. Diese waren von den Ausfallenden jedenfalls überrascht worden.

Schon jetzt beeilten sich die meisten, einen Ort zu erreichen, von dem sie dem Kampfe zuschauen konnten.

»Geht und seht, wie eure Königin ficht,« sagte noch die Begum, für Dollamore ganz unverständlich, und bewirkte somit, daß auch noch die letzten den Platz verließen, wo sich die Szene abspielte, die für sie jetzt weniger Interesse hatte, als der nächtliche Kampf auf offenem Felde.

»Du nimmst mich beim Worte,« sagte dann die Begum zu der Bajadere, »so erfahre denn, daß ich es auch halte. Vielleicht habe ich es gut mit euch vor. Versprecht ihr beide, mir willig zu folgen, ohne an Flucht zu denken?«

»Wir versprechen es dir – auf mein Wort,« entgegnete Dollamore.

Die Begum zögerte nicht, sie durchschnitt seine Banden und schritt voraus, den Wall hinunter und durch die Straßen. Die beiden folgten ihr, Dollamore hielt die Bajadere an der Hand. Die wachthabenden Sepoys blickten den Davongehenden mehr erstaunt als unwillig nach, sonst war niemand mehr da, welcher die Begum an der Ausführung ihres Vorhabens gehindert hätte, was diese wohl auch nicht geduldet haben würde.

In den Straßen begegnete ihnen niemand, ganz Delhi war wie ausgestorben. Alles befand sich auf den Wällen und schaute dem vor dem englischen Lager wütenden Kampfe zu. Das Toben der Streitenden wurde immer lauter; es mußte auch irgendwo brennen, denn der Himmel war von einem Feuerschein gerötet.

Das Ziel der drei war das Haus der Duchesse, welches ebenfalls völlig verlassen dalag.

Die Begum führte ihre Begleiter in das Gemach, von dem aus man den Söller des Aussichtsturmes betreten konnte.

»Wir sind allein,« begann sie, »willst du mir nun erzählen, wie du dazu kommst, diesen Mann, den du als Indierin hassen müßtest, zur Freiheit zu verhelfen? Denn etwas anderes hattest du doch nicht vor, als du dich in das Kanonenrohr verstecktest. Bei Brahma, ich bewundere deinen Mut.«

»Ich werde nicht sprechen, ich halte dich beim Wort,« erwiderte die Bajadere.

»Dein Leben soll gesichert sein, ich verspreche es dir.«

»Und dieser Mann, mein Freund?«

»Er ist ein Abtrünniger.«

»Wenn er stirbt, so mag auch ich nicht länger leben!«

»Also liebst du ihn?«

Die Bajadere errötete und senkte den Kopf.

»Ja, ich liebe ihn,« hauchte sie dann kaum hörbar.

Die Begum wandte sich um blickte durch das kleine Fenster, von welchem aus man die dem Kampfplatz gegenüberliegende Gegend übersehen konnte.

Als sie sich wieder umdrehte, hatte der starre Ausdruck ihr Gesicht verlassen. Fast freundlich ruhte ihr Auge auf der jungen, schönen Bajadere.

»Weil du ihn liebst, will ich auch seiner schonen,« sagte sie leise, »deiner Liebe halber schenke ich ihm das Leben.«

Das lag nicht in Dollamores Absicht. Lieber tot als gefangen! »Was nützt mir das Leben ohne Freiheit?« rief er fast zornig. »Töte mich, wenn du mich frei zu fürchten hast.«

»Ich dich fürchten?« erklang es spöttisch zurück. »Ich dächte, ich hätte dir gezeigt, daß ich dies nicht nötig habe. Nimm eine Waffe welche du willst, ich überlasse dir die Wahl, und vermagst du mich zu besiegen, so will ich Zeit meines Lebens deine Sklavin sein.« Dollamore wurde etwas beschämt.

»Wohl, Begum, ich gestehe ein, daß ich dich unterschätzt hatte. Wahrlich, ich glaubte nicht, daß jemand mit mir fechten könnte, und du schlägst mir fast sofort die Waffe aus der Hand. Ich kann es noch jetzt nicht fassen.«

»So glaube daran, daß ich nicht deinesgleichen, aber auch, daß ich edel bin; ich schenke dir die Freiheit.«

Erstaunt trat Dollamore einen Schritt zurück.

»Mir, deinem Feind? Verlange nicht von mir, daß ich dem Kampfe entsage!«

»Ich verlange es nicht. Höre meine Bedingungen! Wie ich vernommen habe, liebt Sakuntala dich. Sie soll mir nachher noch erzählen, was euch beide verbunden hat. Sakuntala bleibt bei mir als Gefangene, ihr Leben ist gesichert. Bist du bereit, dein Leben daranzusetzen, sie durch Waffengewalt, nicht durch List, zu befreien?«

»Sie wagte das ihre, um das meine zu retten. Ich werde für sie auf Tod und Leben kämpfen.«

»Nur darum?«

Dollamore sah, wie die Bajadere erbleichte, wie ein schmerzlicher Blick aus ihren Augen ihn traf. Sie wollte ihm die Hand entziehen, da aber umschlang er sie und zog sie an sich.

»Nein,« rief er leidenschaftlich, »nicht aus Dankbarkeit will ich für sie kämpfen, nicht um ihr einen Gegendienst zu erweisen, sondern um sie für immer an mich zu ketten. Sakuntala,« wandte er sich an diese, »ich habe verstanden, was du mir damals zuriefst, als du zum ersten Male für mich in den Tod gehen wolltest. Einst glaubte ich, ich hätte viel verloren; jenes Weib war es, dessen Stimme du vorhin gehört hast. Sie wollte mich retten, ich schlug es ab, denn ich verachte sie. Sakuntala, ich habe dich gefunden, und jetzt strömt wieder neues Leben durch meine Adern. Ja, für dich will ich kämpfen, bis ich dich besitze. Und von dir, Begum, sollen die Engländer durch mich zu hören bekommen, daß du nicht nur ein tapferes Weib bist, welches die Waffe zu führen versteht, sondern auch, daß du ein edles Herz besitzt.

Möchtest du doch zu der Erkenntnis kommen, daß dieser Krieg nie die Freiheit, wohl aber neues Unglück für Indien bringen wird, damit du dein und aller Indier Blut schontest.«

»So nimm Abschied von dem Mädchen, das du von heute ab deine Braut nennen sollst!«

erwiderte die Begum. »Die Straßen Delhis sind jetzt menschenleer, das zweite Tor ist offen.

Ich kann dir nicht mehr geben als Waffen und einen dich verhüllenden Mantel. Genügt dir dies, um das englische Lager zu erreichen?«

»Mehr brauche ich nicht. Begum, wie soll ich dir für deinen Edelmut danken?«

»Gar nicht! Sei glücklich in der Erinnerung, ein Wesen auf Erden zu wissen, das dich liebt, und das du befreien darfst – sei glücklicher als ich. Sakuntala soll hier gut aufgehoben sein, verlaß dich darauf. Und kommst du nach dem Lager, so erzähle, was du hier erlebt hast.«

»Ich will deinen Edelmut preisen! Ja, ich will auch erzählen, welche Gegnerin die Engländer in dir haben. Wisse, Begum, in unserem Lager wurde oftmals über dich gespottet, weil du ein Weib bist, von mir aber sollen sie hören, daß du wirklich ein Schwert zu schwingen verstehst.«

»Auch das genügt mir noch nicht, du sollst noch mehr von mir erzählen. Doch erst nimm Abschied!«

Dollamore preßte die in seinen Armen zitternde Bajadere an sich, sie flüsterten einige Minuten miteinander.

»Ich bin bereit,« sagte er dann einfach, das Mädchen freigebend.

»Hörst du das Siegesgeschrei der Unsrigen?« fragte die Begum.

»Leider vernehme ich es. Es scheint schlimm mit den Engländern zu stehen. Du kannst mir nicht verwehren, daß es mein erstes ist, wenn ich die Freiheit habe, an dem Kampfe teilzunehmen.« »Es steht dir frei. Doch hüte dich, mir zu begegnen.«

»So eilst du jetzt auch dorthin?«

»Nein, ich bin schon dort.«

»Wie das? Ich verstehe dich nicht,« entgegnete Dollamore verwundert. »Sieh mich an!«

Dollamore gehorchte, er wußte nicht, was jetzt kommen sollte. Das Mädchen tat so seltsam, so geheimnisvoll.

Die Begum faßte mit der einen Hand die der Bajadere, die andere legte sie an den goldenen Helm, der ihr Haupt krönte, und sofort siel ein Visier über das Gesicht, welches dieses bis auf die schmalen Augenschlitze vollständig verdeckte.

Derartige Helme sind in Indien nichts Seltenes; die Indier tragen sie noch heutzutage bei den Kämpfen unter sich, wo die blanke Hieb- und Stichwaffe die Hauptrolle spielt.

Nicht ohne Scheu betrachtete Dollamore das jetzt ganz in Stahl gehüllte Mädchen mit dem langen, breiten Schwerte an der Seite. Wie unschuldig und lieblich dagegen war die Bajadere neben ihr, wie reizend dieses Gesichtchen aus Fleisch und Blut gegenüber der stählernen Maske, welche im Scheine der Wandlampe glänzte. Aber dieser Glanz ward noch verdunkelt von den Blitzen, die aus den Augenlöchern hervorzuckten.

Es war die Allegorie von Frieden und Krieg.

Das stahlgepanzerte Mädchen deutete mit der Hand nach der Ausgangstür zum Söller.

»Tritt hinaus, sieh dorthin, wo meine Scharen gegen die Engländer siegreich kämpfen, und berichte den Deinen, was du erlebt und gesehen hast,« erklang es dumpf hinter der Stahlmaske hervor, »rede dir nicht ein, daß du nur geträumt hast. Jetzt geh, bei deiner Rückkunft findest du Mantel und Waffen vor.«

Gehorsam befolgte Dollamore die Aufforderung. Er glaubte, dann auch noch einmal die Begum und Sakuntala sehen zu können. Als er den Söller betrat, empfing ihn fast Tageshelle.

Dort, wo die Zelte der Buranis standen, brannte es lichterloh; teils die Zelte selbst mit ihrem Inhalt dienten dem Feuer als Nahrung, teils auch die aufgestapelten Vorräte. Das Feuer erhellte den Kampsplatz, und heiß ging es überall zu. Da, wo die Brücke mit ihren westlichen Pfeilern gestanden, wogte das Handgemenge am heftigsten auf und ab.

Die ausfallenden Indier, einige Hundert an der Zahl, alle beritten, hatten das Lager der Buranis vollkommen vernichtet. Der Boden war ringsum mit Toten bedeckt. Natürlich waren schnell englische Truppen zur Hilfe herbeigekommen, meist Dragoner und Ulanen, und suchten die Ausfallenden zurückzuwerfen.

Die Indier zogen sich auch zurück, führten aber zahlreiche Gefangene mit sich und erwehrten sich nur noch ihrer Angreifer. Ab und zu knatterten Infanteriegewehre, sonst arbeiteten nur Säbel, Schwerter und Lanzen. Der Rückzug mußte vollkommen gelingen, eben brachen die Indier durch eine Reihe von Ulanen, die ihnen heldenmütig den Weg versperren wollten.

Aber Dollamore hatte kein Auge für die Situation, es hing nur an einer einzigen Gestalt im Kampf, an der, welche den Kampf leitete.

Er fühlte, wie sich seine Haare sträubten, seine Knie schlotterten, der sonst so kühne Mann wurde von einem panischen Entsetzen ergriffen.

Dort, wo die Schlacht am heißesten tobte, dort kämpfte ein Weib, und es konnte niemand anders sein, als die Begum von Dschansi selbst. Ebenso, wie jetzt, höchstens einige Sekunden vorher, hatte er sie vor sich stehen sehen. Da gab es keine Täuschung, sie war es. Die brennenden Zelte im Hintergrunde ließen alles an ihr und jede Bewegung deutlich erkennen.

Das waren dieselben schwarzen Locken, welche wild unter dem goldenen Helm mit fliegendem Drachen flatterten, sie trug denselben Schuppenpanzer, der sich eng an die schlanke Taille schmiegte, Arm- und Beinschienen, vor dem Gesicht das Visier. Nach Art der Männer, oder auch nach Art der indischen Frauen, saß sie rittlings im Sattel, und wie konnte sie das lange, breite Schwert führen! Dollamore durfte sich nichts von einer Täuschung einreden, erkannte er doch von hier aus den vom Schuppenpanzer umspannten Busen, ja, er glaubte die Augenblitze hinter der Stahlmaske vordringen zu sehen.

Es war die Begum von Dschansi, keine andere. So, wie sie jetzt focht, hatte sie auch vorhin das Schwert gehandhabt, daß ihr nicht einmal Dollamore widerstehen konnte.

Jetzt drang ein Dragoneroffizier auf sie ein. Dollamore erkannte ihn, er war von der Madonsarmee und sowohl wegen seiner herkulischen Kraft, als wegen seiner Fechtkunst berühmt. Links und rechts sanken die Indier unter seinen gewaltigen Säbelhieben von den Rossen, dem Mädchen galt es jetzt, mit ihr wollte er den Pallasch kreuzen, sie unschädlich machen.

Die Begum sah ihn; unverzüglich sprengte sie ihm entgegen, nachdem sie noch einem Soldaten den Kopf gespalten hatte. Pallasch und Schwert prallten aneinander, einen Augenblick nur, dann wurde der Pallasch wie von unwiderstehlicher Gewalt emporgeschlagen und – Dollamore griff sich selbst nach dem Herzen – das Schwert bohrte sich tief in die Brust des jungen Offiziers. Er hob die Hände und stürzte vom Pferd – ein neues Opfer des kriegerischen Mädchens.

Doch ihr Schicksal schien besiegelt zu sein.

In voller Karriere kam ein Ulan mit eingelegter Lanze auf die Begum zugestürmt. Es war ein alter, weißhaariger Unteroffizier, das verwitterte Gesicht mit Narben bedeckt. Schon manchem Feinde Englands mochte er den Garaus gemacht haben. Die knöcherne, markige Gestalt weit vornüber gelegt, fast in den Bügeln stehend, die lange Lanze mit Stahlspitze fest in die Seite eingelegt, stürmte er einher. Er wollte den Tod des Offiziers rächen, und er konnte es auch, denn es war für das Mädchen zu spät, auszuweichen. Die Ulanen hatten gezeigt, daß ihre Lanzenspitzen die indischen Panzer wie Butter durchstachen. Jetzt erfolgte der furchtbare Anprall.

Aber war dieser Panzer aus einem noch unbekannten, undurchdringlichen Metall? War dieses Weib wirklich die Tochter einer Göttin und daher begabt mit übernatürlicher Kraft? Wie Glas zersplitterte die Lanze; das Mädchen wankte wohl im Sattel, es schien einen Augenblick, als müsse sie den Halt verlieren, dann aber saß sie wieder fest. Sie hatte den furchtbaren Stoß wahrhaftig ausgehalten.

Nicht so der Ulan selbst.

Er schoß vornüber, gerade auf die Begum zu, die er wie ein Liebender mit beiden Armen umfing. Was nun geschah, konnte Dollamore nicht erkennen. Entweder bediente sich die Begum eines Dolches, oder sie erwürgte den Mann mit den Händen, kurz, im nächsten Augenblick fiel dieser leblos unter die Hufe ihres Pferdes.

Unmittelbar darnach war die Begum wieder an der Spitze ihrer Leute; die letzten, welche die Indier zurückhalten wollten, fielen, und die Schar stürmte nach Delhi zurück, die Gefangenen in der Mitte. Die nachgesandten Schüsse forderten nur wenige Opfer.

Dollamore griff sich an die Stirn, er glaubte wirklich, alles nur geträumt zu haben.

Dort hatte er die Begum kämpfen sehen, jetzt sah er sie im glänzenden Waffenschmuck angesprengt kommen, näher und näher brauste die königliche, ritterliche Gestalt auf dem wundervollen Roß.

Aber hatte er nicht noch vor wenigen Minuten mit ihr selbst gesprochen? Sie stand vor ihm, er trat nur durch die Tür, und sofort sah er sie einige Kilometer entfernt in einen wütenden Kampf verwickelt.

Das war Zauberei! Doch was erzählte man sich von ihr? Was hatte sie von sich selbst gesagt? Unwiderstehlich, unverwundbar, sich weder an Zeit noch an Raum bindend, jetzt hier, im nächsten Augenblick hundert Meilen entfernt, zugleich an verschiedenen Orten. Dollamore war ein Indier, ein Buddhist, und, so aufgeklärt er auch sein mochte, in seinem Kopfe spukte es doch von Wasser-, Feuer- und Erdgeistern, von Nixen und Kobolden.

Er schauderte zusammen, er dachte an Flucht, denn näher und näher kam das dämonische Weib.

Ja, er mußte fliehen, ihm fiel alles wieder ein.

Die Begum hatte ihr Wort gehalten. In dem Zimmer fand er einen langen Mantel und Waffen. Die Flucht mußte ihm gelingen, wenn nicht durch das Tor, so über die Mauer. Nur den heimkehrenden Siegern durfte er nicht begegnen. Und dann wollte er im Lager erzählen, daß die Begum mit ihm gesprochen habe, während sie draußen kämpfte.


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