Egon Erwin Kisch
Kriminalistisches Reisebuch
Egon Erwin Kisch

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Spielberg – »Gralsburg reaktionärer Willkür«

Die Kasematten des Brünner Spielbergs haben mit all ihrer Schrecknis die Inquisition lange überdauert und den Bastillesturm. Schaudernd schauten Napoleon und, wie in »Krieg und Frieden« erzählt wird, seine russischen Gegner vor der Schlacht bei Austerlitz auf das unerbittliche Gemäuer. Börne hatte recht, als er den Spielberg »die Gralsburg reaktionärer Willkür« nannte.

Tausendjährig ist diese Feste, hundertmal umgebaut und verändert, seit hier die Fürsten des Großmährischen Reiches saßen. Jetzt umgibt ein öffentlicher Park die Zitadelle, und in ihren Wänden wohnt das Ersatzbataillon eines Infanterieregimentes, eine Feldkanonenbatterie, eine Scheinwerferkolonne, eine Brieftaubenabteilung und – ein Garnisonarrest. Zur Zeit der mährischen Wojwoden und Markgrafen mag neben der Zugbrücke die Blechtafel noch nicht verkündet haben: »Prophylaxe se nacházi na zdejši stražnici« – »Die Prophylaxe befindet sich hier auf der Wachstube«.

Über den Wall führt eine Steinbrücke, deren Brüstung fossile Kanonenkugeln schmücken, Felsen und Backsteine sind die Festungswände, aus denen Sträucher wuchern und Gras und Moos. Vom Kasernenhof aus steigt man hinab. Auf der Bank im Graben sitzt eine Bäuerin, streichelt ihren Sohn, den Rekruten; der kaut mit vollem Munde einen böhmischen Kolatschen und nestelt an dem Ranzen, den die Mutter mitgebracht hat. Die Sonne strahlt, die Tür zu den Kasematten ist offen, unvoreingenommen tritt man ein, unpräparierten Gefühls sozusagen – aber schon wird man von Grauen geschüttelt. Von den Mauern eines stockdunklen Kellers weht feuchter Moder, hernieder klatschen von den Wölbungen unaufhörlich Wassertropfen in Pfützen, zu welchen sich ihre Vorgänger bereits vereinigt haben. Ein schmaler, nasser, finsterer Gang. Hier waren sie nicht untergebracht, die Feinde des Staates, hier hätten sie gehen können, sich bewegen und miteinander sprechen, und das genügte nicht einer autoritären Energie, jenem Mut gegen Wehrlose, der die einzig verächtliche Art von Feigheit ist!

Rechts und links des üblen Korridors hatte man aus Balken und Blöcken vierunddreißig Käfige gezimmert, für je einen Häftling; dort, in einem Raum von zwei Kubikmetern, wurde er angeschmiedet, man stopfte ihm die durchlöcherte Eisenbirne in den Mund, aus deren Öffnung Pfeffer auf die Zunge des Durstigen sickerte, dort preßte man seine Finger in Daumschrauben, seine Arme in stachlige Stahlmanschetten, dort spannte man ihn auf die Geige oder zwickte ihn mit glühenden Zangen, und von der Decke fiel, wie heute, Wassertropfen auf Wassertropfen, immer auf die gleiche Körperstelle des Festgeschmiedeten, der oft nicht einmal vergebliche Schreie des Schmerzes ausstoßen konnte, da er geknebelt war.

Wer waren die grausamen Verbrecher, die man in so grausamer Haft halten mußte? Silvio Pellico aus Salluzo, der mädchenhaft zarte und fromme Dichter der »Francesca di Rimini«, büßte hier acht Jahre lang seinen Freiheitstraum. Hier entzündete sich unter der Eisenfessel das Knie seines elegischen Freundes Pietro Marioncelli, man mußte das Bein amputieren, ohne daß Leinen, Binden oder Eis die Leiden der Operation gelindert hätten. Ein zweiter Freund und Carbonaro, der junge Graf Fortunato (sic!) Oroboni, starb gräßlich an Blutsturz; vor den Fenstern Pellicos, dessen Zelle der seinen so nahe gewesen, bestattete man ihn. Der französische Anhänger der Carbonari Alexandre Andryane erlebte hier die tragischeste Tragödie des Schriftstellers: Tag und Nacht, Jahr um Jahr hatte er sein Werk über das Wesen der Menschheit geschrieben, zum Teil mit abgezapftem Blut, und als die Zelle durchsucht wurde, fand man das Manuskript und verbrannte es; sein Leben, seine Lehre, seinen Ruhm, seine Hoffnung. Ein anderer Franzose kam durch Verrat hierher, ohne einer Tat beschuldigt zu sein, die unter die österreichische Gerichtsbarkeit fiel. Jean-Baptiste Drouet hatte freilich etwas getan, was Dynastien und Monarchien furchtbar rächen: Als Postmeister von Ménehould nahm er Ludwig XVI. im Sinne des erlassenen Regierungsdekrets fest und verhinderte dadurch, daß der König vom Ausland aus Frankreich in neues Unheil stürze; zum Glück Drouets war ein Abkömmling der Habsburger in den Händen des Konvents, eine Enkelin Maria Theresias, die spätere Herzogin von Angoulême, gegen die er 1795 ausgetauscht wurde.

Man tritt von Zelle zu Zelle, das Licht der mitgebrachten Karbidlampen huscht scheu über abgebröckelte, feuchte Wände, die erbarmungslos schwiegen, wenn jahrhundertelang das Wehklagen der Verzweiflung sie beschwor, die herzlos aushielten, wenn knöchern gewordene Finger sie im Wahnwitz von der Stelle zu schieben versuchten. »Freiheit willst du?« ruft der Tyrann dem Rebellen entgegen. »Du sollst erfahren, daß du sie hattest!«

Und so saßen hier während des Dreißigjährigen Krieges jene Defensoren und Direktoren, denen habsburgische »Gnade« erspart hatte, gevierteilt, geköpft oder gehenkt zu werden, so saßen hier die frommen Mährischen Brüder und die jüdischen Opfer des Jesuitismus, so saß hier der kaiserliche Feldzeugmeister Graf Bonneval, den sein Rivale Prinz Eugen einkerkern ließ und der nach endlicher Freilassung zum sagenhaften türkischen Feldherrn Achmed Pascha wurde, hier schmachtete in Ketten der Kreishauptmann Karl Ritter von David, der im Erbfolgekrieg gegen Maria Theresia und für Kaiser Karl VII. (den Bayern) Partei ergriffen hatte, hier endete durch Gift der tolle Pandurenobrist Franz Freiherr von Trenck, seines Vetters würdiger Vetter, so starb hier, Dank vom Haus Österreich, der Feldmarschall Georg Olivier, Graf von Wallis, so siechten hier die italienischen Autonomisten dahin, die schlanke Contessa Filangièri, der beredte Pater Don Marco Fortini, der Markgraf Giorgio Guido Pallavicino und der Conte Federico Confalonieri, Hochverrat, Hochverrat. Und Feinde aus dem Ausland: der königlich-sächsische Hofkanzlist Menzel, der an Friedrich den Großen das Bündnis zwischen Österreich und Sachsen verraten und dadurch den Anlaß zum Siebenjährigen Krieg gegeben, der sächsische Marschall Schöning, der in vollem Einvernehmen mit seinem Kurfürsten ein Bündnis seines Landes mit Hannover und Frankreich gegen Österreich angestrebt hatte, während eines Badeaufenthaltes in Teplitz festgenommen (ähnlich wie in Karlsbad zu Beginn des Weltkrieges der serbische Generalstabschef Putnik) und mitsamt seiner Gicht in die feuchten Höhlen des Brünner Felsens geworfen wurde.

Innere und auswärtige Politik, die Staatsminister für Justiz und die für Heerwesen, die für Kultus und Unterricht, die Kommissionen und Kammern und Prokuratoren aller Verwaltungszweige, die Herrscher mit den Beinamen »der Gütige« oder »der Glorreiche«, der »aufgeklärte Absolutismus« und die konstitutionelle Demokratie – immer, immer hieß ihre Ultima ratio: Spielberg. Keine Revolution fand sich, o du mein Österreich, die diese Bastille gestürmt, ihre Wälle dem Boden gleichgemacht hätte.

Gehaßt war sie genug, und selbst uninteressanten Sträflingen, Kriminellen aus Gewinnsucht, stülpte das Volk den Glorienschein auf den Verbrecherschädel, weil sie hier saßen. Aus dem armseligen Einbrecher Babinsky machte die Folklore einen Rächer der Armen, man weinte über das Schicksal des Revierförsters Johann Anton, der angeblich unschuldig in Haft war, Volkslieder wurden auf den Schinderknecht Thomas Grasl gesungen, der doch nur ein willenloses Werkzeug seines hingerichteten Vetters Johann Georg Grasl gewesen war, den Banknotenfälscher Heinrich Henkel pries die Fama als uneigennützigen Förderer der Künste, und selbst der Fleischhauer Philipp Smutny, der sein Weib und seine drei Kinder geschlachtet hatte, um mit einer Dirne zusammen zu leben, wurde der Held eines sentimentalen Liebesromans, von dem man noch heute Exemplare in österreichischen Bauernhäusern findet.

Das Volk liebte die, die auf dem Spielberg Qualen litten, und die Monarchen mußten wohl oder übel diesen Sympathien Rechnung tragen. Kaiser Josef II. weilte am 3. August 1783 eine Stunde lang in einer Kerkerzelle und verkündete hernach seinem Gefolge und den Lesebüchern, er wünsche nicht, daß jemals wieder in diesem untersten Verlies ein Mensch eingekerkert werde; ein diesbezügliches schriftliches Verbot erging, aber noch fünfzig Jahre später faulten dort lebendige Leiber. Kaiser Franz ging in seiner Menschenfreundlichkeit noch weiter, er untersagte auch die Verwendung des nächsthöheren Stockwerks, ohne zu verhindern, daß während seiner ganzen Regierungszeit dort politische Häftlinge lagen. Im Jahre 1848 stopfte man die Löcher mit deutschen Studenten voll, die unter dem schwarzrotgoldenen Banner die Vereinigung aller Deutschen erstrebten, und mit tschechischen Studenten, die die Freiheit ihres Landes wollten. Kaiser Franz Joseph verbot bald darauf die Benutzung des Spielbergs als Gefängnis, machte eine Kaserne und – einen Garnisonarrest daraus.

Trotzdem wurden in der Zeit des Weltkrieges Zivilisten und sogar Frauen hier interniert. Die unterirdischen Höhlen dienten als Museumsobjekt. Im Haus über den aufgehobenen Kasematten verblieb auch nach dem Umsturz der Garnisonarrest, in der republikanischen Aufnahmekanzlei liegt auf dem Tisch des Profossen noch immer das k. u. k. Dienstbuch D 6, »Vorschriften für k. u. k. Militärgefangenenhäuser«, und auf dem Kleiderhaken rechts neben der Tür hängen, wie in den furchtbaren Felsengängen des Souterrains, vier eiserne Armklammern mit Schlössern und Ketten, aber, haha, es sind keine mittelalterlichen Folterinstrumente mehr, sondern die laut § 45 des k. u. k. Dienstbuches D 6 zulässigen Armspangen.

Man ist noch zu bedrückt von dem Entsetzen der Kellerräume, von der Vorstellung an die vergangenen Greuel, um für die heutigen Häftlinge des Spielbergs das erforderliche Mitgefühl aufzubringen. Dennoch staunt man, in der Gefängnisküche kein Herdfeuer zu sehen. Wird keine Mahlzeit für die Sträflinge gekocht? Man erfährt, am Freitag nach dem Fünfzehnten jedes Monats werde laut Dienstvorschrift Fasttag gehalten, daß also an diesem Tage die jungen Menschen, denen das Essen den einzigen Genuß und mehr als eine Notwendigkeit des Körpers bedeutet, streng nach dem Wortlaut des einst k. u. k. Paragraphen Hunger leiden müssen.

 


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