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4. Verschlungene Fäden

In dem Häuschen des mohammedanischen Viertels, in welchem wir einst den verwundeten Eugen unter der Pflege einer Indierin zurückgelassen haben, war der alte Sedrack damit beschäftigt, ein Bündel zusammenzupacken. An dem wurmstichigen Tische, auf welchem wie damals die Lampe brannte, lehnte der Pilgerstock mit gekrümmtem Handgriff, und daran hing an einem Lederriemen die Kürbisflasche.

Allem Anschein nach wollte Sedrack eine lange Reise antreten, und die Vorbereitungen, die er dazu traf, die Gegenstände, die er dazu benutzen wollte, waren noch ganz genau dieselben, wie Joseph sie bei seiner Flucht nach Ägypten vor mehr als 1800 Jahren gebraucht hatte. Ruhelos und immer unverändert, das ist ja der Fluch der jüdischen Nation, charakterisiert durch den ewigen Juden.

Da wurde erst leise unten an der Haustür gepocht, und als Sedrack wartete, ob sich das Klopfen wiederholen würde, fiel der eiserne Klöppel schon donnernd gegen die Tür.

»Gott Israels, was hast du gegeben den Hunden für einen ungeduldigen Sinn,« murmelte er, als er das Fenster öffnete und vorsichtig hinunterspähte.

»Wer stört die nächtliche Ruhe des alten Sedrack, der müde ist von der schweren Arbeit des Tages?« rief er dann.

Unten stand eine Gestalt; weiter konnte er nichts erkennen »Mach auf, alter Mann, ich will dich sprechen!« entgegnete eine tiefe, weibliche Altstimme.

Der Jude erschrak fast; er glaubte die Stimme seiner Tochter zu vernehmen.

»Mirja, Tochterleben, bist du's? Hast du den Weg gefunden zurück zum Hause deines alten Vaters, der sich hat gesehnt nach dir?«

»Ich bin nicht Mirja; mach auf!«

»Wer ist es?«

»Ich komme vom Mächtigen!«

Schnell schlüpfte der Jude die Treppe hinab, öffnete die Haustür und ließ unter tiefen Verbeugungen, die kein Ende nehmen wollten, die Gestalt eintreten. So sehr er indes die Augen in der eben erst anbrechenden Nacht anstrengte, er konnte nichts weiter entdecken, als daß dieses grobe Tuch wahrscheinlich ein junges, schlankes Mädchen verbarg.

»Der Herr segne deinen Eingang! Wodurch habe ich die Gnade verdient, daß er deinen Schritt in mein armes Haus lenkt?«

Er führte die Person hinauf. Aber auch im Scheine der Lampe konnte er nichts weiter sehen als unter dem Kopftuch ein Paar dunkle, blitzende Augen, die sich neugierig in dem armseligen Gemache umblickten.

»Willst du nicht sagen, wer du bist, und was dich führt hierher, daß du die Angst nimmst aus meinem Herzen?« begann der demütig dastehende Jude wieder.

»Deine Angst läßt auf ein böses Gewissen schließen.«

»Nicht böses Gewissen, Sedrack ist rein wie ein neugeborenes Lamm, er kann nicht trüben ein Wässerchen. Aber du nanntest einen Namen, den man fürchten muß, denn er ist der mächtigste der Mächtigen.«

»Lassen wir das, du sollst mich noch kennen lernen. Du hast eine Tochter, Sedrack?«

»Die Mirja.« »Wo ist sie?«

»Gott, fortgelaufen ist sie und hat gelassen mich alten Mann allein und ist gekommen nicht wieder.«

»Warum ist sie fortgelaufen?«

»Weiß ich es doch nicht. Hat sie gemacht wahrscheinlich eine Liebschaft mit einem Gauch.«

Die Fragerin überlegte sehr, sehr lange, ehe sie fortfuhr.

»Du weißt auch nicht, wo sie ist?«

»Nein.«

»Hat sie Delhi wohl verlassen?«

»Delhi ist groß, sie kann sich darin mit ihrem Gauch verstecken, kann es aber haben auch verlassen; denn Mirja hat geerbt die Schlauheit ihres Vaters und kann passieren überall da, wo andere werden festgenommen.«

Wieder erfolgte eine lange Pause.

»Zu wem hältst du?« fragte sie dann weiter.

»Zu dem, auf dessen Seite ist die Gerechtigkeit,« rief der Jude, die Hand auf die Brust legend.

»Also zu den Engländern?«

Der Jude ließ sich nicht irremachen.

»Gott Israels, schicke den Indiern einen Simson, daß er die Faringis möge schlagen mit dem Eselskinnbacken.«

»Aber du würdest nicht zögern, mit den Faringis auch Geschäfte zu machen?«

Diesmal war es der Jude, der lange überlegte, ehe er antwortete und dabei in den Augen der Fragerin zu lesen suchte. Der spöttische Ausdruck darin ermutigte ihn sichtlich.

»Wie heißt, kann man doch auch mit seinen Feinden machen Geschäfte, um ihnen zu schaden.«

»Ja, das versteht ihr Juden allerdings. Ihr könnt sogar euern Feind ruinieren, ohne Waffen zu gebrauchen. Bist du geneigt, ein Geschäft für mich zu machen?«

»Wenn ich habe davon ein Vorteil, warum, nicht?«

»Du sollst zufrieden sein. Könntest du dich unter die Farmgis begeben?«

»Der alte Sedrack ist gesehen überall gern. Doch,« er kraulte sich in den Locken, »nichts von Spionieren, sonst ist der Ruf Sedracks hin, er darf sich nicht mehr lassen sehen und wird gehangen auf, wenn er wird erwischt.«

»Sei ruhig, du sollst nicht spionieren. Wohin wolltest du?«

»Nur in die Stadt.«

»Und dazu brauchst du die Kürbisflasche?«

»Und dann etwas hinaus vor die Stadt, um zu sehen, wo geblieben sind die Waffen von den Faringis, welche haben erbeutet die räuberischen Chams. Vielleicht läßt sich machen ein Geschäft.«

»So fürchtest du dich nicht, unter die Chams, diesen wilden und räuberischen Volksstamm, zugehen?«

»Habe ich nicht gesagt, der alte Sedrack ist gesehen überall gern? In ganz Indien weiß man, daß er kauft alles zu den höchsten Preisen, und wenn es sollte sein sein eigener Schaden.«

»Was sagen aber die Faringis, wenn du aus Delhi, dem Sitz der Rebellen kommst und dich unter sie mischst? Sie werden dich doch für einen Spion halten.«

Der Jude blinzelte pfiffig mit den Augen.

»Sie werden machen mit mir Geschäfte, und werden mich forschen aus und mir binden allerlei auf, das ich wiedererzählen soll den Hindus. Ist doch der alte Sedrack so sehr dumm, wenn er macht Geschäfte.« »Wohlan, so wollen auch wir jetzt unsern Handel abschließen. Du gehst morgen beim ersten Tagesgrauen nach dem schwarzen See. Kennst du diesen?«

»Er liegt zwei Tagereisen von hier.«

»Was weißt du von ihm sonst?«

»Sollen dort jetzt liegen 20 000 Mann unter General Wilson, und werden sie dort beraten, wie sie wollen ziehen einen eisernen Gürtel um die Stadt Delhi.«

»Du bist gut unterrichtet. In dieses Lager gehst du als Handelsjude.«

»Was für ein Geschäft soll ich dort abschließen?«

»Das bleibt dir überlassen. Der Zweck ist, daß du mich in das Lager einführst.«

»Waih geschrien!« rief der Jude erschrocken. »Du willst gehen mit mir als Spion?«

»Ich gehe mit dir als deine Tochter Mirja.«

»Du willst mich stürzen ins Unglück! Wie willst du gehen als meine Tochter Mirja, wo ich dich kenne gar nicht?«

»So lerne mich kennen und gehorche!«

Sie schlug das Kopftuch zurück, und Sedrack sah ein Mädchengesicht, bei dessen Anblick er sich nicht verbeugte, sondern sich auf die Knie warf und mit der Stirn den Boden berührte.

»Nun, kennst du mich?«

»Wer sollte dich nicht kennen,« murmelte er, »dich, gegen die die Schönheit der Braut im hohen Liede erblaßt, gegen deren Herrlichkeit die der Königin von Saba ein Nichts ist. Welch Wohlgefallen muß der Gott meiner Väter an mir haben, daß er deinen geweihten Fuß in mein Haus führt, so daß des alten Sedracks Hütte plötzlich zum Palast wird; wer sollte dich nicht kennen, dich ... .«

»Schon gut, schon gut!« unterbrach ihn das Mädchen. »Steh auf, ich befehle es dir, und gib mir kurze und klare Antworten auf meine Fragen!«

Sedrack erhob sich.

»Kann ich mich für deine Tochter ausgeben?«

»Wie kannst du dich mit der Mirja, dieser elenden Tochter eines verachteten Volkes vergleichen?«

»Keine Umschweife und nenne keinen Namen! Könnte ich mich für deine Tochter ausgeben?«

Der Jude betrachtete aufmerksam das Mädchen. Die Juden und Indier haben große Ähnlichkeit miteinander, sind doch beide Orientalen; dieses Mädchen jedoch hatte nicht den eigentlichen indischen Typus, es war etwas Kaukasisches dabei, wahrscheinlich war sie ein Mischling, aber eben darum weil sie etwas Fremdländisches an sich hatte, hätte sie sich ohne Scheu für eine Jüdin ausgeben können.

Wir können uns die Juden gar nicht anders vorstellen, als mit mehr oder weniger gekrümmten Nasen und tiefschwarzen Haaren, überhaupt brünett. Dieser Typus wechselt aber mit den Ländern. So z. B. haben die Juden an der Nordküste Afrikas fast durchweg fuchsrotes Haar, eine lange, gerade Nase und durchsichtigen, meist sommersprossigen Teint, auch unter den Jüdinnen Polens findet man viel rothaarige.

»Du könntest wohl als meine Tochter gelten,« sagte der Jude zögernd, »das heißt, wenn ...«

»Was befürchtest du noch?«

»Zürne mir nicht, ich will dir gehorchen, doch ich bin vorsichtig um deiner selbst willen.

Es könnte unter den Faringis Leute geben, welche Mirja kennen.«

»Ich lasse mein Gesicht stets verhüllt.«

»Der Schleier ist den Jüdinnen kein Schutz, jede rohe Hand hat das Recht, ihn zu lüften.

»Du hast recht, ich dürfte mich nicht einmal wehren. Nun, sollte jemand finden, daß ich eine andere bin als Mirja, so gibst du mich für deine zweite Tochter aus. Vorläufig nennst du mich ebenfalls Mirja, und sollte jener Fall eintreten, so erklärst, du eben, daß du beide Töchter Mirja genannt hast. Es wird aber wohl niemand deine Tochter so genau kennen, daß er den Unterschied herausfindet.«

»Auch ich fürchte das nicht.«

»Bist du bereit, morgen früh nach dem schwarzen See zu reisen und mich mitzunehmen?«

»Wer sollte es wagen, deinem Befehl zu trotzen!«

»Gut, morgen früh denn! Wie bist du immer gereist?«

»Ich ritt meinen Esel, Mirja führte ihn.«

»Du meinst wohl umgekehrt!«

»Nein, denn das Alter zu ehren, werden unsere Kinder gelehrt.«

»Deinen Esel zu führen, habe ich wenig Lust.«

»Ich bin nie anders gereist.«

»So wirst du diesmal ein Kamel reiten, ich deinen Esel.«

»Herrin, dann hält man den armen Sedrack für reich!«

»Sorge nicht, das Kamel, welches morgen vor deiner Tür stehen wird, soll keinen reichen Eindruck machen, ebensowenig wie der Esel, den ich schon in Augenschein genommen habe.«

»Ich kann nicht auf einem Kamel reiten,« klagte der Jude.

»So wirst du es lernen.«

»Das Schwanken und Schaukeln macht mich krank wie damals, als ich auf dem Schiff fuhr.«

»Diese Krankheit geht schnell vorüber, dann fühlt sich der Körper erst recht wohl. Du siehst kränklich aus, ein Kamelritt von zwei Tagen wird dir guttun. Hast du noch Kleider von Mirja hier, die mich zur Jüdin machen?«

Sedrack öffnete den Blechkasten und entnahm ihm allerlei bunte Tücher und Schleier.

»Gut, so komme ich in der frühesten Stunde zu dir, und du wirst mir behilflich sein, mich zu deiner Tochter zu machen. Überlege dir unterdessen, was du als Grund des Besuches in dem Lager der Faringis angeben willst.«

»Du gehst als Spionin hin, Herrin?«

»Ja.«

»Du setzest mich Gefahren aus.«

»Es soll dir nichts zugefügt werden, und solltest du doch in Gefahr kommen, so werde ich dich daraus erretten. Du kennst mich, mein Wort muß dir genügen.«

Ohne Gruß verließ sie das Zimmer.

»Wunderbar!« murmelte Sedrack und rieb sich vergnügt die Hände, als hätte er eben die freudigste Nachricht erhalten. »Habe ich mir doch eben den Kopf zerbrochen, wie ich gelangen kann in das Lager der Engländer, ohne daß die Indier Mißtrauen gegen mich daraus schöpfen oder mich gebrauchen als Spion. Da kommt sie und befiehlt es mir selbst. Freilich sie geht als Spionin, und hängt man sie, so wird man mich hängen mit. Nein,« fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »man wird mich nicht hängen, habe ich doch die Unterschrift von dem kleinen Täubchen, und ist doch der Gouverneur selbst im Lager am schwarzen See und wird stehen hinter mir.«

Sein Vergnügen wuchs; händereibend ging er auf und ab, und je längere Zahlen seine schmalen Lippen murmelten, desto mehr strahlte sein Gesicht vor innerer Freude.

»Hänge ich daran eine Null, hat es sich vermehrt ums Zehnfache, hänge ich daran zwei Nullen, hat es sich vermehrt ums Hundertfache, und hänge ich – nun, wird sich alles finden, alles finden. Gott, was für 'ne Freude, wenn er wird hören, sein Taubchen ist in Sicherheit und ist bei mir, und ich werde es ihm bringen, wenn er wird zahlen die Kleinigkeit von den Auslagen ...«

Er blieb stehen, das Lächeln verschwand und machte der Sorge Platz. »Au waih, wenn ich nur nicht müßte machen den Weg auf einem Kamel; werde ich lieber gehen zu Fuß. Aber sie hat es befohlen, und man muß ihr gehorchen, und Gott lenke ihr Herz, daß sie mir nicht schickt ein Tier, welches wankt wie das Schiff ohne Mast auf dem Meere.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Im Tale des schwarzen Sees reihte sich Zelt an Zelt, überall flatterte das englische Banner, und selbst der breite Fluß, welcher dem schwarzen See entströmte, war hüben und drüben mit den braunen Leinewandhütten bedeckt.

Zwanzigtausend Mann lagen hier, darunter auch fünftausend Engländer, sonst aber Gurgghas, Sikhs und Truppen der Madras- und Bombay-Armee. Die einzelnen Regimenter hatten bereits schwere Kämpfe unter ihren Generälen zu bestehen gehabt, ehe sie sich hier vereinigt.

Jetzt führte General Wilson den Oberbefehl. Noch einige Tage Ruhe, und war bis dahin nicht General Nicholson, der siegreich in Pandschab kämpfte, mit seinen Scharen hier eingetroffen, so begannen diese zwanzigtausend Mann vorläufig allein die Belagerung Delhis.

Zur Sicherung des Lagers war nichts unterlassen. Jede einzelne Truppenabteilung lag für sich; weit vorgeschobene Vorposten umgaben sie, und der Patrouillendienst war so weitläufig, daß das Lager schon alarmiert worden wäre, wenn auch nur eine bewaffnete Abteilung Delhi verlassen hätte.

Nicht nur Soldaten, auch Zivilisten mit ihren Familien befanden sich in diesem Heerlager, desgleichen die Familien der Offiziere; denn nirgends war man in Indien sicherer als in der Mitte von Kanonen und bewaffneten Soldaten. So konnte es nicht wundernehmen, zwischen den Zelten viele Kinder, Damen und nichtuniformierte Herren zu erblicken.

Da es in dem weiten Gebiet, welches im Bereiche der Vorposten lag, einzelne Bungalows oder Landhäuser gab, so waren diese von den Offizieren bereitwilligst denen zur Verfügung gestellt worden, welche nicht als Soldaten an ein rauhes Leben im Zeltlager gewöhnt waren.

In der nächsten Nähe des schwarzen Sees lagen die Truppen der Bombay-Armee, deren Führer vor vierzehn Tagen auf dem Marsche in einer elenden Hütte an der Cholera gestorben war. Jetzt war Kolonel Harquis sein Vertreter.

Eben stand dieser Offizier vor seinem Zelt und musterte mit besorgtem Ausdruck den im tiefsten Blau strahlenden Himmel, an welchem kein Wölkchen zu sehen war, als ein Reiter in Zivil, nur das Revolverfutteral im Gürtel, herangetrabt kam.

Sein Pferd war stark, jung und sonst wohl auch feurig, jetzt aber mußte es von den Schenkeln des Reiters immer wieder genötigt werden, daß es aus dem Trab nicht in einen trägen Gang fiel.

»Plagt Sie denn der Teufel, Lord,« rief der Kolonel dem Reiter zu, »daß Sie bei der heißesten Mittagszeit einen Spazierritt unternehmen? Oder glauben Sie, hier an diesen steinernen Ufern sei es kühler als drüben im Walde?«

Der Reiter, in dem wir Lord Westerly erkennen, sprang aus dem Sattel und schaute sich mißmutig um, denn kein Soldat sprang herbei, ihm die Zügel abzunehmen. Das Lager war wie ausgestorben, keine Uniform zu sehen.

»Heißer mag es wohl hier sein,« entgegnete er dann, »aber jedenfalls auch gesünder als drüben in dem sumpfigen Wald, wo die Sikhs liegen. Eben sind wieder zwei an der Cholera gestorben, gerade in meinem Nachbarzelte.«

»Schon wieder?« rief der Kolonel erschrocken. »Das kann noch schlimm werden, wenn nicht bald ein Witterungswechsel eintritt. Diese glühende Sonnenhitze kann uns gefährlicher werden als alle indischen Rebellen zusammen. Sie möchten also wohl Ihr Quartier wechseln?«

»Ich bitte um die Erlaubnis, hierbleiben zu dürfen. Ich ziehe Hitze der Gefahr vor, von der Sumpfluft vergiftet zu werden. Darf ich mein Zelt hier aufschlagen lassen?« »Mit dem größten Vergnügen. Aber vielleicht kann ich Ihnen einen noch größeren Gefallen erweisen. Sie wissen, daß Mister Leonard uns mit seiner Familie verlassen hat?«

»Hat er? Wohin ist er gezogen?«

»Er hat einen weiten, gefahrvollen Weg unternommen, er will versuchen, nach Kalkutta zu gelangen, um sich von dort nach England einzuschiffen.«

»Sie gaben ihm Begleitmannschaft mit?«

»Konnte ich nicht, wir brauchen hier jeden Mann. Nein, er schließt sich einem reisenden Radscha an, der uns freundlich gesinnt ist oder wenigstens zu sein vorgibt. Nun möge Gott ihn beschützen. Seine Absicht kam mir förmlich frevelhaft vor; aber er mag Grund haben, nach England zu gehen.«

»Nun, und wie hängt seine Abreise mit dem Vorschlag zusammen, den Sie mir machen wollen?«

»Sein Bungalow ist frei geworden, ein nettes, kleines Häuschen, nur von einer alten Indierin bewohnt. Wenn Sie keine großen Ansprüche machen, werden Sie sich darin die paar Tage, die wir noch hierbleiben, wohlfühlen.«

»Wo liegt es?«

»Freilich ziemlich weit entfernt von hier, an der äußersten Grenze der Vorpostenkette, aber noch im Bereiche derselben. Zu fürchten ist also nichts. Wollen Sie?«

Westerly schien nicht geneigt zu sein, den Vorschlag anzunehmen, wenigstens zögerte er.

»Ist denn hier niemand, der mir die Zügel abnehmen kann?« fragte er, um Zeit zu gewinnen. »Selbst das Halten der Zügel ist bei dieser Glut für einen Europäer eine harte Arbeit.«

»Ich vermeide jeden unnötigen Wachtdienst. Die Burschen liegen im Schatten der Zelte und können trotzdem auf dem Posten sein. He, Archim.«

Ein eingeborner Soldat sprang aus dem Zelte, die Aussage seines Kolonels bewahrheitend aber es sollte auch noch anderes Leben entstehen.

In der Ferne erklang ein Trompetensignal, und im Nu standen zwischen den Zelten etwa hundert Mann unterm Gewehr da – die abgeteilte Lagerwache.

Einige Minuten später kam ein Reiter angetrabt und meldete dem Kolonel, zwei Personen, ein alter Jude und seine Tochter, suchten die Vorpostenkette zu passieren. Der Jude wolle den Befehlshaber sprechen.

»Weiß schon,« knurrte der Kolonel ärgerlich, »er will Fourage ver- und die Beute einkaufen. Woher kommt er?«

»Aus Delhi.«

»Also ein internationaler Händler. Was sich diese Juden hier erlauben dürfen, ist großartig. Wo ist er festgehalten worden?«

»Am kleinen Bungalow, welches unter den Mangobäumen liegt.«

»So weise ihm den Schuppen daneben an; er hat ihn nicht ohne Erlaubnis zu verlassen, und die Vorposten sollen ihm nicht gestatten, weiter vorzudringen. Das übrige wird sich finden.«

Die Ordonnanz ritt zurück.

»Diese Juden spielen hier doch eine merkwürdige Rolle,« wandte sich der Kolonel wieder an Westerly, »der Krieg existiert für sie nur insofern, als sie Vorteil daraus zu ziehen suchen.

Freund oder Feind, das ist ihnen gleichgültig, sie gehen beim einen wie beim anderen aus und ein, und das merkwürdigste ist, daß man sie duldet. Natürlich, man braucht sie manchmal auch sehr notwendig. Doch Sie, als ehemaliger Sekretär, wissen ja davon mehr zu erzählen als ich. Nun, Mylord, haben Sie sich überlegt, ob Sie den Bungalow bewohnen wollen?«

»Erlauben Sie mir, daß ich ihn mir erst ansehe?«

»Gewiß. Ich warte Ihre Entscheidung ab, ehe ich jemanden anderes das unbequeme Zelt mit dem hübschen Bungalow vertauschen lasse. Wollen Sie jetzt gleich hin?« »Wenn Sie mir Begleitung mitgeben.«

Der Bursche des Kolonels wurde beordert, Westerly zu führen.

»Nach dem Bungalow an den Mangobäumen,« befahl Kolonel Harquis und fügte dann noch zu Westerly gewendet hinzu: »Sollte ich mit dem Juden doch einmal sprechen wollen, so müßten Sie mir schon erlauben, daß die Unterredung in Ihrem Bungalow stattfindet, denn die Juden sind Ihre Nachbarn geworden, hoffentlich keine unangenehmen.«

Westerly schien über das freundliche Anerbieten des Kolonels nicht eben sehr erfreut zu sein. Mißmutig blickte er vor sich hin, während er dem Führer folgte. Es war ein langer Weg, steinige Strecken wechselten mit sonnverbrannten Grassteppen ab, bis man endlich eine bewaldete Gegend erreichte.

Hier war die äußerste Vorpostenkette aufgestellt.

Noch ehe man zu derselben gelangte, tauchte vor Westerlys Blicken ein freundliches Häuschen auf, von den Zweigen der Mangobäume überschattet. Es ruhte auf Pfählen, wie man es häufig in Indien findet, um dem giftigen Gewürm keinen Einlaß zu gewähren, auf allen Seiten zogen sich offene Verandas hin, scheibenlose Fenster sorgten für Licht und Luft, soweit letztere nicht schon durch die vielen Spalten der Holzwand einströmte, und vor Regen wurde das Häuschen durch meterlange Pisangblätter geschützt, welche das Dach wasserdicht bedeckten. Den Eintritt ermöglichte eine leiterähnliche Treppe.

»Wer wohnt hier?« fragte Westerly den eingeborenen Soldaten.

»Eine alte Indierin.«

»Witwe?«

»Ja, Sahib.«

»Wie kommt Sie zu diesem Bungalow? Ich sehe keine Spur von Landwirtschaft, was darauf schließen ließe, daß sie den Witwensitz ihres Mannes, eines Bauern, einnimmt.«

»Ich weiß nicht, Sahib, sie soll schon lange hier wohnen und von dem Gouverneur in Delhi unterhalten worden sein.«

»Wahrscheinlich die Witwe eines im Kampfe gefallenen Offiziers,« dachte Westerly.

Seine Aufmerksamkeit wurde von etwas anderem gefesselt.

Sie passierten einen Schuppen, der früher als Stall gedient haben mochte. Jetzt war er das Quartier der eben angekommenen Juden. Ein klapperdürrer Esel weidete die spärlichen Grashalme ab, ebenso ein womöglich noch magereres Kamel, dessen Buckel nicht mehr aufrecht zu stehen vermochte und kläglich geknickt herabhing.

Nach diesen Transporttieren zu schließen, hätte man nicht für möglich gehalten, daß der Besitzer über eine so große Summe verfügte, wie sie nötig war, wollte er mit der lagernden Heeresabteilung in Verbindung treten. Doch er war ja ein Jude.

Vor der Tür im Freien hockte ein Weib, das den Schleier nur so weit gehoben hatte, um die Flammen eines Holzfeuers anblasen zu können. Danebenliegende Töpfe und Krüge zeigten die Vorbereitungen zum Essen an.

Ein merkwürdiges Unbehagen beschlich Westerly, als er den mageren Esel und das Weib, anscheinend ein Mädchen, erblickte. Wo war er ihnen schon einmal begegnet? »Hast du verloren unterwegs das Kissen, Mirja? Sind doch meine Knochen wie zerschlagen von dem Beelzebub, dem Kamel!« erklang es aus dem Innern des Schuppens, und die hagere Gestalt eines alten Juden trat heraus.

Schnell wandte Westerly den Kopf, er fühlte etwas wie Schamröte aufsteigen. Doch gleich hatte er sich wieder beherrscht und sah gleichgültig nach der Gruppe.

Auch Sedrack mußte ihn wiedererkannt haben, ein unmerkliches Zucken ging über sein faltiges Gesicht, dann verbeugte er sich demütig vor dem Reiter.

Also Sedrack und dessen schöne Tochter Mirja waren Westerlys Nachbarn geworden! Es war ihm gewesen, als hätte ihn auch ein scharfer Blick hinter dem Kopftuch des Mädchens hervor getroffen. Erinnerte sie sich noch seiner? Sicherlich! Zürnte sie ihm noch? Bah, diese Jüdin! Was war sie denn? Wenn nur damals nicht jener Schurke, den Westerly seitdem glühend haßte, dazwischengekommen wäre! Nachdem er sein Pferd an den Pfahl gebunden hatte, stieg er die Treppe hinauf und ward von einem eingeborenen Mädchen in das Innere des Bungalows geführt.

Man wußte hier schon, daß man sofort wieder eine neue Einquartierung erhalten würde.

Eine alte, ehrwürdige Indierin mit schneeweißem Haar empfing ihn, und schon die Weise, mit der sie sich aus dem Schaukelstuhl erhob, verriet, daß sie mehr mit Europäern als mit ihren Landsleuten verkehrt hatte.

Aber namenloses Erstaunen prägte sich in dem noch immer schönen Antlitz der Frau aus, als sie Westerly eintreten sah. Sie vergaß das Sprechen, blieb mitten in dem einfach ausgestatteten Gemach stehen und starrte den Lord mit allen Zeichen der größten Überraschung an.

Dieser hatte keinen Grund, ein gleiches Erstaunen zu äußern. Diese Person war ihm völlig fremd, eine Indierin, und wäre sie auch noch so gebildet gewesen, sie war eben nur eine Eingeborene, und Westerly war gewöhnt, eine solche nicht völlig als Menschen zu betrachten.

»Mister Leonard und Familie haben diesen Bungalow verlassen, habe ich gehört?« fragte er von oben herab.

Die alte Dame bejahte verwirrt.

»So werde ich vorläufig hier Quartier nehmen, das heißt, wenn es mir bei Ihnen behagt.

Englisch?«

Die Frau bejahte wieder.

»Desto besser, wenn Sie Englisch sprechen. So sind Sie also auch schon im Hause eines Engländers angestellt gewesen und kennen unsere Ansprüche. Ich bin etwas verwöhnt, zahle aber gut. Archim, nicht wahr, so ist dein Name? Sage dem Kolonel meinen Dank, ich würde hierbleiben. Dann reite in das Lager der Sikhs hinüber, lasse meine Burschen mit meinen Sachen hierherkommen. In einer halben Stund sollen sie dasein! Fort!«

Der wie der Herr hier auftretende Westerly wandte sich wieder an die Hausfrau, die ihn noch immer mit großen Augen betrachtete.

»Nun, haben Sie an meiner Persönlichkeit etwas auszusetzen?«

»Nein, Herr!« stammelte die Frau.

»Ich dachte, weil Sie mich so groß ansehen. Mein Name ist Lord Westerly. Depeschen und Botschaften sind mir persönlich zu geben. Im übrigen bin ich, wenn Sie es nicht wissen sollten, mit Mylord anzureden. Wieviel Zimmer sind in diesem Bungalow?«

»Fünf, Mylord.«

»So weisen Sie zwei für mich, eins für meine beiden Burschen an.«

Die Frau tat, wie ihr geheißen, und Westerly war mit den Zimmern zufrieden. Zwei Tage blieb das Lager sicher noch hier aufgeschlagen, es konnten aber auch noch Wochen vergehen, ehe der Aufbruch erfolgte, und der Lord war gewöhnt, sich immer so bequem wie möglich einzurichten.

Nach einer Stunde war sein Reisegepäck bei ihm, und er fühlte sich vollkommen Herr im Hause.

Vorläufig stellte er sich ans Fenster und beobachtete das Treiben der beiden Juden, Vater und Tochter. Lebhaft bedauerte er, daß Mirja sich so peinlich verhüllt hatte und das Kopftuch trotz ihrer Arbeit niemals lüftete. Daß sie ihn manchmal mit einem Blick streifte, konnte er nicht bemerken, sie schien ihn gar nicht zu beachten, dagegen entging ihm nicht, daß der Alte oft nach ihm herüberschielte.

Je länger Westerly das Mädchen betrachtete, wie es anmutig und fürsorgend den Vater beim kärglichen Mittagessen bediente, desto mehr trat wieder jene Szene vor seine Augen, als er dieses Mädchen in seiner Gewalt gehabt hatte, und immer lüsterner ruhten seine Blicke auf ihr, zugleich aber dachte er auch mit wachsendem Haß an Lord Canning.

Sollte er noch einmal versuchen, die ihm damals entkommene Beute zu erjagen? Die Gelegenheit war günstig, denn die Jüdin galt hier unter den Engländern ergebenen Indiern gar nichts.

Als der Nachmittag kühler wurde, ritt Westerly noch einmal nach dem Lager hinüber, fand aber keinen der Offiziere bereit, mit ihm eine längere, gesellschaftliche Unterhaltung anzuknüpfen. Es mußte irgend etwas vorgefallen sein, oder irgendeine Botschaft war eingetroffen, die Offiziere steckten die Köpfe zusammen, und Westerly versuchte vergebens, irgend etwas von der Neuigkeit zu erfahren. Die Soldaten, mit denen er auf vertrautem Fuße stand, wußten von nichts.

Es wurde schon dunkel, als er nach seinem Bungalow zurückkehrte, um sich das Nachtmahl vorsetzen zu lassen. Schon sah er die Lichter und hörte die Rufe der Vorposten, als er neben sich einen zischenden Laut vernahm und gleich darauf eine Gestalt auf sich zukommen sah.

Westerly parierte sein Pferd und erwartete, die Hand an dem Revolver, den Ankommenden.

»Habe ich die Ehre, zu sprechen den Lord Westerly?« hörte er eine Stimme auf englisch mauscheln, und sofort wußte er, daß der alte Jude vor ihm stand.

»Bist du's, Jude?« herrschte er ihn an. »Hast du, Hund, nicht den Befehl bekommen, dich nicht von dem Schuppen zu entfernen?«

»Wollen Exzellenz nicht schreien so laut!« flehte der Alte. »Mußte ich Euch doch sprechen um jeden Preis!«

Westerly wurde aufmerksam. »Nun, was gibt's?« fragte er leiser.

»Nicht hier, nicht hier! Bestimmen mir Eure Exzellenz eine Stunde, wo ich kann sprechen mit Euch ungehört, und wie ich kann kommen in den Bungalow ungesehen, den Eure Exzellenz geruhen zu bewohnen.«

Sonderbarerweise war Westerly sofort geneigt, sich mit dem schmutzigen Juden in eine solche heimliche Unterredung einzulassen.

»Du kommst aus Delhi?«

»Ja, Exzellenz!«

»Direkt?«

»Direkt, Exzellenz.«

»Warum nennst du mich Exzellenz?«

»Hm, ich weiß, Euer Gnaden!«

»Warum bist du hier?«

»Um mit Eurer Herrlichkeit zu sprechen,« flüsterte der Jude jetzt kaum hörbar.

Westerly zuckte zusammen. Also seine Dienste als Spion wurden beansprucht. Mußte man aber gerade solch ein erbärmliches Geschöpf aussuchen, um ihn auszuhorchen? »Gut, ich erwarte dich! Komm in einer Stunde in den Bungalow, fordere Wasser, und ich erkenne dich als den wieder, mit dem ich einmal ein Geschäft gemacht habe. Ich werde dich zu mir rufen.«

Er ritt weiter; das Herz klopfte ihm in der Brust.

Der gutbereitete Reis schmeckte ihm ebensowenig, wie das gebratene Lammfleisch. Er hatte kein Auge für die Magd, welche das Essen auftrug und ihn scheu von der Seite betrachtete, er wünschte nur, die Stunde sei erst da, daß der Jude käme.

Endlich schloß er die Läden seines Zimmers, schickte die Burschen nach dem Lager mit einem Auftrag, der sie mehrere Stunden fernhielt, und wartete. Zur festgesetzten Zeit vernahm er die demütige Stimme des Juden, der im Vorraum nach Wasser fragte. Die Magd schrie auf und schimpfte, daß der unreine Jude wage, den Bungalow ihrer Herrin zu betreten. Westerly öffnete die Tür.

»Wie, bist du das, Schmuhl? An deiner Stimme erkenne ich dich jetzt. Komm herein, ich habe ein paar Worte mit dir zu sprechen. Ruhe da, Weib, oder ich werde dir zeigen, daß ihr braunhäutigen Schufte keinen Heller mehr wert seid als ein Jude!«

Zum Entsetzen der Indierin betrat der Jude das Gemach Westerlys. Ehrerbietig verneigte er sich und blickte dann den Lord mit listigen Augen an.

»Sind wir allein, Exzellenz? Kann ich sprechen offen mit Euch?« begann er.

»Ja, aber leise. Wer schickt dich?«

»Niemand, als mein gutes Herz. Kennt mich Eure Exzellenz noch?«

Erstaunt und mißtrauisch zugleich betrachtete Westerly den Juden, und plötzlich ging ihm eine Ahnung auf. Doch er wußte sich zu beherrschen, Sedrack merkte nicht, was in ihm vorging.

»Warst du nicht jener Jude, welcher damals in der Karawanserei übernachtete, als ich durch das Dorf reiste?«

»Ja, Exzellenz!«

»Ich frage dich noch einmal, warum nennst du mich Exzellenz?«

Gebührt Euch der Name nicht?« entgegnete der Jude mit unterwürfigem Lächeln. »Aber ich weiß, ich weiß, Ihr wollt nicht genannt werden der große Gouverneur, ich verstehe, verstehe.«

Westerly hatte sich also nicht geirrt, er wurde von diesem Juden noch immer für Lord Canning gehalten. Jetzt mußte er seine Rolle freilich ändern, gleichzeitig fiel ihm eine Zentnerlast vom Herzen.

»Denke, was du willst. Für dich heiße ich Lord Westerly« entgegnete er barsch. »Was führt dich also hierher?«

»Ich komme aus Delhi extra hierher, um Euch zu sagen, daß Eure Braut gerettet ist!«

»Meine Braut?«

Doch schnell sammelte sich Westerly.

»Wo ist sie?«

»In Sicherheit, und zwar bei mir. Ich habe versucht, sie zu bringen hierher, aber es geht nicht, weil es mir fehlt an Mitteln, zu bestechen die Wächter und Torhüter und andere Leute, welche wollen, daß die Gefangenen sterben.«

Unruhig ging Westerly auf und ab, der Jude verfolgte ihn mit seinen Geieraugen.

»Daß Mylord nicht denken, der alte Sedrack lügt,« fuhr er dann fort und holte ein schmutziges Papier aus einer Falte seines Kaftans, »mögen sich Mylords Augen erquicken an den Buchstaben, welche ihm geschrieben hat seine Braut, die schöner ist, als die Rosenknospe am jungen Strauch zu Jericho.«

Westerly nahm das Papier und überflog es. Mit der größten Anstrengung gelang es ihm, sein namenloses Erstaunen dem Juden gegenüber zu verbergen.

Die von leidenschaftlicher Liebe diktierte Anrede lautete an Lord John Canning; es war der Ausbruch eines verzweifelten Herzens, dann die Hoffnung, die Freiheit zu erlangen und mit ihm vereint zu werden, ob in Not, Leben oder Tod. Er solle dem Überbringer dieses, dem Juden Sedrack, vertrauen, er habe sie mit eigener Lebensgefahr vor den sie verfolgenden Indiern geschützt, und sie befinde sich noch jetzt bei ihm in Sicherheit. Wenn er, Canning, dem Sedrack 10 000 Pfund zahlen könne, sei es ihm möglich, sie ihm zuzuführen, denn die Indier seien bestechlich und so weiter.

Unterschrieben war nach tausend Liebesbeteuerungen mit Franziska Reihenfels.

Westerly glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Wunderbares Spiel des Schicksals! Was für eine furchtbare Waffe gegen seinen Feind, den er haßte, hielt er in der Hand! Es war ihm bekannt geworden, daß Lord Canning eine geheime Liebschaft pflegte. Die meisten hatten behauptet, seine Erwählte sei Susan, Kapitän Atkins Schwester, einige wenige dagegen behaupteten mit Bestimmtheit, es sei eine andere.

Also Franziska Reihenfels war es.

Westerly hatte dieses Mädchen auch schon kennen gelernt.

Er wandte sich ab und tat, als trockne er sich die Augen, und schleunigst machte es der Jude ebenso, nur daß er kein Taschentuch besaß, dessen Stelle, wie immer, die Zipfel seines Kaftans vertraten. Sein Gemurmel sollte das Mitleid ausdrücken.

»Ach, so ein schönes, junges Täubchen!« murmelte er dann deutlicher. »Ich habe mir bald ausgerauft den Bart, als ich keine Hoffnung sah, sie zu bringen aus der Stadt des gottvergessenen Volkes, über die bald regnen wird Schwefel und Feuer.«

Westerly wandte sich wieder zu ihm.

»Sie ist noch bei dir?«

»Sie ist da und wird bleiben bei mir so sicher, wie in Abrahams Schoß, bis der Gott meiner Väter mir wird zeigen den Weg, wie ich sie kann führen heraus. Hat er doch auch Moses geführt durch das rote Meer, als er ging voran den Auserwählten aus Ägypten.«

»Du kannst sie nicht zu mir bringen?«

Der Jude zuckte die Achseln und spreizte die Finger.

»Wie heißt, kann ich, kann ich nicht? Hat doch Eure Kalle geschrieben, wie ich sie kann bringen heraus.«

»Hm, zehntausend Pfund Sterling! Ich glaube, du bist nicht ganz richtig im Kopfe.«

»Gott, was sind zehntausend Pfund für so'n reichen Lord und für so'n schönes Täubchen? Habe ich doch keinen Profit dabei, wie die Braut selbst schreibt, wenn Ihr wollt lesen den Brief von ihrer Hand. Muß ich doch bestechen erst die ...«

»Ja, ja, du hast recht, es ist eigentlich nicht viel. Zu wem hast du schon davon gesprochen, daß meine Braut bei dir versteckt ist?«

»Werde ich doch sprechen zu niemandem davon, würde es doch kosten mein Leben.«

»Zu gar niemandem?«

»Bei meiner Seligkeit, soll stürzen der Himmel auf mich, wenn ich gesprochen habe zu jemandem davon.«

Wieder ging Westerly nachdenkend im Zimmer auf und ab, dann blieb er vor Sedrack stehen.

»Höre, Jude, ich traue dir nicht.«

»Warum nicht?« Bin ich doch ein ehrlicher Jüd.«

»Ich möchte dich dennoch nicht im Zimmer lassen, wenn nicht alle Kästen verschlossen sind. Also, wenn du zehntausend Pfund erhältst, willst du mir Franziska zuführen?«

»Kann ich, kann ich, wenn man mich bedenkt mit einer kleinen Belohnung.«

»Du kannst nicht verlangen, daß ich so viel Geld bei mir habe!«

»Was ist das für Eure Exzellenz, zehntausend Pfund aufzubringen?«

»Nichts da, davon ist überhaupt keine Rede! Das einzige ist, daß ich dir eine Anweisung gebe, die du einlösen kannst, wenn Franziska gerettet ist.«

»Soll ich geben dem Hindu, der die Häuser absucht, eine Anweisung, die er erheben kann in London?« höhnte der Jude. »Wenn Ihr liebt das Mädchen, würdet Ihr mir wohl können geben das Geld in englischen Papiernoten.«

»Und deine Sicherheit?«

»Mein ehrlicher Name!«

»So viel für den. Ich will aber mit dir handelseinig werden. Ich will dir allerdings nur einen Scheck geben, der aber so gut wie bares Geld ist, wie ich dir begreiflich machen werde.

Doch ich verlange Bürgschaft, daß du mich nicht betrügst. Du hast eine Tochter?« Einen Augenblick blitzte dem Juden der Gedanke auf, ob dieser Mann, den er betrügen wollte, nicht schlauer als er wäre, doch er verwarf diesen Gedanken schnell wieder.

Jedenfalls kamen für ihn jetzt peinliche Fragen.

»Die Mirja, welcher sich anzunehmen und vor den heidnischen Kulis zu bewahren der große Gouverneur nicht zu stolz war.«

»Ich denke, Mirja ist ihrem Vater gehorsam?«

»Sie ist ein gutes und braves Kind und wird nicht Schande bereiten dem weißen Barte ihres Vaters.«

»Gut, du sollst noch heute die zehntausend Pfund erhalten, wenn du mir dafür Mirja als Sicherheit gibst.«

Der Jude riß die Augen vor Schreck auf, die Hand unter dem Kaftan ballte sich. Daß es so käme, hatte er allerdings nicht gedacht. Wenn das Mädchen, das bei ihm war, seine Tochter gewesen wäre, so hätte er vielleicht nicht gezögert, aber wir wissen, daß es nicht seine Tochter war.

»Wie heißt, meine Tochter als Sicherheit?« stieß er endlich hervor.

»Sehr einfach. Du erhältst das Geld, reist nach Delhi, bringst meine Braut dahin, wohin ich bestimme, und so lange bleibt deine Tochter bei mir als Bürgschaft, daß du mir mit den zehntausend Pfund nicht durchbrennst. Dann tausche ich sie gegen Franziska wieder ein.«

Immer listiger funkelten des Juden Augen.

»Und was wird das sein für ein Papierchen, das Ihr mir wollt geben anstatt des baren Geldes?«

»Ein Wechsel.«

»Gebt mir einen Wechsel, und ich bin's zufrieden,« rief der Jude schnell.

Westerly nahm ein Wechselformular aus seiner Brieftasche, setzte sich und füllte es auf die Summ von zehntausend Pfund aus. Dann blickte er auf.

»Lord Edgar Westerly? Genügt dir das?«

»Wie heißt, Lord Westerly. Schreibt den Namen, wie Ihr heißt, was hat das sonst für mich einen Wert!«

»So schreib erst deinen Namen.«

Der Jude tat es.

Mit fester Hand führte Westerly die Feder und schrieb: Lord John Canning. Er kannte die Schrift Cannings und konnte sie auch täuschend nachahmen wie jede andere.

»Zahlbar am?«

Sedrack zögerte etwas und überlegte. »Wenn es Euch wird sein möglich, den Wechsel einzulösen.«

»Am ersten Januar des nächsten Jahres.«

»Bin ich zufrieden damit.«

»So, hier hast du den Wechsel! Wohin nun willst du meine Braut bringen?«

»Wohin der Lord belieben.«

»Kennst du die alte Burg in der Nähe von Akola, zum Besitze Nana Sahibs gehörend?«

Und ob Sedrack diese kannte! Er hatte ja schon einmal ein Mädchen dorthin gebracht.

»Mylord meinen Tokirha?«

»Ja, Tokirha heißt sie wohl. Sie ist jetzt verlassen.«

»Ich kenne sie.«

»So bringe meine Braut dorthin!«

»In dieses zerfallene Gemäuer?«

»Das geht dich nichts an, dort ist sie sicher. Bis wann willst du sie dorthin gebracht haben?«

Der Jude zuckte die Achseln. Weiß ich's? Sobald wie möglich. Und werden der Lord einlösen dann den Wechsel sogleich?«

»Sogleich, wenn es mir möglich ist. Am ersten Januar muß ich dies tun. Du hast meine Bürgschaft, nun will ich die deine.«

»Was könnt Ihr fordern von einem armen Jüd?«

»Hör auf, deine Armut vorzuschützen, ich kenne dich. Du weißt es, deine Tochter will ich als Pfand haben.«

»Die Mirja? Gott der Gerechte, was seid Ihr für ein treuer Mann Eurer Braut!«

»Hüte deine Zunge, Jude! Ich nehme deine Tochter unter meinen Schutz, weiter nichts.«

Hältst du aber nicht dein Wort, so wirst du sie nie wiedersehen!«

»Dann wird sie sein der Ersatz für das blonde Täubchen!« grinste Sedrack.

»Jude, brauste Westerly auf, »es ist mir ein leichtes, dir den Wechsel wieder zu nehmen! Willst du mir deine Tochter bringen oder nicht?«

»Muß ich doch erst sprechen mit ihr ...«

»Tue das! In einer halben Stunde will ich entweder dich oder Mirja hier sehen, und wehe dir, wenn du nicht hier bist. Was du ihr zu sagen hast, brauche ich dir nicht erst anzudeuten.

Marsch, hinaus!«

Der Jude schlüpfte hinaus, mit seinem Geschäft äußerst zufrieden.

»Der Stein ist im Rollen, ich kann ihn nicht mehr aufhalten,« murmelte Westerly. »Mag er rollen, bis er in der Tiefe zerschmettert. Ich unternehme ein furchtbar gewagtes Spiel, alles setze ich auf eine einzige Karte – gewinne ich, dann habe ich mein Ziel erreicht; verliere ich, so muß ich die Maske endlich fallen lassen, und meine Rolle als Lord ist ausgespielt. Nur erst Mirja haben, durch sie muß der Vater vernichtet werden. Er wird nicht wagen, mir seine Tochter vorzuenthalten.«


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