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Vor dem Kloster der Ursulinerinnen zu Breslau hielt trotz der frühen Morgenstunde ein Wagen. Es war eine hochrädrige Kalesche mit ledernem Verdeck. Auf dem Bock saß ein Kutscher in blauem Mantel mit großem blauem Kragen und einer schwarzen Tuchmütze auf dem Kopf, während vor dem Wagen sich drei Pferde nebeneinander gespannt befanden, deren mittelstes, ein Schimmel, größer war als die beiden Seitenpferde, Braune der polnischen Rasse.

Einige trotz der frühen Morgenstunde Vorübergehende musterten das Gefährt, dem man wohl ansah, daß es nicht aus der Umgegend der Stadt sei. Aber eine solche Reisekutsche hatte damals, im Jahre 1844, in Breslau noch nichts Auffälliges. Gab es doch noch keine Eisenbahnen, und aller Verkehr der Reisenden mußte durch Kutschen vermittelt werden.

Die Pforte des Klosters öffnete sich, und ein Mann, welcher ähnlich gekleidet war wie der Kutscher, brachte einen Koffer heraus, den er hinten auf den Wagen, auf dem dazu angebrachten Brett niedersetzte und mit Riemen und Schnallen befestigte.

»Wie steht es, Wojtek?« (polnisch, Albert) fragte der Kutscher. »Ist das gnädige Fräulein bald zur Abfahrt fertig? Die Pferde wollen nicht mehr stehen.«

»Sie kommt gleich,« entgegnete der mit Wojtek angeredete ältere Mann. »Sie nimmt nur noch Abschied. Es ist ganz herzzerreißend!«

Im großen Speisesaal des Klosters waren die Schülerinnen und Pensionärinnen der obersten Klasse versammelt, welche in der Töchterschule des weit und breit berühmten Klosters ihre Erziehung genossen, und sie zusammen mit den Nonnen gruppierten sich um die Gestalt eines vielleicht neunzehnjährigen Mädchens, welches in einem einfachen schwarzen Kleide nach dem Schnitt der damaligen Zeit, mit einem schwarzen, das Gesicht weit beschattenden Strohhut auf dem Kopf und einem schwarzen Umschlagetuch um die Schultern in der Mitte des Kreises stand, fertig zur Reise, um die Anstalt zu verlassen und in das Vaterhaus zurückzukehren.

Die Oberin, eine vornehme Erscheinung, unter deren weiter weißer Haube das graue Haar hervorquoll, faßte die Hand des Mädchens und sagte mit zitternder Stimme:

»Martha von Sembitzka, du verläßt heute die Mauern unsers Klosters, den Kreis deiner Gespielinnen und Genossinnen und uns, deine Lehrerinnen, denen du ununterbrochen durch acht Jahre eine fröhliche Hausgenossin, eine treue Freundin und eine gehorsame und geliebte Schülerin gewesen bist. Deine Erziehung ist vollendet, und dein Vater fordert deine Rückkehr in sein Haus. Wir sehen dich ungern scheiden, und Gott weiß es, welche aufrichtigen Segenswünsche wir dir mit aus den Weg geben; aber es muß sein. So gehe denn von uns, und Gott geleite dich. Er führe dich auf allen deinen Wegen und lasse dich nie vergessen die Lehren, die wir in dein Herz zu pflanzen suchten, er lasse dich nie vergessen des Unterrichts und der Erziehung, die du hier genossen hast und die dir helfen sollen gegen alle Gefahren auf dem schweren Lebenswege, die keinem von uns erspart bleiben.«

Die ehrwürdige Frau brach in Schluchzen aus, und ringsum schluchzten die Mädchen und Nonnen mit, während Martha vor der Frau niederkniete und, aufgelöst in Schmerz und Aufregung, ihre Hände küßte.

»Gott segne dich!« flüsterte die Oberin unter Tränen. Dann warf sie einen Blick nach oben und begann mit zitternder, durch Schluchzen unterbrochener Stimme den Choral anzustimmen:

»Gott leite dich auf allen Wegen und führe dich in seiner Huld,« und die zitternden Stimmen der Schülerinnen und der Nonnen fielen in den Gesang ein.

An der Tür des Refektoriums versammelten sich die Laienschwestern und Dienerinnen, um das junge Mädchen scheiden zu sehen, und auch sie konnten sich dem erschütternden Eindruck dieser Abschiedsszene, der ergreifenden Wirkung des schluchzenden Gesanges nicht entziehen. Sie stimmten mit ein in das Lied und in die Tränen, bis die Oberin sich faßte und sagte:

»Genug! Wir wollen Martha nicht den Trennungsschmerz verlängern.«

Sie zog das Mädchen an sich und küßte es innig auf Stirn, Mund und auf beide Wangen. Dann legte sie die Halbohnmächtige in die Arme der nächsten Schwester, welche Martha ebenfalls küßte, bis auch die letzte der Nonnen ihr den Abschiedskuß gegeben, worauf die jungen Mädchen die scheidende Genossin umringten, um ihr unter Tränen Glück und Segen zuzurufen und ihr allerlei kleine, wertlose Geschenke, wertlos und doch so wertvoll durch die Stunde, in der sie gegeben, in die Hand und in die Taschen des Kleides zu stecken.

Dann wurde Martha hinausbegleitet bis zur Tür, wo die Dienerinnen ihr die Hände küßten und sich dem weinenden Zuge anschlossen, der Martha bis zur Klosterpforte brachte.

Noch einmal wendete sich Martha zurück und streckte ihre Hände den hinter der Pforte Bleibenden entgegen, sie vermochte nicht zu sprechen, und ihre durch Tränen verschleierten Augen sahen nichts mehr, aber sie fühlte, wie Frauen- und Mädchenhände die ihrigen ergriffen und dieselben drückten. Zwei Dienerinnen brachten Martha bis an den Wagen, in den sie ihr hineinhalfen. Wojtek schwang sich auf den Bock und rief dem Kutscher in polnischer Sprache ein »Vorwärts, los!« zu. Im nächsten Augenblick klapperten die zwölf Hufe der Pferde auf dem Pflaster, und der Wagen rollte davon.

Der Wagen fuhr nur eine kurze Strecke geradeaus, dann bog er links um die Vinzenzkirche herum und überschritt auf der Sandbrücke den Oderarm, fuhr an der Sandkirche vorbei, bog dann wieder nach rechts um diese herum und nahm die Richtung auf das massige Gebäude des Domes zu, der mit seinen stumpfen, flach eingedeckten Türmen ohne Spitze und seinem riesigen Schiffe die Straße quer versperrte, als gäbe es dort keinen Durchgang. An dem fürstbischöflichen Palais und an der südlichen Domseite vorüber nahm der Wagen jetzt die Richtung nach Osten, auf Scheitnig zu, bald war auch dieser Vorort Breslaus passiert, die Pferde griffen jetzt besser aus und trabten lustig in den frischen Maienmorgen hinein.

Wojtek und der Kutscher unterhielten sich im Flüstertone polnisch, wohl über den Stand der Felder, welche hier in dieser gesegneten Gegend der norddeutschen Tiefebene in reichster Fülle prangten.

In die Ecke der Kalesche gedrückt, durch das Verdeck den Blicken von außen entzogen, aber saß Martha von Sembitzka weinend und schluchzend, so herzzerreißend, wie nur ein Kind weinen kann, das aus dem Asyl der Ruhe und des Friedens hinausgestoßen wird in eine unbekannte, fremde Welt, von der man ihm nur Schreckliches, Gefahrvolles und Sündhaftes erzählt hat.

Wie hatte ihr gebangt vor diesem letzten, schweren Augenblick schon seit Wochen, seitdem ein Brief ihres Vaters an die Oberin gekommen war, in dem er die würdige Dame bat, ihm mitzuteilen, ob die Tochter die Anstalt verlassen könnte, da er sie bei seinem zunehmenden Alter jetzt gern im Hause haben wolle. Wie war sie erschrocken, als die Oberin ihr mitteilte, daß dem Wunsche des Vaters kein Hindernis in den Weg gestellt werden würde, und daß in wenigen Wochen der Abschied erfolgen müsse. Sie sollte das Kloster verlassen, in welchem sie als Pensionärin volle acht Jahre gelebt hatte, ohne jemals in dieser Zeit ihre Heimat an der polnischen Grenze wiedergesehen zu haben.

Damals war ihre Mutter gestorben, und das elfjährige Mädchen hatte Schmerz genug ertragen am Sterbebett der geliebten Mutter und an deren Grabe. Dann hatte der Vater das weinende Kind in einen Wagen gepackt und war mit ihr nach Breslau gefahren, um es in dem Kloster unterzubringen. Die Reise von der Heimat bis nach Breslau war so weit, mit so viel Schwierigkeiten, Umständlichkeiten und Kosten verknüpft, daß es sich kaum lohnte, das Kind in den Ferien nach Hause kommen zu lassen, und so blieb denn Martha mit ihrem Vater nur durch Briefe in Verbindung, nachdem er sie in den ersten beiden Jahren zweimal besucht hatte, wenn er in geschäftlichen Angelegenheiten nach der Provinzialhauptstadt kam. Dann erfuhr sie durch einen Brief, den Vater habe ein Schlaganfall getroffen, der ihn teilweise gelähmt habe und ihm das Gehen unmöglich machte oder wenigstens sehr erschwerte. Von nun an beschränkte sich ihr ganzer Verkehr mit dem Vater auf Briefe. Wie gern wäre sie damals zum Vater geeilt, um ihn zu pflegen, aber er verbat sich in Briefen an die Oberin und an sie ausdrücklich ihr Hinkommen, weil er sagte, es sei jetzt erst recht niemand da, der die Aufsicht über die Erziehung des Mädchens übernehmen könnte, und so gewöhnte sich denn Martha von Sembitzka daran, das Ursulinerinnenkloster als ihre Heimat zu betrachten.

Sie wurde naturgemäß der Welt da draußen und ihrem eignen Vater entfremdet. Sie zitterte vor dieser Welt, in die sie jetzt hineintrat, sie hatte das Gefühl, in eine Art Fegefeuer zu gehen, in dem tausend Qualen und Gefahren ihr drohten, und zu dieser Furcht kam noch der schmerzliche Abschied von den Lehrerinnen, von den Freundinnen, mit denen sie zum Teil aufgewachsen war. Ja, dieser Schmerz war bitter und herb, und gerade die Trennungsstunde hatte das schwerste Leid gebracht.

Halb ohnmächtig war Martha aus dem Kloster geschieden, und jetzt, nachdem sie eine Stunde unterwegs war, begann sie erst mühsam sich zu erholen. Die Augen waren trocken, als hätten sie keine Tränen mehr, und brannten vom vielen Weinen.

Sie nahm das nasse Tuch von den Augen und blickte hinaus auf die blühenden Felder, die im Morgenwinde wogten. Die Sonne beschien die lachenden Fluren, über denen jubilierend die Lerchen schwebten, preisend die Herrlichkeit der Welt und ihren Schöpfer.

Die frische Morgenluft kühlte das Gesicht Marthas, welches selbst jetzt in seinem Schmerze, trotz der verweinten Augen, unendlich lieblich, ja fast engelhaft aussah. Nicht allein das zierliche Oval, nicht allein der feine Schnitt der Nase und des Mundes brachten diesen Eindruck hervor, sondern vor allem die unschuldigen braunen Kinderaugen, die aus diesem Gesicht so zaghaft in die Welt hinausguckten, aus denen die ganze keusche Unschuld einer reinen Seele leuchtete.

Martha begann wieder auf Äußerlichkeiten zu achten. Sie zog ihr Tuch zurecht und legte sich dann in den Wagen zurück, um die Hände zum Gebet zu falten für die zurückgebliebenen Freundinnen und Lehrerinnen und für ihre eigne Wohlfahrt, und dieses Gebet stärkte sie, denn ihr Gesicht wurde freundlicher und heller, wie der Maitag draußen, durch den das junge Mädchen dahinfuhr.

*

Einsam und doch interessant zog sich der Weg durch weite Feldschläge, durch reiche, blühende Dörfer, durch in üppigster Fülle stehendes Land, bis schon beim Dunkeln der Nacht die Pferdehufe auf Pflaster schlugen, auf das Pflaster der freundlichen Stadt Namslau, wo vor einem Gasthause der Wagen hielt. Empfangen von der Wirtin selbst, welche sehr wohl wußte, welcher Gast ihr heute abend ins Haus kam, welche Herrn von Sembitzki noch aus früheren Jahren kannte und sich freute, seine Tochter auf deren Rückfahrt nach der Heimat in ihr Haus aufnehmen zu können, und mit Handschlag und Händedruck begrüßt, wurde Martha in ein Stübchen geleitet, während Wojtek und der Kutscher für die Unterbringung der Pferde sorgten, um dann gleichfalls an ihre eigne Unterkunft zu denken.

Die Wirtin war eine kluge und lebenserfahrene Frau. Sie wußte, daß dem jungen Mädchen jetzt nichts fehlte als Unterhaltung, und deshalb plauderte sie mit ihr, bis das Nachtmahl bereitet war. Dann aß sie mit Martha zusammen, führte sie durch ihre Wirtschaft, zeigte ihr ihre Kinder und scherzte und lachte mit ihr, bis sie sie endlich in ihr Stübchen brachte, in das sich Martha zeitig zurückziehen mußte, weil am frühen Morgen die Fahrt weitergehen sollte. Die Wirtin hatte sich verabschiedet, nachdem sie, hingerissen von der Unschuld und Lieblichkeit Marthas, diese plötzlich in ihre Arme geschlossen und einen Kuß auf ihre Stirn gedrückt hatte.

Martha wollte soeben die Tür verschließen, um sich zur Ruhe zu begeben, als an dieselbe geklopft wurde und Wojtek hereintrat. Er machte eine linkische Verbeugung und sagte in ziemlich geläufigem Deutsch, wenn auch mit sehr harter polnischer Aussprache:

»Der gnädige Herr hat mich beauftragt, dem gnädigen Fräulein im ersten Nachtquartier diesen Brief zu übergeben. Ich wünsche dem gnädigen Fräulein, daß eine gute Nachricht darin steht. Ich wünsche eine geruhsame Nacht und werde mir erlauben, das gnädige Fräulein um fünf Uhr durch Klopfen an die Tür zu wecken.«

»Gute Nacht!«

Er überreichte Martha einen Brief mit der wohlbekannten Handschrift ihres Vaters und zog sich dann mit einer Verbeugung zurück.

Mit leicht begreiflichem Erstaunen erbrach Martha den Brief und las folgendes:

»Meine liebe Tochter!

Du kommst aus der Einsamkeit und Abgeschiedenheit des Klosters heraus in die Welt und sollst jetzt in Deinem Vaterhause, das Du so lange nicht betreten hast, eine Stätte finden. Du warst so lange entfernt, daß ich es für notwendig erachte, Dich auf gewisse Veränderungen vorzubereiten, die in diesem Hause geschehen sind, und so erfahre denn, daß Du eine Mutter hast, welche bereit ist, Dich mit aller Liebe und Freundschaft zu empfangen. Ich habe Dir seinerzeit, um Dich nicht zu stören, keine Mitteilung davon gemacht, daß ich die Schwester unsers Nachbars Simon Branitzki, welche mir eine treue Pflegerin und Helferin in der Krankheit, aber auch in der Wirtschaft gewesen ist, geheiratet habe, und in Zufriedenheit und Glück mit ihr lebe.

Ich hoffe, Du wirst nicht vergessen, daß sie auch Deine Mutter ist, und wirst ihr mit der gleichen Liebe und Freundschaft entgegenkommen, mit der sie Dir begegnen wird.

Nun wünsche ich noch, daß Deine Reise hierher sich ohne Unfall vollzieht und Du bald in die Arme gelangst

Deines Dich sehnsüchtig erwartenden
Vaters.«

Unter diesen bekannten Zügen des Vaters, welche diesmal allerdings Martha merkwürdig flüchtig, ja aufgeregt schienen, stand mit ungelenker Hand, die fast aussah wie eine Männerschrift:

»Ich erwarte meine Tochter mit liebendem Herzen!

Femia Femia: Abkürzung von Eufemia. von Sembitzka.«

Dieser Brief wirkte blitzartig auf das unschuldige Kind, das auf einen Stuhl sank und die Arme kraftlos niederfallen ließ. Die Nachricht kam ihr so bestürzend, so überraschend, daß sie eine Mutter habe, sie empfand ein so tiefes Weh darüber, daß man ihr bisher von der Vermählung ihres Vaters geschwiegen, und dann empfand sie es wie ein schreiendes Unrecht von ihrem Vater, das Andenken ihrer verstorbenen Mutter dadurch gleichsam zu entehren, daß er eine zweite Frau nahm.

Für sie gab es nur eine Mutter, und das war die, welche in der Heimat Losachew in der Familiengruft der Sembitzkis ruhte, und jetzt – jetzt sollte eine andre zwischen ihren Vater und sie treten, die sie Mutter nennen sollte, eine Stiefmutter!

Unter dem sanften Regiment der Nonnen, unter der mütterlichen Erziehung dieser ehrwürdigen Frauen hatte sie nicht einmal eine Mutter vermißt, aber von ihren Schulgenossinnen hatte sie erfahren, daß Stiefmütter oft grausame, harte, herzlose Frauen seien, und jedesmal, wenn insbesondere die eine ihrer Freundinnen über die Behandlung seitens ihrer Stiefmutter klagte, dachte Martha daran, wie glücklich sie sei, keine Stiefmutter zu haben, und jetzt plötzlich diese Nachricht! Wie würde diese Stiefmutter sie empfangen, wenn sie zu Hause ankam? – Wie würde sie sich zu ihr stellen? – Und dann der Ton des Vaters in diesem Briefe, so eigentümlich, gar nicht so liebenswürdig wie sonst, sondern gewissermaßen drohend und sie auf ihre Pflichten hinweisend!

Aber der Abend sollte noch eine neue Überraschung bringen. Während Martha noch immer in schmerzliche Gedanken versunken saß, klopfte es aufs neue an die Tür, und die freundliche Wirtin trat ein.

»Verzeihen Sie recht sehr, mein wertes Fräulein, wenn ich störe, und noch dazu in so später Stunde, aber ich komme, um an Ihre Freundlichkeit und Güte zu appellieren. Soeben ist als Gast bei uns eine junge Dame eingetroffen, welche mir persönlich genau bekannt ist und für welche ich jede Bürgschaft übernehmen kann. Fräulein Hedwig von Kontala kam mit der Post an, welche von hier nach der Grenze erst in zwei Tagen Anschluß hat. Nun hat die Dame ganz denselben Weg wie Sie, mein Fräulein, sie will nämlich nach Lublinitz, um ihren Bruder zu besuchen, der dort als Obergrenzkontrolleur stationiert ist. Möchten Sie nicht die große Güte haben, die Dame morgen früh zu sich zu nehmen? Sie hätten dadurch für die lange Fahrt eine angenehme Gesellschafterin, und die junge Dame, für welche ich mich nochmals verbürge, und die ich Ihnen auf das beste empfehlen kann, würde sich die zwei Tage Wartezeit ersparen. Sie nehmen mir meinen Vorschlag hoffentlich nicht übel.«

»Ich bin recht gern bereit, die Dame mitzunehmen,« erklärte Martha, »wollen Sie mir dieselbe vorstellen!«

Die freundliche Wirtin eilte hinaus und kehrte bald darauf mit dem Fahrgast zurück, den sie Martha vorstellte, um dann die beiden Mädchen allein zu lassen.

Hedwig von Kontala war keine Schönheit, aber sie hatte ein so liebenswürdiges und frisches Gesicht, daß dieses selbst durch die etwas hellblauen Augen nicht entstellt werden konnte; und lebhaft und lebendig schien sie zu sein, denn schon nach einer halben Stunde hatten die beiden Mädchen eine Menge von Berührungspunkten in ihren Verhältnissen entdeckt und schienen aufrichtiges Gefallen aneinander zu finden.

Am nächsten Morgen wollten sie die noch zwei Tage dauernde Weiterfahrt gemeinsam antreten, Hedwig natürlich als der Gast Marthas.

Oberschlesien gehörte im Jahre 1844 noch zu den vergessenen oder vielmehr »unentdeckten« Ländern der preußischen Krone. Während das reiche Nieder- und Mittelschlesien sehr bekannt und sehr beachtet waren, blieb Oberschlesien vernachlässigt, weil es ein Land war, das nichts brachte, und mit dessen Bevölkerung man sich nicht gut verständigen konnte.

Die Industrie war klein und kaum beachtenswert. Eisenhüttenwerke mit primitivem Betriebe und etwas Eisenbergbau bildeten die ganze Industrie, welche meist in der Tarnowitzer Gegend zu finden war. Der Steinkohlenbergbau war erst im Entstehen begriffen. Uralt war nur das Graben nach Blei und Silber.

Aber diese Industrie hielt sich in der Nähe der schiffbaren Flüsse, der Oder, der Klodnitz und des später erbauten Kanals. Sonst gab es keine Verkehrswege. An Eisenbahnen dachte man noch nicht, Chausseen fehlten vollständig, und nur Vizinalwege verbanden die größeren Ortschaften, welche in der Nähe der Oder oder auf deren linkem Ufer lagen, das sich durch fruchtbaren Boden auszeichnete. Eine ganz verlassene Gegend ist aber der Teil des rechten Oderufers, der nördlich von Beuthen in Oberschlesien an der polnischen Grenze, insbesondere in der Nähe der Städte Lublinitz und Guttentag liegt.

Hier auf dem speziellen Boden unsrer Geschichte herrschten Zustände noch im Jahre 1844, welche man heute selbst in Rußland für unmöglich halten würde. Die kleinen »Waldstädte« – so kann man sie wohl nennen, denn sie lagen mitten in den ungeheuren Nadelwäldern, welche viele Quadratmeilen bedeckten – hatten nur sechs- bis achthundert Einwohner, welche sich mühsam durch Ackerbau ernährten, und unter denen die Schuh- und Tuchmacher die einzigen beachtenswerten Gewerke waren, welche das platte Land mit Schuhen und mit Stoff zu Kleidern versorgten.

Auch die Dorfschaften lagen inmitten der großen Wälder. Der Boden besteht aus Sand und gestattete nur den Anbau von Roggen, Korn genannt, von Hafer und Kartoffeln. Die Bauern waren seit dem Jahre 1816 frei. Die Robot (von dem polnischen robota, die Arbeit), die frühere Fron, war seit dem Jahre 1816 aufgehoben, aber es bedurfte verschiedener Generationen, bis diese jetzt befreiten Leibeigenen auch zum Bewußtsein ihrer Freiheit kamen. Außerdem blieben die Bauern, insbesondere die kleinen Grundbesitzer, zumeist von den Gutsbesitzern abhängig, schon deshalb, weil diese die Polizeiverwaltung und die sogenannte Patrimonialgerichtsbarkeit ausübten. Diese Patrimonialgerichte waren eine Einrichtung, an die man heute nur mit Schrecken denken kann, wenn man es nicht doch über sich gewinnt, darüber zu lächeln. Gewöhnlich taten sich mehrere Gutsbesitzer zusammen und hielten sich einen Patrimonialrichter, einen von ihnen besoldeten und angestellten Beamten, der natürlich genau wußte, was ihm drohte, wenn er in einem Streit zwischen Herrschaft und Bauern gegen die Herrschaft entschied. Das Gerichtsverfahren war ein sehr abgekürztes, denn es bestand meistens in Prügeln, und mit dem russischen »Battogg«, dem kurzstieligen, dick geflochtenen Lederkantschu, wurden Verwaltung, Justiz, Zivilgesetzgebung, Sittenpolizei und alles andre, was notwendig war, prachtvoll exekutiert. Das Volk kannte es noch nicht besser und hielt es für sein trauriges Privilegium, bei jeder Gelegenheit bedrückt, geschlagen und ungerecht behandelt zu werden. Der Himmel war ja hoch und der König weit, und in dieser verlassensten aller Gegenden Oberschlesiens herrschten in Wirklichkeit damals noch Zustände, wie wir sie heute kaum noch in Sibirien finden. Man halte das nicht für Übertreibung. Noch heute stehen diese Gegenden gegen alle andern Teile des Vaterlandes außerordentlich zurück, und erst im letzten Jahrzehnt ist einiger Wandel geschaffen worden. Die Bevölkerung in den Städten und auf dem Lande war arm, bettelarm. Sie hatte kaum das nackte Leben. Sie hatte die sonderbarsten Begriffe über den Unterschied zwischen mein und dein, und es ist eine historisch feststehende Tatsache, daß in einer dieser »Waldstädte« die ganze Bürgerschaft in Verlegenheit geriet, als sie von der Behörde aufgefordert wurde, aus ihrer Mitte, das heißt aus den Eingeborenen, einen Bürgermeister zu wählen. Es stellte sich heraus, daß keine qualifizierte Person vorhanden war, weil sämtliche Bürger der Stadt, selbst die sogenannten »Honoratioren«, wegen Waldfrevels und Holzdiebstahls bestraft waren. Die großen königlichen Forsten, in deren Mitte die Städte lagen, verführten damals die Leute, sich trotz alles Forstschutzes Bau- und Brennholz zu stehlen. Man fand eben nichts darin, sich aus dem Wald etwas anzueignen, und so kam es, daß sich in der ganzen Stadt kein Bürgermeisterkandidat vorfinden konnte, weil alle – aber ausnahmslos alle Einwohner wegen Holzdiebstahls bestraft waren. Nebenbei bemerkt kam aus diesem Dilemma die Stadt nur dadurch heraus, daß sie ein früheres Stadtkind, das als Brauergehilfe in München lebte und in der Zwischenzeit, während welcher es in München war, in Oberschlesien keine Holzdiebstähle verübt hatte, wieder nach der Heimat verschrieb und dieses zum Bürgermeister erwählte. Historisch und aktenmäßig beglaubigt.

Die Landbevölkerung war, wie auch heute noch, mehr polnisch als deutsch. Damals sprachen nur die sogenannten Gebildeten, einzelne Gutsbesitzer und die Juden, die zerstreut in dieser Gegend lebten und in deren Händen sich zumeist die Gastwirtschaften befanden, deutsch. Daß man in Preußen sich befand, konnte man nur ersehen, wenn man hin und wieder einen der mit den Landesfarben gestrichenen Pfähle sah, und zwischen der Gegend jenseits der russischen Grenze, also dem eigentlichen Kongreßpolen, und den preußischen Bezirken gab es nicht den geringsten Unterschied.

Für Schulen wurde fast nichts getan, die Bevölkerung war roh und ungebildet, zu Exzessen geneigt, auf der andern Seite geknechtet und an ungerechte Sklavenbehandlung gewöhnt. Erst der Bau von Eisenbahnen und Chausseen, der in den Jahren 1846 und 1847 stattfand, dann aber auch indirekt der Aufstand des Jahres 1848 brachten für diese traurigsten Gegenden Preußens einige Besserung.

Als aber im Mai 1844 der Wagen, in dem Martha von Sembitzka mit ihrer neuen Freundin saß, auf dem schlechten Wege durch die Wälder zog, befand sich alles noch in dem eben angeführten Zustande.

Diese weit sich dehnenden Nadelwälder haben etwas Achtunggebietendes, etwas schauerlich Schönes, wenn man sich allein in ihrer Mitte befindet und um sich herum auf Quadratmeilen hin nur Wald, oft uralten Wald, weiß, in dem nur das Wild seine Pfade zieht, und durch welchen nichts tönt als das feierliche Rauschen der vom Winde bewegten Bäume, und hin und wieder der Ruf oder Gesang eines Vogels. Wer aber in jenen Tagen auf sandigen, oft sehr schlechten Wegen durch diesen Tannenforst fuhr und den ganzen Tag über nichts erblickte als hin und wieder ein paar Rehe, eine dunkel- und hellblau gefärbte Mandelkrähe, einen flüchtigen Hirsch und dann wieder auf einer Waldblöße ein einsames Haus oder auf einem großen Aushieb ein Dorf, bestehend aus elenden, mit Strohschoben gedeckten Holzhütten, zwischen denen die halbnackten Kinder zusammen mit den Schweinen sich herumtummelten, den konnte wohl die Verzweiflung der Einsamkeit und das Entsetzen über die Gegend erfassen, in der er sich befand.

Aber Martha näherte sich ihrer Heimat, und selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, so hätte sie doch wohl um sich herum die Szenerie vergessen, denn das Geplauder der Mitreisenden war so fröhlich, brachte so viel Freude bei dem stillen, unschuldigen Kinde hervor, daß es sich wirklich glücklich fühlte, trotzdem so viel auf das kleine, unschuldige Herz in den letzten Tagen eingestürmt war.

Nach einem Nachtquartier in der Stadt Rosenberg näherten sich die beiden Reisenden am zweiten Tage langsam dem Ziel ihrer Fahrt.

Martha war während dieser Fahrt mit der Gefährtin so vertraut geworden, daß sie alle Familienverhältnisse derselben genau kannte. Sie hatte auch Näheres über den Bruder Hedwigs, den Obergrenzkontrolleur, erfahren. Sie wußte, daß dieser Herr Otto von Kontala hieße, daß er früher Offizier gewesen sei, daß er aber seinen Abschied genommen hatte, als der Vater vor einigen Jahren starb und sich herausstellte, daß die Vermögensverhältnisse keine so günstigen seien, wie man geglaubt hatte. Sie hatte ferner erfahren, daß dieser Bruder der einzige Verwandte sei, den Hedwig von Kontala besitze, daß diese zu ihm fahre, um ganz bei ihm zu bleiben und ihm die Wirtschaft zu führen, da der Bruder, wie sie lächelnd erzählte, nicht daran denke, zu heiraten. Der Bruder habe früher einmal eine sehr leidenschaftliche Liebe gehabt zu einer Dame, die ihn betrogen habe, und seit der Zeit sei er ein Weiberfeind und ein ernster, stiller Mann geworden, der nur für seinen Dienst lebe. Dieser sollte aber gerade wegen des Schmuggels da unten sehr schlimm sein, und deshalb wollte die Schwester zum Bruder, um diesem wenigstens etwas Häuslichkeit und Behaglichkeit zu bereiten.

Welche Fülle von neuen Ideen und Anschauungen hatte diese Unterredung für Martha gebracht! Sie hatte da auf einmal ein junges Mädchen kennen gelernt, das ihr sehr sympathisch war und das doch so ganz anders auftrat wie ihre Genossinnen im Kloster, so sicher und doch so zurückhaltend und bescheiden, das allein die weite und beschwerliche Reise wagte, um einem Bruder, der da unten in Einsamkeit und schwerer Dienststellung sich befand, das Leben ein klein wenig zu verschönern. Und dann, wie interessant war dieser Bruder, der die Frauen haßte, weil eine von ihnen ihn einmal betrogen hatte!

Ob nur so etwas möglich war? dachte Martha, und wie wohl dieser Bruder aussah? Ob sie ihn auch sehen würde?

Die Gegend bot jetzt insofern einige Abwechslung, als die Ebene in welliges Terrain überging. Man näherte sich dem äußersten Ausläufer des Katzengebirges, welches wiederum zu den Ausläufern der Vorgebirge der Tatra gehört ...

Hin und wieder begegneten auch Fuhrwerke oder einzelne Wanderer dem Gefährt, und der polnische Gruß »Gelobt sei Jesus Christus!« wurde mit einem frommen »In Ewigkeit. Amen!« beantwortet.

Die Nachmittagsstunden waren bereits ziemlich weit vorgeschritten, als Wojtek auf eine Anzahl von Reitern deutete, welche auf demselben Wege dem Wagen entgegenkamen. »Es sind Grüne!« setzte er hinzu und bezeichnete damit die Steuerbeamten, die schon damals nach ihrer grünen Uniform bei der Grenzbevölkerung den Namen »Zielonki« führten.

Hedwig geriet in leicht begreifliche Aufregung. Sie spähte aus dem Wagen heraus vier Reitern entgegen, die sich mehr und mehr näherten, und als dieselben noch ziemlich weit entfernt waren, sprang sie erregt im Wagen auf und schrie: »Otto! Otto!«

Ein einzelner Reiter kam herangesprengt, und als er dicht an der Kutsche war, stieß auch er einen Freudenruf aus. Otto von Kontala hatte seine Schwester erkannt, und er sowohl wie das Mädchen, schienen ihre Gefühle nicht bemeistern zu können. Er bog sich vom Pferde herab und küßte die Schwester, die sich im Wagen erhoben hatte, so gut es ging, und Martha, die man gar nicht beachtete, hatte Gelegenheit, den Ankömmling zu betrachten, trotzdem sie erschrocken genug über diese plötzliche Szene war.

Otto von Kontala stand in den dreißiger Jahren, eine schlanke Gestalt, etwas über Mittelgröße, mit straffer Haltung, welche ebenso wie der lange schwarze Schnurrbart den früheren Offizier verriet. Seine Tracht, eng anliegende Beinkleider und hohe Stiefel und der grüne, kurzschößige Uniformrock, ein sogenannter »Schwalbenschwanz« mit dem hohen Kragen und breiten Aufschlägen und engen Ärmeln, konnten nicht einmal den Eindruck seiner Figur schädigen.

Die andern Reiter, welche allmählich herankamen, schienen Offizianten Kontalas zu sein. Dieser wendete sich aber jetzt zu Martha und sagte, ganz rot vor freudiger Erregung:

»Verzeihen Sie, meine Gnädigste, wenn wir nach so langer Trennung vergaßen, was wir Ihnen schuldig sind. Wie es scheint, ist meine Schwester Ihr Gast, und es wäre wohl meine Pflicht gewesen, Sie zuerst zu begrüßen.«

Martha fühlte sich so verlegen, daß sie nur ein schüchternes: »Ich bitte sehr!« stammeln konnte. Dann erklärte rasch Hedwig ihrem Bruder, in welch liebenswürdiger Weise Martha sie mitgenommen habe, und Martha kam durch ihre Lobsprüche so sehr in Verlegenheit und geriet so in Verwirrung, als Hedwigs Bruder sie dabei lächelnd anblickte, daß der ganze Wald vor ihren Augen tanzte, als er ihr die Hand reichte, um ihr zu danken und ihr seine Freude über ihre Bekanntschaft auszudrücken. Sie hörte wie im Traum, als er sagte:

»Ich freue mich um so mehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, als Ihr Herr Vater zu meinen besten Bekannten gehört, da ich wohl sagen darf, Ihr Herr Vater gehört zu unsern besten Freunden hier an der Grenze, an der wir in Feindschaft mit der ganzen Bevölkerung leben. Nicht wahr, Wojtek,« setzte er in polnischer Sprache hinzu, »Ihr kennt mich?«

Wojtek zog seine Mütze und sagte, über das ganze Gesicht grinsend: »Oh, wir kennen den Herrn Obergrenzkontrolleur. Er kommt ja oft genug auf unsern Hof, um den gnädigen Herrn zu besuchen!«

»Wenn Sie gestatten, so begleite ich die Damen,« sagte Kontala und wendete sich zu seinen Beamten.

Martha war froh, als sie sich setzen konnte und nicht mehr seinen Blick auf sich gerichtet fühlte. Sie besprach sich rasch mit Hedwig, und als bald darauf die drei andern Grenzbeamten fortsprengten und Otto zu den Damen zurückkehrte, forderten diese ihn auf, in der Kutsche Platz zu nehmen, da es schwierig und unangenehm sei, neben dem fahrenden Wagen herzureiten. Die Zügel des Pferdes wurden hinten an der Kalesche befestigt, und der junge Mann stieg ein, nachdem er sich noch bei den Damen entschuldigt hatte.

Es gab natürlich ein lebhaftes Fragen und Antworten zwischen Bruder und Schwester, während welchem er sich nur hin und wieder kurz an Martha wendete, um dieser zu zeigen, daß sie nicht vernachlässigt wurde. Aber es war dem jungen Mädchen recht angenehm, daß man sie nicht beachtete. Sie fühlte sich unsicher und etwas beengt, denn wenn man auch sie im Kloster in allen gesellschaftlichen Dingen unterrichtet hatte, wenn sie auch die Überzeugung besaß, sich selbst in der vornehmsten Gesellschaft sicher bewegen zu können, so war sie doch hier zum erstenmal zusammen mit einem Herrn, der ihr durch seine Verwandtschaft mit Hedwig gewissermaßen näher gerückt war und der ihr noch näher rückte, weil es auch ein Bekannter ihres Vaters war.

Sie empfand eine unaussprechliche Freude darüber, daß sie hier gewissermaßen schon Freunde und Bekannte traf, die ihr Vaterhaus kannten und mit denen sich Aussicht auf Verkehr bot. Sie kam sich jetzt gar nicht mehr so verlassen vor. Es schien ihr, als komme sie in die Heimat, aus der sie noch gar nicht recht entfernt gewesen. Fand sie doch schon liebe Freunde und Menschen, die ihr sympathisch waren!

»Wir waren gerade,« wendete sich jetzt Otto von Kontala direkt an Martha, »auf einer Streife begriffen, welche mehr einer Terrainrekognoszierung galt, weil wir für die nächsten Tage einen größeren Schlag gegen die Schmuggler vorhaben. Wir leben hier in einer Art Kriegsverhältnis mit der Bevölkerung zu beiden Seiten der Grenze, und der Schmuggel hat in der letzten Zeit in einer Weise überhandgenommen, die es uns fast unmöglich macht, unsern Dienst zu erfüllen. Wir sind zu schwach, sowohl numerisch gegen die Hunderte von Schmugglern, als auch gegen den moralischen Hinterhalt, den die Schmuggler besitzen. Sie rekrutieren sich aus der Bevölkerung diesseits und jenseits der Grenze. In der Bevölkerung haben sie ihre Freunde und Verwandten, und so haben wir denn außer den Hunderten von direkten Feinden, bestehend aus Schmugglern, auch noch Tausende von indirekten Feinden, welche uns gegenüberstehen, und alle unsre Arbeiten, die Gesetze aufrechtzuerhalten und den Schmuggel zu verhindern, sind so ziemlich unnütz. Vergebens haben wir uns vom Landratsamt und von der Steuerbehörde aus an die Regierung gewendet. Diese hat jetzt andre Dinge zu tun und ist so sehr mit den inneren Angelegenheiten beschäftigt, daß man uns hier vollständig im Stich läßt. Fänden wir nicht noch Unterstützung bei den Gutsbesitzern an der Grenze, insbesondre bei Ihrem Herrn Vater, mein gnädigstes Fräulein, so wüßten wir gar nicht, was wir anfangen sollten. Die Verzweigungen der Schmugglerbande reichen meilenweit diesseits und jenseits der Grenze, und wenn hier nicht einmal eine militärische Besatzung herkommt und durch große Streifen vollständig aufgeräumt wird, so wird alles vergeblich sein, was man unternimmt.«

»Armer Bruder,« sagte Hedwig; »welch schwieriger Dienst, und wie aufreibend muß er sein!«

»Oh, das macht nichts?« entgegnete Otto lächelnd. »Dafür bringt der Dienst auch Unterhaltung. Was sollte man sonst hier anfangen, wenn die Schmuggler uns nicht beständig in Atem hielten!«

»Und ist keine Gefahr dabei?« fragte Hedwig besorgt.

»Gefahr?« sagte Otto lächelnd; »wo ist die nicht? Aber was macht man sich aus der Gefahr, wenn man sich erst daran gewöhnt hat! Es ist jedenfalls –« sagte er, wiederum sich zu Martha wendend.

In diesem Augenblicke zerriß das Krachen eines. Schusses die Luft, ein Pfeifen und Zischen machte die Mädchen aufschreien und furchtsam zurückfahren Eine Kugel war von der rechten Seite her durch den Wagen gesaust.

Die Pferde setzten sich, erschreckt durch den Schuß, in rasendste Gangart, und nur mit Mühe gelang es den vereinten Anstrengungen Wojteks und des Kutschers, sie nach einem wahnsinnigen Lauf von ungefähr zehn Minuten in eine ruhigere Gangart zu bringen.

Die Mädchen hatten aufgeschrien und sich dann, außer sich vor Angst, umschlungen. Kontala war auch im ersten Augenblick erblaßt, war dann aufgesprungen und beugte sich aus dem Wagen heraus, um nach rückwärts zu sehen; aber die Pferde schleuderten den Wagen auf dem ungünstigen Wege so hin und her, daß Kontala vor allem dafür sorgen mußte, sein Pferd, das hinten an die Kalesche angebunden war, loszumachen und ihm die Zügel zu verlängern, damit es nicht zu Boden gerissen und geschleift würde.

Endlich ging der Wagen langsamer, wenn auch noch immer sehr rasch, und Kontala sagte, indem er die Hände der beiden Mädchen faßte:

»Bitte, beruhigen Sie sich! Der Schuß galt mir und hat, wie Sie sehen, nicht geschadet. Aber er hätte fürchterliches Unglück anrichten können, wenn er Sie getroffen hätte.«

»Otto, ums Himmels willen! In welcher Gefahr lebst du! In welcher entsetzlichen Gegend befindest du dich!« schluchzte Hedwig und warf sich an den Hals des Bruders.

Dieser aber wehrte sie ab und sagte:

»Beruhige dich, beruhige dich nur! Ich sagte dir bereits, wir leben im Kriege, und im Kriege gelten alle Mittel, auch die nichtswürdigsten, insbesondere aber bei unsern Gegnern. Ich hoffe, Sie sind nicht zu sehr erschrocken, mein Fräulein?«

Er wendete sich an Martha, deren Hand er noch immer in seiner Aufregung festhielt. Merkwürdigerweise schien sich das junge Mädchen gefaßt zu haben, denn sie sagte jetzt, wenn auch tonlos:

»Ich danke Gott, daß Sie nicht getroffen sind.«

»Oh, denken Sie denn an sich gar nicht?« entgegnete Kontala. »Denken Sie nicht daran, daß Sie oder ebensogut auch meine Schwester getroffen werden konnten von der Kugel dieses heimtückischen Gegners, der mir wahrscheinlich schon seit Tagen auflauerte und keine Rücksicht darauf nahm, welches Unglück er anstellen konnte, während er mir nach dem Leben trachtete?«

Martha errötete und senkte ihre Augen zu Boden. Sie entzog dem jungen Manne ihre Hand, faltete dann ihre Hände und dankte in einem stillen Gebet Gott für die Rettung aus der Gefahr. Hedwig beruhigte sich nur mühsam, und ihrem Bruder lag es offenbar daran, durch Unterhaltung sie von ihren trüben Gedanken abzubringen. Er erklärte daher zuerst, daß es vergeblich sein würde, nach dem Täter zu forschen, da der Wagen in dem rasenden Lauf mindestens eine halbe Meile zurückgelegt hätte, während welcher Zeit der Schütze längst entflohen sei.

»Oh, in welcher entsetzlichen Gegend lebst du!« erklärte Hedwig noch einmal; »in welcher beständigen Gefahr bist du!«

»Fürchte nichts, meine liebe Schwester,« entgegnete Otto. Solche aufregenden Vergnügungen wie diese heute bereitet uns ›Pique-Aß‹ nicht alle Tage. Das war ausnahmsweise etwas heute, vielleicht zur Feier deiner Ankunft. Ich versichere dich, es ist sonst nicht halb so schlimm. Ich vermute fast, du stehst mit Pique-Aß in Verbindung, und er wußte, daß du kommst.«

»Sie wundern sich jedenfalls,« wendete sich Kontala an Martha, »über den Namen Pique-Aß!«

Martha nickte stumm mit dem Kopf und wagte nur, flüchtig den jungen Mann anzusehen.

»Ich will es Ihnen erklären,« sagte der Steuerbeamte. »Sie werden dadurch gleichzeitig einen Einblick in die eigentümliche Organisation der Schmugglerbande bekommen. Pique-Aß ist das böse Prinzip unsrer Gegend, es ist nach Ansicht der ungebildeten Bevölkerung sogar der Teufel selbst in höchst eigner Person. Pique-Aß ist das unbekannte Haupt der Schmuggler, unbekannt, weil sogar von den Schmugglern nur einige Auserwählte wissen, wer der maskierte Mann ist, der alle Unternehmungen diesseits und jenseits der Grenze dirigiert. Die Sache klingt so romantisch, daß man gar nicht an ihre Möglichkeit bei einer solch nüchternen Veranlassung, wie es der Schmuggel und seine Verfolgung ist, glauben sollte.«

Schweigend hatten die Mädchen zugehört, und jetzt reichte Hedwig ihre beiden Hände dem Bruder, die dieser schüttelte und küßte. Auch Martha betrachtete ihn, und er kam ihr in diesem Augenblicke, indem sein Gesicht in brüderlicher Liebe leuchtete, noch schöner vor als vorher, als er mit bleichem Gesicht, aber entschlossenem Ausdruck aufgesprungen war, um unmittelbar nach dem Schuß nach dem Täter zu sehen.

Der Wald lichtete sich, einige Häuser wurden sichtbar, und bald darauf erschütterte ein entsetzliches Straßenpflaster den Wagen, und dann hielt man auf einem Marktplatz, der – wie überall in Schlesien – den Namen »Ring« führte. Der Obergrenzkontrolleur und seine Schwester waren am Ziele.

Vergebens baten sie indes Martha, mit auszusteigen und bei ihnen eine kleine Erfrischung einzunehmen, bevor sie noch die zwei Meilen bis nach dem Gute ihres Vaters zurücklegen wollte. Martha sträubte sich entschieden dagegen. Sie wurde das Gefühl der Schüchternheit in Gegenwart des jungen Mannes nicht los. Dann erklärte aber auch Wojtek, es wäre wegen des miserablen Weges geratener, abzufahren, weil sonst die Dunkelheit hereinbreche und nur für kurze Zeit der Mond am Himmel bleibe, bevor er untergehe.

Nach herzlichen Dankes- und Abschiedsworten von seiten der Geschwister, nach verlegenem Stammeln einiger Worte von seiten Marthas fuhr der Wagen aufs neue davon.

Bald war die kleine Stadt verlassen, und trotzdem die Dunkelheit hereinbrach, wurde die Gangart der Pferde jetzt lebhafter. Sie merkten wohl, daß sie sich der Heimat näherten.

Als sie die Stadt verlassen hatten, wendete sich Wojtek um und sagte, zum ersten Male vertraulich werdend, zu Martha:

»Es ist nicht das erstemal daß die Schwärzer Schwärzer ist der Provinzialismus für Schmuggler, Pascher. nach dem Herrn Obergrenzkontrolleur schießen. Sie haben ihm schon zehnmal den Tod geschworen, und ich gebe für sein Leben keinen polnischen Groschen. Er tut ihnen zu viel Schaden, und seitdem er hier ist, haben sie sehr viel Unglück.«

Der alte Mann hatte jedenfalls geglaubt, Martha nichts als eine interessante Neuigkeit mitzuteilen. Aber das Mädchen sank in die Ecke des Wagens zurück und war ganz fassungslos über die fürchterliche Mitteilung, die ihr da wurde.

Also das Leben des Mannes, den sie da eben erst kennen gelernt hatte, war nicht mehr einen Heller wert. Den Tod geschworen hatten ihm seine Feinde!

Mein Gott, mein Gott! war es denn möglich, daß so etwas in der Welt geschah? War denn das das Leben, welches Martha kennen lernen sollte? Ein Leben voll Lüge, voll Betrug, voll verratener Liebe, voll Mord, voll Feindschaft und Gesetzlosigkeit! O Gott, o Gott! Und in diesem Leben sollte sie fortan immer sich bewegen!

Zu Hause warteten ihrer wer weiß welche Überraschungen! – Aber was dachte sie denn an sich selbst, was hatte sie sich um sich selbst zu bangen? Was konnte ihr denn geschehen? – Aber er, dieser mutige, pflichtgetreue Mann, ihn bedrohten tausend Gefahren, sein Leben war nicht mehr einen Pfifferling wert. Wenn die Kugel ihn getroffen, wenn er plötzlich zu ihren Füßen gelegen hätte!

Martha schlug trotz der Dunkelheit die Hände vor ihr Gesicht und schluchzte laut.

* * *

 


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