Egon Erwin Kisch
Eintritt verboten
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Borinage
Vierfach klassisches Land

Der Fremde verläßt die von der Kleinbahn durchbimmelte Hauptstraße, geht längs hoher Mauern und niederer Arbeiterhäuser, Kinder spielen im Schlamm, ein Schankwirt steht vor seinem geschwärzten Estaminet, eine Frau trägt Gemüse heim.

Dann hört der Ort auf, ein anderer beginnt, der genauso aussieht, Mauern um die Zechenplätze, hagere Häuser aus berußtem Rohziegelwerk, ungepflasterte Straßen, armselige Kaufläden. Der Fremde begegnet niemandem mehr. Förderwagen rattern auf Drahtseilen knapp über seinen Kopf hinweg, heben sich in spitzem Winkel und rollen zum Gebirgskamm empor.

Auf jedem dieser Berge, die den grünen ebenen Hennegau in einen steilen finsteren Karst verwandeln, kauert ein Basilisk. Die Vorderfüße auf die Bergesspitze gestemmt, den Hinterleib an den Hang gepreßt, reckt er den Hals vor und den Rachen. Vom frühen Morgen bis zwei Uhr nachmittags speit er alle zwei Minuten Schutt und Erde.

Berge und Basilisken hat nicht die Natur gesetzt, sondern der Mensch. Es ist der Abraum aus dem Schacht, der hinauffährt auf Schienen oder hinaufschwebt auf dem Seil und in der Kippe mündet – dem Ungetüm auf dem Gipfel. Was hätte die Natur hier zu suchen? Hier ist Industrie.

Dreizehnhundert Meter unter dem Fremden sind Menschen, welche Kohle hacken und Erde und Gestein aufwärts schicken, zweihundert Meter über diese Erde, auf der der Fremde geht.

Wo die große Eisenbahn das Gebiet durchfährt, sind fast immer die Schranken herabgelassen. Auf Überbrückungen geht der Fremde ans andere Ufer des Schienenstroms, und unter ihm rollen die breitspurigen Waggons, wie vorher die kleinen Förderwagen über ihm, ohne menschliche Begleitung. Aber in den Eisenbahnwagen fährt kein Abraum und keine Schlacke, hier fährt Kohle, und sie trägt Spuren schlaumenschlicher Voraussicht: Die oberste Schicht ist mit Kalk besprenkelt, so daß man feststellen kann, wenn unterwegs ein Unbefugter sich auf den Zug geschwungen und einige Stücke für seinen Herd abgeworfen hat.

Das wäre Diebstahl an der Société Anonyme, der das Kohlenwerk gehört und die ihrerseits von einer Société Anonyme kontrolliert wird, einer Bank. Die anonymen Verwaltungsräte und anonymen Direktoren der Société générale de Belgique und der Banque de Bruxelles regieren von fernher die Zechen des Borinage: Établissement du Grand Hornu, Charbonnages du Nord de Geuly, Société du Levant du Flénu, Compagnie des Charbonnages belges und Charbonnages Réunis, all das, was hier eine Realität mit Förderturm, Maschinenhaus, Kohlenwäsche, Schacht, Stollen und 30 000 unterirdischen Arbeitern ist, aber im Kurszettel der Brüsseler Börse nur eine täglich schwankende Ziffer.

Fünfzehn Millionen Tonnen Steinkohle fördert das Borinage jedes Jahr aus einer Tiefe von dreizehnhundert Metern, aus launischen, unregelmäßigen Flözen, die nur eine Mächtigkeit von vierzig Zentimetern (also kaum die halbe Mächtigkeit der Flöze im Ruhrrevier) haben, in einer stickigen, atembeklemmenden Stollenluft, bei einer Hitze bis zu 48 Grad. Oben, wo des Kumpels Familie wohnt, wo er nach Feierabend sein Dach hat, ist es nicht viel angenehmer als unten. Ja, nicht einmal viel sicherer. Immerfort gärt es in den Eingeweiden der zerhackten Erde, ihre Haut platzt, ganze Dörfer sacken ab, verschwinden spurlos, und durch die klaffenden Risse des Bodens dringt jauchzend das Wasser der Kanäle, überschwemmt das Land.

Mit den abgebauten Steinen gelangen unvermeidlich auch kleine Kohlenstücke auf die Abraumhalden und verlocken die Ärmsten des kohlenreichen Reviers, dort Heizmaterial zu suchen. Es stört sie nicht, daß auf allen künstlichen Bergkegeln und Kuppen die Drohung eingerammt ist:

Défense de circuler sur le terril
sous peine de poursuite judiciaire.

Die Kohlenklauber, meist Greise und Kinder, klimmen allvormittäglich den gefährlich lockeren Hang des Terrils hinauf. Sie tragen alte Säcke wie Kapuzen über Kopf und Rücken, als Schutz vor Staub und Splittern, wenn sie sich auf den eben kippenden Hängewagen stürzen, um seinen Inhalt eilig zu durchwühlen. Die Verbotstafel sichert die Grubenverwaltung gegen Schadenersatz bei einem durch Bergsturz oder Abgleiten des Karrens verursachten Unfall.

Kosten doch schon die Unfälle im Bergwerk viel zuviel Geld, das Borinage ist das klassische Land der schlagenden Wetter.

In früheren Zeiten stieg vor jeder Schicht ein Mann, der »Büßer« genannt (ursprünglich ein Sträfling), mit nassen Kleidern und nasser Tonmaske in die Grube hinab und durchschritt, eine meterlange Fackel vor sich herstreckend, alle Fördergänge. Erst wenn er aus der Tiefe wiederkam, fuhr die Belegschaft ein, kehrte der »Pénitent« nicht zurück, so wußte man, daß sich die Methangase an seiner Flamme entzündet und ihn getötet hatten. Oben warteten die Bergleute, bis das Gas zu Ende gebrannt, die Luft rein war.

Diese täglich angebotene Opferung eines Menschen, durch Jahrhunderte geübt, sie schützte nicht viel mehr vor Katastrophen als die Mittel des Glaubens und Aberglaubens. Jede Bergmannsfamilie war von der Kirche dazu angehalten, jährlich eine Novaine zu beten, das helfe bei Gott und allen Heiligen. Um sich aber auch bei den Grubengeistern gutes Wetter zu verschaffen, trug man immer einen bei Mondschein gepflückten Tannenzapfen in der Tasche.

Der Fremde hat im Provinzialarchiv von Mons Dokumente zur Bergwerksgeschichte des Borinage gesucht, er fand fast nur Berichte über Katastrophen, die Schwarze Chronik des Schwarzen Reviers – die Ausweise über Förderung und Jahresprofite liegen bei den Zechenbaronen, die, anonym oder nicht, ihren Sitz fern vom kohligen Erdreich aufgeschlagen haben.

In der Vorzeit, als im Hennegau die Nibelungen auf Rache und Treubruch sannen, bohrten ihre Leibeigenen auf eigene Rechnung und Gefahr nach dem steinernen Heizmaterial, weil ihnen das Holzklauben in den Forsten verboten war. Bald aber ließen die Grafen vom Hennegau und die Äbte von Saint-Waudru diese Arbeit für ihre Tasche besorgen und verkauften die Kohle an alle Erzhütten. Je mehr die Industrie wuchs, je kapitalistischer das Gewerke wurde, desto tiefer mußte der Förderschacht getrieben werden und desto höher stieg die Zahl der Grubenunfälle. Jetzt notieren die Kuxe niedrig – die deutsche Reparationskohle und der englische Anthrazit sind in Belgien billiger als die Kohlen des Borinage – aber die Katastrophen verschwinden nicht. Die Statistik sagt aus:

Von 1821 bis 1850: 217 Katastrophen
Von 1851 bis 1880: 202 Katastrophen
Von 1900 bis 1929: 110 Katastrophen

Und was für welche! Der Fremde durchblättert die Urkunden der Martyrologie. Es sind meist kirchliche Dokumente, denn von eh und je war der Klerus hier um eine besondere Legendenbildung bemüht, und nur zwischen den Zeilen der berichteten wundertätigen Rettungen läßt sich lesen, wie vielen Kumpels keine wundertätige Rettung gewährt ward. Am Himmelfahrtstage 1818 meldet der Abt von St. Ghislain der Obrigkeit, einer seiner Priester habe während der Rettungsarbeit im eingestürzten Stollen der Zeche »Monseigneur à la Bouverie« das Evangelium Johannis gebetet, wobei unversehens der Schlüssel der Sakristei zu Boden fiel; solches als Zeichen des Himmels ansehend, befahl er, an dieser Stelle zu graben, und man entdeckte Verschüttete, die noch lebten.

Nicht immer bewährt sich der Sakristeischlüssel dergestalt als Wünschelrute, oft findet man nicht einmal die Leichen. 1837, beim Wassereinbruch auf Grube Ste. Victoire, wurde keines der Opfer geborgen, erst ein Menschenalter später stieß man auf sie, siebenundzwanzig Mumien in einer Reihe. Im Jahre dieses grausigen Fundes verschwanden achtzehn Bergleute bei einer Schlagwetterexplosion auf »Sainte-Catherine« und 1865 auf der gleichen Grube siebenundfünfzig, deren Gebein bis heute nicht geborgen ist.

Eine Unglückszeche ist »L'Agrappe«. An einem Herbsttag 1875 wurden in einer Tiefe von 560 Metern hundertzwölf Kumpels getötet. »Deckeneinsturz infolge Selbstentzündung durch schlagende Wetter«, mit dieser Feststellung mußte sich die amtliche Untersuchung begnügen. Sie war besonders minutiös geführt worden, weil am Tag vor der Katastrophe auf die Hängebank mit Kreide hingeschrieben war: »Demain tout sautera – morgen fliegt alles in die Luft.« Diese Inschrift hatte die Belegschaft mit Entsetzen erfüllt, aber einfahren mußte sie, und bald lagen hundertzwölf neben der wahrgemachten Drohung.Während die ersten Bogen dieses Buches die Druckmaschine verlassen, ereignet sich im Borinage Furchtbares: In der Grube Fief de Lambrechies explodieren am 15. Mai 1934 schlagende Wetter. Von einer Schicht von vierundvierzig Bergleuten vermögen sich nur zwei zu retten. Die Bergungsarbeiten sind im Gange, da wird, kaum anderthalb Tage später, die Rettungsmannschaft von einer Explosion überrascht, neuerdings fünfzehn Tote, sechs Schwerverletzte. Zweiunddreißig Leichen sind geborgen worden, fünfundzwanzig Menschen sind noch unten – tot oder lebend? Die Direktion läßt die Grube unter Wasser setzen, um das Feuer zu ersticken. Am 20. Mai sollte eine Lohnkürzung von fünf Prozent in Kraft treten, auf Grund der Erregung erklärt das Konsortium, der Lohnabbau gelte erst ab 3. Juni. König Leopold III. spricht an der Unglücksstätte einen Retter an: »Schwer ist eure Arbeit, mein Freund.« – »Ja, schwer«, antwortet der Kumpel, »und dafür verachtet man uns und schneidet uns den Lohn.« Journalisten fragen nach seinem Namen. »Inconnu«, sagt er.

Nächste Katastrophe auf der gleichen Zeche: 17. April 1879. Im Fördergang »Evêque«, 610 Meter tief, explodiert um halb acht Uhr morgens Gas mit solcher Gewalt, daß auf der Erdoberfläche der Boden platzt und die Arbeiter auf dem Zechenhof und der Mann im Förderturm erschlagen werden. Stollen und Querschläge sind im Nu von Lohe durchtobt, auch im Förderschacht steigt das Feuer hoch, als wollte es hinausklettern, das ganze Land ergreifen. Sechs Detonationen, unter denen weithin der Erdboden erbebt, reißen sich aus der Tiefe empor.

Von Entsetzen gelähmt, starrt die den Unglücksschacht umlagernde Menge auf einen Gespensterreigen, der unmittelbar nach einer der Detonationen auf dem Firmament sichtbar ist: Da droben, inmitten einer Wolke, geistern Gestalten, ihre Arme flattern, ihre Beine schlenkern, sie neigen sich und heben sich und drehen sich ineinander und durcheinander, als hätten sie keine Körper . . .!

Endlich zerstiebt der wolkige Tanzplatz, und die Schemen schweben langsam zur Erde hinab. Nun sieht man, daß es Kleider sind. Eine im zusammengestürzten Stollen eingeschlossene Schicht hatte sich wegen der sengenden Hitze an einen engen Luftschacht gedrängt und nackt ausgezogen, eine neue Explosion trieb die Anzüge durch den Schacht hinauf zur Erde und höher hinauf, zum Himmel.

Bis drei Uhr nachmittags sucht die Feuersbrunst, 4200 Hektoliter Kohlenstaub vor sich hertreibend, nach Menschenopfern, wirft ihre Flammen in alle Winkel der Labyrinthe, packt jeden, den sie erreicht.

Hilfe naht. Aus den Kohlendörfern und Gruben, aus Cuesmes, aus Quaregnon, aus Frameries, aus Pâturages, aus Wasmes, aus La Bouverie, aus Hornu, aus Montrœul, aus Noirchain, aus Quiévrain, aus Wihéris, aus Thulin und aus Quarquignies stürmen die Borains heran, Soldaten der Solidarität. Sie drängen durch die Masse angstverzerrter Frauen und Kinder hin zum brennenden, krachenden Bergwerk. Während unten Wut und Glut der Elemente noch rasen, lassen sich die Arbeiter an Stricken die sechshundert Meter hinab (Förderseil und Schale sind verbrannt) und bergen am gleichen Abend neunundachtzig lebende Kameraden. Am nächsten Tage fördert man nur Leichen ans Licht, am übernächsten wieder Leichen, hunderteinundzwanzig Todesopfer, am 20. April jedoch stößt man auf fünf noch lebende Hauer; nach oben geschafft und gelabt, berichten sie von Schreckensszenen, Selbstmorden und Wahnsinnsausbrüchen bei der Flucht vor dem überallhin nachsetzenden Element.

Um die Geretteten bemüht ist unter anderen ein junger Prediger aus Holland. Er war vor wenigen Monaten nach dem Borinage gekommen, um in diesem katholischen Sprengel Seelen für den Protestantismus zu werben. Der ernste, seiner Sache leidenschaftlich hingegebene Mann war ergriffen, erschüttert vom Grau der Umwelt, er wollte Evangelist im biblischen Sinne sein, nicht besser leben als die Borains, er verschenkte seine Kleider und sein letztes Hemd an diese Armen, fror in seinem Stübchen, verbrachte seine Tage bei den Opfern einer Flecktyphusepidemie, trug während eines Streiks den Familien Essen zu, und jetzt hilft er bei der Katastrophe auf der »Cour de L'Agrappe« den Verunglückten.

Aber es ist nicht Zugehörigkeitswille, nur Mitleid mit den Borains treibt ihn zur Hilfeleistung, fesselt ihn an die Borains. Er glaubt betonen zu müssen, daß ihre Armut kein Beweis von Schlechtigkeit sei. »Nun lebe ich schon beinahe zwei Jahre bei ihnen«, schreibt er an seinen Bruder, »und habe ihren originellen Charakter ein wenig kennengelernt, wenigstens den der Kohlenbergleute. Und mehr und mehr finde ich etwas Rührendes, ja sogar Erschütterndes in diesen armen und niedrigen Arbeitern, in diesen sozusagen Letzten und Verachtetesten von allen, die man sich für gewöhnlich, vielleicht infolge einer lebhaften Phantasie, aber sehr zu Unrecht, als eine Rasse von Übeltätern und Räubern vorstellt. Bösewichte, Trunkenbolde und Räuber gibt es hier wie überall, doch ist das nicht der wahre Typus . . .«

Der junge Missionar liebt die Landschaft des Borinage, er schildert in seinen Briefen, sie sei voller Charakter, die dunklen Tage vor Weihnachten erinnern ihn an die mittelalterlichen Dorfbilder, insbesondere an die von Breughel.

Was nützt das, was nützt es, daß die Bewohner nicht durchwegs Bösewichte sind und das Revier an Breughel gemahnt – nach zwei Jahren bricht der Evangelist unter dem Jammer zusammen, der sich auf diesem Fleckchen ein Stelldichein gibt, sein Vater holt ihn weg, und was sich hernach mit dem jungen Mann begibt, haben die mit ihm befaßten, aber mit dem Borinage kaum vertrauten Kunsthistoriker nicht begriffen.

Sein weiteres Leben und Schaffen ist nichts anderes als eine irrsinnige, gehetzte Flucht aus dem Schrecken in die Kunst. Flucht aus der schwärzesten Finsternis ins grellste Licht. Flucht aus der Düsterkeit in die Farbe. Flucht aus der Tiefe in die Höhe. Flucht vom Kohlenstaub zum Blütenstaub. Flucht aus den engen Bergmannswohnungen in die weiten Ährenfelder. Flucht vor den Gebirgen aus Schlacke zu den Ebenen aus Gold.

Nichts mehr vom Evangelium, nichts mehr vom Bergwerksmenschen. Frenetisch malt er jetzt, wie er seine Missionstätigkeit frenetisch geübt hatte, er wird das Genie der Flora, er trinkt von der Sonne und von den Blumen und von der Buntheit, von all dem, wonach er im Borinage gedurstet hat, und nach wenigen Jahren stirbt Vincent van Gogh an diesem Exzeß des Malens.

Bei der nächsten großen Grubenkatastrophe (Schacht Boule-du-Cœur, hundertdreizehn Tote) ist ein anderer Maler da, den das Borinage gleichfalls aus der Bahn wirft und der gleichfalls seinen Beruf wechselt, in welchem er alt geworden war. Er aber flüchtet nicht. Im Gegenteil, dieser Constantin Meunier, der wie van Gogh in den revolutionären Malern Courbet und De Groux seine Vorbilder sah, wächst im Borinage vom mittelmäßigen Maler und Lehrer der Kunstakademie in Löwen zum gigantischen Plastiker.

Er weiht seine ganze neue Kunst den Borains und ihren Genossen, durch ihn vor allem wird das Borinage zum klassischen Land der sozialen Kunst.

Meunier hat den Kumpel des Borinage gemeißelt, sein eingefallenes Gesicht mit dem halbgeöffneten Mund, der Schweiß preßt an den ausgemergelten Körper die Leinenbluse, daß ihre Falten wie Rippen aussehen, muskulös sind die Arme, die ein Leben lang die Haue gegen die schwarze Steinwand schwingen. Meunier sah einen jungen Kumpel, die Hand unschlüssig ausgestreckt, vor Ort mit dem Hauer streiten. Meunier kam vorbei, als ein Mädchen in prall anliegenden Kniehosen eben die Kippkarre an die Kohlenzille geschoben hatte und nun die Arme in die Hüften stützte, um den Anzüglichkeiten der Schifferburschen die Antwort nicht schuldig zu bleiben. Meunier kannte die Verdammten dieser Erde, er kannte auch die Mutter des Borinage.

Nach jener Katastrophe auf der Grube Boule-du-Cœur, am 4. März 1887, stand die Mutter im Schuppen, wohin man die hundertdreizehn Toten trug, und hatte keinen Schrei in der Kehle und keine Träne im Auge, nur ihre Hände preßten sich gegeneinander, weil sie nicht wußten, gegen wen sie sich ballen sollten. So hat Meunier sie gestaltet und zu ihren Füßen den Sohn, den geopferten. Ist es ihr einziger, ist es ihr letzter Sohn? Wohl mußte sie erwarten, daß er einmal verunglücken werde, nun ist die Befürchtung eingetroffen, da steht nun eine Mutter, die keinen Sohn hat.

Mit der gleichen Gewalt, mit der das Borinage van Gogh davonschnellte, riß es Meunier an sich. Wie Vincent zur Verdrängung seiner schwarzen Eindrücke, zur Betäubung des erlebten Schreckens seine Werke schuf, schuf Constantin mit voller, bewußter Hingabe. Er erschloß der Welt der Kunst die Welt der Arbeit, wurde der Vorkämpfer der naturalistischen Literatur, der Graphik einer Käthe Kollwitz, eines Steinlen.

In einer Umwelt, die man der Natur beraubte, ohne ihr dafür auch nur Zivilisation zu geben, fand Meunier die Modelle, die Originale des Ehrenmals, das er der Arbeit aufgerichtet hat. Dieses Denkmal des Kumpels steht nicht in des Kumpels Land. Selbst der militärische Heroenkult macht vor dieser unwirtlichen Gegend halt – man bringt ja auch sonst auf Armenhäusern und Spitälern, in denen große Männer starben, keine Gedenktafeln an.

Nichts oder wenig erinnert daran, daß hier zu allen Zeitläuften Soldaten einander ruhmreich erschlugen. Das Borinage ist der klassische Kriegsschauplatz.

In den Flurnamen bei Saint Denis, »Schlucht der blutigen Helme«, »Hag der gespaltenen Krieger«, lebt noch das Grauen eines Treffens vor fast tausend Jahren; Rochilde vom Hennegau und Robert von Friesland stritten um den Besitz von Flandern, und dafür ließen sie die Mannen kämpfen, bis deren gespaltene Leiber einen Hag, ihre blutigen Helme eine Schlucht füllten.

Rings um den gleichen Hag, tief in der gleichen Schlucht fielen die Truppen Ludwigs XIV., einmal 1678, einmal 1709. Lieder verherrlichen die Feldherren, »Prinz Eugenius der edle Ritter«, »Marlborough s'en va-t-en guerre« – wer aber kennt auch nur einen ihrer 23 000 Soldaten, die als Sieger auf dem Feld von Malplaquet blieben, und ihre 11 000 toten Feinde?

An der Wende des Jahrhunderts, das an seinem Beginn den Spanischen Erbfolgekrieg auf dem Boden des Borinage austrug, entrollt sich auf dem Borinage ein Krieg, bei dem es nicht mehr bloß um Erbfolge und Hausmacht geht. Nicht mehr kämpfen Leibeigene oder Söldner eines Fürsten gegen die eines anderen. Die Revolution ist auf den Plan getreten, und die erbebenden Monarchien Europas schicken ihre Armeen aus, um den Pariser »Pöbel« zu züchtigen, der sich unterfing, sich selbst zu regieren.

Schlacht von Jemappes. Es lächelt der österreichische Marschall, Herzog von Sachsen-Teschen, ein geringschätziges Lächeln, als er am Morgen des 6. November 1792 vom dominierenden Mont Heribus herab das feindliche Kriegsvolk besieht, und sein General Clerfait lächelt von Herzen mit. Uniformlose, kaum bewaffnete Burschen, da rennen sie naiv und ahnungslos durch das Sumpfgebiet gegen das von den kriegserprobten Feldherren Habsburgs geführte Heer, gegen die fachmännisch ausgebaute dreifache Redoutenlinie an, geradewegs in den Feuerbereich der neuen Kanonen hinein.

Am Nachmittag lächeln der kaiserliche Marschall, Herzog von Sachsen-Teschen, und General Clerfait nicht mehr. Man lächelt nicht auf der Flucht mit einer aufgelösten Armee. Ob ihnen auf dieser Flucht ähnliche Gedanken kamen, wie dem weimarischen Staatsminister Wolfgang von Goethe, der beim gleichfalls geschlagenen linken Flügel eingeteilt war? Der hatte in Valmy ausgerufen: »Von hier und nun beginnt eine neue Epoche der Geschichte, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen.«

Noch aber tritt die alte Epoche nicht ab, noch sind die kriegerischen Imperatoren und die imperialistischen Kriege keineswegs vorbei, und im August 1914 erlebt das Borinage das blutigste Schlachten. 250 000 Deutsche und Engländer stehen einander zwischen Mons und Maubeuge gegenüber. Geschütze fegen Häuser und Kirchen und Fördertürme und Schlote und Schlackenhügel hinweg, Soldat und Zivilist sterben den gleichen Tod, Zehntausende fallen. Schlagende Wetter, Grubenbrand, Pest, alle bösen Kräfte der Natur zusammengenommen haben nicht soviel vernichtende Macht wie der Mensch. Der hätte sogar die Macht, den bösen Kräften der Natur zu begegnen, aber die Dividenden erlauben es nicht.

Das Gelände trägt kein Denkmal an diese Schlacht und an die Okkupation, nur an der Seitenwand einer Scheuer zwischen Flénu und Jemappes sieht der Fremde das ungelenk getünchte Votiv:

C'est ici
que le 24 août 1914
furent lâchement
fusillés par les boches
Condron Thimoté, Dupont Alphonse,
Dupont Jean-Baptiste, Dupont Jules,
Finet Emanuel, Finet Florent père,
Finet Florent fils, Haimeux Aimalle (Emile).

In St. Ghislain, das ein rußig-roter Kohlenort ist, aber immerhin durch das Vorhandensein einer Werft für Kohlenkähne, einer Glasfabrik, einiger Agenturen von Kohlengesellschaften und von Transportversicherungen ausgezeichnet, kann der Fremde fast an jedem Hauseingang den Vermerk der deutschen Quartiermacher lesen: »Zimmer für . . . Offiziere, Raum für . . . Mannschaften, Keller für . . . Personen, Stall für . . . Pferde.« Auf dem Giebel des Hauses an der Brücke ist erst später hingemalt worden: »Détruit par les Allemands 1918, reconstruit 1923.« Der Heldenfriedhof, mit dessen Ausstaffierung die Etappe ihre Unentbehrlichkeit bewies, liegt einige Kilometer entfernt, bei Spiennes; im Borinage selbst wurden die Gefallenen des Weltkriegs, Freund und Feind, auf den Ortsfriedhöfen begraben.

Erstaunt blickt die Frau des Kirchhofwärters auf, die im offenen Kapellenvorbau Wäsche wringt: jemand tritt – an einem Wochentag! während der Arbeitszeit! – durchs Gittertor. Der Fremde watet durch hohes Unkraut. An der Mauer dreizehn morsche Holzkreuze für einen Captain, einen Leutnant und elf Mann von »Royal Scotch Fusiliers«. Ihr Nachbar, der deutsche Vizefeldwebel Erich Romberg, Inf.-Regt. 24, nennt wenigstens ein eisernes Täfelchen und ein umgittertes Blumenbeetchen sein eigen. Über den anderen Hügeln hängen Perlenkränze unter Glas, Vitrinen mit Gipsvasen und Papierblumen, auf den Grabsteinen prangen porzellanene Photo-Medaillons, die toten Frauen auf den Bildern tragen Riesenhüte und lächeln kokett.

Der Fremde konstatiert auf einer Reihe von Kreuzen das gleiche Sterbedatum, die acht Begrabenen sind von neunzehn bis dreißig Jahre alt, ihre Todesursache ist nicht angegeben, sie ist selbstverständlich. Die acht Opfer einer Katastrophe sind dort, wo sie bei Lebzeiten waren, wo ihre lebenden Kollegen zur Stunde sind: unter der Erde. Der Fremde verläßt den Totenanger – zur Erleichterung der am Waschtrog stehenden Frau, er überschreitet von neuem Schienenstränge und geht an rauchenden, ewig brennenden Halden vorbei, ohne jemandem zu begegnen.

Der Fremde steigt eine der Abraumpyramiden hinauf, Brocken rutschen unter seinen Füßen zu Tal. Vom Gipfel, auf dem sich die Kippe der Schwebebahn wie ein lauernder Basilisk reckt, sieht der Fremde weithin über das Revier und über das Revier hinaus bis nach Frankreich hinüber. Um das qualmgraue Kleid der Landschaft spannt sich ein Gürtel aus mattem Silber, der Kanal zwischen Sambre und Schelde; träg schwimmen die Zillen nach Condé, ihre Fracht ist die gleiche wie die der Eisenbahnen, die ihren Rauch in den Rauch der Halden puffen.

Drüben in Charleroi hat die Montanindustrie ihren Sitz, in Ciply gewinnt man Phosphor, in Caillon-qui-Bique steht das Haus, aus dem der Krieg Emile Verhaeren vertrieb. Der Fremde sieht die Strafanstalt von Mons; dort saß Paul Verlaine, verhaftet wegen eines belanglosen, irrsinnig-kindisch-betrunkenen Schusses und zum höchsten Strafmaß verurteilt, weil man ihn für einen geflüchteten Teilnehmer der Pariser Kommune hielt. Das war er wahrlich nicht, nichts weniger als ein Kommunard. Dennoch fühlte er den Jammer des Zuchthaushofes außerhalb seiner Zuchthausmauern:

Plutôt des bouges
Que des maisons.
Quels horizons
De forges rouges!

On sent donc quoi?
Des gares tonnent,
Les yeux s'étonnent
Où Charleroi?

Parfums sinistres!
Qu'est-ce que c'est?
Quoi bruissait
Comme des sistres?

Sites brutaux,
Oh! votre haleine
Sueur humaine,
Cri des métaux!

Dans l'herbe noire,
Les Kobolds vont
Le vent profond
Pleure, on veut croire.

Zu Füßen des Schlackenhügels, von dessen Höhe der Fremde das Terrain beschaut, liegt das Dorf Pâturages. Von dort aus verschickt das Belgische Bergwerksinstitut an alle montanistischen Laboratorien einen Exportartikel, für den es geradezu das Monopol und von dem es unerschöpfliche Bestände besitzt: Bomben mit Grisou, dem schlagenden Wetter.

Die Dörfer gleichen einander, sie sind Vorstädte einer nicht vorhandenen Großstadt, Dörfer ohne Felder und Triften. Niemals bestand für die Zecheninhaber die Notwendigkeit, im Borinage Arbeitersiedlungen zu errichten, Volksparks oder Werkheime, mit denen man in anderen Kohlenbecken Arbeiter anlockt und sie an der Abwanderung hindert. Die Bergleute hier sind hier geboren und sterben hier. In einem Dialekt-Couplet verspotten die Borains selbst ihre Seßhaftigkeit, ihren Lokalpatriotismus. »Enn' c'est ni co Frameries« (»Doch es ist nichts wie Frameries«) singt der Borain, dem man die Brüsseler Paläste und die Kathedrale und die Grande Place und das Manneken Pis zeigt; sogar im Himmel, wo ihm Petrus die Sehenswürdigkeiten vorführt, bleibt er dabei, »enn' c'est ni co Frameries«.

Niedrige Häuser für die Arbeiter, hohe für die Kohle. Außer den Fördertürmen, den Eingängen zu weitläufigen, weitverzweigten, unsichtbaren Räumen, heben sich nur die Abraumgebirge, die Schlote der Kohlenwäsche, die breiten Konusse der Kokerei und die Kirchen aus der kahlen Horizontale hoch. Im Dorf Quaregnon wird eine neue Kirche gebaut, in der man Demut vor Gott, Ergebenheit in das Schicksal und Gehorsam gegenüber den Kohlenbaronen predigen wird; acht Millionen Francs soll sie kosten. Die Backsteine für den Bau lagern in Arbeiterwohnungen, die man durch Exmittierung der bisherigen Mieter frei gemacht hat.

Nach St. Ghislain kommen von fernher Bauern und Bäuerinnen, um ihren Unterkörper am Sockel einer steinernen Bärin zu reiben, das soll vom Fluch der Kinderlosigkeit befreien; niemals frottieren sich Bergarbeiter am Wunderstein, Kinder sind ja das einzige, was sie im Überfluß haben.

Ein anderes Denkmal haben die Bergarbeiter in Frameries aufgestellt, es hält die Erinnerung an Alfred de Fuisseaux wach. De Fuisseaux hat in den achtziger Jahren die große Bewegung für das allgemeine Wahlrecht geführt und die ersten sozialistischen Organisationen geschaffen im Borinage, dem klassischen Land der Lohnkämpfe auf dem Kontinent.

Als Karl Marx im »Kapital« den langwierigen, mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse erläuterte, dessen Produkt die Schöpfung eines Normalarbeitsvertrages darstellt, nahm er ein Land aus:

»Belgien, das Paradies des kontinentalen Liberalismus, zeigt auch keine Spur dieser Bewegung. Selbst in seinen Kohlengruben und Metallminen werden Arbeiter beider Geschlechter und von jeder Altersstufe mit vollkommner ›Freiheit‹ für jede Zeitdauer und Zeitperiode konsumiert. Auf je 1000 darin beschäftigte Personen kommen 733 Männer, 88 Weiber, 135 Jungen und 44 Mädchen unter sechzehn Jahren; in den Hochöfen usw. kommen auf je 1000: 668 Männer, 149 Weiber, 98 Jungen und 85 Mädchen unter sechzehn Jahren. Kommt nun noch hinzu niedriger Arbeitslohn für enorme Ausbeutung reifer und unreifer Arbeitskräfte, im Tagesdurchschnitt 2 Shilling 8 Pence für Männer, 1 Shilling 8 Pence für Weiber, 1 Shilling 2½ Pence für Jungen. Dafür hat Belgien aber auch 1863, verglichen mit 1850, Quantum und Wert seiner Ausfuhr von Kohlen, Eisen usw. ziemlich verdoppelt.«

Wie der große Verfechter der Arbeiterinteressen auf die Mineure im Borinage und die Metallarbeiter von Charleroi hinwies, um deren furchtbare Ausbeutung und Rechtlosigkeit darzutun, so wiesen die Verfechter des englischen Minenkapitals auf den glücklichen Zustand der belgischen Minenarbeiter hin, »die nicht mehr verlangten und nicht mehr erhielten, als gerade nötig, um für ihre masters (Unternehmer) zu leben«, und »auf deren Lohnniveau man den englischen Arbeitslohn herabdrücken müsse, um konkurrenzfähig bleiben zu können«.

Dieses »Lob«, mit dem der englische Kapitalismus die Genügsamkeit und Duldsamkeit der Borains bedachte, ihre frommen Eigenschaften als Resultat niedriger Löhne hinstellte und sie zur Nachahmung für England anpries, wurde bald und gründlich Lügen gestraft. Noch während der Drucklegung des »Kapital« konnte Marx den Hinweis der lohndrückerischen Waliser Kohlenbarone mit einer Tatsache, in einem Satz widerlegen: »Anfang Februar 1867 antwortete der mit Pulver und Blei unterdrückte Streik der belgischen Minenarbeiter bei Marchienne.«

Das war die erste Auflehnung des »nur durch Klerisei, Grundaristokratie, liberale Bourgeoisie und Bürokratie, aber beileibe nicht durch Trade-Unions und Fabrikgesetze gehänselten ›freien belgischen Arbeiters‹, dessen Familienbudget, wenn seine Frau und zwei von vier Kindern mitverdienten, tief unter den Unterhaltungskosten eines belgischen Sträflings lag«. (Marx, »Das Kapital«, Bd. I, 23).

Viele Streiks folgten, oft blieb wochenlang das seit Hunderten von Jahren rollende Förderseil unbewegt, blieb das seit Hunderten von Jahren hallende Echo der Beilschläge in den schwarzen Abgründen verstummt, blieben die seit Hunderten von Jahren täglich benützten Geleuchte unberührt in den Lampenkojen hängen, während draußen das seit Hunderten von Jahren dumpf und frumb daliegende Land von Kämpfen bewegt war.

1930 hatten neunzig Aktiengesellschaften, die trotz der Krise 102 Millionen Francs Dividende ausschütteten, den Jahreslohn der Bergleute um 650 Millionen gekürzt; als sie diesen Lohnabbau geglückt sahen, kündigten sie am 6. Juni 1932 das Abkommen und forderten eine weitere Herabsetzung der Löhne um fünf bis sieben Francs pro Schicht. Daraufhin trat das Borinage in den Ausstand.

Streikmärsche von Grube zu Grube, um die Kameraden zur Niederlegung der Arbeit zu mobilisieren und Streikbrechern deren Verrat klarzulegen, Umzüge, bei denen in Ermangelung von Fahnen Wandbilder von Marx und Lenin getragen wurden, Versammlungen und Deputationen brachten den Erfolg, daß sich der Streik auf das benachbarte Kohlenbecken »Le Centre« ausdehnte, wo die Unternehmer die Kündigung des Tarifs erst nach Bändigung des Borinage vornehmen wollten. Auch die Metallarbeiter schlossen sich an. Zeitweise streikten bis zu 240 000 Mann. Dreizehn Wochen lang hielt das Borinage stand.

Die von den Gewerkschaften gezahlte Unterstützung betrug nur sieben belgische Francs pro Tag und Familie. Vier Regimenter und ein Massenaufgebot von Gendarmen unterdrückten blutig die Agitation. Aus dem Pütt von Courrières in Frankreich, aus Wales und aus dem Ruhrgebiet rollte inzwischen Steinkohle zollfrei nach Belgien. Auch in Flandern, wo die Flamen durch geschickt geschürte Nationalitätenhetze gegen ihre wallonischen Klassengenossen des gleichen Staates mißleitet waren, wurde weiter gefördert. So brach der Streik schließlich zusammen, und die Borains, verhungerter als vorher, aber fester und revolutionärer zusammengeschlossen, fuhren wieder ein.

Langsam steigt der Fremde den Weg der rutschenden Schlackenstücke hinab, und nun ziehen die an ihm vorüber, die die Erde für heute freigegeben hat. Längs des Kanals gehen sie mit großen Schritten in Holzschuhen nach Hause oder zur Bahn, ein wollenes Halstuch schützt sie vor dem pfeifenden Wind, an ihrer Seite baumelt die Kaffeeflasche wie ein Bajonett.

Da gehen sie, die lebendigen Statuen der Arbeit, wie ein Relief als Hintergrund steht der Förderturm, in dem sich die Aufzugsräder gegeneinander drehen, und ihr Sockel ist ein meilenweiter schwarzer Stein mit unheimlich verzweigten Mäandern. Im Wartesaal der Lokalbahn hockt ein Greis, Ahnherr der Kumpels, er stützt den Hintern auf die Fersen, obwohl auf den Bänken Platz genug zum Sitzen ist; seine Augen, gewöhnt, Finsternis zu schauen, sehen auch in der Helle obertags nur Finsternis.

Nach allen Richtungen fahren die Züge, aus allen Richtungen kommen Gruppen zu Fuß, sie gehen in ihr Dorf, Kinder laufen ihnen entgegen, zukünftige Kumpels, auf manchen wartet ein Mädchen, andere trinken ein Bier im Estaminet.

Männer, deren Leben am Förderseil hängt, deren Lunge Kohlenstaub saugt, deren Augen schwach werden von der Arbeit beim trüben Geleucht, deren Knochen rheumatisch werden durch Hitze und Zugluft und Grubensumpf, Männer, die oft tagelang von der Außenwelt abgeschlossen sind, die immer in Front liegen vor den Feinden Gas, Steinschlag, Wassereinbruch, sind für eine Nacht auf Urlaub.

Heute abend bei der Diskussion im »Haus des Achtstundentages« – so heißen in Belgien die sozialistischen Versammlungslokale – wird der Fremde die jetzt müde an ihm vorbeiziehenden Heimkehrer wiedersehen als bewegte Rufer, Redner und Reisige für ein besseres Sein.

 


 << zurück weiter >>