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Hedwig von Kontala hatte ihren Bruder bekanntlich aufgesucht, um ihm sein schwieriges Leben angenehmer zu machen und ihm wenigstens für die Stunden, in denen er vom Dienst fernblieb, ein Heim zu bereiten. Sie hatte ihr möglichstes getan, um dieses Ziel zu erreichen; die Sache war aber doch weit schwieriger, als sie sich hatte träumen lassen. Ihr Bruder kam immer nur auf Stunden nach Hause, Stunden, in denen er verschlossen und finster war und sich nur mit Zwang und Selbstbeherrschung dazu aufraffen konnte, mit der Schwester ein paar freundliche Worte zu wechseln. Oft kam er tagelang nicht nach Hause, sondern übernachtete unterwegs, um am nächsten Morgen wieder frühzeitig auf dem Posten zu sein, und wenn es irgend möglich war, sendete er dann einen Boten an seine Schwester, damit diese sich nicht über sein Ausbleiben beunruhige.

Trotzdem hatte sie vollauf Gelegenheit, kennen zu lernen, was es heißt, um einen lieben Angehörigen in beständiger Angst und Sorge zu sein. Wußte sie doch nie, wenn der Bruder das Haus verließ, ob er überhaupt noch lebend wiederkehren würde. Welche Menge von Gefahren umgaben ihn nicht beständig, und diese Gefahren wuchsen und wurden vermehrt.

Hedwig von Kontala wurde durch die Verhältnisse, in denen sie lebte, von Tag zu Tag ängstlicher und aufgeregter. Die schwere Verwundung Günthers, das Gefecht, welches die Steueroffizianten mit den Schmugglern zu bestehen hatten, mußten ihr klarmachen, daß die Situation ernster war als je und daß sich damit auch die Gefahr für ihren Bruder vergrößere. Ihr Bruder hatte sie zu beruhigen gesucht, indem er ihr mitteilte, er bereite etwas vor, wodurch dem Schmuggel mit einem Schlage ein Ende gemacht werde; vielleicht koste es eine Anzahl Menschenleben, aber die jetzigen unhaltbaren Zustände müßten aufhören.

In den letzten Tagen aber war er ihr außerordentlich verändert vorgekommen. Er war nicht mehr so finster und verschlossen wie bisher, obgleich er auch jetzt schweigsam blieb und höchst selten eine Bemerkung machte, die sich nicht direkt auf das Gespräch bezog, in das ihn Hedwig zu verwickeln suchte. Manchmal kam es Hedwig vor, als liege ein eigentümlicher Zug von Freude oder von träumerischem, stillem Nachdenken in dem Gesicht ihres Bruders, ja, eines Morgens, als sie ziemlich früh aufgestanden war, hörte sie ihren Bruder sogar in seinem Zimmer singen. Er war sonst nie so lustig und heiter aufgelegt, und da Hedwig keinen Erklärungsgrund für seine Heiterkeit fand, so fühlte sie sich durch die Lustigkeit des Bruders mehr beunruhigt als erfreut.

Es war beim Kaffeetisch des Morgens, als Kontala sich plötzlich an seine Schwester wendete und sagte:

»Sage einmal, mein liebes Schwesterchen, wie wäre es, wenn du auf einige Zeit nach Schloß Katzenberg übersiedeltest? Du könntest die Pflege Günthers mit übernehmen, trotzdem derselbe ja in guten Händen ist; die Pflege einer Frau ist doch aber immer etwas andres als die eines Mannes, und die Damen von Katzenberg sind genügend mit dem Schloßherrn beschäftigt, der ihre ganze Aufmerksamkeit und Pflege erfordert.«

»Wenn du es wünschest,« sagte Hedwig, »so will ich den Damen einen Besuch machen. Du wirst mich aber wahrscheinlich vorher anmelden müssen und anfragen, ob ein Besuch von mehreren Tagen ihnen nicht lästig fällt.«

»Das glaube ich nicht,« entgegnete Otto von Kontala. »Ich dachte, du würdest schon selbst einmal den Wunsch äußern, Martha von Sembitzka zu besuchen; du schienst doch großen Gefallen an ihr gefunden zu haben.«

»Gewiß, gewiß!« sagte Hedwig eifrig. »Sie ist mir so sympathisch, wie kaum ein andres Mädchen es mir jemals gewesen sein könnte. Ich hätte sie gewiß auch aufgesucht, aber nach den Schilderungen, die du mir machtest, scheint Martha selbst sich nicht in allzu günstigen und angenehmen Verhältnissen zu befinden, und ich würde ihr eine schlechte Trösterin gewesen sein. Weiß Gott, ich bedarf des Trostes mehr als jede andre.«

Otto von Kontala lächelte und sagte:

»Würde dich eventuell eine freudige Nachricht trösten können?«

»Eine freudige Nachricht?« fragte Hedwig erstaunt.

»Ja,« sagte Otto lächelnd; »wenn ich mich zum Beispiel verlobt hätte oder wenigstens verliebt!«

Da Hedwig den Bruder fast erschrocken ansah, erklärte dieser plötzlich:

»Es war mir sehr angenehm, daß du mir gesagt hast, Martha von Sembitzka sei dir sympathisch. Es wird wohl nicht lange dauern, bis sie deine Schwägerin ist. Unsre Herzen haben sich gefunden unter den merkwürdigsten Verhältnissen, und wenn vorläufig auch niemand von unsrer Liebe weiß als wir beide, so werde ich doch, sobald hier die Verhältnisse einigermaßen in Ordnung gekommen sind, offiziell um die Hand der jungen Dame bei ihren Eltern anhalten, und ich glaube darauf rechnen zu können, daß man mir keinen Korb gibt. Ich werde auch dann, wenn ich hier alles in Ordnung gebracht habe, meine Versetzung nachsuchen und ernstlich an das Heiraten denken. Und ich glaube, auch du wirst froh sein, hier aus der wilden Gegend herauszukommen, besonders wenn ich dir als Ehemann ein Heim anbieten kann.«

Otto von Kontala kam nicht weiter. Hedwig war aufgesprungen und hatte sich ihm laut aufschluchzend an den Hals geworfen. Sie küßte ihn und lachte und weinte abwechselnd vor lauter Glück und Freude.

»Jetzt weiß ich alles,« sagte sie, »jetzt kann ich mir dein verändertes Wesen wohl erklären. Wie konntest du nur so lange mir diese freudige Nachricht verheimlichen? Glaubst du denn nicht, daß nur die geringste Andeutung mich überglücklich gemacht hätte?«

»Ich war meiner Sache noch nicht sicher,« entgegnete Otto von Kontala. »Aber jetzt weißt du alles, und nun kannst du dir denken, weshalb ich wünsche, daß du nach Schloß Katzenberg gehst. Ich wünsche dem lieben Kinde da draußen durch deine Gesellschaft eine Freude zu machen und dann, glaube ich, wird die Schwester sehr zugunsten des Bruders bei dessen heimlichem Bräutchen reden, so daß ich mir nach allen Richtungen hin nur Vorteile von deiner Anwesenheit auf Schloß Katzenberg versprechen könnte.«

»Gewiß werde ich das,« erklärte Hedwig, noch immer vor Freude weinend; »gewiß will ich dich vor deiner Braut so sehr loben und herausstreichen, als es nur möglich ist, trotzdem ich glaube, ich habe in dieser Beziehung schon so viel getan, daß du mir dein Glück zum Teil verdankst. Auf der Herfahrt, bevor wir dich trafen, habe ich mit Martha von Sembitzka so viel über dich gesprochen, daß du ihr gewiß eine interessante Person warst, und so verdankst du vielleicht –«

»Mein ganzes Glück einem Zufall!« erklärte Otto von Kontala, und dann erzählte er seiner Schwester, in welch eigentümlicher Weise in finsterer Nacht und in der denkbar schrecklichsten Situation ihm die Liebe des jungen Mädchens klar wurde. »Ich versichere dich,« fuhr er fort, »ich war selbst bestürzt. Ich war mir selbst über meine Gefühle noch nicht klar. Das junge Mädchen war mir sehr sympathisch, und ich fürchtete fast, es könnte sich bei mir für sie eine Leidenschaft entwickeln. Du weißt ja aber, daß ich Unglück mit meinen Gefühlen gehabt habe, du weißt, daß ich eigentlich die Idee vollständig aufgegeben hatte, mir eine Lebensgefährtin zu suchen, und du kannst dir denken, daß ich infolgedessen sehr vorsichtig mir selbst gegenüber war, und gewiß hätte sich eine Erklärung meinerseits Martha gegenüber um viele Monate verzögert, wenn sie mir nicht indirekt ihre Liebe selbst gestanden hätte in dem Augenblicke, in dem sie mich getötet glaubte. Von der Überraschung, die mir das Erkennen ihrer Leidenschaft verursachte, erholte ich mich bald und kam zu der Erkenntnis, daß ich Martha mindestens ebenso zugetan war, wie sie mir, und du siehst ja, ich habe mich bereits angelegentlichst mit dem Gedanken einer Heirat beschäftigt und schon die nötigen Pläne für die Zukunft gemacht, so daß alles seinen geregelten Gang geht, wenn nicht noch vorher etwas dazwischenkommt.«

Hedwigs Gesicht wurde sehr ernst.

»Gott behüte und bewahre uns davor!« sagte sie. »Wenn nur die Möglichkeit vorhanden wäre, dich bald von hier fortzubringen. Wie lange, glaubst du, kann es noch dauern, bis du nach deinen Worten hier Ordnung geschafft hast?«

»Nur wenige Tage,« erklärte Otto von Kontala. »Ich will dir mein Geheimnis anvertrauen, weil ich überzeugt bin, du wirst zu niemand ein Wort darüber sprechen und nicht mir und meinen Leuten durch Plaudern schaden. Ich muß dich aber teilweise zur Mitwisserin eines Dienstgeheimnisses machen, weil du wegen eines solchen nach Katzenberg hinaus sollst. Du sollst in dem Schlosse Wohnung nehmen auch deshalb, damit es nicht auffällt, wenn ich mich länger als sonst und regelmäßiger in dem Dorfe aufhalte. Ich habe an die Regierung um Hilfe geschrieben und die Zusage bekommen, daß zwei Kompagnien Jäger von Breslau in den allernächsten Tagen eintreffen, mit deren Hilfe es mir allein möglich werden wird, die Schmuggler hier zu Paaren zu treiben. Soviel ich weiß, planen die Schmuggler von jenseits der Grenze einen neuen gewaltsamen Vorstoß, weil sie uns durch ihr letztes bewaffnetes Vordringen eingeschüchtert glauben. Ich werde alles tun, um sie in diesem Glauben zu bestärken. Es soll mir nicht darauf ankommen, ihnen mit Hilfe des Militärs, das hier eintrifft, eine ganze Schlacht zu liefern, bei der sie natürlich den kürzeren ziehen, und dann werde ich die ganze Grenze, insbesondere aber das Dorf Losachew, von Schmugglern säubern. Mit Hilfe des Militärs wird es mir möglich werden, endlich einmal eine Generalhaussuchung in dem Dorfe zu halten, die zur Überführung der Schmuggler und zur Entdeckung der geheimen Verbindungen zwischen den Schmugglern diesseits und jenseits der Grenze dienen soll. Bis jetzt konnte ich mit meinen Mannschaften eine solche Durchsuchung mit Vorteil nicht ausführen; es wäre auch vielleicht zu unangenehmen Reibereien mit der Bevölkerung gekommen. Ist aber die Sache erst einigermaßen entdeckt, gelingt es mir vor allem, Pique-Aß und den Oberen des Schmuggels auf die Spur zu kommen, so habe ich hier höchstens noch vier bis sechs Wochen zu tun, um dem Schmuggel vollständig den Garaus zu machen, und dann kann an meiner Stelle jeder andre die Leitung der Grenzüberwachung übernehmen, ohne daß man fürchten muß, es fehle ihm die notwendige Kenntnis der Personen und Verhältnisse. Ich reite jetzt hinaus nach Losachew, werde auf dem Schlosse einen Besuch machen und dich anmelden. Ich bin ziemlich sicher, keinen abschlägigen Bescheid zu erhalten. Bis zum Abend bin ich zurück, und vielleicht kannst du morgen schon draußen Aufenthalt nehmen.«

»Je eher, desto besser!« erklärte Hedwig. »Grüße Martha und sage ihr, daß sich niemand mehr darüber freut, daß sich eure Herzen gefunden haben, als ich, daß ich vor Begierde brenne, sie in meine Arme zu schließen. Gib ihr auch,« setzte Hedwig lächelnd hinzu, »in meinem Namen einen Kuß. Es wird der erste nicht sein!«

Otto von Kontala errötete und schlug lachend mit dem Handschuhpaar, das er in der Hand hielt, nach seiner Schwester.

Dann stieg er vor der Tür zu Pferde und ritt, gefolgt von einem Offizianten, zur Stadt hinaus, den Weg nach Losachew einschlagend.

Nach ungefähr zweistündigem Ritt erreichte er Losachew, und natürlich waren auf dem ganzen Wege seine Gedanken dem Pferde weit vorausgeeilt und beschäftigten sich mit Schloß Katzenberg und mit Martha. Otto vergaß ganz, in welcher Situation er sich befand. Er brachte es fertig, während des Rittes sogar zu träumen und von der Zukunft und zukünftigem Glück zu schwärmen, bis kurz vor dem Eingang sich einer der reitenden Offizianten bei ihm als Patrouille meldete.

»Wo sind die andern Leute?« fragte Kontala.

»Sie sind jetzt noch auf dem Schlosse,« sagte der Offiziant.

»Auf dem Schlosse?« fragte erstaunt Otto. »Was haben sie dort zu tun?«

»Es ist ein kleines Unglück passiert,« erklärte der Offiziant, »das leicht hätte verhängnisvoll werden können.«

Kontala fühlte, wie sein Herz plötzlich stillzustehen schien.

»Ein Unglück?« fragte er außer sich. »Mit wem?«

»Mit den beiden Damen,« entgegnete der Offiziant, »mit der Frau und mit der jungen Dame. Die Pferde sind mit ihnen durchgegangen, aber,« setzte der Berichterstatter hinzu, »es ist niemand schwer zu Schaden gekommen. Nur ohnmächtig sind die Frauen geworden. Der Kollege Berger hat aber wohl dem Fräulein das Leben gerettet.«

»Erzählen Sie!« sagte Kontala aufgeregt. »Erzählen Sie rasch, was ist geschehen?«

»Wir waren oben,« sagte der Offiziant, »in der Nähe des alten Steinbruchs, auf Posten, weil sich in jener Gegend, wie schon lange vermutet wird, das große Lager der Schmuggler befinden soll. Plötzlich hörten wir einen Wagen herankommen, dann hörten wir, wie derselbe stillhielt, dann hörten wir den lauten Schrei einer Frauenstimme, und plötzlich sahen wir den Wagen, mit zwei Pferden bespannt, in dem das junge Mädchen saß, in rasender Eile auf den Steinbruch zujagen. Die Pferde waren keine fünfzig Schritte von dem Steinbruch mehr entfernt. Keiner von uns wußte, was zum Aufhalten der Pferde und des Wagens zu tun sei; es war zu weit, um sich den Tieren in den Weg zu werfen, und dann hätte auch derjenige, der es gewagt hätte, wahrscheinlich das Schicksal der Pferde und des Wagens geteilt, er wäre zusammen mit ihnen in den Steinbruch gestürzt. Der Kollege Berger aber riß plötzlich seine Büchse an die Backe und gab Feuer. Das Handpferd stürzte, durch den Kopf geschossen, zusammen, das andre Pferd, obgleich nicht getroffen, stürzte ebenfalls zu Boden, die junge Dame flog von dem fürchterlichen Stoß aus dem Wagen und blieb ohnmächtig liegen. Wir eilten fünf Mann zur Hilfe herbei, wir hoben die junge Dame auf und sahen, daß sie wohl nur von dem Schreck ohnmächtig sei. Das eine Pferd war mausetot, das andre ganz unverletzt und nur durch das plötzliche Zusammenbrechen des andern Pferdes zu Boden gerissen worden. Wir richteten es auf und luden die junge Dame auf den Wagen, um sie nach dem Schlosse zurückzufahren. Wenige Schritte weiter fanden wir, ebenfalls ohnmächtig, die Schloßherrin liegen. Wir luden auch sie auf, und während wir vorsichtig das Pferd führten, das am ganzen Leibe zitterte, schafften wir die Damen nach dem Schlosse zurück. Unterwegs kam Frau von Sembitzka zu sich, bekam einen Weinkrampfanfall und erzählte uns dann unter Schluchzen, daß sie gerade vom Wagen gestiegen sei, um am Geschirr etwas in Ordnung zu bringen, als die Pferde plötzlich durchgegangen seien. Sie habe sich im Walde verirrt und keine Ahnung gehabt, daß sie sich in der Nähe des Steinbruchs befinde. Frau von Sembitzka dankte uns, wir konnten uns ihrer Dankbarkeit gar nicht erwehren; Berger wollte sie mit aller Gewalt zwanzig Taler aufdrängen, weil er ihrer Tochter das Leben gerettet habe. Wir wurden aber zum Frühstück auf dem Schlosse behalten und erfuhren, daß auch das Fräulein wieder aus der Ohnmacht erwacht sei und sonst keinen Schaden genommen habe. Wir blieben indes nicht lange, sondern begaben uns wieder auf unsern Posten zurück, und ich bin hier um das Dorf herum Patrouille geritten.«

Otto von Kontala war so erschüttert, daß er dem Beamten kaum für seine Meldung zu danken vermochte. Dann gab er seinem Pferde die Sporen und jagte durch das Dorf nach dem Schlosse. Der Schreck hatte ihn so überwältigt, daß unaufhörlich aus seinen Augen Tränen rannen, die ihm klarmachten, wie sehr Martha seinem Herzen teuer war.

Er zitterte noch, als er vom Pferde sprang, wegen der schrecklichen Gefahr, in der Martha geschwebt hatte. Nur der rücksichtslosen Energie des Beamten und der glücklichen Idee mit dem Schutz war es zu verdanken, daß Martha jetzt nicht zerschmettert in dem Steinbruch lag. Welch ein Glück, daß der Beamte außerdem gut gezielt hatte.

Unter gewöhnlichen Umständen und früher wäre Kontala gewiß nicht in diesem Augenblicke als Gast auf Schloß Katzenberg erschienen, in einem Augenblick, in dem alles sich in Verwirrung und Aufregung befand. Aber ihn drängte es, über Marthas Befinden Genaueres zu erfahren und dieselbe womöglich selbst zu sehen.

Eines der Dienstmädchen begrüßte ihn mit Tränen in den Augen und führte ihn nach dem Speisezimmer. Sie sagte ihm, daß der Schloßherr, mit dem es besser gehe, noch nichts von dem glücklicherweise verhüteten Unfall wisse, und bald darauf erschien Femia.

Kontala erschrak, als er sie erblickte. Es schien, als wäre die Frau ihrer ganzen Fassung und allen Haltes beraubt. Ihr Gesicht sah entsetzlich, fast verzerrt aus, ihre Hände zitterten wie die einer Fieberkranken, und doch, wenige Minuten später, nachdem Kontala mit ihr ins Gespräch gekommen war, schien sie ruhig und konnte nun das Unglück, das sie angeblich betroffen, so schildern, wie es der Beamte bereits getan hatte. Sie erklärte Kontala, Martha sei unverletzt, aber liege zu Bett.

Kontala fragte darauf, ob er seine Schwester als Pflegerin und Gesellschafterin für Martha anbieten dürfe, und darüber schien Femia im ersten Augenblicke etwas überrascht zu sein.

»Mißverstehen Sie mich nicht,« erklärte Kontala verlegen; »ich will meine Schwester Ihnen nicht als Besuch aufdrängen, aber ich dachte, es wäre für Ihre Fräulein Tochter angenehm, wenn morgen meine Schwester einmal zum Besuch herauskäme. Auch meine Schwester sehnt sich danach, die Bekanntschaft mit Ihrer Fräulein Tochter fortzusetzen.«

»Morgen?« sagte Femia, und es schien, als ob sie sich von irgendeinem schweren Druck erleichtert fühle. »Morgen will uns Ihre Fräulein Schwester die Ehre erweisen? Natürlich, morgen ist sie uns hochwillkommen. Gewiß, gewiß! Sie können es sich denken, wie angenehm es für uns wäre, wenn sie selbst einige Tage hier bliebe. Ich bitte, beruhigen Sie sie nur über das Befinden Marthas. Sie hat Glück gehabt und ist bei dem Sturz auf weiches Moos gefallen. Sie hat sich gar nicht beschädigt; einige Hautabschürfungen an der linken Hand sind alles, was ihr begegnet ist. Sie können sich leider nicht persönlich von ihrem Wohlbefinden überzeugen, denn sie liegt zu Bett.«

Kontala, der nur mit Mühe seine Erregung bemeistert hatte, empfahl sich jetzt und erklärte, am nächsten Morgen seine Schwester mit nach Katzenberg bringen zu wollen.

Er sah noch nach dem schwerkranken Kameraden Günther, welcher auch, als er an sein Lager trat, die Augen aufschlug und ihn zu erkennen schien. Er lächelte wenigstens, und der Pfleger des Verwundeten behauptete, das Wundfieber sei vorüber und der Kranke auf dem Wege der Genesung.

Als Otto von Kontala vom Hofe ritt, um an der Grenze die Posten zu revidieren, begegnete ihm vor dem Schloßtor der Besitzer des Dorfwirtshauses, Mikaz, welcher anscheinend ebenfalls auf dem Schlosse etwas zu tun hatte.

*

Mit gefalteten Händen lag Martha im Bett und hielt die tränenlosen Augen stier nach der Decke emporgerichtet. Sie konnte es noch immer nicht fassen, noch nicht begreifen, was vorgegangen war. Was sie erlebt hatte, war zu schrecklich, als daß sie ohne weiteres über das Ganze sich hätte klar werden können.

Die furchtbare Todesgefahr, in der sie geschwebt, die wunderbare Rettung, das alles begriff sie, und es regte ihre Gefühle mächtig auf. Sie zitterte noch in dem Gedanken an den sicheren Tod, der ihr gedroht. Sie faltete die Hände zum Gebet, um Gott für die Rettung zu danken, die ihr in letzter Minute geworden war. Und doch, mächtiger als die Gefühle des Schreckens und des Dankes war in ihr der entsetzliche Gedanke, daß ihre Stiefmutter sie in den Tod schicken wollte, daß ihre Stiefmutter sie mit kaltem Blut aus der Welt schaffen wollte.

Martha mußte es klar sein, daß ihre Stiefmutter absichtlich die Pferde scheu gemacht hatte, nachdem sie vom Wagen gestiegen war, um sie in den Steinbruch hineinzujagen. Pferde und Wagen sollten geopfert werden, um die in dem Wagen sitzende Stieftochter aus der Welt zu schaffen, weil sie die Mitwisserin des großen und schweren Geheimnisses war.

Wie sehr bereute jetzt Martha ihre Unvorsichtigkeit, das Geheimnis in einem Augenblicke des Affektes preisgegeben zu haben. Wie gern hätte sie das Wort zurückgenommen, durch welches ihre Stiefmutter erfuhr, daß sie um ihre geheime Rolle, um ihre Zugehörigkeit zu der Schmugglergesellschaft wisse! Aber dazu war es jetzt zu spät. Es galt jetzt, feste Entschlüsse zu fassen, ruhig und klar zu denken, und zu beidem war Martha vollständig unfähig.

Ein entsetzliches Angstgefühl ließ ihr Herz wild schlagen, jagte das Blut durch ihren Körper, verwirrte ihre Gedanken.

Sie sagte sich, daß ihre Stiefmutter jetzt erst recht nicht nachlassen würde, bis es ihr gelungen sei, sie aus dem Wege zu schaffen. Aber mehr instinktiv als infolge ruhigen Überlegens dachte Martha an diese Gefahr und auch daran, daß sie ein Mittel finden müsse, um dieser Gefahr zu entgehen.

Jetzt bedauerte sie es auch lebhaft, daß sie dem Geliebten nicht längst alles gestanden hatte. Allerdings, konnte sie denn ahnen, daß ihre Stiefmutter zu allem fähig war, selbst zum Morde, zum vorbedachten, wohlüberlegten Morde? Absichtlich hatte die Stiefmutter Martha eingeladen zu der Fahrt, mit dem vorgefaßten Entschlusse, sie auf dieser aus der Welt zu schaffen. Genau geplant und überlegt war das Verbrechen, und nur des Himmels Fügung hatte die fast unfehlbar scheinende Ausführung verhindert.

Zorn bemächtigte sich des wehrlosen Mädchens, ebenso wie er selbst des schwächsten Tieres sich bemächtigt, das sich in Todesgefahr sieht, dasselbe Gefühl verzweifelten Zornes, das selbst das scheue Wild veranlaßt, sich zur Wehr zu setzen, wenn es keinen Ausweg mehr sieht, das Gefühl verzweifelten Zornes, das selbst die kleine Maus überkommt, die in Todesangst ist und nicht weiß, wo sie hinaus soll, so daß sie sich verzweifelt zur Wehr setzt und beißt.

Neben dem Bette Marthas saß die alte Wirtschafterin, und diese fragte jetzt, ob Martha nicht ein beruhigendes Mittel einnehmen wolle.

Barsch und rauh wies Martha sie zurück. Sie wußte zwar nicht, ob die alte Wirtschafterin, die schon im Dienste der Eltern Femias gewesen war, im Einverständnis mit ihrer Stiefmutter gewesen sei; aber schon der Gedanke, daß sie mit Femia zusammen unter einer Decke stecken könnte, veranlaßte Martha, jeden Bissen und jeden Trunk zurückzuweisen, denn sie sagte sich, daß man wahrscheinlich zu dem einfachsten Mittel greifen werde, sie zu vergiften.

Die Unruhe, die leidenschaftliche Aufregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, ließen sie nicht mehr im Bette verbleiben. Noch schmerzte sie der Kopf fürchterlich von dem Fall, ihre rechte Schulter, auf die sie gestürzt war, schmerzte sie ebenfalls und ließ sie den Arm nur mit Mühe bewegen, sie erklärte aber der Wirtschafterin, sie wolle aufstehen, und bat sie, das Zimmer zu verlassen.

Die Wirtschafterin wollte zwar behaupten, das gnädige Fräulein bedürfe der Pflege, aber Martha erklärte energisch, sie fühle sich ganz wohl, und das einzige, was sie wünsche, sei, daß man sie nicht störe, sie wolle Ruhe um jeden Preis.

Die alte Frau ging hinaus, und Martha sprang von ihrem Lager auf, um sofort hinter ihr die Tür zu verschließen. Dann kleidete sie sich so rasch als möglich an und setzte sich am Tische nieder. Sie fühlte sich zu schwach, um umherzugehen, obgleich eine Angst und Leidenschaftlichkeit in ihr tobten, die sie kaum auf dem Sitze duldeten.

Es mußte irgend etwas geschehen. Martha war es sich selbst schuldig, sich am Leben zu erhalten, sie war es schuldig dem Geliebten, sich zu erhalten, um ihm einen schweren Schmerz zu ersparen. Sie hatte jetzt gar keine Rücksicht mehr zu nehmen auf die Verbrecherin, die ihr und des Geliebten Leben gefährdete.

Hastig griff Martha nach dem Schreibmaterial, das auf dem Tische lag, und setzte die Feder zum Schreiben an. Sie wollte an Kontala eine Nachricht geben, und sie zögerte nur, wie sie ihn anreden sollte. Indes fand sie rasch einen Ausweg. Sie machte keine Überschrift, sondern schrieb kurz:

»Retten Sie mich, sonst bin ich verloren! Meine Stiefmutter ist Pique-Aß. Höchste Eile tut not! Sechs Uhr abends.«

Sie faltete den Brief zusammen, verschloß ihn und schrieb die Adresse Kontalas auf denselben. Dann überlegte sie, wie der Brief zu befördern sei. Es gab keine Postverbindung oder irgendeine andre offizielle Möglichkeit, eine Nachricht nach Lublinitz gelangen zu lassen.

Wohl dachte Martha, daß Otto von Kontala sich in dem Dorfe Losachew im Laufe des Tages aufhalten würde, um die Posten zu revidieren und Amtsgeschäfte zu erledigen. Ebensogut konnte er aber schon nach Lublinitz zurückgekehrt sein, und es handelte sich darum, einen Boten zu finden, der ihm dahin die Nachricht überbrachte. Dort befand sich auf jeden Fall abends Kontala, und er konnte dann seine Maßregeln treffen.

Mit welcher Sehnsucht wünschte Martha jetzt die kleine Ulka herbei. Sie wäre der beste Bote gewesen, den sie sich hätte wünschen können; trotzdem es gegen Abend war, hätte die Kleine den Weg nach Lublinitz gefunden und jedenfalls den Brief richtig bestellt. Woher sollte sie jetzt einen andern Boten nehmen?

Sie trat an das Fenster und sah hinaus, ob sie nicht irgend jemand von den Hofbediensteten fände, dem sie den Brief anvertrauen könne. Zwar war dies sehr gefährlich, denn die Stiefmutter konnte als Herrin den Boten anhalten. Martha durchsuchte ihr Geldtäschchen und fand noch von der Reise her einen Taler, den sie als Botenlohn verwenden wollte. Sie dachte an Simon, den alten Diener, auch an Wojtek, den Kutscher. Beiden konnte sie sich anvertrauen, und vielleicht gelang es ihr doch, den Brief zu befördern.

Sie öffnete das Fenster, das nach dem Hof hinausführte, und rief eines der polnischen Dienstmädchen heran.

»Wo ist Simon?« fragte sie.

»Er ist mit Wojtek fort nach Lublinitz, um von den Kaufleuten Sachen für die Wirtschaft zu holen, und kommt erst abends zurück.«

Das Mädchen ging fort, und Martha schloß das Fenster wieder. Dieser Ausweg war also versperrt. Und doch mußte um jeden Preis noch heute eine Nachricht an Kontala gelangen. Martha wollte sich bis zum Abend und die Nacht über eingeschlossen halten, sie wollte niemand ohne weiteres in ihr Zimmer lassen, und versuchte man mit Gewalt einzudringen, nun, so blieb ihr die Möglichkeit, um Hilfe zu schreien. Sie beschloß, weder Trank noch Speise zu sich zu nehmen, um einer Vergiftungsgefahr zu entgehen; diesen Belagerungszustand aber, in den sie sich versetzte, konnte sie höchstens bis zum nächsten Mittag aushalten; dann mußte ihr Rettung gebracht werden.

In diesem Augenblick sah sie den Krüger Mikaz über den Wirtschaftshof gehen, der anscheinend von den Ställen herkam und dort wohl irgend etwas zu tun gehabt hatte. Sie öffnete das Fenster und sah sich um. Außer Mikaz war niemand auf dem Hofe zu erblicken. Sie winkte ihm, und der Krüger, der die junge Dame sehr wohl kannte, kam heran.

»Herr Mikaz,« sagte Martha möglichst ruhig, »ich habe einen dringenden Brief an eine Freundin nach Lublinitz zu bestellen. Könnten Sie mir einen sicheren Boten beschaffen, ich will demselben gern einen Taler geben.«

Da der Krüger ein erstauntes Gesicht machte, erklärte Martha:

»Fragen Sie nicht, es handelt sich um eine dringende Sache, um eine Überraschung, und der Brief muß sofort bestellt werden.«

Mikaz überlegte einen Augenblick und sagte dann:

»Gewiß, gewiß; ich will sofort meinen eignen Knecht per Wagen nach Lublinitz schicken, damit er den Brief bestelle.«

Einen Augenblick überlegte Martha noch, dann eilte sie vom Fenster weg, schloß den Brief in einen neuen Umschlag und schrieb auf diesen die Adresse Hedwig von Kontalas. Sie sagte sich, daß Mikaz sich doch sonst wundern könne, was sie dem Obergrenzkontrolleur mitzuteilen habe, und daß es weniger auffallend sei, wenn sie die Adresse der Schwester wählte. Sie versiegelte den Brief, kehrte an das Fenster zurück und übergab ihn mitsamt dem Taler Mikaz. Letzterer wollte zwar das Geld nicht annehmen, Martha bestand indes darauf, daß es dem Boten als Belohnung gegeben werde, und als sie Mikaz sich entfernen sah, der nochmals versicherte, der Brief solle auf jeden Fall sofort bestellt werden, atmete sie erleichtert auf.

Nachdem sie einige Schritte getan, schien es ihr, als habe sie alle Brücken hinter sich abgebrochen, als habe sie aber gleichzeitig alles getan, was in ihren Kräften stand, um weiteres Unglück und ihren Tod zu verhindern.

Wahrscheinlich war Otto von Kontala sehr überrascht über den Brief, aber gewiß beachtete er ihn doch, und wenn er am nächsten Morgen kam, um Näheres von ihr zu erfahren, dann war sie gerettet und konnte ihm alles gestehen. Sie setzte sich in der Ecke des Sofas nieder und schlief jetzt, nachdem die Spannung ihres Geistes vorüber war, sogar ein, erschöpft von allen den fürchterlichen Dingen, die an diesem Tage auf sie eingestürmt waren.

Eine halbe Stunde, nachdem Mikaz vom Hofe gegangen war, erschien bei Frau Femia ein Knecht, der ihr einen Brief von seinem Herrn, dem Dorfkrüger Mikaz, brachte. Es sei eine Abrechnung in dem Briefe, sagte der Knecht, und er solle auf Antwort warten.

Femia ging in ihr Zimmer, öffnete den Brief und fand von der ungelenken Hand des Krügers die Mitteilung, daß ihm das junge Fräulein den beifolgenden Brief in geheimnisvoller Weise zur Bestellung übertragen habe. Da der Brief an die Schwester des Obergrenzkontrolleurs gerichtet sei, so frage er an, ob er ihn bestellen solle.

Ohne weiteres riß Femia die erste Umhüllung von dem Briefe ab, fand die Adresse des Obergrenzkontrolleurs, riß auch diese herunter und las die Worte der Angst, die Martha geschrieben hatte, zugleich aber auch die Mitteilung des Geheimnisses, welches für Kontala von der größten Wichtigkeit sein mußte.

Nicht im mindesten erregt zeigte sich Femia über diesen Brief.

»Ich ahnte es,« sagte sie nur ruhig, dann warf sie hastig zwei Zeilen auf das Papier, verschloß den Brief und übergab ihn dem Knecht mit der Mitteilung, die Rechnung sei nicht ganz richtig, sie habe eine Änderung in derselben getroffen, und sein Herr solle sich die Sache genau durchlesen.

Dann entfernte sich der Knecht des Krügers Mikaz, und Femia begab sich zu der Wirtschafterin, um mit ihr etwas zu besprechen und Anordnungen für die Wirtschaft zu treffen, als ob nicht das geringste vorgefallen wäre.

*

Martha schlief bis zum völligen Hereinbruch der Dunkelheit, dann klopfte die Wirtschafterin an die Tür und fragte, ob das gnädige Fräulein nicht zu Tisch kommen wolle. Martha erklärte, sie bedürfe der Ruhe und wolle allein sein, und die Wirtschafterin entfernte sich darauf, ohne Martha weiter zu belästigen. Martha stand auf und verschloß sorgfältig die Fensterladen, die nach dem Park und dem Wirtschaftshof hinausführten, sie überzeugte sich nochmals, daß die Tür fest verschlossen sei, dann setzte sie sich nieder, um die Nacht angekleidet zu durchwachen, da sie trotz allen Betens und Flehens zum Himmel um Stärke und Kraft sich noch immer von Furcht und Schrecken gepeinigt fühlte. Ihre einzige Hoffnung blieb doch, daß der Brief richtig in die Hände Kontalas gelangte und daß vielleicht noch vor dem Morgen ihr Rettung würde.

Sie legte sich auf dem alten Ledersofa nieder, und trotz der schweren Sorgen schlief sie doch endlich ein ...

Es mochte gegen Mitternacht sein, als sie erwachte. Sie hörte klopfen an ihrer Tür, und erschreckt fuhr sie auf. Das Licht, das auf dem Tische stand, war fast heruntergebrannt. Stärker und energischer aber wurde das Klopfen.

»Wer ist da?« fragte sie.

»Mach rasch,« hörte Martha die Stimme ihrer Stiefmutter rufen, »komm, ums Himmels willen, mit dem Vater steht es schlecht, ich glaube, er erlebt den Morgen nicht. Mach rasch, ich muß zurück an das Krankenbett!«

Martha hörte die Schritte der sich Entfernenden und zögerte nicht einen Augenblick, dem Rufe Folge zu leisten. Die Nachricht von dem plötzlichen Schlimmerwerden des Vaters hatte sie auf das tiefste erschreckt. Sie ergriff das Licht, öffnete die verschlossene Tür und trat in den Korridor hinaus, um der Stiefmutter zu folgen.

Im nächsten Augenblicke verlöschte das Licht, das sie in der Hand trug, ein dickes Tuch wurde ihr über das Gesicht geworfen, das ihr Schreien erstickte, dann fühlte Martha, wie kräftige Männerhände sie packten, wie man neue Tücher über sie warf, und fühlte sich aufgehoben und fortgetragen, so rasch, als Menschen mit einer Last nur laufen können. – –

*

Der Schloßpark von Katzenberg ging an seinem äußersten Ende direkt in den Forst über, und an dieser Stelle erhob sich ein eigentümliches Gebäude. Jedenfalls hatte Herr von Sembitzki, als er noch gesund und bewegungsfähig war, sich viel für die Jagd interessiert, und so stand hier ein eigentümliches Holzgebäude, welches als Futterplatz für das Hochwild im Winter diente.

Dieses Gebäude war eigentlich nichts als ein Schuppen und nicht einmal das. Man denke sich vier Pfähle in die Erde gerammt und diese vier Pfähle mit Brettern eingedeckt und mit einem Dache versehen, außerdem die vier Pfosten bis zu Manneshöhe an drei Seiten mit Flechtwerk versehen, das allerdings jetzt fast vollständig demoliert war, und man wird einsehen, daß hier allerdings in schweren, schneereichen Wintern für das Wild der nahen Forste eine vortreffliche Fütterungsstelle sich darbot.

Das Dach über der Decke bildete eine Art Boden, der sich über den ganzen Schuppen erstreckte, und jedenfalls sollte dieser Boden zur Aufbewahrung von Futter oder Gerätschaften dienen, denn an dem einen Pfosten befanden sich Pflöcke, auf denen man bis zur Höhe des Bodens bei einiger Geschicklichkeit emporsteigen konnte, ohne sich einer Leiter zu bedienen.

Wind und Wetter hatten doch auf dieses eigentümliche Gebäude ihren zerstörenden Einfluß geübt. Seit Jahren wurde es nicht benützt und auch nicht repariert, und so sah es ziemlich verfallen aus, und da es außerdem so weit entlegen vom Dorfe und vom Schlosse lag, kam wohl selbst in Wochen selten ein Mensch hierher, wo absolut nichts zu suchen und nichts zu finden war.

Auf dem Boden dieses Wildschuppens befand sich noch Heu aus früherer Zeit, altes Heu, das indessen gut ausgetrocknet war, weil an der Stelle, wo es lag, glücklicherweise das Dach noch nicht defekt war.

In einem Teil dieses Bodens wohnte eine Katzenfamilie, bestehend aus Mutter und vier Kleinen, eine jener halbwilden Katzen, die sich auf den Feldern umhertreiben, um der Jagd obzuliegen, und die sich hierher geflüchtet hatte, um vier kleinen Katzen das Leben zu schenken und dieselben zu verpflegen. Der Weg für die Katze zum Schuppen hinauf und herunter war ein sehr bequemer. Ein breitästiger Tannenwipfel legte sich dicht an das Dach des Schuppens, und wenn die Katze aus einer Luke des Bodens herauskroch, konnte sie bequem auf einem Ast des Baumes bis an den Stamm gelangen und an demselben herunterklettern.

Als die Katze eines Tages von einem Ausfluge heim kam, war sie nicht wenig überrascht, die Bewohnerschaft des Bodens vermehrt zu finden. Sie fauchte und pustete, wagte sich aber doch nicht an den Eindringling heran, der es sich da oben bequem gemacht hatte, und sorgte nur für ihre Kleinen, die sie an das äußerste Ende des Bodens schleppte.

Dieser neue Gast oben in dem halbverfallenen Wildschuppen war aber niemand anders als Ulka. In diesem Kinde steckte der ganze Instinkt der slawischen Rasse; es war listig, verschlagen, klug, gewandt und mißtrauisch, und von dem Augenblicke an, in welchem die Schloßfrau Ulka in Gegenwart Marthas so heftig angefaßt hatte, um sie wegen ihres Aufenthalts im Park zur Rede zu stellen, ahnte das Kind, daß es an der gefürchteten Frau eine geschworene Feindin habe. Martha hatte sie zwar beschützt, aber Ulka wußte mehr. Auch sie ahnte, daß Pique-Aß niemand anders als die Herrin von Katzenberg war, um so mehr Grauen aber empfand sie vor der Frau, und um so schutzloser kam sie sich vor.

Auf dem Boden des Wildschuppens war sie auf ihren Streifereien schon einigemal gewesen, und sie beschloß, dort Aufenthalt zu nehmen. Als Vorbereitung für ihre freiwillige Verbannung stahl sie aus der Speisekammer, welche die alte Wirtschafterin einen Augenblick lang offen gelassen hatte, ein Brot und eine Anzahl Würste, und mit diesen richtete sie sich vorläufig auf dem Wildboden ein, und die Wurst machte auch bald die Katze zu ihrer Freundin, und Ulka fand freundliche Aufnahme in der Katzenfamilie, mit der sie zusammen spielte, wenn sie nicht im Heu schlief. Im Schlafen hatte sie eine merkwürdige Ausdauer, und es kam ihr nicht darauf an, viele Stunden lang wie leblos im Heu zu liegen und sich auszuruhen. Sie schlief aber nur am Tage, des Abends, sobald es finster wurde, legte sie sich im Parke auf die Lauer.

Einen unüberwindlichen Drang spürte das Kind in sich, dem Geheimnis der Schloßherrin auf die Spur zu kommen, und trotzdem sie wußte, daß sie in höchster Gefahr, ja wahrscheinlich in der des Lebens schwebte, wenn sie entdeckt wurde, stieg sie doch jede Nacht in den Park hinunter, um bald hier, bald dort auf einem Baume sitzend, zusammengekauert und den Atem anhaltend, mit ihren scharfen Augen hinauszuspähen und in den sternenhellen Nächten allerlei Beobachtungen zu machen. Sie war ja sowieso gezwungen, nachts herunterzusteigen, um aus der Quelle des Parkes ihren Durst zu löschen. Sie wagte sich sogar bis unter die Fenster Marthas und versuchte dort den Atemzügen der Schlafenden zu lauschen; ja, sehr gern hätte sie an das Fenster geklopft, um Martha nur einmal zu sehen und zu sprechen; aber das Fräulein hätte sie gewiß gefragt, wo sie sich aufhielte, und ihren Aufenthalt wollte sie um keinen Preis verraten. Ebensowenig hätte sie es übers Herz gebracht, Martha zu belügen.

Was Ulka in dem Parke entdeckte, war etwas sehr Eigentümliches. Gewöhnlich zwischen zwölf und ein Uhr kam eine in einen Mantel gehüllte Person, in welcher Ulka bestimmt die Schloßherrin zu erkennen glaubte, durch den Park und verschwand an einer Stelle desselben spurlos, als habe die Erde sie verschlungen. Nach einiger Zeit tauchte in derselben Gegend die Gestalt wieder auf und begab sich vorsichtig nach dem Schlosse zurück. Die Stelle, an der das geheimnisvolle Verschwinden der Gestalt geschah, war ein eigentümlicher alter Eiskeller, den man in den Abhang eines Hügels hineingegraben hatte. Es war die Böschung dieses Hügels senkrecht abgeschnitten und ein tunnelartiger Raum hineingegraben worden, den man, um den Einsturz zu verhindern, auch wie einen Stollen mit Balken ausgebaut und unterstützt hatte. Zu diesem Eiskeller führte eine alte, unverschlossene Tür, und Ulka war, als sie sich noch nicht den Tag über versteckt hielt, oft im Park herumgestreift und auch in diesen Eiskeller hineingeraten, in dem nichts zu erblicken war und welcher vollständig unbenützt lag. In der Ecke allerdings befand sich einiges Gerümpel von Gartengerätschaften, zerbrochene Rechen, Stäbe zum Anbinden von Bäumchen, Blumen und Ähnliches mehr.

Ulka konnte es nicht genau sehen, ob die geheimnisvolle Gestalt, die sie für die Schloßherrin hielt, in diesen alten Eiskeller hineinging. Die Neugierde plagte sie dafür den ganzen Tag und ließ sie kaum zum Schlafen kommen, und des Abends legte sie sich, wenn auch mit klopfendem Herzen, auf die Lauer, und zwar unmittelbar auf die Decke dieses alten Eiskellers, unmittelbar über den Eingang, um hier, regungslos sich verhaltend, mit echt slawischer Zähigkeit stundenlang zu warten, ob sich jemand zeigen würde.

In der Tat erschien die Gestalt wieder, und bei ihrem Herannahen bemächtigte sich eine so fürchterliche Angst Ulkas, daß sie sogar die Augen schloß, weil sie irgend einmal gehört hatte, daß Augen nachts von selbst leuchteten und in der Finsternis zu sehen wären. Sie hörte aber die Tür des Eiskellers knarren und wußte nun, daß die geheimnisvolle Person in diesen Eiskeller hineingegangen war.

Drei Viertelstunden lang lag Ulka dann auf ihrem Posten, ohne sich zu bewegen und ohne auch nur laut zu atmen. Im Innern des Eiskellers blieb alles ruhig, nichts bewegte sich, nichts war zu hören, und doch, nach drei Viertelstunden schritt die Gestalt wieder heraus und entfernte sich auf dem Wege nach dem Schlosse. Ulka wagte nicht, unmittelbar nach der Entfernung der Gestalt in den Eiskeller einzudringen; sie blieb auf ihrem Posten liegen, bis der Morgen graute, dann öffnete sie vorsichtig, nachdem sie minutenlang gehorcht hatte, die Tür und fand nicht das geringste Auffällige in dem Eiskeller. Ringsherum an der Wand zog sich Rundholz an Rundholz, welches die Wände bekleidete und gleichzeitig den Querhölzern der Decke als Stütze diente. Das Gerümpel von Gartengerätschaften lag wie immer in der Ecke, und Ulka entfernte sich kopfschüttelnd, um so schleunig als möglich, vor Aufgang der Sonne, zu ihrer Katzenfamilie zu flüchten, mit der sie eine böse Auseinandersetzung hatte, weil die Katzenmutter in Abwesenheit Ulkas sich über den letzten Wurstvorrat hergemacht hatte und für Ulka nichts als eine Kruste trockenen Brotes für den Tag übrigblieb.

Ihre Vorräte hatte diese in den vier Tagen ihrer freiwilligen Verbannung eben bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt, sie mußte in der nächsten Nacht dieselben zu ergänzen suchen und hoffte auch irgendwo bei den Wirtschaftsgebäuden einen Diebstahl an Eßwaren begehen zu können.

Als der Abend aber kaum angebrochen war, legte sie sich wieder auf ihren Lauerposten über dem Eiskeller, und in dieser Nacht sollte sie allerdings Überraschungen genug erleben. Es war vollständig sternenklar, und Ulka, deren Augen an das Spähen im Dunkeln gewöhnt waren, konnte eine ganze Strecke weit sehen, insbesondere wenn sie nach dem hellen Himmel sah, von dem sich alle Gegenstände, wenn auch in undeutlichen Konturen, abhoben.

Sie blickte aufmerksam nach dem Wege, der zum Schlosse führte. Plötzlich aber hörte sie die Tür des Eiskellers leise knarren, und dann entstieg demselben erst eine Persönlichkeit, die ein Mann zu sein schien. Vorsichtig blieb der Mann stehen, blickte sich um und horchte anscheinend aufmerksam und spähte in das Dunkel hinaus. Dann wendete er sich um, und noch zwei Mann kamen aus der Tür heraus. Einzeln dahinschreitend und vorsichtig Zwischenräume zwischeneinander haltend, näherten sie sich dem Schlosse, und zwar in der Richtung auf dessen äußersten linken Flügel zu.

Ulkas Neugier wurde auf das höchste erregt. Was wollten die Männer im Schlosse? Sie beschloß, trotz der Gefahr, in die sie sich begab, ihren Lauscherposten zu verlassen und einen andern einzunehmen. Sie glitt von der Böschung herunter, kroch auf Händen und Füßen eine Strecke weit, um dann flink wie ein Eichhörnchen an einem Baum in die Höhe zu klettern und sich auf einem vorspringenden Ast lang zur Lauer auszustrecken. Ihre Bewegungen waren so gewandt wie die einer Katze; sie schien von der Katzenfamilie, in der sie lebte, vollständig deren Natur angenommen zu haben.

Eine Zeitlang konnte Ulka, die sich jetzt ziemlich in der Nähe des Schlosses befand, nichts sehen; dann entdeckte sie einen Lichtschimmer, der sich in dem Korridor, welcher an der Rückseite des Schlosses entlang ging, bewegte und am äußersten Ende desselben, dort, wo sich die Tür zu dem Zimmer des jungen Fräuleins befand, haltmachte. Dann bewegte sich dieser Lichtschimmer wieder zurück, und bald darauf sah Ulka in jener Ecke wieder einen Lichtschimmer, der indes sofort verlöschte. Wenige Minuten später sah sie die drei Männer aus einer Tür des langgestreckten Schlosses herauskommen und einen dunkeln Gegenstand tragen. Sie verschwanden nach der Richtung des Eiskellers, und nach wenigen Minuten folgte ihnen auf demselben Wege die geheimnisvolle Gestalt, die fast jeden Abend den Weg nach dem Eiskeller nahm.

Ulka blieb auf ihrem Lauerposten, um zu überlegen: Was konnte das gewesen sein? Plötzlich packte sie eine furchtbare Angst. Wie, wenn der dunkle Gegenstand, den die drei Männer da trugen, ein Körper war, in ein Tuch gehüllt, und zwar derjenige Marthas? Denn dort, in der Nähe ihres Zimmers hatte sich der auffällige Lichtschimmer gezeigt.

Die ganze Empfindung des Kindes wurde plötzlich wach, die ganze Zärtlichkeit und Zuneigung, die sie für Martha empfand, wurde in ihr lebendig. Sie achtete nicht darauf, daß sie sich in die fürchterlichste Gefahr begab, sie glitt von dem Baumstamm herab und eilte nach dem Fenster von Marthas Zimmer, das nach dem Park hinausging. Sie klopfte an den Fensterladen, so laut sie es nur wagen konnte, sie flüsterte Marthas Namen durch die Spalten hindurch, sie zischte und fauchte wie eine Katze, um ihre Gegenwart bemerkbar zu machen. Selbst wenn Martha fest geschlafen hätte, mußte sie erwachen; aber nichts bewegte sich, nichts rührte sich.

Zusammengekauert unter dem Fenster sah Ulka noch die geheimnisvolle Gestalt jetzt allein vom Eiskeller wieder nach dem Schlosse zurückkehren. Sie kroch auf Händen und Füßen wieder vom Fenster fort und faßte hinter einem Baume Posto. Sie sah, daß ein Lichtschein wieder den Korridor entlang ging und in dem Zimmer Marthas verschwand; sie sah diesen Lichtschein durch die Ritzen des Fensterladens fallen und wagte sich jetzt, von Angst und Neugier getrieben, heran. Sie glaubte durch die Ritzen die Schloßherrin zu sehen, die in dem Zimmer eine Durchsuchung hielt.

*

Als Martha sich überfallen fühlte, wußte sie genau, wem sie diesen Überfall verdankte. Sie wußte, daß ihre Stiefmutter die Anstifterin war, und machte erst keinen Versuch, zu schreien oder sich zu verteidigen. Sie fühlte, wie mindestens drei Männer sie so fest in Tücher einwickelten, daß sie kaum atmen konnte, dann fühlte sie sich aufgehoben und fortgetragen. Es gab unterwegs einigen Aufenthalt, dann klangen die Schritte der Männer, die sie trugen, lauter und dumpfer, Martha hörte einige Türen gehen, dann wurde sie niedergelegt und ihre Füße wurden mit einem Strick zusammengebunden; ebenso band man ihr die Hände fest zusammen und ließ sie, in die Tücher eingehüllt, unter denen sie kaum Atem holen konnte, liegen. Sie hörte das Herumgehen von Personen, dann hörte sie wieder eine Tür zufallen und dann eine Stimme, in der sie sofort diejenige ihrer Stiefmutter erkannte, welche sagte:

»Ist alles verschlossen und in Ordnung?«

»Ja,« antwortete eine andre Stimme, welche Martha bekannt vorkam, ohne daß sie sich besinnen konnte, wem diese Stimme gehörte.

»Es ist uns geglückt,« sagte Femia; »da liegt die Verräterin. Hier ist der Brief, den sie heute an den Obergrenzkontrolleur geschrieben hat und in dem sie ihm mitteilt, daß sie unser Geheimnis weiß.«

Marthas Herz zuckte krampfhaft zusammen. Ihr Brief war also abgefangen worden und in die Hände ihrer Stiefmutter geraten. Martha ahnte, daß ihr Schicksal besiegelt sei. Sie war verloren und ihr Tod gewiß. Wenn man sie wenigstens rasch sterben ließ und sie nur nicht allzulange quälte! Sie hatte keine Gnade zu erwarten, das wußte sie. Das Geheimnis, das sie besaß, war zu furchtbar, als daß man sie hätte leben lassen sollen.

In demselben Augenblicke aber dachte sie an Otto von Kontala, und ein entsetzliches Weh bemächtigte sich ihrer, so daß ihr die Tränen aus den Augen quollen und sie die Worte nicht verstand, die weiter gesprochen wurden. Erst als eine dritte Stimme wieder, die sie bisher noch nicht gehört hatte, laut geredet hatte, horchte sie auf. Diese Stimme sagte in polnischer Sprache, in der die ganze Unterhaltung geführt war:

»Ich sehe nicht ein, weshalb wir zu dem äußersten Mittel schreiten sollen. Diese Person da ist die Mitwisserin eines Geheimnisses geworden, welches indes noch nicht das größte ist. Diese Person hat vielleicht nur aus Angst einen Verrat begangen, und vielleicht nimmt sie Vernunft an, wenn man mit ihr spricht. Sie wird nahe Angehörige durch einen Verrat nicht ins Unglück bringen und gewiß schweigen, wenn sie in den Bund aufgenommen wird und man sie zur Mitwisserin unsers Geheimnisses macht.«

»Dem widersetze ich mich,« erklärte Femia, »dem widersetze ich mich ganz entschieden. Auf dem Verrat steht nach unsern Satzungen der Tod. Diese Person hat den Verräter machen wollen, sie hat den Tod verdient. Ich überlasse euch die Ausführung des Urteils, ihr werdet von mir nicht verlangen, daß ich meine Hände mit dem Blute dieser Person beflecke. Ich überliefere sie euch ohne Rücksicht darauf, daß sie mir nahesteht, daß sie sich meine Tochter nennt. Ich will euch zeigen, wie heilig mir die Satzungen unsers Bundes sind und der Schwur, den ich auf dieselben geleistet habe. Ich verlange aber auch von euch, daß euch diese Satzungen heilig sind und daß ihr unerbittlich das Urteil an dieser Verräterin vollstreckt.«

Die bekannte Stimme sagte jetzt:

»Mir kommt es aber vor, als wäre es doch gewagt, diese Person aus der Welt zu schaffen; es könnte dies unsrer Sache mehr schaden als nützen.«

»Noch eins kommt hinzu,« sagte die dritte Stimme, »was mich bedenklich macht, um hier ein Todesurteil zu sprechen. Diese Person hat keinen Verrat gespielt in dem Sinne, in dem unsre Satzungen den Verrat mit dem Tode bedrohen. Sie war noch nicht eingeschworen, sie gehörte noch nicht zu uns, und so hat sie denn auch die Todesstrafe nicht verdient, weil sie nur zufällig in den Besitz des Geheimnisses gekommen ist. Freigeben können wir sie aber nicht, denn ein Wort, von ihr gesprochen, bringt uns alle ins Unglück. Es muß irgend etwas geschehen, um sie unschädlich zu machen, aber ich stehe nicht an, zu erklären, daß ich mich weigere, meine Hände mit Blut zu beflecken, und daß ich es nicht dulden werde, daß an dieser Person selbst eine Gewalttat verübt wird. Ihr, Pique-Aß, habt noch vor wenigen Wochen hier dagegen geeifert, daß Blut vergossen würde. Ihr wart außer Euch über den Waffengebrauch unsrer Freunde aus der Herzkarte gegen die Offizianten, und heute verlangt Ihr selbst den Tod dieser Person da, die zufällig hinter unser Geheimnis gekommen ist? Bei Gott, ich diene meinem Vaterlande und der Sache, der ich geschworen habe, aber ich bin auch ein Christ und ein Mensch! Aber ich will Euch etwas andres sagen: Diese Person hier muß gefangengehalten werden. Vorläufig kann sie hierbleiben; wir werden aber Mittel und Wege finden, sie über die Grenze zu schaffen und zu guten Freunden zu bringen, von denen ein Entkommen unmöglich ist.«

»Ich befehle euch,« entgegnete Pique-Aß, »diese Person unschädlich zu machen, sei es, wie es wolle; ich befehle es euch kraft meiner Stellung unter euch!«

»Und ich,« erklärte die dritte Stimme, »erhebe Widerspruch gegen Euern Befehl und appelliere an die größere Versammlung, welche von den Eingeschworenen hierher zusammenzuberufen ist. Ihr wißt, daß bei Streitigkeiten oder Uneinigkeit zwischen Pique-Aß, Pique-König und Pique-Ober alle die Führer, die nach der Piquekarte die Namen führen, zusammenzuberufen sind, und ich beantrage, morgen in aller Frühe diese Führer einzuberufen und morgen, sobald es dunkel geworden ist, sie hier zu versammeln, um über das Schicksal dieser Gefangenen da zu beraten. Sie ist hier in sicherer Obhut und kann uns nicht entgehen. Wir werden sie morgen zwingen, einen Eid zu leisten, und können sie dann über die Grenze schaffen. Zurück können wir nicht mehr, wir müssen vorwärts gehen. Ich erkläre aber noch einmal, daß ich meine Hände nicht zu der Sache geboten hätte, hättet Ihr mir, Pique-Aß, vorher gesagt, daß es sich um einen Blutakt handelt.«

»Ich muß mich euch fügen,« sagte Femia. »Gut, ich will der Versammlung die Entscheidung wegen der Person überlassen. Ich habe allerdings nicht geglaubt, in meinen beiden besten Stützen Gegner zu finden. Doch sei dies, wie es wolle, ich bin es ja in der letzten Zeit gewöhnt, überall auf Ungehorsam zu stoßen. Morgen abend gegen zehn Uhr findet hier die Versammlung statt. Sorgt dafür, daß um keinen Preis die Gefangene sich befreien kann; ihr werdet dafür bürgen, daß sie nicht entflieht und daß niemand zu ihr kommt, außer Eingeweihten.«

Man hörte eine Tür zufallen, dann schienen nur die beiden Männerstimmen allein zu sein, und einer von ihnen sagte:

»Geht und ruft den Wächter und seine Frau. Die Frau soll hier Aufenthalt bei der Gefangenen nehmen und mit ihrem Manne abwechselnd bei ihr wachen!«

Eine Person schien sich zu entfernen und die andre näherte sich Martha und nahm ihr das Tuch vom Kopf.

Sie sah vor sich ein Gesicht, das mit einer Halbmaske bedeckt war, und eine Männerstimme sagte:

»Es liegt in Euerm Interesse, Fräulein, nicht zu schreien. Es hört Euch niemand. Es ist eine Unmöglichkeit, daß Eure Stimme von jemand vernommen werden sollte, der Euch nicht hören soll oder Euch Hilfe bringen könnte. Wenn Ihr aber schreit, so würde man Euch wieder das Tuch über den Mund binden müssen, und es scheint Euch dies nicht zu behagen. Verhaltet Euch ruhig und bewegt Euch nicht von der Stelle, denn auch diese Versuche wären vergeblich; Ihr seid mit den Stricken, die Eure Füße und Hände binden, gleichzeitig auch an Pfosten festgebunden, und Ihr könnt Euch nicht fortbewegen. Habt Ihr unsre Unterredung gehört?«

»Ja,« sagte Martha.

»Ihr wißt also, was Euch bevorsteht,« sagte der Maskierte, »und ich möchte Euch doch vorschlagen, Euch in aller Ruhe zu überlegen, ob es nicht besser ist für Euch, den Eid des Schweigens zu leisten und Euch bei uns aufnehmen zu lassen. Ich weiß, Ihr seid eine fromme Christin und im Kloster erzogen. Wenn Ihr uns einen furchtbaren Eid schwören würdet, so glaube ich, Ihr würdet ihn halten. Ihr würdet durch diesen Eid Euch selbst und uns aus einer schlimmen Lage befreien. Ihr hörtet, ich sprach für Euch; ich bin nicht für Gewalt; aber es könnte sein, wenn Ihr Euch weigert, den Eid zu schwören, daß andre Leute nicht so gesinnt sind wie ich, sondern für Euern Tod stimmen, und ich könnte ihn dann nicht verhindern. Der Himmel hat es gewollt, daß Ihr in den Besitz eines schweren Geheimnisses gelangt seid, das Euch in große Gefahr und Not bringen kann; überlegt es Euch daher, ob es nicht besser ist, zu schwören und zu schweigen, als hartnäckig alles zu verweigern. Ich will jetzt von Euch keine Erklärung; ich sage Euch, ich bin Euer wohlmeinender Freund; mir würde das Herz bluten, wenn man Euch Gewalt antun sollte, wenn man Euch töten müßte, aber ich könnte nichts gegen die Mehrzahl der Stimmen in der Versammlung, die hier abgehalten wird, und müßte meinen Schwur halten. Überlegt es Euch wohl und betet zu Gott, damit er Euch erleuchte. Wollt Ihr Euch ruhig verhalten?«

»Ja,« sagte Martha.

»Nun,« erklärte der Maskierte, »Ihr tut wohl daran. Überlegt Euch noch einmal alles; Ihr habt Zeit dazu. Und wenn Ihr etwas braucht, wenn Ihr trinken oder essen wollt, so wendet Euch an die Leute, die hier in dem Raume sein werden. Habt keine Furcht, daß man Euch etwa vergiftet; Ihr steht hier unter meinem Schutze, und ich lasse Euch kein Haar krümmen, denn ich hoffe, Ihr werdet die Unsre, und dann ist alles erledigt.«

Der Maskierte erhob sich und entfernte sich unter Mitnahme des Lichtes, und Martha war einen Augenblick allein in vollständiger Finsternis.

* * *

 


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