Egon Erwin Kisch
Kriminalistisches Reisebuch
Egon Erwin Kisch

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Das Kriminalkabinett von Lyon

Mit kriminalistischem Scharfsinn schließen wir gleich bei unserm Eintritt, daß dieses Relief da, eine plumpe und primitive Skulptur aus der Frühzeit des Menschengeschlechts, wahrscheinlich keine Skulptur aus der Frühzeit des Menschengeschlechts ist. Denn was hätte sie als solche im modernsten Kriminalmuseum der Welt zu suchen?

Und richtig, bei näherm Hinsehen erkennen wir es als Reliefbildnis eines Einbrechers von heute; mit der linken Hand hält er ein Einbruchswerkzeug, in Deutschland »Maulstange«, im höflichen Frankreich »Pince-Monseigneur« genannt, mit der rechten einen Revolver, den wir als Browning agnoszieren.

Wozu aber ließ sich der Mann mit den Insignien seines Handwerks modellieren? Es geschah gegen seinen Willen. Bei einem Einbruch in der Nähe von Lyon überrascht, eilte er davon und stolperte über einen Sandhaufen, der Verfolger sah ihn fallen und schoß auf das liegende Ziel, aber schon war der Flüchtige wieder aufgesprungen und im Dunkel der Nacht entkommen . . . Das einzige, dessen man habhaft wurde, war der Sandhaufen. Er wurde mit Gips ausgegossen, und man hatte nun in Basrelief den Mann, seine Waffe und sein Werkzeug und sogar die Kugel des Verfolgers, die sich ganz knapp neben der Kontur des Ziels in den Sand gebohrt. Als später irgendwo ein Einbrecher dingfest gemacht wurde, der das Original der Lyoner Plastik sein konnte, leugnete er diese Identität. Nicht aber konnte er die Identität seiner teils schadhaften, teils unregelmäßig angenähten Westenknöpfe mit denen des Gipsgusses leugnen.

Gelegentlich dieses Museumsstückes, so es auch einem Zufall sein Entstehen verdanken mag, können wir bereits den Unterschied anmerken zwischen dem verewigten Herrn Bertillon und dem jetzt als Großmeister der Kriminalistik geltenden Herrn Edmond Locard. Während das Lebenswerk jenes darin bestand, den rückfälligen Verbrecher immer wieder zu agnoszieren, zielt Locard darauf ab, auf allen Tatorten aller Verbrechen alle Spuren zu sichern, um die Eigenart und dadurch die Person des Täters zu bestimmen, auch wenn er vorher noch nie seine Personalien bei einer Polizeibehörde abgeben mußte.

Und in diese Kategorie der Spurensicherung gehört jenes scheinbar aus der Frühzeit des Menschengeschlechts stammende Relief, von dem wir uns nicht täuschen ließen, da Fundstücke aus der Frühzeit des Menschengeschlechts unmöglich im Lyoner Kriminalmuseum einen Platz finden können. – Mais, merde alors, qu'est que cela? Das sind prähistorische Ziegel und Scherben mit prähistorischen Inschriften, sogar ein Idol der Bisexualität.

Zum Glück steht der Fundort über den Museumsstücken, »Glozel«, und auf einer vergrößerten Photographie sehen wir Papillarlinien, die wir, als vom rechten Daumen des Herrn Claude Fradin stammend, mit unserm kriminalistischen Scharfblick erkennen, da dies unter der daktyloskopischen Aufnahme deutlich genug angegeben ist. Herr Claude Fradin aber war es, der dieses großartige Ruinenfeld entdeckt und auch hergestellt hat, was sich nicht zum letzten durch die vorliegende Fingerspur des vorgeschichtlichen Töpfers erwies, die mit der des Herrn Fradin identisch war.

Zwei literarhistorisch bemerkenswerte Tableaus wollen wir erwähnen: Das eine enthält die Fingerspuren eines Affen, den als Fassadenkletterer und Dieb glänzend auszubilden einem Mann in Lyon gelang. Wer denkt da nicht an Poes »Verbrechen in der Rue Morgue«? Wahrscheinlich der Affenbändiger. Dagegen steht die Bildung des Mannes, dessen Tätowierungen hier photographiert sind, außer Frage: Die drei Opfer der Gesellschaft, wie sie sich Lucien Descaves in seinem Unteroffiziersroman »Sous-offs« denkt: den Heiland, den Soldaten und die Prostituierte, ritzte sich der begeisterte Leser auf Lebenszeit in seine Haut.

Auf dem Rücken eines Verbrechers sieht man eine Guillotine tätowiert mit dem Text »Dernière étape«. Ist diese Prophezeiung ausgesprochen, damit sie sich nicht erfülle?

Zwei vergrößerte Daktyloskopien, eine am Tatort vorgefunden und eine dem Verhafteten abgenommen, tragen die Aufschrift: »Die schönste Spur der Welt.« Und wirklich, auch ein Laie müßte auf den ersten Blick die Identität der Fingerabdrücke erkennen. Aber der Täter hatte sich keine Mühe gegeben, seine Täterschaft zu verdunkeln, er war im Affekt, und in diesem pflegt man die Folgen nicht zu erwägen. Er hieß Mayor und hatte im Lyoner Armenviertel La Guillotière eines der dortigen Mädchen, genannt »Coco la Chérie«, zu einer Schäferstunde eingeladen. Sie verlangte dafür fünfunddreißig Centimes (in deutschem Geld: beinahe sechs Pfennig), er aber, er war nur zu einer Zahlung von fünfundzwanzig Centimes (über vier Pfennig) bereit. Vielleicht hatte er auch nicht mehr! Jedenfalls entspann sich wegen der zehn Centimes ein Streit, in dessen Verlauf er das Mädchen seiner Wahl buchstäblich zerfleischte: dreißig tödliche Messerstiche und die schönste Fingerspur der Welt fand man auf dem Leib von Coco la Chérie . . .

Diese Aufschrift »Le plus belle empreinte du monde« ist natürlich kein Siegesruf, sondern Galgenhumor des Kriminalisten. Der wünscht keine Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrigläßt – er ist ein Sportsmann – je schwerer das Weidwerk, desto schöner ist's – je gehetzter das Wild, desto froher das Halali . . . Sehen wir den Fall Pinard de Montélimard. Ein schlauer Bursche, dieser Pinard, kannte er die Schliche der Daktyloskopie aus dem Effeff. Nachdem er die Fensterscheibe ausgehoben hatte, stellte er sie an die Wand, und mit einer Kerze leuchtend, bepißte er fein säuberlich alle Stellen, die er berührt haben konnte. Solcherart die Fingerspuren abgewaschen und sein Diebstahlswerk vollendet habend, entfernte er sich. Nichts blieb als dort, wo er sich zu seiner kriminalistischen Notdurft geleuchtet hatte, ein Stearintropfen der Kerze. Und darauf sein Fingerabdruck. Man verhaftete ihn.

Heutzutage bedarf es nicht einmal eines Kerzentropfens. Durch Handschuhe hindurch lassen sich Fingerabdrücke konstatieren, und dort, wo eine Papillarlinie nicht zu haben ist, genügt die Spur von drei oder vier Poren, um den Täter zu überführen. (S. Edm. Locard: Identification des Criminels par les traces des Orifices sudoripares.) Der Dieb im Bäckerladen, der in einen Kuchen biß, den liefert sein Gebiß der rächenden Nemesis aus; das Kind, das von der Butter naschte, kann nicht mehr leugnen, da es sieht, wie der Abguß seiner Zähne in die Butterlücke paßt. Oh, wir leben in einer gerechten Welt!

Den Wert des Staubs für den Detektiv hat Conan Doyle entdeckt: Sein Sherlock Holmes erkennt aus Staubkörnern, welchen Stadtteil Londons der Verdächtige bewohnt. Herr Locard, der auch sonst im Kriminalroman manche fürs Polizeilaboratorium verwertbare Motive findet, schöpfte, wie er uns offen erklärt, auch diesen Trick aus der unwissenschaftlichen Quelle. Der Staubsauger zieht die Wahrheit aus Kleidern und Schuhwerk; du lügst, ausgesaugter Wanderer, nicht im Wald hast du genächtigt, sondern im Steinbruch von Sanary, wo der Totschlag geschah, Moleküle von Kalziumsulfat sind auf deiner Hose. Und dann bist du die Landstraße von Broux gewandert, denn woher sonst käme Bariumoxid auf deine Sohlen, he? Und Sie, mein Herr, der Sie mit der Herstellung der bei Ihnen gefundenen Münzen nichts zu tun haben wollen, wie erklären Sie diese Stäubchen von Antimonium und Blei in der Naht Ihrer Rocktasche?

Wir sehen die Präparate, vergrößert und photographiert, und sehen die Resultate chemischer Staubanalysen dargestellt. Graphometrie wird im Lyoner Kriminallaboratorium betrieben, und ein besonderes Spezialfach ist die Feststellung von ungenannt sein wollenden Briefschreibern, die Anonymographie. Strichproben verschiedener Sorten und Nummern von Bleistiften hängen an der Wand, darüber und darunter gefälschte Schriftstücke.

Damit sind wir auch schon bei den Corpora delicti, von denen wir nur solche notieren wollen, die nicht überall die Wände der Polizeimuseen tapezieren. So ist ein hohler Baumstrunk da, wie ihn die Bauern von Mittelfranken traditionell mit trockenem Kuhmist und Moos ausfüllen und im Wald anzünden, um durch Waldbrand neues Weideland zu gewinnen.

Ein Expriester, vor dem Krieg als Räuberhauptmann im Landbezirk von Lyon tätig, hatte ein eigentümliches Marterwerkzeug, um selbst den hartnäckigsten und geizigsten Bauern zum Verrat des Geldverstecks zu zwingen: Er schlug ihm mit diesem bleiernen Rosenkranz auf den Handrücken.

Das harmloseste Raubinstrument aber ist diese Stahlspirale, an deren Ende eine kleine Eisenkugel schwingt. Damit schlägt man dem Mitpassagier im Eisenbahnabteil ganz schwach auf den Kopf und nachher – er ist sofort leicht betäubt – noch sechs- oder achtmal leise; keine Beule bleibt zurück, und nach fünf Minuten, in denen allerdings der Zug in einer Station gehalten hat, erwacht der Nachbar, aus seiner Betäubung und vermißt Koffer und Kofferinhalt.

So reich Lyon an historischen Kriminalfällen ist, im Polizeimuseum ist für Andenken an sie kein Platz. Nichts erinnert an den mächtigsten und charakterlosesten Polizisten der Welt, an Fouché, der einst, in seiner bessern Jugend, nach Lyon gesandt war, um die reaktionäre Verschwörung zu liquidieren, und nichts erinnert an das von der offiziellen Geschichtsschreibung meist wohlwollend verschwiegene Massaker, das bald darauf, am 16. floréal III., der Monarchist Précy unter den Republikanern Lyons angerichtet. Nichts erinnert hier an General Monton-Duvernel, den die Österreicher feig erschossen, weil er sich dem aus Elba kommenden Napoleon angeschlossen hatte. Nichts erinnert an den edlen Feind Richelieus, den Chevalier Cinq-Mars, und seinen unschuldigen Freund de Thou, die auf der Place des Terreaux von Henkershand starben. Und wenn sich von der Lyoner Vesper kein Andenken finden ließ – von den Arbeitermorden, die 1831 und 1834 der Herzog von Orléans und Marschall Soult an den lohnfordernden Seidenwebern vollzogen, fand sich erst recht keines.

Dagegen sind Waffen und Geschäftskarte des Lyoner Automobilschlossers Bonnot vorrätig, der 1911 nach Paris fuhr, um dort mit seinen Freunden Garnier und Corony als Autobanditen Weltruhm zu erwerben. Von Vacher, dem Hirtenmörder, der an dreißig Knaben und Mädchen der Lyoner Umgebung getötet hat, ist ein Bild da, und eines von der schönen Gabriele Bompart, die ihre Liebhaber zu zerstückeln und in Koffern auf dem Bahnhof zu deponieren pflegte.

Und ein Bild Caserios, der am 24. Juni 1894 mit einem im Blumenstrauß versteckten Dolch den Präsidenten der Republik erstach. Caserio gab keinen Komplizen an, und doch bin ich im Zusammenhang mit dieser Tat bestraft worden. Denn meine Mutter kam herein, als ich mich mit unserm Makartstrauß, darin ein Küchenmesser stak, meinem Bruder näherte, um Carnot und Caserio zu spielen.

 


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