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Beim Abte von Kamenz.

Das war ein liebliches Bild verträumten Sommerfriedens im schönen alten Garten der ehrwürdigen Cistercienser-Abtei zu Kamenz im Schlesierlande. Wer mochte angesichts der mit leuchtendem Linnen gedeckten Tafel unter den breitschattenden Kastanien, angesichts des blinkenden Geschirrs und dieser beiden noch behaglich beim Weine verweilenden Herren hier in der licht- und wärmeflimmernden Mittagsstille, die nur vom schmetternden Frühlingsjubel der Finken und von wohligem Taubengirren belebt war, – wer mochte angesichts all des Gedeihlichen für möglich halten, daß gar nicht fern von hier in den schlesischen Bergen siegesgewisse Heere heranzogen, der Kaiserin Maria Theresia das Land, an dem ihr ganzes Herz hing, zurückzuerobern? Die ansehnliche Streitmacht unter ihrem Schwager, dem Prinzen Karl von Lothringen, unter den gefürchteten Generalen Nádasdy, Esterházy, Wallis, St. Ignon, Berlichingen und wie die entschlossenen Heerführer alle hießen, des Herzogs von Sachsen-Weißenfels und des Chevalier de Saxe nicht zu vergessen; ja, wer mochte für möglich halten, daß hier ganz nahebei, vor der Ausgangspforte des Rübezahlreiches, die Wachsamkeit und hartgemute Verwegenheit des streitbaren Preußenkönigs auf der Lauer lag, die nackte Klinge in der ungeduldigen Faust, um den heraustretenden Gegner zur Entscheidungsschlacht zu stellen: Vor dem Passe von Wartha drängten sich schon von allen Seiten die preußischen Harste zusammen.

Wer sah das diesem Sommerbilde an? Und doch war es so. Wie bezwingend auch das Friedegebot dieser Sonnenstunde über dem weltabgeschiedenen Klostergarten waltete, wie silberhell auch die Schwingen der kreisenden Tauben droben um die grauen Dächer der Abtei auf dem tiefblauen Himmel aufleuchteten – der streitbare junge Preußenherrscher, der sich soeben in rastloser, strenger Arbeit sein Heer herangezogen hatte, daß es ihm gefüge wie ein gutes Schwert in der Hand lag, der ihm seine eigene Feuerseele eingeflößt hatte, den Geist des Pflichtenernstes, der Wachsamkeit und heiteren Zuversicht – eine geistgeborene Schöpfung, die nun fortan nicht mehr verschwinden sollte aus dem Wettstreit der Lebensmächte der Welt – tut nur die Augen auf: dort unter den beiden Kastanien, an der weißgedeckten Mittagstafel, dort sitzt er leibhaftig! Der zierliche Herr dort im gestickten blauen Offiziersrock, das ist er und kein anderer. Und jener, der stattliche Mann im leuchtend weißen Ordensgewande, ist Tobias Stusche, der würdige und gescheite Abt von Kamenz.

Ein Kuckuck ruft in fernen Waldestiefen – ohn' Ende, ohn' Ende. Wie die blauen Schatten der Frühlingsbäume im duftgesättigten Sommerwind auf dem saftigen Rasen zittern und spielen. Der König läßt mit liebkosender Bewegung Daumen und Mittelfinger der freien Hand die glatte Wölbung des geschliffenen Kelches niedergleiten, in dem topasfarbener Rheinwein schimmert; wahrlich, wie einer, der auf der ganzen Welt nichts zu versäumen hat! In seinen wundergroßen Blauaugen träumt wieder einmal der lächelnde, gedankenfahndende Blick von Rheinsberg. Drüben durch den Mauerbogen verschwinden just die Gestalten dreier Männer, die an der eben beendeten Mahlzeit teilgenommen haben, der Geheime Kabinettsrat Eichel, inmitten zweier weißgewandeter Patres; und auf der andern Seite aus dem Bogengang, der tief überhängt ist von wildem Wein, klingen gedämpft die Geigen der Klosterkapelle. Der feinsinnige Abt hält auf gute Hausmusik und ist sichtlich beglückt, seinen geliebten Pater Hilarius, eine erste Geige, wie sie der König in Berlin im neuen Hause des Herrn von Knobelsdorf, ja wie die Kaiserin in Wien ihresgleichen gewiß nicht hat, einmal einem Kenner aus der großen Welt vorzuführen, einem, von dem sie gar erzählen, daß er selber der Kunst mächtig sei.

Den königlichen Gast aber entführten die edlen, langentbehrten Klänge in sonnige Friedensgefilde der Schönheit, der Freundschaft und der heitersten Geistesfreuden, wie in eine längst verlassene Heimat, an die uns der harte, hastende Tag nimmer denken lassen will, die nur manchmal noch im Traume aufschimmert und fragt: Weißt du noch? Längst hatten die schmeichelnden Zauber der duftigen Garteneinsamkeit manches in ihm gelöst, wie eine geballte Faust sich langsam auftut; nun warben gar die leidenschaftlichen, schluchzenden Doppelgriffe auf der Geige um sein gewappnet Gemüt und regten schmerzlich das Verlangen auf nach Entspannung, nach der Freiheit, ausruhen zu dürfen, nach dem, was er einst »Mensch sein« genannt hatte. Einst – ist das denn wirklich so lange schon her? Er schaute, betroffen über den Widerspruch zwischen Zeitdauer und Erlebnisfülle, gedankenvoll den schattigen Laubgang hinab, der in eine Lichtung voller Sonnengold auslief wie in einen hellen Kuppelbau: Wandelten da nicht die trauten Gestalten seiner Jugend, die auf einmal so seltsam weit lag von dem Friedrich von heute? Der frohe Graf Kayserlingk, sein geliebter Cäsarion, Christoph Ludwig von Stille, der feurige Normanne Chasot und Etienne Jordan, der gelehrte Bücherfreund, um dessen teures Leben er heute inmitten seiner Kriegssorgen zittert; Chasot und Stille, die beiden Treuen, reiten ja unter seinen Fahnen, dieser, der Chef eines Kürassierregiments, als Generalmajor, jener als Major bei den Bayreuth-Dragonern.

Der Abt, ein hoher, würdiger Mann mit vornehm geschnittenem Denkerkopf, dem die Gewöhnung schweigenden Verstehens das Gepräge milder Reife verliehen hatte, ließ seine dunkeln Augen lange in sinnendem Anteil auf dem bewegten Antlitz seines Gastes ruhen, als läse er hinter dessen offener Stirn das Heut und das Einst wie in einem aufgeschlagenen Buche. Mit Ehrfurcht und einer gewissen bangen Scheu bedachte er die erstaunliche Gelassenheit dieses königlichen Helden, in dem betrachtendes Genießen, scharfes Erfassen des Wirklichen und die schlagbereite Entschlußkraft des geborenen Kriegers so dicht beieinander wohnten. Dem Kenner des Menschengemütes machte das Wunder dieser Königsseele schwer zu schaffen. Woher diese Selbstgewißheit, die ihm selbst und seinesgleichen nur aus dem Gebete strömte? Woher diese Überwinderkraft, diese klaräugige Bereitschaft, alles zu gewinnen und alles zu verlieren? Ist nicht solche Klarheit und Aufgeräumtheit nur dem Frommen vergönnt, der da sprechen kann: »Meine Seele ist still zu Gott?« Und doch! Der junge König, der sich damit etwas weiß, ein Philosoph zu sein, hatte ihm eben sein Denken und Meinen offenbart – frostig und weh war es dem Priester bei so viel heldischer Herbheit geworden: Kein Umschauen, Aufschauen zu Dem, von dem doch aller Trost, alle Stärke, alle Wegsicherheit und Seelenstille kommt! Einzig aus dem herrischen Bewußtsein seiner überlegenen Geistes- und Willenskraft floß dieser kühnen Seele Sicherheit und aus dem guten Gewissen erfüllter Pflicht: Was ich vermochte, ist getan bis zum Letzten. Nun geh's wie's wolle. Ich bin bereit, so zu siegen wie unterzugehen. Ja, war das nicht Glaube? wenn auch nur ein Glaube an sich selbst? Doch immerhin: Lauterste, edelste Glaubenskraft, die vielleicht nur ihren Weg, ihr Ziel nicht gefunden hat. Was zwang ihn, den Gottesmann, diesen kühnen Menschen dort zu lieben, dessen Weise so gar nicht die seine war, zu lieben mit einer Liebe, die viel freudiger und zustimmender als die Liebe des Gerechten zum verirrten Bruder? Sprach nicht Gott untrüglich zu ihm in der starken, überzeugten Liebe zu dem Glaubenslosen, Gott, von dem wohl jeglicher Glaube kommt, auch der nachtwandlerische Glaube des Glaubenslosen, der von ihm nichts weiß; Gott, der, ganz gewiß nicht ehr- und eifersüchtig, wohl nach ganz anderen Maßen mißt, wie er denn gesprochen: »Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken?« Tobias Stusche! wo gerätst du hin? Wer ist dieser kleine bewegliche Herr dort, daß von ihm so viel Unruhe und Gedankennot ausgeht?

Fern drüben im Obstgarten wandelte langsam eine lichte Kutte durch die Sträucher und Spaliere und verschwand jetzt in einem Rebengange. Man sah dann die Hand des Paters durch das Grün der Blätter fassen, er band eine Weinrebe auf, die lose im Sommerwinde geschwankt. Die Geige verklang.

Beider Augen waren dem friedlichen Tun des frommen Gärtners gefolgt und begegneten einander jetzt. Beide Männer hatten jenen Vorgang – die Rebe, der ihre Stütze geworden – gleichermaßen als Sinnbild empfunden. Friedrich hatte sich mit einem Seufzer steif aufgereckt: Er tat, als schüttele er jegliche Weichheit von sich wie einen kindischen Traum, jener Schimmer der Versonnenheit war in seinen Augen erloschen, kühl und klar wie der ausgeschlafene, werktagfrohe und rüstige Montagmorgen glänzte ihr schönes Stahlblau, und ein feiner Spott schien die Lippen zu kräuseln. Da ist er wieder, dachte der Cistercienser Abt: der andere Friedrich! Gott verzeihe mir's: der, den ich eigentlich gar nicht leiden mag! Und als wären sie beide während ihres langen Schweigens doch in engster Gedankenfühlung verharrt, schloß jetzt der Hohenzoller ihr ernstes Gespräch von vordem ab. Bestimmt und kühl klang plötzlich in die verträumte Stille der viel bemerkte Wohllaut seiner Stimme:

»Und wollen Sie wissen, hochwürdiger Abt, woran ich jedesmal meine Pflicht untrüglich erkenne?« Er lachte: »Nichts einfacher als dies. Da brauche ich bloß bei meiner Faulheit anzufragen, dem Ruhebedürfnis, das ja in uns allen nistet: allemal das, was dem nicht paßt, wogegen sich jene holde Trägheit sperrt, um das sie mit prächtigen Ausreden sich drücken will, kurz, alles, was mir eigentlich so recht eklig ist – das ist das Gebotene, ist die Pflicht: Glauben Sie mir's. Denn sie hat zwei Gesichter, die Pflicht: Vor unserer Tür schaut sie unhold drein und hat einen harten Mund; haben wir sie eingelassen, guckt sie uns an wie eine liebe altvertraute Hausgenossin. Also nicht im Erkennen liegt die Schwierigkeit, die Vermessenheit, wie Sie's nennen, nur im Erkennen wollen, im willigen Anerkennen dessen, was sein muß. Zucht, Zucht, Herr Abt! Ich hab's gelernt, meiner Seele Stockschläge zu geben, und diese meine ruchlose Ruhe ist redlich erarbeiteter Besitz. Sie schütteln noch immer das Haupt. Ich bin unbekehrbar, ich weiß; doch darum kein Verdruß zwischen uns, wenn wir auch gleich aus zweien entgegengesetzten Welten hier bei diesem Hochheimer, der übrigens Ihrem Keller alle Ehre macht, uns zusammengefunden haben. Hören Sie, hochwürdigster Freund: Wenn ich dann alles sorglich vorgesehen habe, alles getan, was nach meinen bescheidenen Gaben in meinen Kräften stund, und, wohlgemerkt, wenn das Schicksal geruhen sollte, meine Rechnungen nicht zu durchkreuzen –« heller und schärfer klang seine Stimme: »wenn ich sie packe, die Übermütigen, Allzusichern, die sich jetzt o, haha, zu meinem Heile der überlegenen Besonnenheit des alten Grafen Traun, in dem ich meinen Lehrmeister ehre, glücklich entledigt haben, die mich, die leichtsinnigen Toren, im ängstlichen Rückzug auf Breslau wähnen – Herr Abt, wenn dann die große Entscheidung gefallen ist, die Truppen der Kaiserin hinausgeworfen sind aus meinem Schlesien: dann, dann vielleicht mag's geschehen, daß mich der Sieg überwältigt wie ein Glück, das jedes Verdienst übersteigt, wie ein unverdientes Geschenk des Himmels, – das Beste kommt ja doch wo anders her als aus unserm Können und Wollen ...«

»Sehr wahr, Majestät, sehr wahr, das meine ich! nun, und?«

»Ich meine, vielleicht macht dann das Glück mich bescheiden, also daß ich doch noch Dank und Ehre Dem abtrage, den ich in der Not nicht behelligen mochte, weil mir's nun mal nicht in den Kopf will, daß ihm an mir und meinem bißchen Kram und ob Schlesien den Preußen, den Österreichern, den Sarmaten oder den Arabern zufalle, im geringsten gelegen sein könne – was doch wiederum«, lachte er, »nur bescheiden gedacht ist! Sie sehn, wir drehn uns im Kreise. Sein Sie nicht traurig, verehrter Freund. Ich bin wie ich bin, wie der Schöpfer mich gewollt hat; er wird wissen, warum.«

»Majestät widersprechen sich selber. Er dürfte Sie nach Ihrer Auffassung als Einzelnen gar nicht gewollt haben, weder so noch so; was geht der König von Preußen den Herrn der Welten an?«

»Mag sein, mag sein. Man kommt da eben aus den Widersprüchen nicht heraus.«

»Doch nur der, der mit dem fürwitzigen, kurzsichtigen Verstande es unternimmt ...«

»Ich weiß, ich weiß! Da wären wir glücklich wieder beim Anfang angelangt!« Der König lachte hell und heiter und trank sein Glas aus, dann setzte er es wie mit einem dankbaren Abschiedsblick bedächtig auf das weiße Linnen. »Wir verplaudern uns hier beim Weine, und ich hab noch der Geschäfte mancherlei mit meinem treuen Eichel; auch mein Minister mit den grämlichen Sorgenfalten über den Augenbrauen, mein guter Graf Podewils, harrt seufzend meiner Berichte. Mir kann's eigentlich nicht fehlen: Von allen Seiten berät mich reife Weisheit. Schade nur, daß der König von Preußen seinen Kopf für sich hat. Er hat mir mal wieder die Leviten verlesen, der gute Podewils, und eine Predigt verdient, eine Laienpredigt, Herr Abt, die Hörner und Klauen hat: Diese ängstlichen Gemüter wollen nie begreifen, daß es Lagen gibt, wo Kühnheit und hohes Spiel aller Weisheit letzter Schluß ist.«

Er sprang auf, zog den Rock in den Hüften fest, ergriff den Degen und setzte den Hut auf.

Da trat zum Abte, der sich mit seinem Gaste erhoben hatte und sichtlich noch mancherlei einwenden wollte, ohne zu wissen, wo beginnen – da trat plötzlich ein Pater zu ihm; man hatte ihn eigentlich nirgendwo herkommen sehn, wie aus dem Boden geschossen war er da und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was den ehrwürdigen Tobias Stusche in jähem Schrecken auffahren machte. Friedrich blickte staunend auf und sah den rätselhaften Klosterbruder an. Sie maßen sich, die zwei.

Das will ja nun nichts besagen, wenn zwei sich von ungefähr angucken. Aber manchmal ist das eine Begebenheit, zum Beispiel wenn der eine der Preußenfritz ist und der andere – ja auf den andern kommt's freilich auch ganz sonderlich an! Es war wirklich ein bemerkenswerter Augenblick. Wenn der Fritz gewußt hätte ...

Sind das Dünste, die in dem Weine saßen? fragte sich der König betroffen: Er konnte nämlich wunderlicherweise des Gesichtes da vor ihm, das ihn wie ein Geheimnis reizte, nicht habhaft werden, als erlahmte davor die festhaltende Kraft seines Auges oder als verschleierten ihm Nebel jenes Antlitz, das er doch, er wußte selber nicht, warum, gar zu gern erfaßt hätte. So geschieht dir wohl mit deinem Gegenüber im Traume: Da steht der andere, spricht zu dir, doch sein Gesicht erkennst du nicht. Das war wie ein Schwindelanfall eines flüchtigen Augenblicks, doch sein irrer Blick fand sofort Halt an den zu plötzlicher Entschlossenheit seltsam verhärteten Zügen des Priesters. »Was gibts?« fragte er staunend, indem er im selben Augenblicke schon bemerkte, daß jener Pater, dem er um alles gern unter die Brauen gespäht hätte, schon wieder verschwunden war. Abt, verdammt, was habt ihr mir für einen Teufelswein eingeschenkt? Bin ich von albernem Spuck gefoppt?

»Majestät, folgen Sie mir!« stieß der hervor. »Wir werden gleich ungebetene Gäste hier haben, die Anlaß haben, ganz besonders erpicht auf die Bekanntschaft des Königs von Preußen zu sein.«

Friedrich, in der Erregung des Augenblicks seltsam hellsichtig und schnell arbeitend mit Sinnen und Auffassung, bemerkte in aller Eile mit innerem Vergnügen bei sich selber, wie wunderbar doch die Züge des Gottesmannes auf einmal dem kühnen Soldatengesicht seines prächtigen Obersten von Winterfeldt ähnlich sahen, was sie ihm noch einmal so wert machten: So gebietend war sein Blick, so jugendlich entschieden seine Bewegungen, so stürmisch sein Schritt, mit dem er den König voran eilte, wider alle Sitte der großen Welt ihn mit festem Griff an der Hand hinter sich herziehend. Im einsamen Garten stund der Mönch allein. Da hatte er bis jetzt unverrückt gestanden; wie es zugegangen, daß er dem Auge des Hohenzollern entglitten war, als wäre sein Bild dem auf einen toten Fleck seiner Netzhaut gefallen, wer will das sagen? Jetzt warf er die Kutte zurück, reckte sich hoch, erschrecklich hoch, als sei sein Strecken gar nicht an ein festes Maß von Rückgrat, Knochen und Sehnen gebunden, und grinste über das ganze Gesicht, grinste, daß seine weißen Zähne wie ein breites Pferdegebiß leuchteten. Ein schnurriger Klosterbruder, meiner Treu! Er griff, wenig mönchisch fürwahr, nach der Flasche auf dem verlassenen Mittagstisch, und hielt sie gegen das Licht. Sie war noch halbvoll, und schon hatte er sie an den Kopf gesetzt und sie leer gegurgelt. Dann schüttelte er sich: Wo haben wir dieses Schütteln schon einmal gesehn? und wer, zum Donnerwetter, ist der Kerl, dem der edle Hochheimer, die erlesenste Köstlichkeit des Kamenzer Klosterkellers, der der Majestät von Preußen so trefflich gemundet hat; nicht genügt? Spucke er nicht aus, der Ruppsack im weißen Ordenskleide?

Da erscholl aus der Klosterkirche die Meßglocke. Der närrische Mönch pfiff, steckte dann die haarigen Fäuste in die Ärmel der Kutte und pürschte sich mit lang ausgreifenden Beinen, die nichts klösterlicher Demutschritte an sich hatten, an das Gotteshaus heran. Aus dem Wirtschaftsgarten eilten noch etliche Brüder herbei, dem außergewöhnlichen Andachtrufe der Glocke folgend. Unser Pater folgte dem Rufe nicht. Warum er nicht? Schiefköpfig wie ein lauschender großer Hund stund er vor der Pforte der Kapelle, aus der jetzt Orgelklang und der Gesang der frommen Brüder ertönte. Sein breitmäulig Lachen schwand mehr und mehr, in seine wulstige Stirne gruben sich tiefe, drohende Falten, die Augen unter den stachlichen Brauen quollen trotzig vor wie die eines Bullen, der einen Feind annehmen will, grollend bohrten sie sich in den Türbeschlag, das schmiedeeiserne Kreuz und das liliengeschmückte Cisterzienserwappen darunter, und mürrisch schüttelte er den dicken Kopf. Er darf aus bestimmten Gründen nicht hinein, unser höchst verdächtiger Klosterbruder, in die geweihten Räume, wo das Bild des Gottessohnes am Kreuz vom Hochaltar gebietet; und doch haben es ihm die heiligen Klänge wie mit Banngewalt angetan; und doch macht's ihn trampeln vor Ungeduld, das Lüstchen, das Schabernäckige, »dabei zu sein« und den Mummenschanz zu genießen! Denn eine köstliche Mummerei wird's drinnen geben, das weiß er genau, und dergleichen ist sein Leben; ist er doch der Wandelfrohe, dem noch keine Gestalt zu närrisch und zu gering gewesen, Trug und Fopperei darin zu üben, als wär's des Scheinwesens nicht genug und des Truges in dieser Welt.

Doch da ist noch ein anderes als die Rätselgewalt des Heiligen und die schabernäckische Neugier: Grübelnd starren seine großen Augen ins Leere, wie er da, der Ausgeschlossene, vor der Kirchenpforte steht, als erschauten sie etwas vor sich, mit dem er nicht ins Reine kommen könne. Dieses geistleuchtende Heldenantlitz! Dieses Königsauge! Verdammt, was war das? Was will das von ihm? Eine Macht. – Er spie nach seiner sittsamen Art kräftig aus. – Lächerlich, dies Menschenwichtlein im blauen Röckchen! Was geht's ihn an? Kennt er doch nachgerade das ungute Gesindel bis zum Ekel, es ist doch immer das gleiche. Recht hat's mein Zwerglein daheim, tausendmal recht: Nichts ist's damit als eitel Niedertracht, dumme Gier, Rechthaberei, knechtische Heuchelei und Lüge, Lüge, o ein Wust von Lüge bis zur Selbstverblödung, die an den eigenen Schwindel glaubt! Und dabei – wie er mich ansah, der Racker, der kleine; Zeit war's, daß ich mich verflüchtigte! So einer! Ein Mensch! Was denkt sich das? Schaut drein, als wär er nicht von gestern, als wär sein Wesen so alt wie meine Tannen droben, so alt wie unsereiner, Potz Bober, Zacken und Queiß!

Da saß dem Erbosten ein Finkenhähnchen auf dem Finger und schmetterte ihm mit geblähtem Brüstchen gar zutraulich in das ungeschlachte Angesicht. Der wilde Berggesell lachte wie ein kleiner Junge – wo hatte bis jetzt nur dies gute Unschuldlachen gesteckt? »Schön guten Tag auch, Kerlchen, wie geht's euch? Du kommst mir grad recht: Ihr seid doch das einzig Gescheite auf dieser Welt. Kaff, Kaff, das Pack, vom Weber und Köhler bis zum sogenannten König. So ist's recht, sing mir's noch einmal, dein Gesätzl. Fein kannst du das, Kerlchen. Mein Flüevögelchen droben in den Bergen ist auch schon lang beiwege, singt dir zum Küssen, und läßt euch alle grüßen, mein Bergspätzel.« Flog das Tierchen auf, machtvoll erklang die Orgel durch die Tür, und – als brennte es irgendwo, stürmte der Launische, Wetterwendige plötzlich ums Kircheneck, tobte mit Gewaltschritten querfeldein über den Friedhof, setzte wie ein großer Ziegenbock über die Hügel, darunter die weißen Brüder, die einst hier gelebt und geschafft, einer fröhlichen Urständ entgegenschlummerten, und stund plötzlich an der äußeren Mauerpforte, die er mit einem Krach aufriß.

Draußen sprangen soeben mit Lärm und Geschrei kroatische Reiter von den struppigen Gäulen. Dem ersten, der auflachend auf ihn losstürmte, gab er einen Stoß, daß er wie ein Knäuel umeinanderkollerte; darob erbost, zog ein zweiter vom Leder, dem unverschämten Mönche eins über den Schädel zu hauen. Der fing die niedersausende krumme Klinge in der offenen Hand auf und drehte sie mit einem Ruck dem Angreifer aus der Faust, daß dem vor solchem Zauberkunststück das Maul offen stund und er sich bekreuzte, während die verwegene Rotte scheu zurückwich. Durch die Verdutzten drängte sich ein Schnauzbart von Wachtmeister: »Der König von Preußen ist da drin!«

»Der König? Was geht uns hier der Ketzer an? Wo soll der wohl herkommen?« Hör einer: Er hat »gestern«, will sagen: vor hundert Jahren, im sogenannten großen Glaubenskriege, etwas gelernt, der Schlaukopf: »Der Brandenburger, der Lutherische, der Heide, was soll der wohl im christkatholischen Gotteshaus, ihr Schöpfe? Wollt ihr wohl draußen bleiben? 's ist Gottesdienst, Messe ist, ihr Galgenstricke, ihr verwetterten! Seid ihr so außer Rand und Band, ihr – Isolanische Krabaten, hätt ich bald gesagt, daß ihr kein bißchen Ehrfurcht im Leibe habt vor Chorgesang und Orgelton?«

»Pest und Tod, wir wissen aber, daß er hier ist, hörst du, Pfaff, wir wissen's! Bomben und Karthaunen, Platz gemacht, du Mehlgugel! Hinein, Bursche, hinein! Vivat Maria Theresia!« – Der Klosterbruder sprang zur Seite, lachte, daß es gluckste, und tat einen Freudendreher, daß das heilige Gewand sich bauschte. Die Kroaten stürmten mit Hallo an ihm vorbei.

Sie fragen nicht, die Brüder des Ordens. Zu ungewohnter Stunde rief sie die Glocke, sie neigten in Demut die Häupter, beteten und sangen. Sie fragten nicht, als vorm Hochaltar statt des Abtes ein anderer Priester im Meßgewande erschien, auch nicht, als der Abt mit einem fremden Ordensbruder im Chorkleide in sein Gestühl trat. Das Kyrie eleison klagte durch den hohen dämmernden Raum, die Altarlichter zitterten. Das Gloria jauchzte empor auf den feierlich gebreiteten Schwingen des Orgelklanges. Am Eingang ward eine Störung bemerkbar, ein Klingen wie von Sporen und Säbelscheiden, rauhe Stimmen, die rasch in heiserem Flüstern erstickten. Sie fragten nicht, die Brüder, kaum daß einer oder der andere sich unwillig halb nach den Eindringlingen umwandte. Die aber stunden, die Pelzmütze in den groben Fäusten, und schauten blöde blinzelnd in den gedämpften, weihrauchgeschwängerten Goldglanz, der die Feierlichkeit umwob, kratzten sich hinter den Ohren, neigten dann ihr Knie und beugten den störrischen Nacken, Brust und Stirn bekreuzend. Dann heimliches Sporenklirren, Aufstoßen eines schnurrenden Säbels, und wie geprügelt drückten sich die wilden Gesellen einer nach dem andern aus der kühlen Dämmerung und stunden mit maßlos dummen Gesichtern wieder draußen am warmen, sonnenhellen Tage; kaum daß ihre rauhen Seelen da drinnen etwas gestreift hatte, dem sie keinen Raum geben wollten. Draußen stunden sie und fluchten. Andere hatten das ganze Kloster durchstöbert und kamen mißmutig zurück und zuckten die Achseln. Es sah aus, als wollte einer dem andern seine Dummheit mehr oder minder handgreiflich vorhalten.

Der verrückte Mönch, der allein von der ganzen Bruderschaft – aus bestimmten Gründen! – der heiligen Handlung nicht beiwohnte, lachte sich halbtot. »Kommt her, ihr armen Kerle, einen Schluck auf die vergebliche Mühe! Es ist rechtschaffen heiß heute«, und er reichte ihnen die Rheinweinflasche – die er eben selber leer getrunken hatte. Und die Reiter setzten sie einer nach dem andern an, und keinem der Kerle fiel es auf, daß unmöglich acht bis zehn ausgepichte Kroatengurgeln nacheinander in endlosen Zügen aus einer und derselben Flasche schlürfen können. Aber, o Wunder, sie tranken und tranken! Ihre Gesichter liefen rot an und ihre Augen glotzten, der Schweiß perlte auf den niedrigen Stirnen und den Stülpnasen. Sie sogen und sogen und verblödeten zusehens, die Zunge hinkte ihnen im Halse, sie umarmten einander und küßten einander und schluchzten sich an: »Bruderherz, teures ...«

Und auf einmal überkam die betrunkenen Sinne der tolle Zauberwahn, als klänge der heimische Dudelsack, und es gelte hier den brünstigen Kolotanz. Sie umfaßten einander gar zärtlich, denn freilich – wo waren die üppigen Mädchen mit den betäubenden Blumen auf dem Busen? Sie verdrehten die Äuglein, spitzten die Mäuler, wiegten sich verbuhlt und sangen ihr schlüpfrig Liedel. Der heillose Rübezahl aber hatte seinen heidnischen Spaß an dem unverschämten Witz, der lästerlichen Ungebühr, die heiligen Klänge von drüben so hübsch mit den wüsten Walzweisen durcheinandergerührt zu haben! Er liebte nun einmal das, was noch nie und nirgends dagewesen war, und was nie und nimmer zusammengehörte, frech zu einem tollen Beieinander zu gesellen. Lange indes hielt die Liebesraserei nicht vor. Zuletzt – ja, da griff sich einer um den andern nach dem Bauche und guckte sich ratlos um. »Ihr habt zu schnell getrunken, Kinderchen! Denkt doch mal, bei der Hitze! Immer bedächtig, immer fein bedächtig!« – Ach, plötzlich setzte sich die ganze Gesellschaft fluchend und schimpfend, stolpernd und torkelnd in Trab und – hinaus, nur hinaus!

Hinter ihnen schmetterte der gastliche Pater die Pforte zu und sank, brüllend vor Lachen, mit den breiten Schultern gegen das geschlossene Tor.

Draußen Hallo, Weh- und Wutgeschrei. »Unsere Gäule! Wo hat jetzt der Satan unsere Gäule? O, ihr lieben Heiligen, mein Bauch! Ignaz, Stephan, Zyrill! Mirko, Kasimir ...«

Seit dem Spaß mit dem schwedischen Obristen hatte der Berggeist nicht so gelacht.

Als am Abend Friedrich und sein priesterlicher Wirt sich zu langem festen Druck die Hand reichten und mit einem warmen »Auf Wiedersehen!« sich bedeutsam in die Augen schauten – Friedrich gedachte demnächst hier sein Hauptquartier aufzuschlagen –, da stunden sich zwei Männer gegenüber, die, querhinweg über alles, was sie trennte und sie einander fremd machen wollte, sich verstunden und ehrten. Nie hat der Preußenkönig dem treuen Abte von Kamenz seinen rettenden Dienst vergessen.


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