Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Gablonz oder Glanz und Elend der Kinkerlitzchen

Wie dieser Satz, so rund ist diese Perle: so rund wie dieser Satz.

Sie ist einfach. So einfach wie der Satz, der das besagt.

Sie ist aus Glas und billig, so billig wie diese Feststellung, denn eine Perle aus Glas kann nicht teuer sein.

Ich halte das Glasperlchen zwischen den Fingern meiner linken Hand. Viel sehe ich in dem Perlchen, Kontinente und Dörfer. Auch ein kleiner Globus stellt ja die Erde dar.

Scharf schaue ich hinein, ob sich nicht auch etwas von dem erkennen läßt, was ich darin weiß, Kolonialpolitik, Weltwirtschaft, ob sich darin nicht die Schicksale der Konsumenten über See und der Produzenten des Gablonzer Landes spiegeln, aus dem das Perlchen stammt.

Es ist eines von den Kinkerlitzchen, die von den nordböhmischen Hängen des Isergebirges herabrollen in fünf Kontinente. Gablonz ist die Hauptstadt in diesem Bezirk und in der Bijouterie der Welt.

Mein Glasperlchen ist Gablonzer Ware, Massenartikel. Massenartikel sind in Massen hergestellte Artikel für die Massen. Es kribbelt in meinem Glasperlchen, Szenen formen sich darin.

Ich sehe in meinem Perlchen einen Mann, der ein Perlchen beschaut. Er ist ein Schanghaier Großhändler und bestellt 2000 mass of glassbeads in assorted colours, also zweitausendmal hundert Dutzend solcher Perlchen wie das in meiner Hand. Da kommt eine Brigade japanischer Marinetruppen und will Tschapei besetzen. Da stellen sich ihnen junge chinesische Arbeiter und die 19. Armee entgegen. Da donnern Schiffsgeschütze, da sausen Flugzeugbomben herab, da stürzen Häuser ein, da sterben Menschen. Da storniert der Grossist in Schanghai seine Bestellung, indem er zwei Worte nach Gablonz kabelt: »Cancel order.«

Ich sehe in meinem Perlchen einen Mann, der ein Perlchen beschaut. Er ist Grossist in Kuba, er bestellt hundert packets Rocailles, aufgefädelt. Da bricht die Revolution aus, da storniert der kubanische Grossist seine Bestellung, indem er ein Telegramm von zwei Worten nach Gablonz schickt: »Anular orden.«

Ich sehe in meinem Perlchen einen belgischen Großkaufmann in Leopoldville im Kongo, der einige Kisten mit Yards bestellt hat, bunten Zelluloidplättchen, die den Bantunegern in langen Schnüren auf dem Leib baumeln. Yards sind keine Modeartikel, die Käufer im Negerkraal, zu denen die Gablonzer Kisten von Menschenkarawanen herangebracht werden, kümmern sich nicht darum, was man zur Zeit in Paris trägt. Ein japanischer Reisender tritt ins Büro des belgischen Händlers. Er bietet die gleiche Ware für ein Viertel des Preises an, tief unter den Gestehungskosten von Gablonz. »Cancel order.«

Ich sehe in meinem Perlchen einen Waggon Lüsterbehang (Kristallprismen, Tropfen, Birnen, Buchten, Wachteln), der soll nach dem Madrider Königspalast rollen – da wird der König zum Teufel gejagt . . .

Ich sehe in meinem Perlchen einen unabsehbaren Zug von Hindus zu den heiligen Stätten pilgern. Ihre Arme sind mit »Bangles« geschmückt, glitzernden Reifen, in Gablonz gezeugt. Am Ufer des Ganges reißen sie reuig den eitlen Tand vom Leibe, zerbrechen ihn, zertreten ihn, zerstampfen ihn. Wenn die Bußwoche vorbei ist, erstehen sie in den Basaren den sündhaften Schmuck von neuem. So geht es Jahr um Jahr, bis eines Tages in Indien der Boykott europäischer Waren proklamiert wird, Telegramme laufen aus: »Cancel order.«

Ich sehe in meinem Perlchen den von der Labour Party ins britische Kabinett entsandten Premierminister. Er mobilisiert die Kolonialtruppen, er tut es, wie er hervorhebt, im Interesse der englischen Arbeiter, der Lancashirer Textilarbeiter vor allem, die durch den indischen Boykott erwerbslos werden. »Aber wenn Genosse Macdonald den Ghandi verhaftet, die nationalindische Propaganda mit Peitschen und Hinrichtungen niederringt – besorgt er damit nicht auch euch Arbeit, Gablonzer Genossen?«

Während auf imperialistische Weise ein englischer Ministergenosse fernen Proleten Arbeit zu schaffen vorgibt (eine Politik, die keinen Anlaß zu Boykotten gibt, vertrüge sich freilich nicht mit seinem Amt), wird eine Armbandringmaschine erfunden, die Tausende Gablonzer Arbeiter arbeitslos macht. Ich sehe in mein Perlchen: die Glasarbeiter rotten sich zusammen, Gendarmen marschieren auf, es kommt zu gefährlichen Zusammenstößen, man schreibt März 1927. Ohne diese Maschinen könne sich Gablonz nicht auf dem Weltmarkt halten, erklären die Unternehmer, aber die Arbeiter rufen den Maschinen zu, »Banglesmachen gilt nicht«, und zwingen die Regierung, diesen Standpunkt anzuerkennen.

Nicht zum erstenmal bedroht die Aufstellung neuer Maschinen die Menschen des Schleiferlandls. Mein Perlchen läßt mich einen italienischen Arbeiter sehen, der einem Gablonzer Unternehmer das Geheimnis verkauft, Macca-Perlen auf venezianische Art zu sprengen. In Wiesenthal werden die Maschinen aufgestellt, die brotlos gewordenen Handarbeiter versuchen sie mit ihren Fäusten zu zertrümmern, das aus Reichenberg alarmierte Militär gibt Feuer.

Ich sehe in meinem Perlchen Streiks und Aufstände. Die Schleifer stehen in der vordersten Reihe, aber wenn der soziale Kampf abebbt, kriechen viele vor den Schleifmühlenbesitzern und den Glaswarenerzeugern, um Aufträge oder Kredite zu kriegen. Des Schleifers kleinbürgerliche Lebensweise mit Häuschen und Kartoffelacker einerseits, die Tatsache, daß er bis aufs Blut der Lunge ausgebeutet ist andererseits (der »Schleifersocht«, der Tuberkulose, entgeht keiner), werfen ihn zwischen Wutausbrüchen und Leisetreterei hin und her. Ihr Dichter und Organisator, Franz Grundmann, der »Schleifer-Franzi« (er starb 1920 als Gewerkschaftssekretär in Tiefenbach), hat sie so charakterisiert:

Wenn de Schleifer wölde war'n,
Woll'n se olls zerreiß'n.
Wenn se wieder zohme sein,
Loss'n s' off sich scheiß'n.

Es geht wüst zu in meinem Perlchen, Ferne mischt sich mit Nähe, Weltwirtschaft mit Kirchturmpolitik. Nicht wenige am Hang der Iserberge sehen dieses Getriebe als unentwirrbar und unabwendbar an und flüchten vor der Wirklichkeit in die Mystik, aus Interessensphären in Himmelssphären, aus der Vernunft in die Narretei. Der »Reformierte Monismus«, von dem mir gestern im Wirtshaus von Seidenschwanz einer mit vielen »dasterungeachtet« stundenlang »gebreecht« hat, ist nicht die einzige hierorts erfundene Philosophie, und der Schindler-Maxe ist nicht der einzige Prophete in Kukan, in patria sua. Geisterbeschwörer, Astrologen, Theosophen, Adventisten, Herrnhuter und andere Sektierer, Projektanten neuer und Oppositionelle alter Parteien wuchern im Schleiferlandl reichlicher als anderswo. Die alle erschweren die Kämpfe der Organisierten.

Ich sehe in meinem Perlchen das k. k. privilegierte Bürgerliche Schützenkorps durch die Vorkriegsstraßen von Gablonz marschieren, den Veteranenverein hinterher. Die Männer in Reih und Glied sind die Gürtler, die Estampeure, die Similiseure, die Galvaniseure, die Maler, die Kartonnagenmacher – lauter Kleinmeister und ihre Gehilfen, die Kleinmeister werden wollen. Ich sehe sie nachher zum Stammtisch ziehen und zur Kegelbahn, um Hunderte von Gulden wird gespielt, wir hom's ja, es ist Konjunktur.

Ich sehe in meinem Perlchen ein Handlungsgehilfen-Kränzchen. Die Angestellten der Exporthäuser. Bis acht Uhr abends sind sie im Büro eingespannt, sie verdienen kaum mehr als die Glaswarenarbeiter, aber um so vornehmer tun sie, um so mehr Distanz wahren sie. Heute abend tanzen sie, die Komiteeschleife am Revers des Smokings, mit den Töchtern der Exporteure ohne Unterschied der Konfession, sonst ist ihr Handlungsgehilfenverein national und antisemitisch.

Ich sehe in meinem Perlchen, wie der biedere Verfechter der 1848er Demokratie, Dr. Viktor Adler, nach Gablonz kommt, um die Schleifer zu organisieren, er betritt das Café Bergmann, will eine Tasse Kaffee trinken, aber der Besitzer bedeutet ihm, sofort das Lokal zu verlassen, hier sei kein Raum für Hetzer. Das ist 1893.

Ich sehe in meinem Perlchen den Böhmischen Landtag und den Wiener Reichsrat, die Abgeordneten von Gablonz sind ältere bürgerliche Herren, approbiert vom Deutschen Kasino in Prag oder vom Deutschen Volksrat in Trebnitz, gewählt von der Großindustrie, den Exporteuren und jenen Glaswarenerzeugern im Schützenkorps.

Während die Aufträge blühten, der Umsatz jährlich anderthalb Milliarden Kronen (heute nur vierhundert Millionen bei fast unverminderter Produktion) betrug, während die Riedels und die anderen Fabrikanten an Rohglaslieferungen nach dem Gablonzer Bezirk Unsummen verdienten, während einzelne Glaswarenunternehmer zur Produktion in modernen Fabrikbauten übergingen, blieben die Kleinbetriebe bei ihren alten Prozeduren in Werkstätten und an Werkzeugen, die an die schwärzeste Urzeit der Manufaktur erinnern.

Ich sehe in mein Perlchen, Druckhütten hängen an den Iserbergen, am Neiße-Ufer und bei Labau und Neudorf, bei Morchenstern und Johannesberg. Mit ihren langen, fast fensterlosen Mauern gleichen sie Scheunen, aber seit wann haben Scheunen einen Schornstein, einen so hohen noch dazu? Ganze Dörfer mit verrußten Dächern bilden sie, Dörfer, in denen niemand wohnt, Dörfer aus Werkstätten.

Die Druckhütte ist ein einziger Raum, festgestampfte Erde ihr Parkett, rußgeschwärzt ihre Luft. An der einen Querwand steht ein Feuerherd, an der gegenüberliegenden ein zweiter.

Gebündelt lehnen Glasstangen in der Ecke, zwanzig Kilo wiegt jede dieser Garben, die dem Drücker nur als Lehen gegeben sind. Er macht aus ihnen Knöpfe und Perlen, solche Perlen wie diese, die ich zwischen den Fingern drehe und in der sich die ferne Welt und die kleine Druckhütte, umgeben von Unheilwolken, spiegelt.

Ein Kaufmann ist der Drücker nicht, das Kalkulieren ist keineswegs seine Sache. Sich gewerkschaftlich zu organisieren, lehnt er ab, damit er vom Glaswarenerzeuger jeden Auftrag zu jedem Lohn annehmen kann, selbst wenn er dabei hungert. Pafft in der Nachbarwerkstatt der Schornstein, so soll der seine auch etwas zu rauchen haben. Es wird schon besser werden, denkt der Drücker, Perlen braucht man immer, denkt er, Glasknöpfe mit schönem Dekor werden immer schön bleiben, denkt er. Da taucht der Knopf aus Steinnuß auf, der Knopf aus Galalith, der Knopf aus Holz, ich sehe in meinem Perlchen, wie die Mode ihre Pläne an diesen Knöpfen faßt, sie an diesen Knöpfen in den Salon führt und mit nachlässiger Kopfbewegung nach Gablonz ruft: »Cancel order.«

So kommt's, daß der Drücker in Druck kommt, kein Rohglas mehr wird ihm verliehen, kein Rauch weht aus dem Schornstein, zwangsversteigert wird die Werkstatt, deine Geburtsstube, mein Perlchen!

Vorläufig schauen die gläsernen Stäbe harmlos drein, rot, grün, blau, schwarz, weiß und sogar glasfarben strahlen sie, und die Reflexe des Herdfeuers glitzern in ihnen. Schräg an der kahlen Wand der Druckhütte lehnend, warten sie darauf, in eine hölzerne Klammer, die Dille, gespannt und so lange von den Flammen des Ofens umzingelt zu werden, bis sie selbst flammend erglühen.

Dann wird eine Stange hervorgeholt, der Drücker hält sie mit der linken Hand fest, mit seiner rechten bewegt er einen Schwengel; von zwei Seiten, zangenartig, klemmt sich die Form in das glühende Glas, und gleichzeitig bohrt eine Nadel von der Seite oder von oben ein Loch mitten in das neugeformte Körperchen. Ein Schnitt mit der Schere, und der »Druck«, eine Dolde embryonaler, aneinanderklebender Glasperlen, rutscht in einen irdenen Eimer. Der Hilfsarbeiter zieht einen neuen Glasstengel aus der Glut und benutzt die Gelegenheit, einige der auf dem Herd dörrenden Holzspreizen ins Feuer zu schieben.

Mechanisch sieht der Handgriff am Druckofen aus, aber er ist individuell, man unterscheidet gute Drücker und schlechte Drücker, ein Gefühl in seinem Muskel gibt der kleinen gläsernen Kugel das Gepräge, nur der Drücker weiß, ob eine neue Form gut ist.

Irgendwo, fern von der Hütte des Drückers, wirbeln die Glasperlen, die er gemacht hat, in sandgefüllten Trommeln durcheinander. Dort warst auch du, kleines Perlchen zwischen meinen Fingern, damals warst du noch rauh und zackig, deshalb hat man dich rhythmisch geschüttelt, du hast in der Trommel gelernt, dich um deine Achse zu drehen und gleichzeitig deine Bahn um andere rotierende Kügelchen zu beschreiben, du hast dich an ihnen glattgerieben und hast die glattgerieben, die dich glattgerieben haben. Bevor du wurdest, wie du jetzt bist, hast du das Rumpeln mitmachen müssen, denn du gehörst zur billigsten Sorte, mach dir nichts draus.

Die weniger billigen und die ganz teuren Perlen werden nicht gerumpelt. Sie gehen anderswohin, ein großes Stück Weges gemeinsam, dann trennen auch sie sich. Beim Druck entsteht an der Perle, dort, wo die beiden Zangenteile der Form zusammenstoßen, ein kantiger Kreisumfang, der Brockenrand. Der wird mit stumpfer Schere weggeschnitten, Frauenarbeit, Kinderarbeit, und nachher schleift der Säumer die letzte Spur des abgeschorenen Brockenrandes an einer rotierenden Scheibe glatt.

Jetzt sehen die Perlen schon aus wie aus der Austernschale gepellt, aber was der Natur recht ist, dem Menschen ist's noch lange nicht billig, er muß etwas dazutun. Bei diesem Dazutun nun scheiden sich die Wege des Produkts in einer für die Arbeiterschaft bedeutungsvollen Weise. Das Schleifen ist der eine Weg, das Schmirgeln der andere. Hunderte von Schleifmühlen stehen in den Gebirgstälern, breite Buden aus Holz, die Iser, die Neiße und die Kamnitz geben ihre Wasserkräfte für die Arbeit her, aus großen Fenstern kommt Licht zu den Arbeitsplätzen, den »Örtln«. Die meisten Schleifer arbeiten für den Schleifmühlenbesitzer im Akkord. Andere haben ein Örtl in der Hütte gepachtet, arbeiten selbständig, holen ihre Aufträge direkt vom Glaswarenerzeuger, und sie, die Frei-Örtl-Schleifer, gefährden oft die Lohnverträge der Gewerkschaften. In den Glaswarenfabriken sitzen Maschinenschleifer, denn die Fabriken beziehen Rohdrucke aus den Druckhütten und führen nur den Maschinenschliff selbst durch.

Beim Schmirgeln, dem neuen Verfahren für billige Ware, bekommt das Produkt von Beginn der Herstellung an, schon in der »Form« ein Aussehen, als ob es geschliffen wäre. Die Schmirgelscheibe schaltet den Schleifer des Schleiferlandls aus dem Produktionsprozeß aus, macht ihn arbeitslos. Das war der Grund für jene Unruhen von 1927, die mit der partiellen Einschränkung von Schmirgelware, mit dem Verbot, Lüsterbehang und Bangles zu schmirgeln, geendet haben.

Auch die Maschinen, die glatte Rumpelware, der du, Perlchen in meiner Hand, zugehörst, fabrikmäßig erzeugen können, sind noch nicht in Betrieb gesetzt, weil man Verzweiflungsausbrüche der dadurch erledigten Drücker befürchtet. Aber bald wird Herr Riedel erklären, Japan werfe maschinengedrückte Perlen auf den Markt und Gablonz müsse nun das gleiche tun.

Mein Perlchen, dein Geschlecht, die Familie Rumpelperle, stirbt aus, und auch die Tage derer vom Schleifrad sind gezählt. Und diese, deine nobleren Verwandten, bekommen doch soviel Schliff, bevor man sie in die Welt entläßt. Mit dem, was hier darüber ausgesagt wurde, hat's nicht sein Bewenden. Noch muß die Haut der Perle geglättet, ihr Teint geschminkt, ihrem Auge Glanz verliehen werden. Der Polierer arbeitet über einem Teller mit Ton und Rouge, mit Wasser oder Feuer. Fischsilber und Goldtinktur, Bronze- und Stahlfarbe werden eingezogen, Industriemaler setzen Dekore auf, die gebrannt werden oder auf kaltem Weg durch Malen und Streichen entstehen. Grünes Gold und rosa Silber kommen in der Natur nicht vor, außer auf den Hohlkugeln über Spießers Blumenbeet, aber auf den Perlen muß grünes Gold oder rosa Silber strahlen.

Vor nicht allzu langer Zeit wurde der Silberbelag mit dem Mund in die Perlen geblasen, wodurch sich Silberoxyd in den Äderchen des Perlenbläsers festsetzte und seine Haut in eine photographische Platte verwandelte: das Licht schwärzte sie. Man erschrak, wenn man diese Männer traf, sie waren blaudunkel, dunkler als die Neger, die ihr Arbeitsprodukt um den Hals tragen.

Gablonzer Konsumenten im Tropenland legen ihren Schmuck niemals ab, in der Sonnenglut der Wüste nicht und nicht im Wasser, und denen muß man, sofern man sie nicht der Konkurrenz in den Rachen werfen will, falsche Perlen mit echter Gold- und Silberfarbe liefern. Über dergleichen Details der Ethnographie ist der Exporteur am laufenden, er offeriert keine Perlen nach Uruguay, wo Perlen eine Herausforderung ans Unglück bedeuten.

Die Zoologie, wenigstens die Augenkunde des Tierreichs muß jener Exporteur kennen, der mit der Erzeugung von Glasaugen sein Geld verdient; der Fuchs auf den Schultern der Dame trägt Gablonzer Augen, der Tiger vor ihrem Bett, der Teddybär des Söhnchens, ja sogar der kleine Löwe aus Metall, der als Briefbeschwerer daliegt. Und auch den Puppen gibt Gablonz das Augenlicht.

Ich schaue in mein Perlchen, ich sehe böhmische Dörfer. Ganze Familien einschließlich der Kinder sitzen um den Tisch, schöpfen Perlen aus einem Sack und fädeln sie auf Garn oder auf Draht, gleich große, gleichfarbige Perlen zu einer Kette, verschiedenfarbige, verschieden große Perlen nach vorgeschriebener Reihenfolge, manchmal eine einzelne Perle zu einem Ohrgehänge, manchmal Hunderte zur meterlangen Strähne eines Vorhangs. Was einem Kind mühsame Arbeit ist, wird für ein anderes das Halsband seiner Puppe sein, was eine Greisin mit zittrigen Händen auffädelt, wird eines jungen Mädchens Sonntagsputz sein, was hier ein Familienvater nach Zentimetern mißt, daran wird man, wenn es als Rosenkranz geweiht ist, die Zahl der Vaterunser messen.

Ich sehe in meinem gläsernen Perlchen nicht nur gläserne Perlchen, ich sehe auch gläserne Diamanten darin. Der Handschleifer in Reichenau und Radl nennt sie schlicht (oder geringschätzig?) die »Stejnl«, während der Turnauer Fabrikant und der Gablonzer Exporteur hochtrabend von »chatons« spricht. Im Schleiferlandl sucht man den Rohdiamanten nicht so lange wie in Südafrika, hier in Turnau und Reichenau preßt man Edelsteine von gewünschter Größe und Farbe einfach aus Bleigläsern. Schon ähnlicher der Behandlung des echten Diamanten sind die nächsten Arbeitsgänge: in Amsterdam wie im Gablonzer Revier wird geschliffen und an der Scheibe poliert. Aber dem gläsernen Brillanten zaubert der Similiseur noch das Folio, einen Belag von Bronze, Silber oder Gold, auf die Schliffflächen, der Spiegeleffekte wie ein beinahe echter Brillant hervorruft und bei der Fassung unsichtbar wird.

Unnachahmlich nachgeahmt werden die berühmtesten Edelsteine der Welt mitsamt ihren Fehlern. Bühnenschmuck und Dubletten allzu kostbarer Pretiosen werden nach Zeichnungen oder nach Originalen hergestellt. Die großen Zentren der Bijouterie-Industrie, Pforzheim, Oberstein und Idar in Deutschland, Providence in Amerika wie auch Paris und Birmingham, beziehen (oder bezogen) gläsernen Glanz aus den dunklen Werkstätten am Fuß der böhmischen Grenzberge. Im großen ganzen jedoch ist der Gablonzer Schmuck ein ehrlicher Glasschmuck, seine Perlen wollen keine echten Perlen vortäuschen, seine Metalle keine Edelmetalle und seine Steine keine Edelsteine.

Beim »Glaswarenerzeuger« kommt all das wieder zusammen, was er in den Kleinbetrieben drücken, säumen, polieren oder schleifen ließ. Ich suche den Glaswarenerzeuger in meinem Perlchen – kann das sein Haus sein? Das ist ja eine Kolonialwarenhandlung. Im Flur stehen Körbe mit Erbsen und Bohnen umher, Bottiche mit Hirn- und Johannisbeeren, Blechbüchsen mit Bonbons, Säcke mit Mehl und Grieß, Schachteln mit Alaun. Der Tisch ist ein Kaufmannstisch wie jeder andere, und zöge man an dem weißen Knopf der Schubfächer, sicherlich fände man Zimt und Ingwer darin.

Fehlgezogen! Weder Zimt noch Ingwer findet man, nur Glasperlen. Glasperlen sind die einzige Kolonialware, die hier auf der Kaufmannswaage gewogen wird, Glasperlen sind die Hirn- und Johannisbeeren, und »korall« heißt ihre Farbe, Glasperlen sind die Bohnen, die grünen Erbsen, die Stückchen Alaun, die Bonbons, die Hagebutten, die Stachelbeeren – alles Glasperlen. Nur die Mehlsäcke enthalten keine Glasperlen, wenn sie auch freilich kein Mehl enthalten, sondern Sand für die Rumpeltrommeln, und der vermeintliche Grieß ist Schmelz.

In jedem Korb und in jedem Fach wohnt andere Ware, das Geschlecht der Glasperlen ist in zahllose grundverschiedene Rassen eingeteilt, Rund-, Wachs-, Schmelz-, Fasson-, Schliff-, metallisierte Hohl-, Atlas- und Macca-Perlen, von den Wickelperlen ganz zu schweigen, die man in und um Eisenbrod über offener Lampe spinnt.

Ich sehe in meinem Perlchen viele Leute sich im Laden drängen, sie kamen nicht hierher, um Gewürze einzukaufen, sie sind Glaswarenarbeiter, holen halbfertige Perlen ab und werden sie in ihren Werkstätten dem Zustand des Endprodukts näher bringen.

Um die Wahrheit zu sagen: ein Käufer ist auch da, ein Gürtler, er sucht einige Effektsteine für Broschen und Ohrringe. Einst, vor hundert und aber hundert Jahren, hat der Gürtler Schnallen für Gürtel erzeugt, davon ist ihm noch der Name geblieben. Alles, was es an Metallischem in der Bijouterie gibt, umfaßt heute sein Fachgebiet, Broschen, Anhänger und Hutschmuck, sogar die Vase der Gemsbärte. Sein Rohmaterial sind Drähte und Bleche aller Metalle, meist Tombak. Der Graveur macht die Formen, der Estampeur stanzt die rohen Metallfassungen, stanzt das Gerippe des Schmuckes; das Schneidezeug zu jeder Stanze, mit dem die Pressung herausgeschnitten wird, liefert der Schlosser, der Schwarzarbeiter lötet die Produkte des Estampeurs zusammen, der Galvaniseur richtet sie auf Gold-, Platin-, Kupfer- und Silberglanz her und verchromt sie, und all das und dazu die Stejnl und Perlen fügt der Gürtler zum Kunstwerk. Schmuck aus Metall ersteht, oft kombiniert mit Zelluloid, Galalith, Holz, mit den Gablonzer Brillanten oder mit den Perlen, von denen ich die eine in meiner Hand halte.

So wie die Schicksale der Welt sich in meinem Perlchen spiegeln, so spiegeln sie sich gewißlich auch in des Gürtlers blitzblankem Metallprodukt und sind zur Stunde nicht eben günstig. Das trifft Meister Gürtler bitter, trifft noch bitterer seine Arbeiter und am bittersten die Gürtlermädchen, Gelegenheitsarbeiterinnen. Die Gürtlermädchen kleben mit säurefreiem Kitt die Steine in die Broschen ein oder befestigen sie durch Umbiegen der Metallecken, zählen Steine und Fertigstücke, schlagen die Ware in Seidenpapier ein. Sie werden heute (auf Stundenlohn) angestellt, morgen entlassen, ein demoralisierender Zustand, oft genug Vorstufe zur Prostitution.

Im Manipulationsraum des Glaswarenerzeugers sehe ich auch einen Exporteur, einen »Geschäftskarle«, wie es auf gaablunzerisch heißt. Was er vor acht Tagen in Algier auf französisch, vor drei Monaten in Sumatra auf englisch besprochen hat, bespricht er jetzt am Isergebirgshang mit dem Erzeuger auf gaablunzerisch. So reist und redet, so schreibt und offeriert er von alters her, seit – seit wann?

Ich luge in mein Perlchen, um zu sehen, wann sich der erste Exporteur in Gablonz etablierte. Im Nebel der Jahrhunderte ist das nicht genau zu erkennen, aber ohne Zweifel kam schon 1548 ein Exporteur hinter jenem Franz Kuntze hergeschlichen, der auf der Mosheide, der Ortsflur des seit den Hussitenkriegen wüst daliegenden Örtchens Gablonz, die erste Glashütte eingerichtet hat. Und ebenso gewiß waren es Gablonzer Exporteure, die auf dem Hradschin dem entzückten Kaiser Rudolf II. Grünwalder Pokuliergläser und Butzenscheiben für seine Kunstkammer verkauften. Beglaubigt ist erst Herr Georg Kreybich, der Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Gablonzer Glas reist, schnurstracks bis zum »Höllen-Spunt«, worunter er den Hellespont versteht.

Heute gibt es mehr als fünfhundert Exportfirmen in Gablonz, und manche von ihnen hat Millionen verdient in jener schon sagenhaften Zeit, als die Indents, die Aufträge aus den Kolonien, auf Hunderte von Postpaketen lauteten und Abbestellungen, die beiden Worte »Cancel Order«, noch nicht die Regel waren.

Die Exporteure sind die Vermittler zwischen den Produzenten in Gablonz und den Konsumenten im Ausland, sie wissen, was der Kunde braucht und was der Erzeuger verkaufen will, sie müssen diesen und jenen überreden, sie passen die Gablonzer Erzeugnisse in rasantem Tempo der Mode an, halten Schulterfühlung mit den Modefirmen und den Warenhäusern. Überallhin reist der Exporteur mit seiner Musterkollektion und von überallher kommen Einkäufer, teils um einzukaufen, teils um Industriespionage oder Industrieverschleppung zu betreiben. Davon sind die Gablonzer verfolgungswahnsinnig geworden und leicht geneigt, in einem Reporter einen verkleideten japanischen Bijouteriefabrikanten zu sehen. Ja, ja, mein Perlchen, wir haben allerhand erlebt.

Industrieverschleppung? Werkspäherei? Zeig das her, mein Perlchen! Ein Gablonzer Fabrikant richtet sich im Ausland eine Fabrik ein, wer kann ihm das verwehren? Eine Gablonzer Firma liefert ihm Formen für Hüttendruck, Seitenstecher- und Oberstecher-Maschinen und Cotton-Automaten, eine andere Firma liefert ihm Hohlglas, eine dritte liefert ihm Nadeln zu den Formen, wer kann ihnen das verwehren? Man engagiert Arbeiter, Gablonzer Spezialisten, und diese, seit Jahren arbeitslos, wollen ins fremde Land, in die Arbeit. Denen aber kann man das verwehren!

»Weil diese Handlungsweise unter den gegebenen ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen auf dem heimischen Arbeitsmarkte und den daraus entstehenden Folgen – Einschränkung der einheimischen Erzeugung, zunehmende Arbeitslosigkeit und Verschlechterung der sozialen Verhältnisse – imstande ist, die öffentliche Ruhe und Ordnung zu gefährden, verbiete ich auf Grund des Art. III, Absatz 1, des Gesetzes vom 14. Juli 1927, Z. 125, jede Handlung, die dahin abzielt, das Geheimnis des Erzeugungsvorganges der einheimischen Industrie zu lüften oder es ins Ausland zu verschleppen, sowie jede Handlung oder Unterlassung, durch die diese Tätigkeit in welcher Weise immer unterstüzt und ermöglicht wird.

Die Nichtbeachtung dieses Verbotes wird durch die Bezirks- (die staatlichen Polizei-) Behörden mit Geldstrafen von 10 bis 5000 Kč oder mit Freiheitsstrafen von zwölf Stunden bis vierzehn Tagen bestraft werden.«

Für den Unternehmer, der sich eine Fabrik, ein Monopol im fremden Land einrichten will, wäre eine solche Strafe (Kč 10 bis Kč 5000) ein Späßchen, ein Knoten ins Taschentuch, damit er nicht vergesse, den Betrag im Spesenbüchlein zu notieren. Aber die Drohung ist ja auch nicht gegen ihn gerichtet. Gerichtet ist sie gegen den arbeitsuchenden Arbeiter, ihm nimmt man auch sofort den Paß weg, und die Gendarmerie behält den Mann unter Aufsicht. Ihm ist der Eintritt in die Arbeit verboten.

 


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