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Seit dem Jahre 1821 begannen sich in Polen geheime Gesellschaften zu bilden, deren deutlich ausgesprochener Zweck der war, dem ehemaligen Königreich Polen seine Selbständigkeit wieder zu geben. Im Jahre 1818 war durch den Wiener Kongreß Polen unter die Botmäßigkeit Rußlands geraten, und unter dem Namen »Zarentum Polen« eine Provinz Rußlands, allerdings mit einer eignen Verwaltung und Verfassung, geworden.

Die Polen waren mit diesem Lose, insbesondere mit dem Reichstag, durch den sie regierten, sehr wohl zufrieden, um so mehr, als Zar Alexander zu seinem Stellvertreter und gewissermaßen zum Regenten einen alten polnischen General ernannte. Als aber im Jahre 1818 die neu beratene Verfassung wirklich in Kraft treten sollte, zeigte es sich, daß Zar Alexander keineswegs geneigt sei, den Polen allzuviel Freiheit zu gewähren. Er ernannte seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, zu seinem Stellvertreter an Stelle des polnischen Generals. Die öffentlichen Ämter und alle wichtigsten Stellen im Staate wurden mehr und mehr mit Russen besetzt, die Zensur wurde wieder eingeführt, und die Polen erkannten im Laufe einiger Jahre deutlich, daß man darauf ausgehe, sie einfach zu russischen Untertanen zu machen.

Daraufhin wurden, wie bereits erwähnt, im Jahre 1821 die ersten geheimen Gesellschaften gegründet, durch welche die Befreiung Polens von dem russischen Joch bewerkstelligt werden sollte. Die russische Regierung schritt allerdings mit aller Energie gegen diese geheimen Gesellschaften ein, konnte aber nicht verhindern, daß sich dieselben mehr und mehr ausbreiteten, und das erste Resultat der Agitationen dieser geheimen Gesellschaften war die Erhebung des polnischen Volkes im Jahre 1830, welche so viel Ströme Blutes auf polnischer und auf russischer Seite kosten sollte. Nachdem aber diese Revolution niedergeschlagen war, starben die geheimen Gesellschaften noch lange nicht aus. Sie verlegten nur ihre Tätigkeit jenseits der Grenze, nach Frankreich und vor allem in das benachbarte polnische Preußen, das heißt in jenen Anteil der preußischen Monarchie, welcher von einer Polnisch sprechenden Bevölkerung bewohnt war und sich in jener Zeit stets als zugehörig zu dem großen polnischen Vaterlande betrachtete.

Insbesondere, und wie immer in Polen, stellten sich die Adeligen an die Spitze dieser Verschwörungen. Sie allein waren hauptsächlich eingeweiht, sie allein berieten über den Zeitpunkt, an welchem gegen die Russen losgeschlagen werden sollte. Sie waren die geborenen Führer aller Aufstände und verlangten von dem Volke nichts als opfermutige Heerfolge, wenn es sich um das Vaterland handelte.

Das niedrige polnische Volk hat auch diese Voraussetzung seiner Adeligen nie getäuscht. Mit einem Heroismus, der ihm die Bewunderung der ganzen zivilisierten Welt während jener Revolutionen eintrug, hat der gemeine polnische Mann stets seinem adeligen Herrn Heerfolge geleistet, wenn es galt, das Vaterland zu befreien.

Die Revolution vom Jahre 1830 hatte Polen nicht bloß Blut, sondern auch Gut gekostet. Das Land war ruiniert, die Adeligen waren teils getötet, teils verbannt, ihre Güter eingezogen, fast ausnahmslos waren sie verarmt und zu Bettlern geworden. Zu Verschwörungen aber gehört Geld, insbesondere wenn im geheimen agitiert werden soll, und deshalb wurde es notwendig, um jeden Preis dieses Geld zu beschaffen.

An der preußischen Grenze, vom Norden bis dorthin, wo die österreichische Grenze bei Myslowitz mit der preußischen und russischen in einem Punkte zusammenstößt, ebenso aber auch an der österreichischen Grenze wurde der Schmuggel organisiert, in einer Weise, die bewundernswert war.

Der Schmuggel ist sehr einträglich, und die Agitationskomitees der polnischen Propaganda machten den Schmuggel politischen Zwecken dienstbar, sie stellten den Schmuggel gewissermaßen in den Dienst des unterdrückten polnischen Vaterlandes, und brachten es fertig, die unteren Klassen der Bevölkerung, welche sowieso dem Schmuggel geneigt waren, diese Gesetzesübertretung aus Patriotismus begehen zu lassen.

Daher diese geheime Organisation der Schmuggler unter »Pique-Aß«, wie wir sie bisher geschildert haben, daher diese eigentümliche, straffe Disziplin, daher das Geheimnis und die Unbekanntheit der Oberen.

Der alte Branitzki, der Vater Femias, ein begeisterter polnischer Patriot und Parteigänger, eines der Hauptmitglieder des Agitationskomitees auf preußischer Seite, war auf Befehl dieses Komitees der Organisator des Schmuggels an der Liswartha geworden. Um sich gegen Entdeckung zu schützen, hatte er das Geheimnis mit den Karten gewählt. Er war »Pique-Aß«, er war nur den nächsten Eingeweihten bekannt, welche wiederum die Schmuggler in Dienst und Pflicht nahmen und sie zur Geheimhaltung und zu energischer Tätigkeit im Namen des Vaterlandes engagierten.

Von ihren reichlichen Einkünften mußten die Schmuggler laut Bundesstatuten einen Teil abgeben, um daraus einen Fonds für die Agitationskasse zu bilden. Der alte Branitzki indes nahm keinen Pfennig von dem durch den Schmuggel verdienten Gelde, trotzdem ihm Geld dringend notgetan hätte, und obgleich er den fünffachen Anteil erhielt.

Man vergegenwärtige sich, daß der Schmuggel in jenen Gegenden überhaupt nicht für ein Verbrechen, sondern gewissermaßen für eine Art Notwehr gegen die Zollgesetze der Nachbarstaaten gilt, daß aber dieses Vergehen, welches von der Masse von Verschworenen verübt wurde, gewissermaßen einen idealen Hintergrund dadurch bekam, daß man es um des Vaterlands willen beging. Die Schmuggler trieben ja ihr Handwerk in erster Linie um des eignen Verdienstes willen, denn das, was sie an die gemeinsame Revolutionskasse abzugeben hatten, war nur ein geringer Bruchteil dieses Verdienstes, aber sie besaßen doch einen moralischen Zusammenhang, etwas, was sie verband und zusammenschweißte, was sie veranlaßte, fest zusammenzuhalten, und das war das gemeinsame Streben für die Befreiung des Vaterlandes, die Bekundung eines Patriotismus, der ihnen selbst von der Kanzel herab als das Höchste und Erstrebenswerteste gepriesen wurde.

Der alte Branitzki besaß eine einzige Tochter, Femia, welche sich so recht als ein Produkt der Verhältnisse entwickelte, in denen sie aufwuchs. Ihre Mutter hatte sie früh verloren, die Schulbildung, die sie erhielt, war nur eine notdürftige, und so wuchs sie denn auf ohne weibliche Aufsicht, ohne die zarte Leitung einer Frauenseele, sich körperlich und geistig voll entwickelnd, aber ebenso ungehindert und unbändig sich entwickelnd in bezug auf ihren Charakter.

Wir sehen selbst – wenn der Vergleich überhaupt passend ist – unsre seit Jahrhunderten gezähmten Haustiere in kurzer Zeit verwildern, sobald sie sich der Aufsicht des Menschen entziehen. Noch viel leichter geschieht aber das Verwildern eines Menschencharakters, der ohne Aufsicht sich entwickelt, dessen Leidenschaften wilde und üppige Triebe zeitigen, gleich einem Baum, welcher ohne die Aufsicht eines Gärtners heranwächst und sich ganz nach Belieben entwickelt, ohne daß eine sorgende Hand ihm die Bahn der Entwicklung anweist.

Der alte Parteigänger Branitzki hätte es natürlich lieber gesehen, wenn er einen Sohn gehabt hätte, den er zum Erben und Träger seiner Ideen hätte machen können, aber er fand einigermaßen Ersatz in der Tochter, die sich als ein schönes Weib mit einer Mannesseele zu entwickeln schien, deren Charakter leidenschaftlicher, wilder und energischer zu sein schien als der eines Mannes, und welche begierig und mit der ganzen Glut des leidenschaftlichen Weibes den Haß gegen die Unterdrücker in sich aufnahm, die der Vater ihr beibrachte.

Als Femia noch ein halberwachsenes Mädchen war, wurde sie bereits die Vertraute ihres Vaters, die Mitwisserin aller seiner Geheimnisse. Sie war die Mitwisserin der fürchterlichsten Geheimnisse und, trotzdem sie ein Weib war, die verschwiegenste Mitwisserin.

Sie lernte unter der Hand die Leute kennen, die mit ihrem Vater zusammen die geheimen Oberhäupter der Schmuggler bildeten, und als ihr Vater plötzlich starb und die Oberhäupter der Schmuggler es schwer empfanden, ohne Lenker und Leiter dazustehen, da trat zu ihrem Erstaunen Femia von Branitzka, das junge Mädchen, vor sie hin und erklärte ihnen, ihr Haupt und Führer sein zu wollen.

Die Unterführer, welche aus den intelligenteren Elementen der Bevölkerung bestanden, fühlten sich hingerissen von der leidenschaftlichen, patriotischen Begeisterung dieses schönen Weibes, nahmen sie willig zu ihrem Führer an und hatten dies auch nicht zu bedauern, denn Femia nahm sich des geheimen Unternehmens mit einer Energie an, die wirklich in Erstaunen setzen mußte.

Für geheime Anschläge, für das Ausspionieren und für das Anlegen von Intrigen ist ja auch niemand geeigneter als ein Weib, und so sahen die Häupter der Schmuggler bald ein, daß sie an ihrem neuen Führer eine vorzügliche Akquisition gemacht hatten. Die unteren Schmuggler, das gewöhnliche Volk, wußten ja nicht einmal, daß ein Wechsel in der Führerschaft stattgefunden hatte, es merkte nur, daß die Unternehmungen wuchsen, daß immer kühnere Unternehmungen von ihrem geheimnisvollen Führer »Pique-Aß« geplant wurden, und es ergriff sie ein Grauen und eine scheue Verehrung vor dieser geheimnisvollen Person, welche die kühnsten Unternehmungen mit solcher Geschicklichkeit anlegte, daß sie glücken mußten.

Aber Femia von Branitzka fühlte sehr wohl, daß ihre Stellung auf die Dauer unhaltbar werden würde, deshalb suchte sie eine Anlehnung, einen Hinterhalt, auf den sie sich stützen konnte, und sie beschloß, ohne weiteres ihren Nachbarn Sembitzki zu heiraten. Mit der ihr eigentümlichen List und Energie setzte sie diese Heirat ins Werk, und von jetzt ab hatte sie erst recht freie Hand, von jetzt ab mußte um so mehr jeder Verdacht von ihr schwinden, weil niemand annehmen konnte, daß die Schloßherrin von Katzenberg, die Frau des geachteten Sembitzki, der geheime Führer der Schmuggler, »Pique-Aß« sei.

Es war um so nötiger, das Geheimnis streng zu wahren, als in den letzten Jahren die Behörden sich energisch gegen das Überhandnehmen des Schmuggels wehrten, mehr und mehr Beamte an die Grenze schickten, und insbesondere in Otto von Kontala die Schmuggler einen Gegner erhielten, der keineswegs zu unterschätzen war, und der trotz des Geheimnisses und trotz ihrer straffen Organisation den Schmugglern viel Schaden tat und die einzige Persönlichkeit zu sein schien, die geeignet war, dem kühnen »Pique-Aß« die Wege zu verlegen und seine Pläne zu durchkreuzen.

*

Einsam und still lag am Abend das Ufer des Liswartha, des Grenzflusses. Zu beiden Seiten zog sich der Wald gewissermaßen vom Flusse zurück, und nur Wiesen umschlossen denselben, von welchen jetzt, bei Beginn der Dunkelheit, feuchte Nebel aufstiegen. Hin und wieder hörte man das Schreien eines Nachtvogels vom Walde herüber, sonst war es ruhig, und die Szenerie, einsam schon an und für sich, wurde durch nichts belebt. Weidengebüsch stand dicht am Ufer und auch auf den Wiesen, jedoch nur vereinzelt, so daß ein ziemlich freier Überblick über das Gebiet diesseits und jenseits des Flusses ermöglicht blieb.

Auf der preußischen Seite, etwas entfernt von der Lisiere des Waldes, schlichen mit der Vorsicht, wie sie sonst nur dem Jäger eigen ist, der sich an das Wild heranpirscht, drei Leute welche sich einen günstigen Punkt auszusuchen schienen, um das Terrain vorn nach Möglichkeit zu übersehen. Sie trugen Uniformmäntel, und die Büchsen in ihren Händen verrieten, daß es Steuerbeamte seien. In der Tat machte hier Otto Günther, der neue Assistent des Oberkontrolleurs, seine ersten praktischen Studien unter der Anleitung zweier älterer Grenzaufseher, welche spät und auf Umwegen, mit Vermeidung des Dorfes Losachew, ihn in den Wald geführt hatten, um ihn an einer Stelle zu postieren, von wo aus wahrscheinlich ein Überblick über die anrückenden Schmuggler möglich sein würde.

Weiter oberhalb und unterhalb befanden sich ebenfalls Posten, von denen der stärkste unterhalb Günthers und seiner beiden Leute unter der Führung des Oberkontrolleurs selber stand.

Die drei Beamten hatten endlich ein Versteck gefunden, das aus einer umgestürzten Fichte bestand, deren durch Erde verbundene Wurzeln mit Moos bewachsen waren und eine Art Schirm bildeten. Hier konnte abwechselnd einer der Beamten neben Günther sitzen, während der zweite ausspähte. Hin und wieder machte der Ausguck haltende Beamte indes eine Patrouille nach rückwärts, wo zwei andre Grenzbeamte aufgestellt waren, welche verhindern sollten, daß eine gleiche Überraschung durch die Schmuggler stattfand, wie beim letztenmal, als durch Verrat der ganze mühsame Plan der Steuerbeamten zunichte geworden war.

Dichter wurden die Nebel, welche aus den feuchten Wiesen aufstiegen, von oben herab senkte sich die Dunkelheit mehr und mehr hernieder, bis Nebel und Dunkelheit in ein unbestimmtes Etwas zu verschwimmen schienen, in welchem jedoch das Auge immerhin noch undeutliche Umrisse erkannte, wenn es sich längere Zeit an die Dunkelheit gewöhnt hatte.

Länger als eine Stunde mochten die Beamten hinter dem schirmartigen Versteck gelauscht haben, als einer derselben leise Günther zuflüsterte:

»Da drüben kommt der erste der Schmuggler.«

Auf der russischen Seite des Ufers sah man einen Mann mit einem großen Ballen auf dem Rücken am Fluß entlang gehen, als mache er dort einen Spaziergang. Es schien ihm nicht im geringsten darauf anzukommen, sich zu verbergen, und unwillkürlich fragte Günther, der darüber erstaunt schien:

»Was will der Mann? – Ist er so dumm, daß er sich nicht versteckt, oder zeigt er sich absichtlich?«

»Absichtlich!« sagte einer der Beamten; »die Schmuggler wiederholen immer dasselbe Manöver.«

Der Mann machte Anstalten, den Fluß zu durchwaten, und Günther fragte ungeduldig:

»Sollen wir ihn gefangennehmen?«

»Nein, Herr Assistent,« sagte einer der Beamten lächelnd, »damit würden wir den Schmugglern einen großen Gefallen erweisen. Weder diesen Mann noch die darauffolgenden Gruppen pflegen wir zu beachten. Sie würden sich schön freuen, wenn ihnen ihre List gelänge. Der Mann, der so auffällig dort an der Grenze weilt und jetzt an vier oder fünf Stellen hintereinander den Übergang versuchen wird, hat in seinem Ballen ganz unschuldige Waren, nämlich Heu, welches nicht einmal einer Steuer unterliegt. Wenn er endlich den Fluß überschreitet und von uns abgefangen würde, so hätten wir absolut keinen Fang gemacht, unsre Stellung aber den Schmugglern verraten. Geben Sie acht, da kommt der Vortrupp!«

Der Mann da drüben hatte in der Tat jetzt das Grenzflüßchen durchwatet, hatte dann noch absichtlich am Ufer des Flusses auf preußischer Seite sich gezeigt und war dann stromaufwärts weitergegangen.

Auf der russischen Seite näherten sich jetzt drei Gestalten, ebenfalls mit Packen versehen, welche jedoch, obgleich geflissentlich bemerkbar, Deckung hinter dem Weidengebüsch suchten.

Die Dunkelheit war so hereingebrochen, daß man nur mit aller Anstrengung noch beobachten konnte, wenn sich die drei Gestalten von einem Busch ablösten und vorsichtig weitergingen. Auch sie überschritten nach einigem Zögern den Grenzfluß und gingen ziemlich direkt auf das Versteck der drei Beamten los.

»Das ist der Vortrupp,« erklärte einer der Grenzaufseher. »Diese Leute haben bereits steuerpflichtige Waren bei sich, aber wir beachten sie ebensowenig wie den ersten, denn der Fang, den wir machen würden, wäre verschwindend klein gegen denjenigen, den wir machen können, wenn wir sie ignorieren. Es kommt jetzt, kaum in einer halben Stunde, der Haupttrupp, welcher durch Zwischenposten davon unterrichtet ist, ob die drei ungehindert passiert sind. Würden diese drei Leute da angehalten, so nähme der Haupttrupp sofort eine andre Richtung oder ginge hier an derselben Stelle über die Grenze, während wir die drei Leute verfolgten, festnähmen und forttransportierten!«

Die drei Schmuggler durchwateten ebenfalls den Grenzfluß und schlugen auf preußischer Seite die Richtung stromabwärts ein. Sie kamen ziemlich dicht sogar an dem Versteck der drei Beamten vorüber, welche sich so regungslos als möglich verhielten.

Günther konnte zwar sich kaum zügeln. Es schien ihm unerhört, die drei Schmuggler nur wenige Schritte entfernt an sich vorübergehen zu lassen und zu dulden, daß eine Ungesetzlichkeit geschah, die er hätte verhindern können; aber er mußte sich allerdings sagen, daß es klüger sei, diese drei laufen zu lassen, welche nicht einmal wertvolle Waren bei sich hatten, als den Haupttrupp zu alarmieren, welcher nach Angabe der Grenzaufseher jetzt bald erscheinen mußte.

Eine halbe Stunde verging wohl, während welcher sich nichts Auffallendes zeigte. Plötzlich hörte man unterdrücktes Gewieher eines Pferdes von jenseits des Flusses, und unwillkürlich flüsterte einer der Grenzaufseher:

»Sie sind heut zu Pferde.«

»Zu Pferde?« fragte erstaunt Günther.

»Ja,« sagte der Grenzaufseher, »wenn sie besonders kostbare Ladung haben, dann sind sie zu Pferde, um eventuell flüchten zu können und die Waren zu retten. Der beste Teil derselben befindet sich dann auf Pferden, welche von einzelnen Reitern eskortiert werden; zwischen diesen Pferden sind aber auch Schmuggler zu Fuß mit minderwertigen Packen verteilt. Der Haupttrupp scheint direkt auf uns zukommen zu wollen.«

Noch einmal tönte jetzt das Wiehern. Einen leisen Pfiff ließ einer der Grenzaufseher ertönen, der von rückwärts erwidert wurde. Es war das Zeichen, daß die Posten stromaufwärts und stromabwärts vom Nahen der Schmuggler avertiert werden sollten.

Für Günthers Erwartung viel zu lange dauerte es, bis sich endlich ein Plätschern und Rauschen im Wasser hören ließ. Dann sah er durch die Dunkelheit eine dichte Masse sich herüberbewegen: die Schmuggler, welche einzeln das Wasser passierten und auf der preußischen Seite sofort ihren Weg stromaufwärts nahmen, sich immerfort dicht am Ufer haltend. Plötzlich jedoch bogen sie wie auf Kommando quer über die Wiese und auf den Wald zu, weil dieser ihnen ja den allerbesten Schutz gegen jeden Überfall bot.

Da tönte von rechts ein lautes »Halt!« und unmittelbar darauf ein Schuß.

Günther hatte sich erhoben und war mit schußfertigem Gewehr aus dem Walde hervorgesprungen. Auch er rief ein donnerndes »Halt!« und hob die Büchse, um zu schießen, aber in diesem Augenblicke krachten fünf bis sechs Schüsse aus den Reihen der Schmuggler, und mit einem Schrei brach Günther zusammen.

Auch zur Linken gab jetzt die Abteilung der Steuerbeamten, die unter Kontalas Befehl stand, Feuer, und ebenso die beiden Grenzaufseher, welche neben dem verwundeten Günther standen, feuerten rasch hintereinander ihre Büchsen ab. Aber auch die Schmuggler waren mit der Antwort nicht faul. Anscheinend hatten sich diejenigen von ihnen, welche bewaffnet waren, zu Boden geworfen und eröffneten ein ganz tolles Feuer nach dem Wald und nach der Gegend, wo die Schüsse aufblitzten, während die mit Pferden und Packen versehenen sofort über den Fluß zurückgingen. Es lag ihnen anscheinend nicht daran, mit Gewalt durchzudringen, sondern sich gegen die Fortnahme ihrer kostbaren Ware zu schützen.

Die russischen Posten, welche jenseits des Flusses standen, schienen sich nicht im mindesten um dieses Gefecht zu kümmern. Die Schmuggler erreichten unbehindert wieder russisches Gebiet, und ihnen nach zogen sich mit aller Geschwindigkeit die Bewaffneten, welche sich genau wie eine abziehende Militärtruppe verhielten. Die Schulung der Schmuggler war fast eine musterhaft militärische zu nennen.

Durch Signale mit der Trillerpfeife wurden die Steuerbeamten vereinigt, welche nicht einmal den Triumph hatten, irgendeinen der Gegner verwundet zu haben, denn obgleich die Wiese sofort abgesucht wurde, fand man nicht die geringste Spur von Verwundeten oder von verlorenen Packen. Dagegen war einer der Grenzaufseher durch einen Schutz leicht gestreift und Günther durch die Brust geschossen und, wie es schien, sehr schwer verletzt. Der junge Mann, welcher zu eifrig in seinem Dienste war, hatte sich die Verwundung selbst zuzuschreiben, weil er sich ohne alle Deckung hinaus ins Freie begeben hatte und die aufleuchtenden Schüsse ihn den Gegnern wie eine Zielscheibe zeigen mußten.

Auf der andern Seite war es aber sehr tragisch, daß der junge Mann, der kaum einige Tage im Dienst war, gleich solches Unglück haben mußte. Vielleicht handelte es sich für ihn um Leben und Tod, denn die Verletzung schien eine sehr schwere zu sein.

Es galt jetzt, vor allem die Verwundeten unterzubringen, und Kontala befahl, aus Zweigen eine Tragbahre zusammenzubinden, auf welcher Otto Günther fortgeschafft werden sollte. Es wurden einige Mäntel auf die zusammengelegten Zweige gebreitet, der Verwundete vorsichtig daraufgelegt, und dann ging der Marsch nach Losachew zurück.

Kontala überlegte noch, ob er den Verwundeten vielleicht im Dorf in einem Hause unterbringen könne, das schien ihm aber doch zu gefährlich, und nach kurzem Besinnen entschloß er sich, ihn nach Schloß Katzenberg zu bringen, wohin er auch den Zug dirigierte.

Langsam ging der Zug durch die Nacht. Die Träger mußten sehr darauf achten, nicht zu fallen und über Baumwurzeln zu stolpern, und es war daher wohl schon längst zehn Uhr vorüber, als man sich dem Schloßgehöft näherte. Kontala schritt dicht neben dem Verwundeten, über den er sich hin und wieder neigte, um zu hören, ob er noch lebe, oder um zu sehen, ob der Notverband, der ihm von einem sachverständigen Mitbeamten angelegt worden war, noch halte und nicht eine neue Blutung eingetreten sei.

Sonst aber dachte er mit großer Konsequenz an Schloß Katzenberg und an eine bestimmte Person; er dachte daran, wie leicht ihn ebensogut die Kugel hätte treffen können, welcher sein junger Mitbeamter heut zum Opfer fiel, er dachte daran, was wohl geschehen würde, wenn man ihn schwer verwundet oder sterbend nach dem Schlosse brachte, und wenn dann vielleicht das junge Mädchen ihn sterbend finden sollte, das mit ihm zusammen schon einmal in so großer Gefahr gewesen war, und welches ihm damals durch ihre Teilnahme, durch ihre ungeheuchelte, rührende Teilnahme so wohlgetan hatte.

Der ernste junge Mann, der gerade in diesem Augenblick, nach dem unglücklichen und höchst gefährlichen Gefecht mit den Schmugglern, keineswegs zum Schwärmen geneigt sein konnte, wunderte sich über sich selbst, wunderte sich über seine Gefühle und über den törichten Gedanken, wie glücklich er sein würde, jetzt sterbend nach Schloß Katzenberg gebracht zu werden, wie glücklich, weil vielleicht ihm dann Martha dieselbe rührende Teilnahme widmen würde, die er schon einmal empfunden und gesehen.

In tiefer Stille lag das Schloßgehöft. Vergebens war das Klopfen an dem Tor, da man wegen der Krankheit des Hausherrn in dem Gehöft keine Hunde hielt, welche nachts hätten alarmieren können. Die Beamten waren daher gezwungen, einen Umweg an der Parkmauer entlang bis zu dem Teil des Waldes zu nehmen, welcher nur durch ein Gittertor von dem äußersten Teil des Schloßparkes getrennt war. Das Gittertor war ebenfalls geschlossen, aber es gelang einem Beamten, welcher es überstieg, dasselbe von innen zu öffnen, da es sich nur um einen mit einem Lederriemen befestigten und vorgesteckten Pflock handelte.

Alle diese Manipulationen waren aber in größter Dunkelheit vorgenommen und verursachten deshalb sehr viel Aufenthalt und Umständlichkeiten. Endlich näherte man sich durch den Park dem Schloß von der Rückseite, und Kontala überlegte, was er wohl zu tun habe, um möglichst wenig Schrecken und Aufregung bei den Schloßbewohnern zu verursachen. Daß er dabei vornehmlich an eine einzelne Person, an Martha, dachte, und daß diese nicht erschreckt würde, schien ihm selbstverständlich.

*

Mit gerungenen Händen ging Martha in ihrem Zimmer auf und ab. War es doch, als sollte sie in diesem Raum keine Ruhe finden. Vom ersten Augenblick an, in welchem sie ihn betreten, in welchem sie glaubte in den Frieden und in die Ruhe des Vaterhauses zu kommen, war dieses kleine Gemach ein Ort des Schreckens und der Angst für sie geworden, und jetzt ging sie auf und ab, verzweifelt über das Schicksal, das sie betroffen hatte, außer sich über das Geheimnis, welches sie zu töten drohte. Ihre Stiefmutter, die Gattin ihres Vaters, war das Haupt einer Verbrecherbande, welche den Schrecken der Umgegend bildete; ihre Stiefmutter war die Führerin einer Verbrechergesellschaft, der es selbst auf Mord und Totschlag nicht ankam. Aber noch mehr! Die Gattin ihres eignen Vaters war die Todfeindin des Mannes, den Martha liebte.

Sie wußte es jetzt, daß sie ihn liebte, sie wußte es, seitdem ihr der furchtbare Gedanke gekommen war, dieser Mann, der so unerschütterlich seine Pflicht tat, in der fürchterlichsten Gefahr schwebte, indem er ahnungslos und freundschaftlich mit der Führerin seiner Todfeinde verkehrte, ihr, ohne es zu ahnen, seine Geheimnisse verriet, ihr sich offen und ehrlich auslieferte, die nach Marthas Ansicht nach seinem Leben trachtete. Hatte nicht Otto von Kontala in jenem Augenblick, als die Kugel durch den Wagen sauste, die für ihn bestimmt war, ausgerufen: »Das ist eine Überraschung von Pique-Aß!« Mußte sie nun nicht glauben, ihre Stiefmutter habe keinen andern Zweck, als diesen ihren Hauptgegner aus der Welt zu schaffen? Gewiß mußte ihr nach Marthas Ansicht daran liegen, sich von ihm zu befreien, der ihrer geheimnisvollen Tätigkeit so viele Hindernisse in den Weg legte, der darauf ausging, den Schmuggel in jener Grenzgegend vollständig auszurotten.

Wie hatte Martha gezittert bei dem Gedanken an die unendliche Gefahr, in der dieser Mann schwebte, für den sie sich interessierte, und wie war ihr dann der Gedanke gekommen, daß sie alles, selbst mit Aufopferung ihres Lebens, aufbieten müsse, um ihn zu retten! Dann war ihr überraschend der überwältigende Gedanke gekommen, daß das wohl Liebe sei, was sie für den Mann empfand, der im Hause ihres Vaters verkehrte wie ein Gastfreund, ohne zu ahnen, daß er sich in der Höhle des Löwen befand, daß er sich täglich hier, wo er sich am sichersten glaubte, den schlimmsten Gefahren aussetzte.

Martha hätte kein Weib sein müssen, wenn sie nicht ein tiefgehendes Interesse gefaßt hätte für diesen von Gefahren umgebenen Mann, für den mutigen Menschen, der mit Aufopferung seiner selbst die ihm obliegenden Pflichten erfüllte, für den ersten Mann, der ihr entgegengetreten war, seitdem sie aus der Abgeschiedenheit des Klosters in die Welt getreten war. Gewiß, sie ahnte es, daß das Liebe sei, was sie für ihn empfand. Ihr Herz dachte nicht daran, ob er sie wieder liebe, sie wußte nur, daß das Bewußtsein dieses Gefühls sie aus dem unmündigen Kinde zum Weibe gemacht hatte, sie zur Löwin gemacht hatte, die bereit ist, das Kostbarste, das sie besitzt, zu verteidigen mit Aufgebot aller Kräfte, und jetzt ging sie umher, die arme Löwin, gebrochen und verzweifelt, und konnte die Mittel nicht finden, die sie finden wollte und finden mußte, um den Geliebten zu retten. Jeder Schritt, den sie zu tun gedachte, schien ihr unmöglich. Wenn sie ihn warnte, so lächelte er wahrscheinlich, wenn sie ihm nicht das ganze Geheimnis verriet. Und tat sie es, was geschah dann mit ihrer Stiefmutter? Sie wurde verhaftet, sie wurde öffentlich zur Verbrecherin gestempelt, und die Ehre ihres Vaters, die Ehre des Namens, den auch Martha trug, war für immer verloren. Gewiß ahnte ihr kranker und, wie es schien, geistig geschwächter Vater absolut nichts von dem verbrecherischen Treiben seiner Gattin; wenn er plötzlich einen Einblick in das entsetzliche Geheimnis erhielt, so tötete ihn gewiß der Schreck. Und doch konnte Martha nicht schweigen. Sie sagte sich, daß sie mitschuldig an dem Tode Otto von Kontalas sei, wenn sie ferner duldete, daß er ihre Stiefmutter für eine Bundesgenossin und Freundin halte, daß sie die Schuld trage an allem weiteren Unglück, das geschehen mußte, wenn die Schmuggler unter der Führung ihrer Stiefmutter ihr Wesen trieben, daß sie vor der Welt und vor Gott verantwortlich war, wenn sie das furchtbare Geheimnis, das sie mit Angst und Schrecken erfüllte, noch länger bei sich behielt, ohne im Interesse des Gesetzes und der Moral, im Interesse der öffentlichen Sicherheit und der des Geliebten davon Gebrauch zu machen.

Einen Augenblick hatte sie daran gedacht, vor ihre Stiefmutter zu treten und ihr zu sagen, daß sie alles wisse, und von ihr zu fordern, daß sie ihrer verbrecherischen Tätigkeit entsage; aber nur einen Augenblick hatte sie diesen törichten Gedanken gehegt. Sie wußte genau, daß Femia nicht zu den Charakteren gehörte, die sich durch die Redensarten eines jungen Mädchens, das sie wahrscheinlich im Innersten ihres Herzens haßte und verachtete, von ihrem verbrecherischen Treiben zurückhalten ließen. Sie fühlte es, daß sie ihr eignes Leben in Gefahr brachte, ohne jemand zu helfen, wenn sie etwas von ihrer Mitwissenschaft des Geheimnisses verriet.

Es gab nirgends einen Ausweg, nirgends schien Martha ein Mittel zu finden, um aus ihrer verzweifelten Situation herauszukommen. Sie verglich sich selbst mit einem Gefangenen, den man zwischen fürchterlichen Mauern eingeschlossen hat und der keine Möglichkeit sieht, aus ihnen zu entrinnen, trotzdem es das Leben und die Gewissensruhe, das Leben des Geliebten und die Ehre ihres Vaters galt. Nirgends die Möglichkeit, sich zu helfen, nirgends die Hoffnung, sich Rat holen zu können; denn wem sollte sich Martha anvertrauen? Ihrem Vater, dem hilflosen Kranken, den vielleicht das erste Wort eines Verdachtes, den Martha gegen ihre Stiefmutter aussprach, um den Verstand brachte? Und doch mußte etwas geschehen ...

Rasch aufeinander folgende Detonationen schreckten Martha aus ihrem Brüten auf.

Sie hörte von der Grenze herüber die Schüsse krachen. Ganze Salven schienen dort abgegeben zu werden, und im Augenblick wußte sie, daß wieder einmal die pflichtgetreuen Beamten der Grenzwache mit den Schmugglern im Handgemenge seien. Vielleicht tötete einer von den Schüssen, die da zu ihr kurz und scharf herüberdrangen, den Geliebten!

Sie tat einige Schritte nach der Tür, als wolle sie hinauseilen und ihn zurückreißen aus der Gefahr. Sie blieb zitternd stehen und wankte, sich kaum auf den Füßen haltend, die ihr den Dienst versagten, zurück zu ihrem Bett, um auf dasselbe niederzusinken, hilflos, wehrlos, fassungslos und in Tränen ausbrechend, in Tränen, die letzte Zuflucht des Weibes.

Die Schüsse waren verstummt, die neue Angst legte sich wie eine Betäubung auf Marthas Gehirn ...

Gellendes Kreischen, das vom Park herüberdrang, ließ sie aufs neue auffahren und jetzt mit Aufbietung aller Kräfte zur Tür hineilen. Sie hatte sich noch nicht entkleidet, sie hatte ja noch gar nicht daran gedacht, sich zur Ruhe zu begeben, und so stürmte sie jetzt hinaus in den Korridor, immer wieder das furchtbare Kreischen hörend, welches ihr klang, als rühre es von Ulka her.

Sie hatte nicht einmal Zeit, darüber nachzudenken, was Neues und Fürchterliches sich im Park begebe. Sie hörte Ulka schreiend sich der Hinterfront des Hauses nähern. Mit einigen Sprüngen war Martha an eine der Hintertüren geeilt, hatte den Schlüssel im Schloß herumgedreht und schrie, alle ihre Kräfte zusammennehmend, hinaus:

»Was gibt es?«

»Ein Toter!« gellte die Stimme Ulkas! »Sie bringen einen Toten. Die Schmuggler haben einen der Grenzbeamten erschossen; es ist ein Offizier, es ist der Oberkontrolleur!«

Ulka hatte sich entsetzt zu Martha geflüchtet, und diese hatte ihre Hände um das Mädchen geschlungen, das ihr Gesicht in den Kleiderfalten Marthas verbarg. Jetzt sanken Martha die Hände kraftlos herunter.

Oh, ihre Ahnung! Da brachten sie ihn tot, tot durch ihre Schuld, weil sie geschwiegen hatte!

Sie sah durch die Dunkelheit eine Gruppe von Männern auf sie zukommen, sie hörte, wie es im Schlosse lebendig wurde, und dann stand Otto von Kontala plötzlich vor ihr, dicht vor ihr, im Lichtschein, der aus dem Fenster des Zimmers der Wirtschafterin fiel, und sagte mit bebender Stimme:

»Wir haben Sie erschreckt, gnädiges Fräulein, aber es ging nicht anders; wir bringen einen Verwundeten.«

Sie erkannte seine Stimme, sie sah ihn, sie schrie auf, so jubelnd, so außer sich, so fassungslos, daß sie über ihr eignes Schreien erschrak. Sie faßte seine Hände und drückte sie.

»Sie leben, Sie leben!« stammelte sie, und dann lag sie an seiner Brust und hörte noch, wie seine zitternde Stimme ihr zuflüsterte: »Martha, Sie haben um mich gefürchtet?« Dann versank sie in eine Ohnmacht des Glückes und der Wonne ...

*

Die erste flüchtige Begegnung, welche Otto von Kontala mit Martha gehabt, hatte auf ihn, wie wir wissen, einen tiefen Eindruck gemacht. Sein schwerer Dienst ließ ihm wenig Zeit zum Nachdenken oder zu Schwärmereien, und doch hatte sich, wie er fühlte, in seinem Herzen etwas geregt, was er längst darin erstorben glaubte, das Interesse für ein Weib.

Seinem lautern Charakter war das Bedürfnis nach Liebe, nach einem Herzen, das für ihn schlug, nicht fremd, aber nachdem er die trüben Erfahrungen mit seiner ersten Liebe gemacht, hatte er sich alle Mühe gegeben, dieses Gefühl in seinem Innern zu unterdrücken. Und doch sehnte er sich nach etwas, was ihm einen Ruhepunkt in feiner rastlosen Tätigkeit, was ihm gewissermaßen eine Oase in die Wüste seines Lebens brachte, in der er stündlich mit verbrecherischen Intrigen, mit Gewalt und Mord zu kämpfen hatte. Wie sehnte sich sein Herz danach, wieder einmal etwas andres empfinden zu können, als Zorn und Haß, als die seltene Freude über einen gelungenen Streich, den er mit seinen Beamten den frechen Schmugglern spielen konnte! Und er hoffte, diese Befriedigung seinem Herzen verschaffen zu können, als er seine Schwester bat, zu ihm zu kommen, um ihm wenigstens für Stunden eine angenehme Gesellschaft zu bieten, um ihm ein Heim zu schaffen, in das er sich, wenn auch nur auf Augenblicke, aus seiner aufreibenden Tätigkeit zurückziehen konnte.

Seine Erwartung war allerdings nicht in Erfüllung gegangen. Wohl empfand er die Gegenwart der Schwester wohltuend, beruhigend, aber nicht beglückend. Seine Gedanken weilten immer wieder bei dem jungen Mädchen, das in dem Augenblicke, in dem er in Todesgefahr schwebte, so voller Natürlichkeit und ohne alle Koketterie und Berechnung ihm ihre aufrichtigste Teilnahme gezeigt hatte. Immer wieder sah er ihre Augen ängstlich und flehend auf sich gerichtet, immer wieder klangen in seinen Ohren die Worte: »Gott sei Dank, Sie sind nicht getroffen!«

Er nahm sich nicht die Zeit und fand nicht die Ruhe, um über das nachzudenken, was ihn bewegte. Er hatte nicht einmal die Muße, ja die Überlegung dazu gefunden, um die Leidenschaft zu unterdrücken, die in ihm aufgestiegen war. Nur gingen, wie wir wissen, seine Gedanken immer wieder nach Schloß Katzenberg und speziell zu Martha, und diese Gedanken waren ihm dann eine Art Gottesdienst in seiner fürchterlichen Tätigkeit, durch welchen er seine Seele wieder auffrischte.

In der Nacht des Schreckens, in der er den verwundeten Kameraden nach Schloß Katzenberg gebracht, hatte er sein Herz entdeckt, als Martha vor ihm stand, aufgelöst von Angst und Schreck, weil sie ihn erschossen glaubte; als sie ihm, ohne es zu wollen oder zu ahnen, die ganze Tiefe ihrer Liebe zeigte, da lohte es in seinem Herzen empor, gewaltig, leidenschaftlich, und er wußte, daß er Martha liebe. Er wäre kein Mann gewesen, wenn nicht sein Herz weich geworden wäre beim Anblick von so viel Liebe, die ihm von diesem unschuldigen Kinde entgegengebracht wurde; er wäre kein Mann gewesen, wenn nicht diese Liebe in ihm Gegenliebe erzeugt hätte.

Mit Gewalt mußte er sich besinnen, mußte er die ohnmächtige Martha in das Schloß hineintragen, wo er sie der alten Dienerin übergab. Galt es doch, dem verwundeten Kameraden Hilfe zu schaffen.

Mit merkwürdiger Schnelligkeit erschien, vollständig angekleidet, die Schloßherrin, um mitzuteilen, daß ihr Gatte durch den Tumult aufs höchste erschrocken sei. Mit merkwürdiger Ruhe nahm sie die Nachricht von der schweren Verwundung Günthers und von dem Gefecht mit den Schmugglern in Empfang. Allerdings, ein Mensch wie Kontala, der in diesem Augenblick gleichzeitig aufgeregt von Schreck und von süßestem Glück war, konnte nicht sehen, wie es in Femias Augen aufzuckte, als sie ihn fragte: »Und haben auch die Schmuggler Verwundete?« – und wie ein fast unmerkliches Lächeln um ihre Lippen spielte, als er erklärte:

»Nein, sie sind ohne Verluste davongekommen, und mir haben sie den guten Jungen, der erst seit wenigen Tagen hier ist, wohl ums Leben gebracht.«

Dann aber tat die Schloßherrin mit aller Energie Schritte, um in einem der leerstehenden Gastzimmer Günther unterzubringen. Sie untersuchte seine Wunde, denn sie verstand, wie alle Frauen jener einsamen Gegend, etwas vom Verbinden. Sie gab mit Ruhe und Sicherheit die Befehle dafür, daß schleunigst ein Wagen mit vier Pferden bespannt wurde, der nach Lublinitz jagen sollte, um den Arzt zu holen. Sie sorgte für eine Erfrischung für diejenigen Beamten, welche den Verwundeten nach dem Schlosse gebracht hatten. Der größte Teil der Grenzbeamten war ja auf Wache zurückgeblieben, um einem etwaigen nochmaligen Durchbruch mit aller Energie zu begegnen, trotzdem nach allen Erfahrungen nicht anzunehmen war, daß die einmal zurückgewiesenen und gestörten Schmuggler in derselben Nacht zum zweitenmal einen Vorstoß wagen würden.

Otto von Kontala setzte sich nieder in demselben Zimmer, in dem Günther lag, um in fliegender Hast einen Bericht zu schreiben, den er durch eine besondere Estafette an die Regierung nach Oppeln schicken wollte.

Er schrieb, bis der Morgen hereinbrach, oft gestört durch das Stöhnen des Verwundeten und durch das Eintreten der Frau von Sembitzka, welche immer wieder nach dem Verwundeten sehen kam und sich auch, ohne daß es Kontala bemerkte, dem Tisch näherte, auf dem sein Bericht lag. Sie schien die Absicht zu haben, einen, wenn auch nur kurzen Einblick in diesen Bericht zu gewinnen, ja sie fragte Kontala direkt: »Und was denken Sie nun zu tun? Ich glaube, Sie sind doch mit Ihren Beamten zu schwach gegen die Schmuggler und sollten lieber nicht Ihr eignes Leben und das Ihrer Beamten aufs Spiel setzen, weil nach meiner Ansicht doch der Schmuggel in unsrer Gegend unausrottbar ist.«

»Gnädige Frau sprechen nicht im Ernst,« sagte Kontala verwundert. »Und wenn es mein und meiner Beamten Leben kostet, so werde ich meine Pflicht tun, und es werden sich auch Mittel finden lassen, um mit aller Energie der Frechheit der Schmuggler zu begegnen. Zum erstenmal haben sie hier heute nacht sich uns mit bewaffneter Hand und zu einem Gefecht entgegengestellt. Es ist das erstemal in dieser Gegend; oben an der ostpreußischen Grenze ist es ja leider nichts Seltenes, daß ganze Schlachten zwischen den Schmugglern und preußischen oder russischen Grenzbeamten stattfinden, aber hier haben es die Verbrecher denn doch noch nicht gewagt, so dreist aufzutreten. Aber ich schwöre es, ich werde ihnen das Handwerk legen. Ich weiß das Mittel noch nicht, aber ich werde es finden, durch welches es möglich gemacht wird, ein für allemal diesen Zuständen ein Ende zu bereiten.«

Femia von Sembitzka schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer. Im Korridor, welchen jetzt bereits das Morgengrauen erhellte, blieb sie einen Augenblick stehen, dann zuckte sie plötzlich zusammen, und ein Zug von Zorn verunstaltete auf einen Augenblick ihr Gesicht.

Was fiel ihr da ein?

Das Alarmsignal, als der Verwundete gebracht wurde, war vom Park her ertönt, und auch Femia von Sembitzka hatte in der kreischenden Stimme diejenige Ulkas erkannt. Was hatte das Mädchen zur Nachtzeit im Park zu suchen, welchen doch niemand von den Bediensteten zu dieser Zeit betreten durfte? Femia packte es wie Schreck. Was hatte zu so ungewöhnlicher Zeit dieses heimtückische Wesen, das ihr immer widerwärtig gewesen war, im Parke zu suchen? Wie, wenn diese freche Neugierige nicht zum erstenmal im Parke war?

Femia überlief ein Zittern, dann begab sie sich zu der alten Wirtschafterin und fragte hastig, ob diese Ulka nicht gesehen habe.

»Ulka ist bei dem gnädigen Fräulein,« erklärte die Alte, und mit raschen, energischen Schritten begab sich Femia nach dem Zimmer der Stieftochter.

Sie fand Martha vollständig angekleidet in einer Sofaecke sitzend und, vor ihr kniend, Ulka. Martha sah verstört und verweint aus und schien den Eintritt ihrer Stiefmutter kaum zu bemerken. Diese trat mit zwei Schritten auf Ulka zu und sagte, das Mädchen am Arme rauh emporreißend: »Was hattest du, Nichtswürdige, des Nachts im Parke zu tun, und wie kommst du dazu, mit deinem Geschrei uns alle so fürchterlich zu erschrecken?«

Ulka hatte ihre Augen entsetzt nach der Schloßherrin gewendet, als sie sich von ihr angefaßt sah. Das kleine Mädchen wurde leichenblaß und brachte keine Antwort heraus.

»Sprich!« sagte zischend Femia, »sprich, oder ich lasse dich totschlagen, ich lasse dich zu Tode peitschen!« Sie schüttelte die furchtsame Ulka hin und her wie ein Bündel Flicken.

Im nächsten Augenblick glaubte Femia vor Überraschung in den Boden sinken zu müssen; Martha war aufgestanden, hatte mit einem einzigen Griff Ulka aus der Hand ihrer Stiefmutter befreit, hatte das Kind an sich gezogen und erklärte jetzt ruhig: »Sie war in meinem Auftrage im Park. Sie war die Nacht über bei mir, ich hatte Kopfschmerzen und wollte frisches Wasser haben. Ich schickte sie nach dem Brunnenhäuschen im Park, weil dort das Wasser am kühlsten ist.«

Außer sich vor Zorn war zuerst Femia zurückgefahren, aber ihre geballten Hände lösten sich, ihr wutverzerrtes Gesicht nahm einen Ausdruck des Schreckens an, als sie jetzt in die Augen Marthas blickte.

Was war denn dort zu sehen, das sie auf einmal so erschreckte, das diese so kühne, rücksichtslose Frau so bestürzt machte?

Wie gebannt hingen die Augen Femias an denen Marthas. Sie sah es mit einem einzigen Blick, daß dort vor ihr kein wehrloses Kind mehr stand, sondern ein Weib, das sie mit solcher Feindseligkeit, aber auch mit solcher drohenden Rücksichtslosigkeit betrachtete, daß sie erschrocken zurückwich. Sie hatte das Gefühl, als habe sie ein schwaches, wehrloses Tier schlagen wollen, und dieses habe sich plötzlich in eine furchtgebietende Löwin verwandelt. Sie sah die drohenden, zornfunkelnden Augen ihrer Stieftochter auf sich gerichtet, und ihren Körper überfiel ein Zittern, ihre Seele überfiel eine Angst, die fast ihre Geisteskräfte lähmte.

»In deinem Auftrage?« sagte sie tonlos, »das ist etwas andres. Ich wußte es nicht.«

Dann wendete sie sich plötzlich um und ging hinaus, und Martha, die ihr mit den Blicken folgte, glaubte zu sehen, daß ihre Stiefmutter wankte und einen Augenblick nach dem Türpfosten griff, als sie über die Schwelle hinaustrat.

*

Im Schlosse zu Katzenberg herrschte noch mehr Ruhe und Stille als sonst. Es mußte auch Rücksicht genommen werden darauf, daß zwei Kranke im Schlosse vorhanden waren.

Im Wundfieber stöhnte und ächzte Günther, welcher noch am frühen Morgen durch einen Arzt den ersten sachkundigen Verband erhalten hatte; der Arzt entdeckte die Kugel, die er herauszog, schüttelte aber doch bedenklich den Kopf und erklärte, er könne für nichts einstehen, da er fürchte, daß der eine Lungenflügel so verletzt sei, daß eine gefährliche und tödlich verlaufende Eiterung eintreten könne.

Der Arzt hatte aber noch mehr Arbeit im Schlosse gefunden, als den Verwundeten. Der Schloßherr war von einer Art Tobsucht befallen worden, welche auf nervöse Überreizung zurückzuführen war, den ihm die nächtliche Alarmierung bei der Ankunft des Verwundeten verursacht hatte. Nach diesem Tobsuchtsanfall war Sembitzki in vollständige Apathie versunken. Jetzt lag er mit weit geöffneten Augen, die zur Decke stierten, in seinem Bett und schien nichts um sich herum zu erkennen. Er beachtete nicht einmal seine Tochter, die neben ihm saß und ihm nach ärztlicher Vorschrift beständig kalte Umschläge auf Stirn und Brust machte. Der Arzt hatte über den Zustand des Schloßherrn den Kopf geschüttelt und erklärt, er könne sich gar nicht denken, daß irgend etwas von außen Kommendes einen so furchtbaren Einfluß auf den Kranken habe ausüben können.

Femia von Sembitzka behielt den Kopf oben und schien durch nichts in ihrer Ruhe erschüttert zu werden. Sie besuchte hin und wieder Martha, um zu sehen, wie es dem Gatten ging, sie revidierte die Wärterin, die neben dem Bette Günthers saß, und sorgte wie sonst dafür, daß auf dem Gutshofe alles in Ordnung blieb.

So verging der Tag, der so geräuschvoll und stürmisch angebrochen war. Am Abend kam der Arzt nochmals, betrachtete die beiden Patienten und schüttelte mit dem Kopf. Er erklärte, daß bei dem Schloßherrn anscheinend ein Nervenfieber im Anzuge sei; über den Verwundeten konnte er gar nichts sagen.

Martha hatte bis gegen elf Uhr am Bett des Vaters gesessen, als ihre Stiefmutter eintrat und ihr erklärte:

»Ich habe nachmittags geschlafen, geh du jetzt zur Ruhe und schlaf dich aus, dann werde ich dich in frühester Morgenstunde wecken lassen, damit du mich ablösest. Wir müssen den Kopf hochhalten und unsre Kräfte sorgfältig einteilen, denn wir wissen nicht, wie lange die Pflege deines Vaters dauern wird, und du wirst zugestehen, daß es für dich besser ist, du ruhst dich aus, damit du morgen wieder auf dem Posten bist, und damit auch ich wenigstens in den ersten Morgenstunden mich ausschlafen kann.«

Martha sah diese Beweisführung ihrer Stiefmutter vollständig ein und empfahl sich ihr, nachdem sie noch einen zärtlichen Blick auf den kranken Vater geworfen hatte. Sie ging nach ihrem Zimmer und schlief hier, auf dem Sofa sitzend, ein, bevor sie noch ihre Tränen getrocknet hatte und bevor sie noch dazu gekommen war, einigermaßen Ordnung in das Chaos von Gedanken zu bringen, das ihren Kopf erfüllte.

Sie erwachte gegen vier Uhr morgens, als an ihre Tür geklopft wurde. Sie fand sich zu ihrem Erstaunen fröstelnd in der Sofaecke sitzend und sah die Kerze vollständig heruntergebrannt. Ihre Stiefmutter kam, sie zur Ablösung zu rufen, und teilte ihr mit, daß die Nacht ziemlich ruhig verlaufen sei. Der Kranke habe zwar Delirien gehabt, aber das sei bei einem Nervenfieber selbstverständlich, zumal wenn dasselbe erst in der Entwicklung begriffen sei.

Martha nahm ihren Platz wieder am Krankenbett des Vaters ein, und Femia zog sich in ihr Zimmer zurück, indem sie Order gab, sie bis gegen neun Uhr nicht zu stören. Als sie erwachte und nach dem Frühstück klingelte, teilte ihr die Wirtschafterin mit, daß der Krüger Mikaz dagewesen, aber wieder fortgegangen sei, als er gehört habe, die gnädige Frau schlafe. Er wolle wiederkommen.

In der Tat war Mikaz schon gegen acht Uhr erschienen und hatte die Schloßherrin zu sprechen verlangt. Als ihn die Wirtschafterin fragte, um was es sich handle, sagte er ihr, er beabsichtige eine Parzelle, die zum Gute gehöre und an sein Grundstück grenze, zu kaufen. Er zeigte der Wirtschafterin auch die wohlgefüllte Geldkatze, die er um den Leib geschnallt hatte und aus der er den Kaufpreis der gnädigen Frau erlegen wollte.

Er kam auch pünktlich um neun Uhr wieder, und zum Erstaunen der Wirtschafterin ließ ihn die Schloßherrin in den Speisesaal treten, in welchem sonst Besuche von Persönlichkeiten, wie es der Wirt des Dorfgasthauses war, nicht empfangen wurden.

Als Femia mit Mikaz allein war, sagte sie:

»Ich habe Euch schon gestern erwartet, denn Ihr könnt Euch denken, daß ich Aufklärung fordere über die unglaubliche Art und Weise, in welcher gegen alles Abkommen, gegen alle Versprechungen und allen Gebrauch von unsern Geschäftsfreunden jenseits der Grenze ein Durchbruch mit bewaffneter Hand versucht worden ist. Vor allem eine Frage: Haben sich Leute von uns an diesem Unsinn beteiligt?«

»Nein,« entgegnete Mikaz, »es waren lediglich Leute aus der Herzkarte, es waren nur Leute von jenseits des Grenzflusses. Ich wäre gestern schon gekommen, aber ich hatte so viel Gäste, daß ich nicht gut mich entfernen konnte, ohne Verdacht zu erregen. Bei mir waren die Grünen eingekehrt, und es kam mir vor, als beobachteten sie mich aufs schärfste. Dann mußte ich auch warten, bis ich zuverlässige Nachrichten von jenseits der Grenze hatte. Erst heute früh ist Herz-Acht, die Kanowsky heißt, über die Grenze gekommen und hat mich über die Vorfälle aufgeklärt.«

»Macht rasch!« sagte Femia aufgeregt, »und erklärt mir, was Ihr erfahren habt.«

»Es ist nichts Gutes,« sagte Mikaz. »Unter unsern Freunden jenseits des Grenzflusses scheint starke Uneinigkeit zu herrschen. Es ist dies aber dadurch erklärlich, daß sie Leute in die geheime Verbindung aufgenommen haben, die nicht hineingehören: Geschäftsleute und vor allem jüdische Handelsmänner, welche nicht an das Vaterland denken, sondern daran, ein möglichst gutes Geschäft zu machen. Herz-Acht hat mir erzählt, daß es in den letzten Sitzungen selbst derjenigen Eingeweihten, die nicht zur Oberleitung gehören, zu heftigen Szenen gekommen ist, weil die Anhänger der Handelsleute von ihnen aufgestachelt sind und behaupten, es würde viel mehr Geld verdient, wenn man das Schwärzen energischer betriebe. Man glaubte die preußischen Grenzbeamten zu schrecken, wenn man ihnen zeigte, daß man Waffen mit sich führe, und zum ersten Male wurde es versucht, mit Pferden durchzubrechen. Ich erfuhr erst spät am Abend durch Herz-Sieben, einen fremden Mann, der zum erstenmal zu mir kam, daß ein Transport ankommen würde, welcher sehr wertvoll sei und der untergebracht werden müsse. Ich habe mich wohl gehütet, mein Wirtshaus zu verlassen, und habe recht daran getan, denn die Führer des Transportes müssen außerordentlich ungeübte Leute sein, da sie gerade die gefährlichste Stelle zum Übertritt aussuchten und mit einer Dreistigkeit vorgingen, welche beinahe lächerlich ist. Sie haben fünf Verwundete, wie mir Herz-Acht heute mitteilte. Zum Glück haben sie niemand liegen lassen, und auch Ballen sind nicht verloren gegangen. Beinahe hätten sie noch mit den russischen Objeszcziks, den Steuerbeamten, Ungelegenheiten gehabt, da diese ihnen den Weg versperrten und hundert Rubel verlangten, damit sie stillschweigen und den Transport ungehindert zurückgehen ließen. Es soll große Aufregung unter unsern Freunden drüben herrschen, weil diejenigen, welche zur Vorsicht und Besonnenheit mahnten, bis jetzt ja mit Recht behaupten können, daß sie das Mißglücken des Transports voraussahen.«

»Und was denken unsre Leute?« fragte Femia von Sembitzka.

Mikaz zuckte die Achseln und sagte:

»Ich muß die Wahrheit sagen, so schwer es mir fällt. Auch unter unsern Leuten gibt es Ungeduldige und Habsüchtige, welche behaupten, der Schmuggel sei in letzter Zeit nicht mehr einträglich, welche sogar einen Verdacht aussprechen.«

»Und welches ist dieser Verdacht?« fragte Femia, und eine Zornesröte schoß in ihr Gesicht.

Mikaz schien in Verlegenheit zu geraten und sagte: »Ich möchte ihn lieber nicht aussprechen, denn er ist zu töricht und ohne Belang. Aber, mein Gott, die Menschen sind eben so dumm, gerade das Tollste zu glauben. Man hat den Verdacht ausgesprochen, welcher gleichmäßig verletzend für uns alle ist, die wir die Leitung in Händen haben, indem man behauptet, wir teilten nicht redlich den Gewinn.«

Femia von Sembitzka zuckte verächtlich die Achseln und sagte:

»Weiter nichts? – Ich glaube es ja, daß diese habgierigen Schurken nicht genug bekommen und daß sie nicht mehr wissen, um was es sich handelt. Es kommt mir vor, als vergäßen unsre Leute auch, daß in erster Linie das Vaterland zur Geltung kommt und in zweiter erst der Gewinn. Sprecht weiter! Gibt es noch irgend etwas? – mag es sein, was es wolle.«

»Nicht daß ich wüßte!« entgegnete Mikaz, »außer daß mir heute Simon sagte, ihm gefiele der Verkehr des Oberkontrolleurs hier im Schlosse nicht. Er hat keinen Verdacht ausgesprochen, er hat mir nur diese Worte gesagt, und ich halte mich für verpflichtet, sie wieder zu sagen, weil mein Eid mich dazu zwingt. Ich bin der nächste nach Euch, Pique-Aß, und besitze so viel Ehrlichkeit, treu zu Euch zu halten.«

Femia spielte nervös mit ihrem Taschentuch und sagte dann:

»Also selbst in der Oberleitung Mißtrauen! Nun, es wird notwendig, daß einmal eine große Säuberung unsers Bundes von allen unsicheren Elementen stattfindet. Diese habgierigen Schurken, welche wahrscheinlich mit den Handelsleuten jenseits der Grenze in Verbindung stehen, werde ich unschädlich machen und auch diejenigen, welche durch Mißtrauen Zwiespalt unter uns selbst zu bringen suchen. Ich danke Euch für Eure Offenheit.«

Sie reichte Mikaz die Hand, welche dieser ehrerbietig küßte.

»Ich danke Euch nochmals,« sagte sie, »aber heute abend werde ich zu einer Sitzung kommen, zu der ich Euch heute noch in aller Geschwindigkeit die obersten Eingeweihten einzuberufen befehle, geht herunter bis zur Pique-Zehn. Ich werde einmal zeigen, daß man mit mir nicht spielt, und daß ich meinen eignen Willen habe. Erwartet mich gegen Mitternacht.«

Mikaz kreuzte die Arme über der Brust nach polnischer Sitte und verbeugte sich.

»Noch eins,« sagte Femia; »es kommt mir vor, als sei der Park nicht mehr ganz sicher. Ich will ohne Verkleidung bis zum Ausgang kommen, bitte Euch aber, Mikaz, mich dort mit einem Mantel zu erwarten und mir eine polnische Mütze mitzubringen; die Maske stecke ich in die Tasche. Trifft man mich dann im Parke, so kann ich sagen, ich hätte einen Spaziergang in der Nacht gemacht, oder irgendeinen andern Vorwand für meinen Aufenthalt angeben. Die Narren, die Narren!« sagte Femia plötzlich leidenschaftlich, »kommen jetzt mit Mißtrauen und Zwietracht und törichten Unternehmungen, wo alles auf dem Spiele steht, wo die Gefahr größer ist als je. Ich fürchte, es kommt ein Tag, an dem ich es bedauern werde, mit Menschen mich eingelassen zu haben, denen ihre Habsucht höher steht als ihre Liebe zum Vaterlande. Ihr könnt gehen.«

Mikaz verbeugte sich und verließ das Zimmer.

Martha hatte ihren Vater in der Tat ruhiger gefunden, als sie vermutet hatte, aber es handelte sich nur um die Fieberpause, welche stets bei Fieberkranken dieser Art in den Morgenstunden einzutreten pflegt. Je weiter der Tag fortschritt, desto höher stieg auch die Aufregung des Kranken. Er hatte mit geschlossenen Augen zuerst still auf den Kopfkissen gelegen, und Martha hatte tränenden Auges dieses Gesicht betrachtet, in dem sie jetzt alle die Züge wiederfand, die sie, tief in ihr Herz eingeprägt, als das Gesicht ihres geliebten Vaters stets von früher Kindheit an in sich getragen hatte.

Bald aber begann der Kranke den Kopf unruhig hin und her zu werfen, und seine Hände griffen auf der Bettdecke immer wieder nach irgendwelchen unsichtbaren Gegenständen. Seine Unruhe stieg beständig, und bald tönten auch von seinen Lippen abgebrochene Worte, welche Martha indes nicht verstand. Das Auflegen der kalten Umschläge auf den Kopf schien dem Kranken wohl zu tun, auf der Brust jedoch schienen sie ihn zu belästigen, denn er schleuderte immer wieder die kalten und feuchten Tücher herunter. Martha unterließ daher die letzteren Umschläge, weil sie glaubte, der Kranke würde sich danach beruhigen.

Plötzlich setzte er sich auf und sah sich mit weit geöffneten Augen im Zimmer um; er schien etwas zu suchen. Als sein Blick auf Martha fiel, leuchtete etwas wie Verständnis in seinen fieberglühenden Augen auf, er faßte Marthas Hand und sagte im leisesten Flüsterton, mit weit vornübergebeugtem Oberkörper:

»Sie vergiftet mich! Sie gibt mir jeden Abend einen Schlaftrunk. Ich weiß es, und doch muß ich ihn nehmen. Ihre Augen, ihre furchtbaren Augen brennen in meinem Gehirn. Ich muß es tun, denn sie ist der Teufel. Hüte dich, hüte dich vor ihr! Trink nichts, was sie dir gibt. Und wenn sie sagt, es sei ein Medikament, es ist Gift. Dort im Schrank steht die Flasche. Ich weiß es wohl. Hundertmal habe ich den Versuch gemacht, mit meinen gelähmten Gliedern aufzustehen und dort nach jenem Schrank zu gehen. Ich kann es nicht. Ich muß mich vergiften lassen und schweigen. Hu, hu! Da sind die Augen, die glühenden Augen; sie versengen mir das Gehirn, sie brennen mir durch den Kopf, immer tiefer, immer schrecklicher. Die Augen, die Augen!«

Der Kranke fiel wieder auf das Bett zurück und schlug mit den Händen um sich. Dann trat unmittelbar darauf eine Pause ein, ein Zustand höchster Ermattung, während welcher Martha ihren Vater fast unbeweglich daliegen sah.

Sie erhob sich, einem plötzlichen Impulse folgend, der sie aufzustehen zwang. Sie ging nach dem Wandschrank, auf welchen der Vater gedeutet hatte, um ihn aufzuschließen, da der Schlüssel im Schlosse steckte. In den obersten Fächern dieses Schrankes schien sich die Hausapotheke zu befinden. Hier stand eine Anzahl von Medizinflaschen, leer und zum Teil gefüllt, und die meisten von ihnen trugen noch die Etiketten, auf denen der Name des Schloßherrn stand. Martha gab sich nicht die Mühe, die Flaschen einzeln zu betrachten, sie verschloß den Schrank wieder und kehrte nach ihrem Platz zurück.

Gewiß, der Kranke hatte nur im Fieberwahn gesprochen und verwechselte irgendein Medikament, das dort von ihrer Stiefmutter aus dem Schrank geholt wurde, in seiner Fieberangst mit Gift, das ihm angeblich beigebracht wurde. Es war nicht anders möglich. Wie wäre die fürchterliche Frau sonst dazu gekommen, ihn langsam zu vergiften? Hatte sie doch die Möglichkeit gehabt, ihn schmerzlos und ohne jede Furcht vor Entdeckung auf einmal durch irgendein Gift aus der Welt schaffen zu können.

Martha entsetzte sich selbst vor den Gedanken nicht, die da in ihrem Kopfe aufstiegen. Sie dachte an die Ermordung ihres Vaters durch die Hand des fürchterlichen Weibes, das sie Mutter nennen sollte, und sie verlor nicht den Verstand. Sie dachte so gleichmütig an die schrecklichsten Dinge, wie dies eben nur ein Mensch tun kann, auf den in den letzten Tagen Eindrücke der fürchterlichsten Art eingestürmt sind. Martha kam es vor, als gebe es nichts Fürchterliches in der Welt, was nicht jeden Augenblick geschehen könnte, als sei sie gezwungen, das Fürchterlichste zu glauben, wenn man es ihr nur sage. War es nicht selbst das Fieber, das sie packte? Mußte sie nicht selbst glauben, ihr Verstand beginne sich zu verwirren?

Wie ein Lichtblick fiel in ihre Seele der Gedanke an den Mann, den sie liebte. Aber es schien ihr eine Verletzung ihrer Kindespflichten, an ihre Liebe zu denken, während sie neben dem Bett ihres todkranken Vaters saß. Sie drängte die Gedanken, die immer wieder auf sie einstürmten, zurück, sie kämpfte einen schweren Kampf mit ihrem Kopf und ihrem Herzen, bis sie fassungslos und ratlos in Tränen ausbrach, weil ein Gedanke mit aller Wehmut sie gepackt hatte, der Gedanke an den Frieden und die Abgeschiedenheit des Klosters, in dem sie gelebt hatte, abgeschlossen von der Welt, in der es nichts gab als Verbrechen, Herzeleid, Elend und Unruhe. Wenn es jetzt für sie eine Möglichkeit gegeben hätte, sich in den Frieden dieses Klosters zurückzuflüchten! Warum hatte man sie mit rauher Hand herausgerissen aus diesem Frieden und sie mitten in diese schreckliche Wirklichkeit des Lebens gestellt?

* * *

 


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