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Durch das geöffnete Fenster des Zimmers, in welchem Martha arbeitend saß, drang die laue Frühlingsmorgenluft, und ihr Hauch schien etwas Balsamisches und Berauschendes zu haben, denn das junge Mädchen war in so tiefe Träumereien versunken, daß sie nicht einmal auf Ulka achtete, die wieder zu ihren Füßen saß und eifrig arbeitete, hin und wieder einen listigen, raschen Blick auf die junge Herrin werfend.

Wovon träumte Martha? Hätte man sie gefragt, womit ihre Gedanken sich beschäftigten, so hätte sie vielleicht behauptet, sie denke an Hedwig von Kontala, in Wirklichkeit aber dachte sie an ihren Bruder. Die Szene blieb ihr unvergeßlich, in der sie die Seligkeit empfunden hatte, ihn, nach dem plötzlichen Schusse des Mordgesellen, unverletzt zu sehen. Es war ihr, als fahre sie wieder in dem Wagen zusammen mit Hedwig und deren Bruder, als höre sie den Hufschlag der in rasendstem Galopp dahinjagenden Pferde ... vom Gutshofe her ertönte Hufschlag.

Ulka sprang ans Fenster und rief:

»Der Herr Oberkontrolleur!«

Im nächsten Augenblick sprang, wie von einem elektrischen Schlage getroffen, Martha von ihrem Platze auf und stand neben Ulka.

In der Tat, da war Kontala. Ein Knecht nahm ihm die Zügel ab, und der junge Mann schwang sich aus dem Sattel.

Martha trat vom Fenster zurück, denn um alles in der Welt hätte sie sich in diesem Augenblicke nicht von ihm sehen lassen mögen. Weshalb, wußte sie selbst nicht, aber sie fühlte, wie ihr Gesicht glühte, als ob ihr die Adern in den Schläfen springen wollten, sie fühlte, wie ihre Brust wogte und arbeitete, sie fühlte ein Zittern in ihrem Körper, und nur undeutlich sah sie um sich herum die Gegenstände im Zimmer.

Sie setzte sich wieder nieder, weil sie bemerkte, daß Ulka fragend auf sie blickte. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, so sehr sie auch die Finger zusammenpreßte, um die Nadel festzuhalten, diese zuckte hin und her, das Zittern der Finger konnte Martha nicht überwinden, und es dauerte einige Zeit, bis sie entdeckte, daß aus ihren Augen Tränen tropften. Wenn sie nur gewußt hätte, warum dies geschah?

Es wurde an die Tür geklopft. Die alte Wirtschafterin kam und meldete, das gnädige Fräulein möchte nach dem Besuchszimmer kommen, es sei jemand da, der sie zu sprechen wünsche.

Martha stand auf, und als sie die ersten Schritte zu machen versuchte, kam es ihr vor, als werde es ihr kaum gelingen, bis zur Tür zu gehen. Aber dann faßte sie sich, fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen, und folgte der Wirtschafterin bis nach dem Zimmer, in welchem gewöhnlich die Mahlzeiten eingenommen wurden, und in welchem sie Otto von Kontala neben ihrem Vater sitzen sah.

Er sprang bei ihrem Eintritt auf und trat ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Zögernd legte sie ihre Rechte in die seinige, und dann hörte sie mit zu Boden gesenkten Augen, wie er sagte:

»Ich freue mich herzlich, mein gnädiges Fräulein, Sie wiederzusehen, und ich bin beauftragt worden, Ihnen die aufrichtigsten Grüße und den Dank meiner Schwester zu überbringen.«

Martha antwortete nicht, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hob nur auf einen Augenblick die Augenlider, und ein dankbarer Blick traf den jungen Mann, der ganz hingerissen schien von dem Zauber der Lieblichkeit und Jungfräulichkeit, der über diesem jungen Mädchen lag.

»Unser kleines Seelchen,« sagte jetzt eine volle Stimme, »ist noch immer verschüchtert und sehr erschreckt von den Vorfällen der vergangenen Nacht.«

Unwillkürlich sah Kontala nach der Richtung, aus der die Stimme kam, und bemerkte Femia, welche seitwärts von Martha stand, und mit ihrer eigentümlichen, blendenden und doch kalten Schönheit unwillkürlich zu einem Vergleich herausfordern mußte.

Femia näherte sich jetzt Martha, legte den Arm um die Taille des Mädchens und zog dasselbe an sich. Im nächsten Augenblicke fühlte Martha, wie ein elektrisches Zucken durch ihren Körper ging, und auf ihrer Stirn brannte etwas, wie ein glühendes Feuermal. Femia hatte die Stieftochter an sich gezogen und geküßt.

Unmittelbar darauf empfand Martha ein Gefühl der Empörung und des Zornes, das ihr selbst unbegreiflich schien. Aber dieses Gefühl trug dazu bei, ihr die nötige Festigkeit und Haltung wiederzugeben, die sie von dem Augenblicke an verloren hatte, als sie Kontala erblickte.

Als sie jetzt zu ihm aufsah, sah sie ihn lächeln, wohl über das eigentümliche Bild, das Martha in den Armen Femias bot. Dann sagte er:

»Sie sind also auch durch die Schüsse erschreckt worden?«

»Allerdings!« sagte Frau von Sembitzka, »wir sind gestört worden, noch mehr aber unser kleiner Liebling hier, welcher allerdings nicht gewöhnt ist, nachts durch kriegerischen Lärm geweckt zu werden.«

»Es handelte sich,« sagte Kontala, »um etwas sehr Wichtiges. Zwei meiner Leute behaupten, in der Nähe Ihres Parkes ›Pique-Aß‹ gesehen zu haben, und sie haben Feuer auf die Erscheinung gegeben.«

Ein lautes Lachen klang plötzlich durch den Raum, ein Lachen, das gar kein Ende nehmen zu wollen schien, und das doch so eigentümlich, so hölzern klang. Frau Femia schien von einer Lustigkeit ergriffen, gegen welche sie sich kaum mehr sträuben konnte.

Diese Lustigkeit wirkte sehr verschieden auf die Anwesenden. Sembitzki selbst lächelte, weil er sich jetzt dazu berechtigt glaubte, während seine Frau lachte. Martha war bestürzt, und Otto von Kontala sah erstaunt aus.

»Sie verzeihen,« sagte Femia endlich, »wenn ich so ungezogen war, zu lachen, aber Sie glauben nicht, wie sehr ich mich schon seit langer Zeit über das Märchen von Pique-Aß amüsiere!«

»Über das Märchen?« fragte Kontala erstaunt.

»Gewiß, gewiß!« entgegnete eifrig Frau von Sembitzka, »nichts als ein Märchen, ich versichere Sie! – Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie sich auch durch die Erfindungsgabe unsrer Leute täuschen lassen würden. Sie glauben nicht, wie sehr bereit diese Menschen sind, zu erfinden. Es liegt wohl in ihrem Nationalcharakter, daß sie so viel Sinn für Erfindungen und Erdichtungen haben, und so genügt denn eine Kleinigkeit, ein ganz geringer Kern, um eine Sage um denselben zu weben. Ich versichere Sie, ich glaube nicht an Pique-Aß, und die wirklichen Schmuggler auch nicht. Vielleicht ist es ja den Leuten ganz recht, wenn die Nichteingeweihten an irgendeine geheimnisvolle Persönlichkeit glauben, welche maskiert und verkleidet, wie eine mysteriöse Macht die Unternehmungen der Schmuggler leitet. Ich glaube nicht daran und könnte Ihnen augenblicklich einen Gegenbeweis liefern, wie leicht hier Sagen und Märchen entstehen. Sehen Sie hinaus in diesen unschuldigen Park. Betrachten Sie ihn genau und sehen Sie, ob er wohl so aussieht, als wandelten nachts Gespenster unter seinen Bäumen? Und doch knüpft sich an ihn eine düstere Sage, welche auch hier unsern kleinen Liebling« – Frau Femia zog Martha an sich, was diese schaudernd duldete – »in solch furchtbaren Schrecken gesetzt hat. Angeblich wandelt dort allnächtlich der Geist irgendeines früheren Schloßbesitzers umher, und ich versichere Sie, es gibt auf dem Hofe eine ganze Anzahl von Menschen, die bereit wären, zu beschwören, daß sie in Wirklichkeit dieses Gespenst gesehen haben. Offen gesagt, ist mir dieser Schloßgeist eine ganz angenehme Akquisition, und ich habe noch gar nichts getan, um die Leute von ihrem Glauben abzubringen, was ja auch vergeblich sein würde. Aber ich ziehe Vorteil aus dieser Sage von dem Schloßgeist, denn es wagt sich niemand des Nachts in den Schloßpark, und so bin ich wenigstens davor sicher, daß mein Gemüse, daß im Herbst das Obst und die Baumanlagen nicht von Dieben heimgesucht werden. Nein, nein, ich versichere Sie, Herr Obergrenzkontrolleur, ich glaube nicht an das Märchen von Pique-Aß, und ich kann nur nochmals meiner Verwunderung darüber Ausdruck geben, daß ein so nüchterner und praktischer Mann, wie Sie, an dieses Märchen glaubt.«

Femia hatte sich in solchen Eifer geredet, man sah es ihr an, wie viel ihr daran lag, die Mythe von Pique-Aß und der ganzen Organisation der Schmuggler zu zerstören, daß Martha sowohl wie Kontala dies auffällig finden mußten.

Sembitzki, der in seinem Rollstuhl saß und beständig lächelte, als seine Frau so eifrig sprach, schien weniger diesen übertriebenen Eifer herauszufinden.

»Ich weiß nicht, was Sie veranlaßt, gnädige Frau,« sagte Kontala, »so energisch die Existenz der geheimnisvollen Persönlichkeit abzustreiten, wenn es nicht die Opposition ist, die in allen Damen und insbesondere in allen geistvollen Damen steckt.«

Er verbeugte sich vor Frau Femia, und diese drohte ihm lächelnd mit dem Finger.

»Ich will Ihnen einen Beweis liefern,« sagte Kontala, »den ich eigentlich zurückhalten sollte, weil er sich fast auf ein Dienstgeheimnis bezieht. Indessen, um Sie davon zu überzeugen, daß der Glaube an diese geheimnisvolle Persönlichkeit berechtigt ist, will ich es wagen. Es war uns vor einigen Wochen gelungen, einen der Schmuggler, welcher ziemlich tief eingeweiht schien, für uns zu gewinnen, und da wir den Verkehr mit ihm sehr vorsichtig betrieben, glaubten wir aus seiner Bekanntschaft viel Vorteil ziehen zu können, aber eines Tages erhielt er einen Brief, in dem sich nichts als eine Pique-Aß-Karte, mit einem Zeichen versehen befand. Diese geheimnisvolle Andeutung genügte ihm aber, um zu wissen, daß er verraten sei. Das Zeichen, bestehend aus einem kleinen Kreuz, war mit schwarzer Tinte in eine der Ecken der Aßkarte gezeichnet und zeigte ihm sein Todesurteil an. Der Mann erhängte sich noch in derselben Nacht aus Angst davor, sonst durch seine Genossen, die er verraten wollte, in grausamer Weise getötet zu werden. In einem Brief, den er hinterließ, und den ich heute noch aufbewahre, teilte er mir den Grund für seinen Selbstmord mit, und riet mir noch dringend ab, Pique-Aß auf die Spur kommen zu wollen, weil dies der Teufel selbst sei.«

»Sie überzeugen mich nicht,« entgegnete Femia. »Ich fürchte, der Dummkopf, der sich erhing, ist das Opfer irgendeines schlechten Scherzes geworden. Aber lassen wir das! Ich glaube, die ganze Unterhaltung hat keinen Zweck und trägt nur dazu bei, unsern kleinen Liebling und auch mich, die ich ja nichts bin als ein furchtsames Weib, noch ängstlicher zu machen. Sprechen wir von etwas anderm!«

In diesem Augenblicke trat der alte Diener herein und meldete, daß jemand draußen sei, der die gnädige Frau zu sprechen wünsche.

»Wer ist es?« fragte Femia.

»Es ist Mikaz, der Kretschmer.«

Femia wechselte einen Augenblick die Farbe und sagte dann:

»Ich weiß schon, er kommt wegen des Heus, das er kaufen will. Ich werde ihm Bescheid sagen.«

Im nächsten Augenblicke war sie hinaus und hatte im Vestibül des Hauses eine, wie es schien, sehr interessante Unterhaltung mit Mikaz, der sich dann mit höflichem Gruß wieder entfernte.

Kontala schlug es aus, zu Tisch zu bleiben. Er empfahl sich, und als er Martha die Hand reichte, sah er sie erröten und hörte sie einige Worte stammeln.

Otto von Kontala fühlte einen Händedruck, so energisch und fest, wie er ihn dieser kleinen Hand nicht zugetraut hätte. Dann stammelte er einige Worte des Abschieds, reichte noch Sembitzki die Hand und ging hinaus, um wie im Traum sein Pferd zu besteigen und vom Schloßhof zu reiten.

*

In der Schenke des Mikaz in Losachew saßen am späten Abend noch einige Leute, welche sich mit dem Trinken von Bier und Schnaps und mit Kartenspiel vergnügten. Als es aber gegen neun Uhr wurde und die Kuckucksuhr an der Wand diese Stunde verkündigt hatte, erhoben sich dieselben bis auf einen und verließen, nachdem sie bezahlt hatten, die Schenkstube.

Dieser eine, der zurückblieb, war ein Bauer, wohl am Ende der fünfziger Jahre. Sein bartloses Gesicht wies zahlreiche Falten und harte, vertiefte Züge auf. Seine Augen aber funkelten scharf und hatten fast etwas Rauflustiges.

Er wartete, bis Mikaz und er allein waren, dann trat er an jenen heran und fragte:

»Kommt Ihr heut abend in die Versammlung?«

»Jawohl, Simon,« entgegnete Mikaz, »ich muß hinkommen, denn ich habe Wichtiges mitzuteilen.«

Während der letzten Worte hatte Mikaz die Laden der Schenkstube, welche verschlossen waren, noch einmal untersucht, hatte die Türen verschlossen, die Laden, welche sich inwendig der Tür befanden, zugemacht und mit eisernen Stangen abgesperrt. Dann rief er die Magd und sagte ihr, daß er sich zeitig zur Ruhe zu legen gedenke, und daß sie daher öffnen solle, wenn nachts jemand klopfe.

Die Magd entfernte sich darauf, um ihre Schlafkammer aufzusuchen; dann ging auch Simon demonstrativ fort, nachdem er sich laut von Mikaz verabschiedet hatte.

Einige Minuten später lag die Schenke in vollständige Dunkelheit gehüllt. An der Hinterseite des Gehöftes aber, wo eine Tür nach außen führte, wartete Simon, und zwar nicht allzulange Zeit. Bald öffnete sich diese Tür, und ein leises Hüsteln ließ ihn die Stimme des Gastwirtes Mikaz erkennen.

Simon antwortete durch ein leises »Pst!« Dann gingen die Männer durch die Dunkelheit mit sicherem Schritt weiter. Offenbar schienen sie das Terrain, auf dem sie sich befanden, sehr genau zu kennen. Sie blieben nicht auf der Dorfstraße, sondern zogen sich vielmehr um die äußersten Gehöfte des Dorfes herum, mehr nach dem Hügel zu, auf welchem das Vorwerk Katzenberg lag.

Am Abhang dieses Hügels standen einige hölzerne Chaluppen, Von dem polnischen Worte chalupa, das Haus des polnischen Bauern. das heißt die elenden Häuser, wie sie in dem bäuerischen Stil jener Gegend üblich waren und heute noch sind. Diese Häuser waren aus übereinandergelegten Balkenquadraten, welche an den Ecken miteinander verbunden waren, erbaut, das niedrige Dach, welches sich kaum etwas über Mannshöhe über dem Erdboden befand, war mit Strohschoben eingedeckt, und die Hinterwand dieser Häuser lehnte sich so an den Hügelabhang, daß es fast aussah, als wären diese Chaluppen dort eingegraben.

Das fürchterlichste Elend und die größte Armut herrschte in den drei Häusern, die an jener Stelle standen, denn hier genossen die Armen des Gutes das Gnadenbrot, hier waren auch die siechen und kranken, arbeitsunfähigen Hofbediensteten untergebracht.

Mikaz und Simon warteten einen Augenblick vor der zweiten dieser Chaluppen und lauschten in die Dunkelheit hinaus, ob sich irgendein Geräusch vernehmen lasse. Als aber alles still blieb, klopfte Mikaz rasch hintereinander dreimal an die Haustür, worauf von innen eine Stimme halbleise eine Auskunft begehrte.

Statt aller Antwort schob Mikaz durch die Türspalte eine Karte, die er vor dem Verlassen der Schenke aus einem alten Kartenspiel entnommen hatte. Dann wurde die Tür geöffnet, und Mikaz betrat, gefolgt von Simon, den Hausflur.

Aus diesem gelangte man direkt durch einen Türstock, der durch keine Tür verschlossen war, in ein entsetzliches Loch, welches viel mehr einer Höhle als einer menschlichen Wohnung ähnelte. In einer Ecke stand ein Herd, auf welchem noch einige Holzscheite glimmten. Neben dem Herd befanden sich einige Stangen, auf denen ein paar Hühner saßen und schliefen. Dicht neben dem Herde standen einige Kasten, die mit Stroh angefüllt waren, aus dem die Köpfe von Kindern hervorguckten. Die unglücklichen Wesen schliefen, dicht neben den Kasten der Kinder lagen in traulicher Gemeinschaft zwei kleine Schweinchen, welche sich im Schlafe ebenfalls aneinandergedrückt hatten. In einer Ecke, unter dem braunen Bilde der Mutter Gottes von Czenstochau, vor welchem eine kleine Lampe brannte, saß ein Mann in bäuerlicher Tracht, welcher aus einer kurzen Pfeife rauchte.

Die Bäuerin, welche geöffnet hatte, trat jetzt hinter den beiden Gästen in ein Zimmer, in welchem außer einer Bettstatt und einer blauen, großen Holztruhe, die mit roten und gelben Blumen bemalt war, nur einige roh angestrichene Bänke und zwei roh zusammengezimmerte Stühle als Mobiliar sich befanden. An einem Riegel an der Wand gegenüber dem Herde hingen ein paar Kleidungsstücke, wohl der Sonntagsstaat für den Bauer und die Bäuerin, und das Hauptstück bildete ein großer blauer Mantel und einige bunte Kattunröcke sowie eine pelzbesetzte Jacke, ein Kontusch.

Mikaz schritt, gefolgt von Simon, auf die Wand, und zwar direkt auf den Kleiderriegel zu. Dann tasteten seine Hände nur einen Augenblick an der hölzernen Wand herum, und plötzlich wich der Kleiderriegel mit samt den daranhängenden Sachen, und eine Tür, die auf Mittelzapfen stand, drehte sich so, daß die Männer rasch eintreten konnten. Dann schloß sie sich wieder hinter ihnen, und der Bauer und die Bäuerin blieben ruhig sitzen, als ob nichts vorgefallen wäre.

Als Mikaz und Simon aus der Bauernstube durch diese eigentümliche Tür heraus waren, traten sie in einen Raum, welcher vollständig dunkel war. Sie tasteten sich vorsichtig an Warenballen und an einzelnen mächtigen Pfosten vorbei, welche offenbar die Decke stützten, dann fühlte Mikaz eine Tür, die er aufstieß und hinter welcher Licht schimmerte.

Als dieses Licht in den Teil des Raumes fiel, in dem Mikaz und Simon sich befanden, sah man, daß diesseits und jenseits der Tür die Einrichtung dieselbe war. Entrindete, abgesägte Baumstämme trugen die Decke, welche wiederum durch Querhölzer, fast nach Art der bergmännischen Türstöcke, gestützt waren, und standen ohne eigentliches System ungeordnet, aber doch so, daß zwischen ihnen Zugänge blieben, während an den Wänden durch sie Abteilungen entstanden, welche von oben bis unten mit Waren vollgestapelt waren.

In dem Raum, der erleuchtet war, standen ein Tisch und einige hölzerne Schemel. Zwei Personen warteten bereits auf den Eintritt, von denen die eine wiederum in bäuerliche Tracht gekleidet war und ein Mann im Alter des Simon sein mochte, während die andre ebenfalls Männerkleidung, darüber aber einen langen Mantel trug. Das Gesicht war durch eine schwarzseidene Maske vollständig verdeckt, deren Fransen auch noch über das Kinn fielen. Nur für die Augen waren Öffnungen eingeschnitten, und diese Augen schienen in der unsicheren Beleuchtung eines Talglichtes, das in einen eisernen Leuchter gesteckt war, zu funkeln und zu glühen. Über den Kopf hatte diese Person die Kapuze des Mantels geschlagen, so daß sie im ganzen, mit dem verlarvten Gesicht und der Mantelumhüllung, einen geradezu furchterregenden Eindruck machen mußte.

Simon und Mikaz legten die Hand auf die Brust und verbeugten sich stumm vor dem Verlarvten. Auf einen Wink desselben nahmen sie auf den zwei noch leeren Schemeln Platz, und trotzdem man sich offenbar in einer in das Innere des Hügels hineingegrabenen Höhlung befand, sprachen diese Personen nur im Flüstertone. Nur der Verlarvte sprach etwas lauter, wohl wegen der Maske, aber seine Stimme klang eigentümlich weich, so sonderbar, als wäre es keine Männerstimme.

Der Bauer, welcher neben dem Verlarvten saß, hatte eine Schiefertafel vor sich, auf die er mit ungelenker Hand einige Zahlen notierte.

Derselbe erklärte im Flüsterton:

»Wir haben einige hundert goldene Uhren, Spitzen und Seidenstoffe heute wieder empfangen, und wie Ihr Euch überzeugen könnt, ist unser Lager hier so voll, daß wir kaum noch weiteres aufstapeln können. Es ist dringend notwendig, daß womöglich morgen schon eine Kolonne unsrer Freunde von jenseits der Grenze kommt, um diese Sachen abzuholen. Ihr werdet dafür Sorge tragen, Mikaz.«

Der Angeredete erhob sich und legte zum Zeichen der Zustimmung die Hand auf die Brust.

»Die Grenzbeamten,« sagte jetzt der Verlarvte, »werden morgen und übermorgen flußaufwärts patrouillieren wenn also unsre Freunde flußabwärts gehen, so werden sie ungehindert durchkommen, insbesondere, da die Russen ihnen nichts in den Weg legen werden. Wie steht es aber mit den gemeldeten Transporten von Tee und Kaviar?«

Mikaz erhob sich wiederum und sagte:

»Es sind heute und gestern bereits fünfzig der Unsern über die russische Grenze gegangen, welche morgen nacht zurückkehren wollen. Morgen abends spät wird noch einer von uns über die Grenze gehen und ihnen mitteilen, wo es am sichersten ist.«

»Ihr werdet,« erklärte der Verlarvte, »Nachricht von mir bekommen, und ich glaube, die Verhältnisse liegen jetzt für uns so günstig, daß wir in nächster Zeit einige größere Transporte ungehindert werden hinüberbringen können. Hat noch jemand irgend etwas vorzutragen?«

Da die drei andern schwiegen, erhob sich plötzlich leidenschaftlich der Verlarvte und erklärte:

»Ihr wißt, daß ich euer Führer bin, nicht um des Geldgewinnes willen, oder vielmehr nicht deshalb, um meine Geldgier zu befriedigen und mir Vorteil zu verschaffen. Ihr wißt, daß ich getreulich den auf mich entfallenden dreifachen Anteil und die Abgabe, die ich von euerm Verdienst erhebe, an das Revolutionskomitee absende, welches die Erhebung unsers Volkes für die nächste Zeit vorbereitet. Ihr wißt, daß nichts als Vaterlandsliebe mich veranlaßt hat, nach dem Tode meine Vaters eure Führung zu übernehmen. Ich verlange aber auch, daß meine Befehle respektiert werden, sonst gebe ich es auf, euch weiter zu leiten, und was ich euch bin, wißt ihr wohl am besten. Wer hat sich erlaubt, gegen meinen Befehl auf den Anführer der Grenzjäger zu schießen? Ich will diesen Mörder kennen lernen.«

Die drei Anwesenden schwiegen. Leidenschaftlich fragte der Verlarvte weiter:

»Wer war es? – Ich fordere Auskunft! – Ihr wißt, daß ich es auf das strengste verboten habe, solche Torheiten zu begehen. Wird erst einer dieser Grenzjäger getötet, so bekommen wir Militär auf den Hals, und ich versichere euch, die Untersuchung, die dann angestellt wird, wird so geführt, daß es euch allen an den Kragen geht. Es gibt nichts Törichteres, als diese Leute, und noch mehr ihre vorgesetzte Behörde durch solche Sachen wie Meuchelmord zu reizen. Ist es nicht schlimm genug, daß Blut fließen muß, wenn es bei den Transporten zu Zusammenstößen kommt? – Ich will wissen, wer es war!«

Simon erhob sich und sagte:

»Pique-Aß fordert die Wahrheit, und ich werde sie nicht verweigern. Es ist einer der Unsrigen, ein unbedachtsamer junger Mensch, der einen großen Haß auf den Anführer der Grünen geworfen hat, weil dieser seinen Bruder zum Verräter machte und dieser sich das Leben nahm. Er wollte sich rächen. Ich habe ihm bereits Vorwürfe gemacht, und er hat beschlossen, derartige eigenmächtige Handlungen zu lassen!«

»Wie weit ist er eingeweiht?« fragte der Verlarvte.

»Bis zur Pique-Zehn,« entgegnete Simon.

»Nun wohl,« entgegnete der Verlarvte, »ich beauftrage euch hiermit, Pique-Zehn in meinem Namen mitzuteilen, daß der Unbedachtsame und Ungehorsame hiermit den ersten, aber auch letzten Verweis erhält. Sobald er sich noch ein einziges Mal untersteht, gegen meine strikte Order zu handeln, wird er die Strafe finden, welche ihm angedroht wurde, als er den Schwur leistete, nämlich den Tod. Ich werde nicht dulden, daß durch die Übereilung eines unbedachtsamen Menschen unser aller Geschick aufs Spiel gesetzt wird. Ich untersage jede Gewalttätigkeit gegen unsre Feinde, insbesondere gegen den Anführer und seine Leute. Ich werde euch morgen nachmittag Mitteilung machen lassen, wohin der Transport sich am besten zu wenden hat, oder noch besser, kommt ihr zu mir und erwartet mich am Portal des Schlosses.«

Mikaz erhob sich wiederum und verbeugte sich. Der Verlarvte nickte den dreien noch zu, dann ging er durch eine Tür, die sich entgegengesetzt von derjenigen befand, durch welche Simon und Mikaz eingetreten waren.

Die drei blieben noch einen Augenblick zusammen, um sich im Flüsterton zu unterhalten. Dann verlöschte das Licht, und die drei verließen das unterirdische Warenlager auf demselben Wege, den Mikaz und sein Begleiter gekommen waren.

Als sie die Tür der Chaluppe öffnen wollten, die nach der Straße führte, lauschten sie erst gespannt, und als sie draußen Stimmen vernahmen, warteten sie, bis die von einer Patrouille zurückkehrenden Grenzjäger sich entfernt hatten.

Dann traten auch die drei ins Freie und entfernten sich nach verschiedenen Richtungen.

*

Am nächsten Morgen erwachte Martha zeitiger als sonst, nach einer Nacht voll der wirrsten Träume, die immer unterbrochen wurden durch Schlaflosigkeit, während welcher das junge Mädchen nachdenken mußte.

Martha glaubte, sie würde überhaupt keinen Schlaf finden, denn die Gedanken, welche seit Mittag, seit dem Besuche Kontalas, durch ihren Kopf wogten, wollten gar kein Ende nehmen. Es waren eigentümliche, törichte Gedanken, die immer wieder zu ihm zurückkehrten. Sie schalt sich, daß sie ihm so unbeholfen und linkisch entgegengetreten sei, nachdem sie ihn zum erstenmal wieder gesehen; sie schalt sich, daß sie nicht den Mut und den gesellschaftlichen Takt gefunden hatte, mehr mit ihm zu sprechen, als sie getan. Aber war sie nicht durch das, was sie um sich sah und hörte, so bestürzt geworden, daß man es ihr kaum übelnehmen konnte, wenn sie nicht Herrin ihrer selbst blieb? – War die Liebenswürdigkeit und Zärtlichkeit ihrer Stiefmutter ihr gegenüber nicht etwas geradezu Überwältigendes, um nicht zu sagen Beängstigendes für Martha?

Welch eine Umwandlung war denn mit dieser Frau vorgegangen? – Daß es sich hier nicht um eine einfache Laune handeln könne, sah Martha mit dem ganzen Instinkt des weiblichen Herzens ein. Diese Ausdrücke: »Mein Liebling«, »Unser kleines Kindchen«, diese Zärtlichkeit in den Umarmungen und Küssen, wer hätte sie wohl bei dieser Frau vermutet, die sich zuerst so abstoßend gegen Martha verhalten hatte?

Martha kam es vor, als habe sie noch andre Überraschungen zu gewärtigen, nachdem fast jede Stunde, seitdem sie sich zu Hause befand, unvermutete und unvorbereitete Ereignisse eingetreten waren, die sie nicht aus dem Nachdenken herauskommen ließen.

Als sie endlich zur Ruhe ging, arbeiteten doch ihre Gedanken kraus und wirr in Träumen durcheinander. Bald hielt sie ihre Freundin, Hedwig von Kontala, in den Armen und begrüßte sie, und dann verwandelte sich die Freundin plötzlich in den Bruder, und Martha duldete zitternd und bebend im Traume seine Küsse. Dann kam es ihr vor, als sei sie allein mit ihrer Stiefmutter, die ihr mit lächelndem Antlitz nahte und sich plötzlich vor ihr in ein grinsendes, fürchterliches Ungeheuer verwandelte, das sie mit den kalten, entsetzlichen Augen anstierte und zu vernichten drohte.

Endlich kam der Morgen herauf und machte allen den törichten Träumereien und Nachdenklichkeiten Marthas ein Ende. Sie kleidete sich an und nahm dann wie sonst mit den Eltern das Frühstück ein.

Nach diesem ging sie an die Arbeit, während Frau Femia von Sembitzka sich fertig machte, um nach Lublinitz zu fahren, wo sie Einkäufe besorgen wollte. Martha saß in ihrem Zimmer bei der Arbeit, und alles ging seinen gewohnten Gang, nur der Schloßherr wich heut von der Regel ab.

Wir finden ihn im Park unter einer Gruppe von Rotbuchen in seinem Rollstuhl sitzend.

Wojtek, der treue Diener, hatte ihn auf seinen Wunsch aus dem Zimmer bis hierher geschoben, und die frische Luft des Frühlings schien dem Kranken wohlzutun, ihn aber doch auch zu ermüden, denn er schloß hin und wieder die Augen, und wenn er sie wieder öffnete, so sahen sie aus, als erwache er aus einem tiefen Schlaf und müsse sich erst besinnen, wo er sei.

Wojtek saß in der Nähe seines Herrn auf einem Baumstumpf und betrachtete ihn mit Blicken des Mitleids und, wie es schien, der Rührung. War das wirklich sein früherer Herr, der prächtige Kavalier von Sembitzki, diese Jammergestalt, die da in dem Rollstuhl saß?

Der Kranke murmelte die Namen seiner Tochter und seiner Frau und schien über sich selbst nachzudenken.

Seine Gedanken waren ungeordnet und wollten nicht immer logischer Ordnung sich fügen. Es war eine merkwürdige Verwirrung, die in seinem Kopfe herrschte, aber manchmal gelang es ihm doch, vollständig richtige Schlüsse zu ziehen, und dann sagte er sich, daß er krank sei, sehr krank. Der Schlaganfall, der ihn vor einer Reihe von Jahren getroffen, hatte leider auch auf sein klares Denken Einfluß gehabt, und wenn er sich jetzt zwang, sich der letzten Jahre zu erinnern, so kam es ihm vor, als habe er beständig unter dem Bann irgendeiner geheimnisvollen Macht gelebt, und diese Macht hieß Femia.

Hin und wieder konnte sich Sembitzki noch daran erinnern, wie er Femia schon als Kind kannte, als sie die Tochter seines Gutsnachbarn Branitzki war. Dieser Branitzki war ein echter polnischer Lebemann gewesen, der eine echt polnische Wirtschaft führte, die mit dem Ruin enden mußte. Dazu kam noch, daß er sich über seine Kräfte hinaus an der polnischen Revolution des Jahres 1830 beteiligt hatte, trotzdem er preußischer Untertan war. Man hatte ihm das auch nicht ungestraft hingehen lassen. Er war nach der Revolution eingezogen, aber später wieder aus dem Gefängnis entlassen worden. Dann starb er plötzlich und hinterließ eine Tochter von ungefähr zwanzig Jahren, welche zusammen mit einer alten Dienerin auf dem verfallenen Gute wirtschaftete, welches jährlich weniger Ertrag brachte und das stückweise an die Bauern verkauft werden mußte.

Dann erinnerte sich hin und wieder Sembitzki daran, wie er Eufemia von Branitzka bald nach dem Tode seiner Frau gesehen hatte, als sie sich aus dem Kinde zur Jungfrau entwickelt hatte und versprach, eine Schönheit zu werden. Damals hatte ihn ihr eigentümliches Wesen angezogen und doch abgestoßen.

Dann erinnerte er sich, wie wieder einige Jahre vergangen waren und wie Eufemia eines Tages zu ihm kam, um ihn um seine Vermittlung bei dem Verkaufe des Restgutes zu bitten, und wie gerade in jener Zeit, da er ihr Helfer war, ihn der tückische Schlaganfall niederwarf. Dann hatte sich die hilfeflehende Eufemia, welche damals schon am Anfange der zwanziger Jahre stand, in eine Helferin verwandelt. Sie war seine Pflegerin geworden.

Der Schlaganfall schien aber außer der geistigen auch seine Willenskraft gelähmt zu haben, denn bald war er wie ein weiches Wachs in den Händen dieser Frau, welche ihn so vollständig beherrschte, daß Sembitzki sich das selbständige Denken abgewöhnte und nur noch wagte, das zu denken, was Femia sagte. Er fand es auch ganz selbstverständlich, als sie ihm eines Tages vorschlug, seine Frau zu werden, weil es für sie beide von Vorteil sei, für ihn, damit er eine Pflegerin habe, für sie, weil sie nicht weiter allein in der Welt stehen wollte. Er hätte es nicht gewagt, zu widersprechen, und wenn man das Unglaublichste von ihm verlangt hätte, so lange Femia dastand, und ihn mit ihren Augen fixierte.

Plötzlich stand sie vor ihm, an die er soeben gedacht hatte und neben ihr Otto von Kontala. Frau Femia von Sembitzka wollte soeben in den Wagen steigen und fortfahren, als der Obergrenzkontrolleur in den Gutshof geritten kam. Sofort schickte Frau Femia den Wagen zurück und führte den Gast zu dem kranken Gatten im Park.

Herr von Sembitzki lächelte, als er Kontala sah, der ihm die Hand entgegenstreckte.

»Freut mich sehr! Freut mich sehr, Sie zu sehen. Ich freue mich immer, Sie zu sehen; Sie müßten viel öfter kommen. Meine Frau erlaubt es. Gewiß, gewiß!« sagte er und warf einen fragenden Blick auf Femia.

Die schöne Frau lächelte und sagte:

»Wie kannst du daran zweifeln, Staschu? Weißt du nicht, wie froh ich bin, wenn jemand kommt, den du gern siehst?«

»Sie machen mich,« sagte Otto von Kontala, »mit Ihrer außerordentlichen Liebenswürdigkeit für immer zu Ihrem Schuldner. Ich weiß nicht, wie ich das wieder gutmachen soll, um so mehr, als ich heute mit einer Bitte komme, die ich in dienstlichem Interesse Ihnen, Herr von Sembitzki, vortragen möchte.«

»Mein Mann wird gewiß,« sagte Frau Femia, dicht an ihren Gatten herantretend, »sehr gern diese Bitte erfüllen.«

»Es handelt sich,« sagte Kontala, »um eine Unterstützung, deren ich morgen abend gegen die Schmuggler bedarf. Es ist wohl selbstverständlich, daß ich voraussetze, was ich Ihnen sage, ist Geheimnis, und es handelt sich um eine Sache, von der niemand Kenntnis bekommen darf.«

Frau Femias Nasenflügel zitterten, und ihre Brust hob sich unwillkürlich rascher, als sie jetzt fragte: »Sie wünschen wohl, daß ich Sie mit meinem Gatten allein lasse?«

»O nein!« versetzte Kontala, »durchaus nicht, gnädige Frau! Ich werde natürlich nicht so unsinnig sein, auch nur einen Augenblick zu glauben, daß man Ihnen nicht ein Geheimnis anvertrauen könnte. Außerdem werde ich, glaube ich, noch Ihrer ganz besonderen Einwilligung bedürfen. Gestatten Sie, daß ich Ihnen erzähle, um was es sich handelt: Soeben ist mir die Meldung zugegangen, daß für morgen nacht ein größerer Zug der Schmuggler von jenseits der russischen Grenze zu uns herüberkommen soll.«

Einen Augenblick war es, als habe Frau Femia einen zornigen Schrei ausgestoßen, aber es war jedenfalls nur ein Irrtum; sie hüstelte jetzt, und dieser Zornausdruck war wohl nur ein Räuspern gewesen, wenn auch ihr Gesicht bleich aussah und sich auf ihrer Stirn, zwischen den Augenbrauen, Falten zeigten, die sich immer tiefer eingruben und auf leidenschaftliche Erregung deuteten.

»Wir haben durch einen Zufall,« sagte Kontala, »Kunde bekommen von diesem Zug der Schmuggler, und es ist die Möglichkeit vorhanden, einen großen Schlag gegen dieselben auszuführen, wenn sie sich nur für recht sicher halten. Da aber das gewöhnliche Volk mit den Schmugglern unter einer Decke steckt, so ist kaum möglich, meine Mannschaften so aufzustellen, daß man nicht vorher davon Kunde bekommt. Ich wollte Sie nun um die Erlaubnis bitten, nach Eintritt der Dunkelheit meine Offizianten zu Fuß und zu Pferde, welche einzeln ankommen werden, in Ihrem Parke versammeln zu dürfen. Von dort aus werden wir dann aufbrechen, wenn ich Nachricht bekomme, und wenn Ihnen auch vielleicht eine kleine Belästigung dadurch entsteht, so hoffe ich doch, Sie werden mit Rücksicht auf die große Hilfe, die Sie der Regierung und uns Beamten leisten können, mir meine Bitte nicht abschlagen. Ich erkläre Ihnen ausdrücklich, daß alles Geräusch vermieden werden soll, um Sie, verehrter Herr von Sembitzki, im Schlaf nicht zu stören.«

Sembitzki warf einen prüfenden Blick auf seine Frau, und diese antwortete:

»Wie können Sie, werter Herr Obergrenzkontrolleur, daran zweifeln, daß wir mit Vergnügen bereit sind, Ihren Wunsch zu erfüllen. Es ist ja selbstverständlich, daß Ihre Offizianten sich möglichst ruhig verhalten werden, schon um ihre Anwesenheit nicht zu verraten. Von einer Störung für meinen Gemahl kann also keine Rede sein. Welcher Grund sollte aber dann noch übrigbleiben, Ihnen Ihre Bitte, die so außerordentlich geringfügig ist, abzuschlagen?«

»Gewiß!« sagte Sembitzki, »die Sache ist ja ganz einfach. Sie können sich in dem Borkenhäuschen verstecken.«

Femia sah einen Augenblick zu ihrem Gatten hinüber und sagte dann: »Richtig, richtig; ganz vortrefflich, lieber Stasch! – In dem Borkenhäuschen, das ist das denkbar Bequemste, was es gibt! Darf ich es Ihnen zeigen, Herr Obergrenzkontrolleur?«

Kaum hatte sich Kontala dankend verbeugt, als Femia ihn durch ein Kopfnicken aufforderte, ihr zu folgen. Elastisch schritt sie ihm eine Zeitlang voran und sagte dann stehenbleibend: »Hier ist das Borkenhäuschen, die Tür ist nur angelehnt, und Ihre Beamten können selbst in der Dunkelheit den Weg zum Park nicht verfehlen, denn da, wo er sonst durch das Gittertor abgesperrt ist und in den wirklichen Wald übergeht, befindet sich ein Pförtchen, durch welches man eintreten kann, ohne das Gittertor zu öffnen, und wenn dort in dem Borkenhäuschen nur ein klein wenig Licht durch die Fensterladen schimmert, so kann sich jeder hier genau zurechtfinden.«

»In der Tat, gnädige Frau,« sagte Otto von Kontala, »ganz vortrefflich! Es wird meinen Leuten gelingen, sich hier zusammenzufinden, ohne daß jemand im Dorfe auch nur ahnt, daß sie hier sind, und ohne erst wieder, wie üblich, den Kretscham zu ihrem Rendezvous machen zu müssen. Ich glaube nämlich, gnädige Frau, wir haben alle Veranlassung, dem Kretschmer Mikaz zu mißtrauen.«

Um Femias Lippen zuckte ein Lächeln; dann sagte sie mit außerordentlichem Erstaunen:

»Nicht möglich! Sollte der Mann mit den Schmugglern in Verbindung stehen?«

»Ich glaube es ganz gewiß,« beteuerte Kontala, »aber er ist zu klug, als daß es uns gelingen könnte, ihn zu überführen.«

Frau Femia antwortete nicht, sondern sie deutete nur auf das Häuschen und sagte: »Wollen Sie nicht eintreten?«

Dieses Häuschen bestand aus Baumpfählen, die nebeneinander in einem unregelmäßigen Kreise in die Erde gerammt und oben mit einem spitzen Dach von Latten versehen waren. Aber das ganze Äußere dieses Häuschens aber waren große Stücke von Rinde genagelt, und nur zwei Fensteröffnungen, die lediglich durch Läden verschlossen werden konnten, unterbrachen die Monotonie des Innern dieses Häuschens. In der Mitte des Raumes stand ein Tisch, und um diesen herum zogen sich Bänke.

»Sie werden gestatten,« erklärte Frau Femia, »daß ich Ihren Offizianten einen kleinen Imbiß hier so aufstellen lasse, daß niemand im Schlosse etwas davon merkt. Die Beamten werden jedenfalls müde und erschöpft aus dem Dienst kommen, und ich will selbst mit meiner Wirtschafterin, auf die ich mich verlassen kann, vorher einige Flaschen Wein und etwas kalte Küche besorgen, damit Ihre Leute hier nicht gar zu sehr im Trocknen sitzen.«

Kontala verbeugte sich und sagte:

»Gnädige Frau sind, wie immer, so liebenswürdig, daß man nicht weiß, wie man dafür danken soll!«

Femia legte plötzlich ihre Hand auf den Mund Kontalas und sagte: »Sie sollen nicht immer so viel Worte machen, wo es sich um einfache Gastfreundschaft handelt.«

Er ergriff die kleine Hand, die sich auf seinen Mund gelegt hatte, und preßte sie fest an denselben. Femia lächelte und sah den jungen Mann mit einem so eigentümlichen Blick an, daß Kontala die Hand noch immer festhielt und sich einen Augenblick umblickte, als fürchte er etwas und als suche er um Hilfe. –

Als er sich mit der Hand über die Stirn strich und aufatmend um sich blickte, war er allein. Draußen vor dem Borkenhäuschen stand Frau Femia und zerpflückte anscheinend ganz gleichgültig eine Blume.

Sie machte einige Schritte nach dem Schlosse zu und sah sich dann um, als erwarte sie Kontala. »Auf wie viele Ihrer Leute darf ich mich mit dem Imbiß einrichten? Kommen alle Ihre Offizianten hierher?«

Wäre Kontala nicht etwas verwirrt gewesen, so wäre ihm der lauernde Blick nicht entgangen, den Femia bei dieser Frage auf ihn richtete. So bemerkte er denselben nicht und antwortete:

»Nein, nicht alle! Drei bleiben an der Waldlisiere versteckt, um das Terrain vorher zu beobachten. Es liegt mir daran, die Schmuggler glauben zu machen, daß wir an einer ganz andern Stelle der Grenze operieren, und daß sie hier absolut sicher sind. Ich will ihnen dann, sobald ich das Signal bekomme, den Weg versperren, nachdem es ihnen nicht mehr möglich sein soll, sich noch auf das russische Gebiet zurückzuflüchten.«

»Sie wissen also die Stelle,« sagte Femia, »an welcher die Schmuggler überzutreten gedenken?«

»Gewiß!« erklärte Otto von Kontala, »gewiß weiß ich sie. Wenigstens vermute ich es. Die Nachrichten, die wir bekommen, sind ja stets sehr unsicher und nicht kontrollierbar, aber ich vermute, der Übergang soll morgen bei der alten, verfallenen Mühle geschehen, die sich flußaufwärts befindet. Es handelt sich darum, den ganzen Schmugglerzug auf preußisches Gebiet übertreten zu lassen und ihm dann den Weg abzuschneiden.«

Unmittelbar darauf empfahl sich Otto von Kontala der Schloßherrin und deren Gemahl, bestieg sein Pferd und jagte die Anhöhe vom Gutshofe hinunter nach dem Dorfe zu. Plötzlich riß er so energisch an den Zügeln des Pferdes, daß es kerzengerade in die Höhe stieg und sich fast überschlug. Auf dem Gesichte Kontalas erschien ein Ausdruck von Zorn und Schreck – er war auf Katzenberg gewesen und hatte nicht einmal daran gedacht, sich nach dem Befinden Marthas zu erkundigen. Er hatte nicht Veranlassung genommen, sie zu sehen, obgleich es die einfachste Pflicht der Höflichkeit gewesen wäre, wenigstens nach ihr zu fragen. Tiefe Verstimmung bemächtigte sich Kontalas, er empfand etwas wie Erbitterung gegen sich selbst.

*

Es war am nächsten Abend, und Martha hatte mit Vater und Stiefmutter zusammen das Abendbrot eingenommen. Sie wollte nach demselben wie immer nach dem Buche greifen, welches die polnischen Heiligenlegenden enthielt, aber Femia hielt sie zurück.

»Wir wollen heute abend etwas plaudern!« sagte sie zum Erstaunen Marthas. Dann trat sie an die halbgeöffneten Jalousien des Hinterfrontfensters und spähte lange und aufmerksam in den Park hinaus, als wolle sie die Dunkelheit da draußen mit ihren Augen durchbohren. Sie wendete sich dann um und begann rasch eine eifrige Unterhaltung, deren Kosten sie fast allein trug.

Sie erzählte mit einer Geschwindigkeit, in der die ganze Leidenschaftlichkeit ihres Naturells zum Ausdruck kam, von ihrer Jugendzeit, von den wirtschaftlichen Verhältnissen auf dem Gut ihrer Eltern.

Sie versuchte einen scherzhaften Ton anzuschlagen, in kurzen Pausen aber trat sie immer wieder an die Jalousie, öffnete das Fenster und blickte hinaus, ohne jedoch anscheinend zu einem befriedigenden Resultat zu kommen.

Sie bemäntelte dieses Hinaussehen oder Hinaushorchen damit, daß ihr heiß sei. Sie fächelte sich mit dem Taschentuch Kühlung zu, dann aber redete sie sich immer wieder warm, so daß Martha ganz stumm dasaß und mit in dem Schoß gefalteten Händen zuhörte, während Sembitzki sich darauf beschränkte, hin und wieder eine Bejahung oder Verneinung in das Gespräch zu werfen.

Martha konnte nicht umhin, aufs neue über diese Launenhaftigkeit ihrer Stiefmutter zu erstaunen. So gesprächig hatte sie sie nie gesehen, konnte sie sich die sonst so kalt und ruhig blickende Frau gar nicht denken. Aber ihr weiblicher Instinkt suchte nach Motiven für diese Launen, und sie sagte sich, daß es fast den Anschein habe, als ob ihre Stiefmutter hinter dieser Lebhaftigkeit eine gewisse Unruhe verberge, welche beständig zunahm, je weiter die Nacht vorrückte.

Zehn Uhr war nicht nur für Schloß Katzenberg, sondern nach Landessitte überhaupt die Zeit, zu welcher man sich zur Ruhe begab, selbst wenn Gesellschaft anwesend war. Heut schien Frau Femia aber nicht zu wissen, wie spät es sei, trotzdem die alte Porzellanuhr, welche auf dem Kamin des Wohnzimmers stand, schon zweimal nach zehn geschlagen hatte, um die halbe Stunde anzuzeigen, und ihr Zeiger jetzt tapfer auf elf Uhr losrückte.

Frau Femia stand jetzt fast nur an der Jalousie, sah oder horchte hinaus, und manchmal nahm ihr Gesicht einen solchen Ausdruck von Spannung an, daß dies Martha auffiel.

Plötzlich fielen rasch hintereinander drei Schüsse, allerdings in ziemlicher Entfernung, dann nochmals drei Schüsse, und nochmals drei Schüsse in so auffälliger Gruppierung, als handle es sich um Signale.

Mit kurzem, eigentümlichem Auflachen wendete sich Frau Femia vom Fenster zurück und sagte:

»Nun wird es wohl unten lebendig werden.«

In der Tat hörte man unmittelbar darauf unten im Park Kommandorufe, man hörte das Wiehern von Pferden, und als Martha erschreckt aufsah, sagte Femia:

»Die Grenzbeamten haben sich hinten im Park gesammelt, um einen großen Streich gegen die Schmuggler zu führen. Geh zu Bett, es ist spät. Die Grenzbeamten sind fort, wir werden heut nicht mehr gestört werden und Vater ist müde! Gute Nacht!«

*

Es war am Morgen nach dieser Nacht, als Otto von Kontala an der Grenze entlang ritt, wie üblich ohne Begleitung, aber mit einem Herzen voll Zorn und Groll; voll Zorn über sich selbst und über die schwere Demütigung, die er erlitten.

Der Anschlag der vergangenen Nacht war total mißglückt; aber nicht allein das, die Schmuggler hatten ihm eine Demütigung bereitet, wie sie schlimmer nicht gedacht werden konnte.

Er hatte mit seinen Leuten in dem Borkenhäuschen des Parkes, wo die alte Wirtschafterin aus dem Schloß die Wirtin machte und seine Offizianten auf das beste verpflegte, gewartet, bis die von ihm an versteckter Stelle postierten Beamten durch Signalschüsse mitteilen würden, daß es Zeit sei, den Schmugglern den Rückweg über die russische Grenze zu verlegen.

Nach seiner Berechnung hätten diese Signalschüsse schon gegen zehn Uhr abends hörbar sein müssen, es dauerte aber länger und länger, und als dann plötzlich dreimal hintereinander je drei Schüsse fielen, geriet Kontala erst recht in Aufregung, denn ein solches Signal war mit seinen Offizianten nicht verabredet.

Er war mit seinen Leuten, die sich mit Fackeln und Blendlaternen versehen hatten, an die Grenze gestürmt und hatte, so gut es ging, dieselbe besetzt, unmittelbar darauf aber traf die Meldung ein, daß die drei Offizianten, die er als Lauerposten an der verstecktesten Stelle der Grenzlinie postiert hatte, soeben gebunden und geknebelt aufgefunden worden seien.

Die Beamten waren in der Dunkelheit durch die Schmuggler getäuscht worden, die sich ihnen nahten und sie anriefen, als seien sie Steuerbeamte. Da gegen zwanzig Schmuggler die drei Beamten ganz unvorbereitet überfielen, so war es ihnen leicht geworden, dieselben zu Boden zu werfen, sie zu binden und ihnen Knebel in den Mund zu stecken, um sie am Schreien zu verhindern.

Dann mußten die Beamten, die in der Dunkelheit keinen der Schmuggler erkennen konnten, sich die schmählichsten Verhöhnungen von diesen gefallen lassen, sie mußten den Jubel der Schmuggler hören, weil während dieser Zeit ein kolossaler Schmugglerzug, bestehend aus mehreren hundert Personen, von der russischen Grenze her das preußische Gebiet, beladen mit allerlei Ballen und Kisten, betrat, ohne daß ihm das geringste Hindernis in den Weg gelegt worden war. Nachdem die Schmuggler vollständig in Sicherheit waren, entfernten sich auch diejenigen, welche bisher die drei gefesselten Beamten bewacht hatten. Dann wurden von den Schmugglern selbst die dreimal drei Signalschüsse abgegeben, gewissermaßen um die Steuerbeamten noch zu verhöhnen.

Nach Kontalas Überzeugung war das ganze freche Unternehmen der Schmuggler nur möglich geworden, weil Verrat vorlag, weil sein Anschlag bis in die geringsten Details den Schmugglern vorher mitgeteilt worden war. Und doch hatte er mit niemand über denselben gesprochen, waren doch eigentlich seine Beamten und die Schloßherrin von Katzenberg seine einzigen Vertrauten.

Daß die letztere nichts hatte verraten können, war ihm selbstverständlich, aber wie, wenn sich unter seinen eignen Beamten ein Verräter befand? War das nicht möglich?

Wenn er daran dachte, wie so oft alle seine geheimsten Pläne den Schmugglern immer wieder verraten worden waren, konnte er fast annehmen, daß es den Paschern geglückt sei, einen seiner Beamten durch irgendwelche Bestechungskünste in ihr Interesse zu ziehen? –

Aber wenn er im Geiste alle seine älteren Beamten an sich vorüberpassieren ließ – denn Günther mit den fünf neuen Offizianten war ja erst wenige Stunden im Dienst – er fand keinen, von dem er das hätte glauben können.

Ob irgend jemand von den Bewohnern des Schlosses Katzenberg eine unbedachte Äußerung getan hatte ... Da waren seine Gedanken wieder dort, wo sie den ganzen Tag vorher gewesen waren, und bald konzentrierten sie sich auf eine einzige Person, auf das junge Mädchen, welches ihm selbst in der Erinnerung so unwiderstehlich sympathisch war wie noch nie ein Weib vorher.

*

Die Flamme der Kerze knisterte leise und erhellte notdürftig den Raum, in welchem Martha saß und der erfüllt war mit Traumgestalten, trotzdem das junge Mädchen noch vollständig angekleidet und wachend, die Hände im Schoß gefaltet, dasaß. Ja, traumhaft zogen an ihr Gestalten vorüber, Ereignisse und Eindrücke der letzten Tage, die so wichtig für sie geworden waren, kaum daß sie die Schwelle des Klosters überschritten. Die keusche, reine Seele des jungen Mädchens zitterte wie der Spiegel eines ruhenden Sees, der sich im Windhauch kräuselt; ein Zittern durchlief ihre Seele und auch ihren Körper, ein Zittern der Seligkeit und der Wonne, wenn sie an ihn dachte, den sie heute wiedersehen durfte, an ihn, bei dessen Anblick ihr Herz schlug, an ihn, dessen Anwesenheit ihr Beklemmungen und Angst, und doch eine unnennbare Seligkeit bereitete. Sie zitterte, wenn sie an seinen Händedruck dachte, an den Blick seines Auges, an sein jähes Erröten, als er ihr Adieu gesagt, an den Umschlag seiner Stimmung, als er sich an sie wendete. War es nicht wie Sonnenschein über sein finsteres Gesicht geflogen, war es nicht, als habe er alles vergessen, was ihn gekränkt und, wie es schien, auf das tiefste verletzt hatte, seine schmähliche Niederlage gegen die Schmuggler, der Fehlschlag, den er durch eine geheimnisvolle Macht zu verzeichnen hatte!

Martha zuckte zusammen, und plötzlich richteten sich ihre Augen stier und regungslos auf einen Punkt. Welch eine Gestalt sah sie in ihrer erregten Phantasie durch das Zimmer schreiten! Warum hob sie plötzlich die Hände und streckte sie abwehrend aus?

Sie sah im Geiste »Pique-Aß«, die verlarvte Gestalt des furchtbaren, geheimnisvollen Anführers der Schmuggler, und doch, für sie war die Maske dieser Gestalt durchsichtig, sie sah deutlich die Züge dieses Gesichts, die Züge des fürchterlichen, kalten Gesichts, die Züge des Gesichts ihrer –

Nein! nein! es war nicht möglich; es war nicht denkbar! Es war Wahnsinn, auch nur so etwas zu denken. Und doch, welche verdächtigen Momente gab es nicht, welche eigentümlichen Zufälle hatten nicht schon wiederholt Martha veranlaßt, einen Gedanken zu fassen, von dem sie sich zuerst mit Entsetzen abwendete, als hätte ihre Hand glühendes Eisen berührt, und zu dem sie doch immer wieder zurückkehren mußte, einen Verdacht, welcher fürchterlich war, wenn er sich bestätigen sollte.

Martha erhob sich und schritt einige Male rasch im Zimmer auf und ab. Sie fuhr sich mit den Händen über Stirn und Augen, als wolle sie dort schreckliche Bilder und Gedanken fortwischen. Sie setzte sich nieder und blickte in die Flamme des Lichtes, aus der ihr zwei freundliche Augen entgegenzuleuchten schienen, die Augen der neugewonnenen Freundin, die Augen Hedwigs, die Augen der Schwester des Mannes ...

Dasselbe Zittern durchlief die Seele und den Körper Marthas. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ein namenloses Sehnen hob ihre Brust, traumverloren blickte sie in die zitternde Flamme der Kerze, während ihre Lippen tonlos Worte flüsterten.

Da, ein jähes Aufwachen aus diesem Traum. Ein eigentümliches Geräusch führte Martha in die Wirklichkeit zurück. Vom Fenster her kam es, von dem Fenster, das nach dem Gutshof hinausführte ... ein eigentümliches Kratzen an dem geschlossenen Fensterladen. Sollte es der Wind sein, der den Zweig eines Baumes gegen den Fensterladen drückte und mit diesem in seinem Wehen das Holz streifte?

Martha stand leise auf und blieb mit vorgebeugtem Oberkörper lauschend stehen. Das Kratzen nahm ab und zu. Hin und wieder hörte man ein Klopfen, ein ganz leises Klopfen. Martha fühlte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. Angst und Bangigkeit überkamen sie und bannten sie an die Stelle, auf der sie lauschend stand.

Dann aber raffte sie sich auf. Sie sagte sich selbst, daß vom Gutshofe her ihr wohl kaum irgendwelche Gefahr drohen könne. Ehe sie es wußte, stand sie vor dem Fenster, und jetzt hörte sie ganz deutlich das Kratzen und Klopfen, und jetzt hörte sie auch ein leises »Pst!«, welches zischend klang, fast wie das Fauchen einer Katze.

Martha drückte die Hand auf die wogende Brust und beugte sich dann hernieder, um halblaut zu fragen:

»Wer ist da?«

»Öffnet!« sagte eine Stimme in fast geisterhaftem Flüstern; »öffnet!«

»Wer ist da?« fragte nochmals Martha. Dreimal mußte sie die Frage wiederholen, bis sie aus dem Flüstern das Wort herausfand, das da draußen, wie es schien, mit Anwendung aller Vorsicht geflüstert wurde und welches lautete:

»Ulka!«

Die Kleine also war draußen und machte sich zu so ungewohnter Zeit bemerkbar. Martha war fast ärgerlich, daß niemand anders als das Kind sie gewissermaßen zum besten habe. Sie dachte nicht daran, daß es sich um eine Täuschung handeln könne, sie löste die Schraube des Fensterladens im Innern des Zimmers, öffnete das Fenster und stieß den Laden auf. Und doch erschrak sie, als aus der Dunkelheit ein Paar Augen ihr entgegenleuchteten, und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, so daß im nächsten Augenblick Ulka gewandt wie eine Katze durch das Fenster ins Zimmer springen konnte, um mit Sorgfalt hinter sich das Fenster und den Fensterladen zu schließen.

Das Kind hatte etwas Hastiges an sich, seine Augen blitzten unruhiger als sonst, und um den kindlich-trotzigen Mund zuckte es. Sie wartete es nicht einmal ab, bis Martha sie fragte, was sie zu so ungewohnter Stunde bei ihr wolle; sie deutete mit beiden Händen nach der Parkseite hinüber und sagte flüsternd, als hätten die Wände Ohren:

»Er ist im Park. Ich habe ihn gesehen!« Nach einer Pause setzte das Kind hinzu: »Ich habe ihn gesehen, ganz deutlich gesehen. Aber ich weiß noch mehr: der Geist und Pique-Aß sind eine und dieselbe Person. Nein, nein, was spreche ich! Pique-Aß ist ein Geist!«

Martha wankte fast und mußte sich am Tische festhalten. Kam da nicht soeben wieder eine Bestätigung des fürchterlichen Verdachts, der sie vorhin gepeinigt und geplagt hatte, eines Verdachtes, der sie zu zermalmen drohte, noch bevor er sich als richtig erwiesen hatte. Sie faßte sich so weit, um ruhig zu Ulka sprechen zu können, und sagte dem Mädchen:

»Wie kommst du zu deiner sonderbaren Ansicht? Deine Furcht hat dir irgend etwas vorgegaukelt.«

»Furcht?« sagte Ulka stolz, und über ihr Gesicht flog ein Lächeln, »Furcht? – Ich möchte wissen, vor wem? Vor dem Himmel fürchte ich mich nicht, und die Hölle kann mir nichts tun.«

Sie griff unter das dicke Tuch, das ihre Brust verdeckte, und holte ein schlecht koloriertes Bildchen hervor, welches sie wie einen Talisman hoch hielt und Martha zeigte.

»Das ist ein geweihtes Bild der Mutter Gottes von Czenstochau,« sagte Ulka, »ein Bild, das auf dem Altar der Mutter Gottes gelegen hat und geweiht wurde. Wer dieses Bild trägt, dem kann die Hölle nichts tun, nichts. Ich fürchte mich auch nicht, seitdem ich dieses Bild habe. Ich habe es gestohlen,« setzte die kleine Gläubige ernsthaft und, wie es schien, mit einem gewissen Stolz hinzu; »die alte Frau, bei der ich wohne, hatte es in ihrem Gebetbuch verwahrt, aber seit drei Tagen schon habe ich es bei mir, weil ich abends im Park auf den Geist wartete und ihn sehen wollte. Bis heute habe ich umsonst gewartet.«

Martha bewunderte unwillkürlich in ihrer Erregung den gläubigen Mut des Mädchens und sagte:

»Was, um alles in der Welt, kann dich veranlassen, diesem Geist nachzuspüren?«

In Ulkas Augen erschien ein Ausdruck von Zärtlichkeit, und plötzlich ergriff sie, dem ungestümen Impulse ihres Herzens folgend, die Hand Marthas, um sie zu küssen.

»Sie haben gesagt, es gebe keinen Geist, und Sie sollten nicht von mir glauben, daß ich lüge,« sagte sie mit kindischem Trotz. »Kommen Sie mit, sehen Sie sich den Geist an!«

»Du bist töricht!« sagte Martha ängstlich, »du bist töricht und wirst dir eine Züchtigung von meiner –« sie brach plötzlich ab und sagte dann: »von der Schloßherrin zuziehen, denn du weißt, es ist streng verboten, bei Nacht den Park zu betreten.«

Ulka lächelte wieder verschmitzt und sagte:

»Ich war nicht im Park. Ich habe auf der Mauer gelegen. Da steht dicht am Hause, dort, wo die Mauer anstößt, ein großer Baum mit Zweigen. Dort habe ich mich hingelegt in der Finsternis, und kein Mensch hätte mich für lebendig gehalten, so still habe ich gelegen. Ich habe den Geist kommen sehen aus dem Schlosse heraus, aus der letzten Tür, dort in der Nähe des Zimmers, wo die gnädige Frau schläft, und ich sah ihn durch den Park gehen.«

Martha empfand etwas, wie einen fürchterlichen Schlag, aber sie zwang sich gewaltsam, zuzuhören, als Ulka fortfuhr:

»Der Geist trug einen Pelzrock und die Konfederatka, eine schwarze Maske vor dem Gesicht und war gekleidet, wie die Leute dies von Pique-Aß erzählen. Es sind tüchtige Wolken am Himmel,« setzte die altkluge Ulka zur Erklärung hinzu, »aber hin und wieder reißt das Gewölk, und der Mond bricht auf einen Augenblick durch. Ich habe gezittert und gebebt, als ich den Geist sah, aber ich faßte nach dem Bilde der wundertätigen Mutter Gottes von Czenstochau, und ich empfand keine Furcht mehr. Binnen kurzer Frist wird der Geist zurückkehren, denn die Leute sagen, er verlasse das Schloß nur auf kurze Zeit, um durch den Park zu gehen und wieder zu kommen. Kommen Sie mit, gnädiges Fräulein, Sie brauchen nicht einmal das Schloß zu verlassen; kommen Sie, auf dem Korridor, dort wo die Treppe zum oberen Geschoß führt, befindet sich ein kleines Fenster, von dort aus kann man einen großen Teil des Parkes übersehen, vor allem die Stelle, wo die Fenster der Schlafzimmer der gnädigen Herrschaft hinausgehen. Aber wir müssen das Licht verlöschen.«

Wäre nicht der furchtbare Druck auf Marthas Gehirn gewesen, der Schreck, die fürchterliche Ahnung, daß sich der Verdacht bestätige, den sie gehegt, sie hätte gewiß bei klarem Nachdenken die Aufforderung des Kindes zurückgewiesen. So folgte sie wie eine Kranke, wie ein wehrloses Kind, als Ulka plötzlich ihre Hand ergriff, das Licht verlöschte und sich nach der Tür tastete. Wehrlos, und doch instinktiv auf den Zehenspitzen schreitend, schritt Martha, geführt von der sich vorantastenden Ulka, durch den Korridor bis zu dem Fenster, welches gerade jetzt wieder einen kurzen Blick in den Park gestattete.

Dichtes Gewölk jagte am Himmel, aber hin und wieder ließ ein Riß in diesen Haufenwolken das Mondlicht mehr oder weniger stark durchbrechen, und fast blitzartig wurden dann einzelne Teile des Parkes bald hier, bald dort erleuchtet.

Martha fühlte plötzlich ihren Arm gedrückt, heißer Atem streifte ihre Wange, und eine flüsternde Stimme sagte ihr ins Ohr:

»Dort drüben am Baum steht die Gestalt. Sie fürchtet sich vor dem Mondlicht.«

Es war, als ob eine unsichtbare Macht die Augen Marthas lenkte. Im nächsten Augenblick sah sie in der Tat hinter einem starken Baumstamm eine Gestalt regungslos stehen, als scheue sich diese, in den hellen Kreis des Mondlichts herauszutreten, das sich vor dem Stamme ausbreitete und auf den Gartenweg fiel, der direkt vom Parke her nach der äußersten Hintertür des Schlosses führte.

Jetzt erlosch der Mond, aber nur für wenige Sekunden, dann strahlte heller als je vorher das Mondlicht voll in den Park. Martha sah die Gestalt mit der Maske vor dem Gesicht, es war keine Täuschung möglich, sie sah diese Männergestalt in dem polnischen Kostüme, welches allerdings für die Jahreszeit nicht recht paßte, weil es mit Pelz besetzt war; sie sah die Gestalt deutlich einige Sekunden lang im Mondlicht, durch welches dieselbe hastig dahinschritt, dann erlosch vor der verbergenden Wolke das Licht, und tiefe Dunkelheit hüllte Park und Schloß wieder ein.

Nur das Rauschen der Bäume, die sich im Winde draußen bewegten, drang in den Korridor, aber durch dieses Rauschen hindurch hörte Martha, die mit Anspannung aller ihrer Seelenkräfte horchte, eine Tür sich schließen, sie hörte einen Schlüssel im Schlosse sich drehen, sie hörte ebenso genau jetzt den Schlüssel sich drehen, der im Schloß des Schlafzimmers ihres Vaters steckte. Sie faßte Ulka fest, so hart an, daß das Kind fast aufschrie, und wie von Furien gejagt eilte Martha zurück nach ihrem Zimmer und verschloß die Tür.

Vor ihrem Bett warf sie sich auf die Knie nieder und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Sie sank nieder unter der Last des furchtbaren Geheimnisses, das sie soeben erfahren, das sie ergründet, an dessen Lösung kein Zweifel mehr war: ihre Stiefmutter – die Gattin ihres Vaters – war »Pique-Aß«.

Lange blieb Martha auf den Knien liegen. Sie erhob sich endlich und sah sich nach Ulka um, die verwundert das Gebaren ihrer Herrin betrachtet und sich unterdes in der Sofaecke zusammengekauert hatte. Ihre blitzenden Augen verrieten, daß sie wache und scharf beobachte.

Martha hatte ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen. Sie trat auf das Mädchen zu, welches sich jetzt katzenschnell gewissermaßen auseinanderrollte und vor dem Sofa aufstellte. Martha ließ sich auf dem Möbel nieder und nahm Ulka in ihre Arme. Ein glückseliges Lächeln flog über Ulkas Gesicht.

»Höre,« sagte Martha, »du wirst keinem Menschen etwas von dem sagen, was du entdeckt und gesehen hast, du wirst es niemand sagen, willst du mir das versprechen?«

Ulka schien unsicher, was sie antworten sollte.

»Willst du es mir versprechen, wenn ich dich darum bitte, so recht aus vollem Herzen bitte?«

In Ulkas Augen zeigten sich Tränen. Plötzlich legte sie ihre mageren, dünnen Arme um Marthas Hals und sagte:

»Wenn Sie mich darum bitten, und wenn Sie es wollen, so will ich sterben und alles tun, was es in der Welt gibt! Weil Sie mich bitten, will ich niemand ein Wort davon sagen, ich schwöre es bei der Mutter Gottes von Czenstochau.«

»Ich danke dir,« sagte Martha und drückte einen Kuß auf die dünnen Lippen des halbwüchsigen Mädchens.

Ein Zucken ging durch den Körper Ulkas, dann brach die Kleine in lautes Schluchzen aus. Es war wohl die erste Liebkosung eines weichen, freundlichen Herzens, die ihr zuteil wurde, und diese Liebkosung wirkte so erschütternd auf das arme Geschöpf, das bisher nichts als Roheit und Lieblosigkeit kennen gelernt, daß es sich nicht beruhigen konnte, daß es schluchzte, bis es in tiefen Schlaf versank.

Langsam löste Martha die Arme des Mädchens, die noch immer um ihren Hals lagen. Vorsorglich bettete sie die Kleine auf dem Sofa, bedeckte sie mit einem Tuche und setzte sich dann neben der wieder entzündeten Kerze nieder, um lange, lange still vor sich hinzuweinen, zu weinen Tränen der entgegengesetztesten Empfindungen, Tränen der Freude über das Menschenherz, welches sie soeben gefunden, und das in Treue und Ergebenheit für sie schlug, Tränen des Schmerzes über das furchtbare Geheimnis, das sie zu erdrücken drohte.

Angekleidet warf sie sich endlich auf ihr Lager, nachdem sie ein Nachtgebet gesprochen, in dem sie Gott um Kraft gebeten, das zu ertragen, was er über sie verhängen würde, und sie ahnte es, es würde etwas Schweres, etwas Übermenschliches sein.

* * *

 


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