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Der Musikant.

Eine rheinische Bürgergeschichte.

Von

Johanna Kinkel.

In dem niedrigen halbdunkeln Krankenzimmer saß in ihrem Bette aufgerichtet, von der treuen Tochter gestützt, die Frau eines reichen Bierbrauers in Bonn, und betrachtete freundlichen Auges ein Glas alten rothen Gielsdorfers nebst Anisschnittchen, welche Labung ihr heute nach langer Diät zuerst der Arzt vergönnt hatte. Dieser stand mit dem Hausherrn am Fenster, und antwortete auf dessen Frage: »Eß dat Stingche dann no ganz op der Besserong?« Ist das Christinchen denn nun ganz auf der Besserung? mit warnendem Ton: »Erst muß sich noch manches gefährliche Glied aus der Kette der Erscheinungen gelöst haben, bevor wir mit Sicherheit dieses Wort aussprechen mögen. Ich wiederhole es, vor allem muß die Patientin aus der dumpfen Stubenluft heraus, und in einer freien anmuthigen Gegend den belebenden Hauch des Lenzes einathmen.«

»Minges Gefalls! Dat sall se han. Ever no Godesberg kütt se mer net, wo die stihf sigge Kleeder vür Blinzlersch obenav spaziere, wo ennewendig die huvärdige Elberfelder Madamme dren steche. Zo Kessenich weeß ich en ahdig Hüüsche, met esu em Bongert, wo ich mich an köhl Ovende alt mih unger die Böömcher setze könnt' on Weggemilch met esse.« »Meinetwegen. Das soll sie haben. Aber nach Godesberg kommt sie mir nicht, wo die steifen seidenen Kleider vor Blinzler's (Hotel) auf und ab spazieren, in welchen inwendig die hoffärtigen Elberfelder Damen drin stecken. Zu Kessenich weiß ich ein artiges Häuschen, mit so einem Baumgarten, wo ich mich an kühlen Abenden jezuweilen unter die Bäumchen setzen könnte und Weck und Milch mit essen.«

So überlegte der Hausherr, der Arzt gab seine Zustimmung, und nach einigen Tagen schon zog die Genesene mit ihrer Tochter Tillchen hinaus. Dicht hinter dem Hause, das sie bewohnten, zog sich eine Reihe von Obstgärten und Wiesen langsam bergan, und begrenzten die Waldung, welche den Gipfel der das Dorf eng umschließenden Hügelkette deckt. Da sollte nun die dicke Frau den Tag über recht fleißig umher wandern, auf den Berg steigen, und sich so lange abmüden, bis ihr Milch und Brod wie Wein und gebratene Hähnchen schmeckten. Aber so gewissenhaft befolgte sie den Rath des Arztes nicht. Nach einem halbstündigen Schlendern durch die Wiesen sagte sie gewöhnlich zu ihrer Tochter: »Tillche, ich be möd; ich well ming ahl Glidder jet räste!« Ich bin müde; ich will meine alten Glieder etwas rasten. und dann setzte sie sich unter den schattigen Birnbaum, strickte emsig an einem Stiefelstrumpf, und gab Acht, was die Bauern in den anstoßenden Gärten thaten und plauderten.

Das nächste Haus rechts war eine Schenke, wo es aber in der Regel nur Sonntags lebhaft zuging. Dann war Tanzmusik bis in die späte Nacht, lustig und wild, während in der Woche die Wirthsleute ihre Weingärten und Felder besorgten, und selten von einem stillen Gast, der schweigend sein Schöppchen im Grünen genießen wollte, darin gestört wurden.

Mit Verwunderung hörte die Brauersfrau auf einem Dachstübchen jenes Hauses Jemanden halbe Tage lang allerlei Stückchen auf einer Violine versuchen, und erfuhr, daß es der Sohn des Hauses sey, welcher von den benachbarten Bauern als ein Erzmusiknarr geschildert wurde. Sie erzählten: »Do wor en ahl Vigelin em Huus, die hat hä als ene kleene Jong' op der Lööw funge, on ihrsch hatt si' Vatter Pläsihr dran, wie hä von selversch dorob spille konnt'. Evver wie hä ene gruuße Lellbeck wurd', do woll hä em Feld on en der Schüür' kee Good donn, on alle Oogeblecks hatt' hä sich en de Bösch gefusch, wo ihn keener finge konnt'; do sooß hä op 'em Boom on spild op der Vigelin. Do säht si Vatter: Wann et dann net andersch eß, dann well ich och dervon profetire. Ich 'en moß alle Sonndags dene Musikante vo Bonn esu vill Geld on goode Word gevve. Stopp mer se dann net genog met Wing on Platz-brögge, dann senn se noch pritsch derbei. Dat kann ich spare. Ich 'en koofe mingem kleenste Jong en ahl Baß für drop ze schrompe. Dat kann jedwedereener. Dann striche se viermol reechs, on dann viermol links, on esu vöran: Wubwubwubwub, wubwubwubwub etc. etc. Dat geht wie geschmäärt. On do eß dä blinde Michel von Dottendorf, dä blöös die Clarinett' für en Appel on ä Stöck Bruud' – wenn no dä Aeltste die Vigelin spild, da' kann ich ohne Köste Musik hale.« »Da war eine alte Violine im Haus, die hatte er als ein kleiner Junge auf dem Speicher gefunden, und anfangs hatte sein Vater Vergnügen daran, wie er von selber darauf spielen konnte. Aber als er ein großer Lümmel wurde, da wollte er in Feld und Scheune seine Schuldigkeit nicht thun, und jeden Augenblick hatte er sich in den Busch gepfuscht, wo ihn Keiner finden konnte; da saß er auf einem Baum und spielte die Violine. Da sagte sein Vater: wenn es denn nicht anders ist, so will ich auch davon profitiren. Ich muß alle Sonntage den Bonner Musikanten so viel Geld und gute Worte geben. Stopft man sie dann nicht genug mit Wein und Butterbroden, so sind sie noch launisch obenein. Das kann ich sparen: ich kaufe meinem kleinsten Jungen einen alten Baß, um darauf zu schrumpen. Das kann Jedermann. Dann streichen sie viermal rechts, und dann viermal links und so weiter; Wubwubwubwub, Wubwubwubwub etc. etc. Das geht wie geschmiert. Und da ist der blinde Michel von Dottendorf, der bläst die Clarinette für einen Apfel und ein Stück Brod – Wenn nun der Aelteste die Violine spielt, so kann ich kostenfrei Musik halten.«

So kam es, daß die Liebhaberei des jungen Franz geduldet wurde. Er durfte sich ungestraft dem Dreschen und Pflügen entziehen, und geigen so viel ihm behagte; ja er setzte es sogar durch, daß er ein Jahr lang bei dem berühmten Wallbröl zu Poppelsdorf Stunde nehmen durfte, worauf er das Gelernte seinem jüngsten Bruder und dem blinden Michel mittheilte, so gut er's verstand.

Bisher hatte er lauter lustige Tänzchen gespielt, und damit der dicken Nachbarin vielen Spaß gemacht. Sie erinnerte sich dabei der Tage ihrer Jugend, wo sie noch schlank und leicht Quadrille tanzte. Nach und nach waren die lustigen Walzer in wehmüthig langsame Melodien übergegangen, und heute spielte Franz so klagend und traurig, daß selbst Tillchen zuweilen tief seufzte, und verstohlen die Augen abwischte. »Et wird eenem ganz bedröv,« sagte die Mutter, »wann dä Minsch esu beweglich spild, grad' als wann' en Orgel med er Moordgeschichte vür de Huusdüür küt, dann moß mer och immer kriische. Ich han leever esu en alleerte Stöckelcher.« »Es wird einem ganz betrübt,« sagte die Mutter, »wenn der Mensch so beweglich spielt: grade wie wenn eine Orgel mit einer Mordgeschichte vor die Hausthüre kömmt, dann muß man auch immer weinen. Ich habe lieber solche muntre Stückchen.« Das Tillchen schwieg still und machte sich nach einer Weile davon, ein einsames Plätzchen suchend, von dem aus es nach dem Dachfenster des Bauernsohnes hinaufsehen konnte.

Ihr war seit einigen Tagen so eigen zu Muth, als ob eine schwere Last auf der Brust sie am Athmen hinderte. Sie war doch so fröhlich und leicht mit der guten Mutter hinausgezogen, obwohl es ihr hart vorkam einen halben Sommer hindurch das fröhliche Geplauder der Nachbarskamerädchen zu missen, und statt des bunten Treibens auf Markt und Straße, das einem Mädchen so viel zu denken gibt, nichts zu sehen als Gras und Bäume. Doch da sie ein sehr gutes Kind war, hatte sie sich vorgenommen keine Langeweile aufkommen zu lassen, und der Mutter von früh bis spät die Zeit zu vertreiben. Sie redete ihr zu sich Bewegung zu machen, damit nur ja kein Rückfall entstehe; sie bereitete ihr sorgfältig die gebotenen Speisen, und erzählte ihr unerschöpflich viel Geschichten: vom Threschen, vom Drückchen, aus der Predigt des Kaplan Peters, von den Wassermeiers Töchtern, von der Endenicher Kirmes und der Kevelaer Procession. Ein paar Wochen durch reichte dieser Gesprächstoff vollkommen aus, dann aber verstummte Tillchen mehr und mehr. Was sie anfangs am meisten gescheut, die Einsamkeit, war ihr nun das liebste. So oft sie konnte stahl sie sich weg, den waldigen Berg hinan, oder sie setzte sich an die epheubewachsene Mauer des Kirchhöfchens, und betrachtete stundenlang die Kreuze die aus dem hohen Gras emporragten.

Kam zuweilen Abends der Vater, und sie war nicht da, oder erschien endlich mit verweinten Augen, so sagte der: »Wat eß doch dem Till? Eß dem wieder en Luus üver de Levver gekroffe?« »Was fehlt doch der Tillchen? Ist ihr wieder eine Laus über die Leber gekrochen?« (Sprichwörtlich.)

Antwortete dann die Mutter: »Och dat eß' em jonge Mädche net ze verüvele, dat' em hee de Zick lang wird, on mer welle maache, dat mer baal wieder no Bonn trecke:« »Ach, das ist einem jungen Mädchen nicht zu verdenken (verübeln), daß ihr hier die Zeit lang wird, und wir wollen machen, daß wir bald wieder nach Bonn ziehen.« Dann fand Tillchen schnell die Sprache wieder, und erinnerte mit dem glühendsten Eifer einer besorgten Tochter an die Warnungen des Arztes und wollte von keinem Abkürzen des ländlichen Aufenthaltes etwas wissen.

In einer eben so räthselhaften Gemüthsstimmung als Tillchen befand sich der junge Franz im Nachbarhause. Bisher hatte die Liebe zu seiner Violine keine andre Liebe in ihm aufkommen lassen. Die Kessenicher Bauermädchen die auf seinen Tanzboden kamen, hatte er alle aufwachsen sehen, und fand gar nichts verwunderliches an ihnen. Wenn er zuweilen, über sein Notenblatt guckend, beobachtete wie sie herumsprangen, so kam ihm Eine wie die Andre vor, und er hielt die Dorfjungen die sich oft Löcher in die Köpfe schlugen um mit dieser oder jener zu tanzen, für rechte Narren. Da er einen angebornen Sinn für das Feine, Zierliche hatte, so gefielen ihm wohl besser die städtischen Spaziergängerinnen, die in einem andern vornehmern Wirthshause in der Nähe einkehrten. Doch diese erschienen ihm eher wie gemalte Bilder oder Wachsfiguren die nur zum Betrachten da sind. Er konnte sich gar nicht vorstellen, daß er mit Einer von ihnen vertraulich reden, ihr etwas klagen, oder sie um etwas bitten könnte.

An einem sonnigen Junimorgen stand er am Fenster, und hörte fremde Stimmen im Nebengarten; ein Tisch wurde unter den Birnbaum gerückt, und ein rothwangiges schlankes Mädchen, mit spiegelglatt gescheitelten braunen Haaren, deren reiche Flechten das nette Köpfchen fast zu belasten schienen, in einem saubern hellfarbigen Anzuge kam um das Frühstück zu bereiten. Als bald darauf die Mutter erschien, begann ein Gespräch im Dialekt, wie es in der rheinischen Bürgerfamilie gebräuchlich ist, denn das Hochdeutsche ist nur da um mit fremden vornehmen Leuten, oder von sehr erhabenen Dingen zu reden. Dem Franz ward es warm und wonnig um's Herz, als er endlich einmal ein so schönes, feines Mädchen genau so sprechen hörte, wie er es auch konnte: herzlich und einfach, auch lauter Dinge die er begriff. Die Mutter nannte sie Tillchen. Das gab ihm viel zu überlegen, ob sie eigentlich Ottilia oder Mathilde getauft sein möchte. Er schloß auf Mathilde, da ihm der Klang lieblicher und nicht so vornehm schien wie jener.

Sein größtes Entzücken ward nun das Thun und Treiben der holden Gestalt zu beobachten, und bald hatte sich diese seinem Auge so eingeprägt, daß er sie auch da sah wo sie nicht war. Eben so schien der Laut ihrer hellen Stimme seinem Ohr wie zugesellt. Des Nachmittags pflegte die Mutter ihr Schläfchen zu halten; dann saß das Tillchen allein unter dem Birnbaum, oder wandelte am Bergabhang. Dann rief ihr Franz über die Gartenhecke freundlich »guten Tag« zu, oder er begegnete ihr am Busch und sie wechselten einige Worte. Unzählige Worte wurden später daraus, und Beide mochten auf noch so entgegengesetzten Fußpfaden auswandern, immer begegneten sie einander auf halbem Wege. Selbst als in ihnen die Furcht aufstieg, Andre möchten es sehen und etwas darüber denken, daß sie alle Tage zusammenstünden und plauderten, und wenn sie deßhalb die aufrichtigste Absicht hatten heute mit bloßem Gruß einander vorüberzugehen, so wollte es der Zufall, daß sie dann erst recht lange beisammen blieben.

Das kam meist so: Tillchen ging mit ernstem Gesicht vorbei, und that als hätte sie den Franz nicht gesehen. Der zerbrach sich dann den Kopf, womit er sie könnte beleidigt haben, und fand nicht eher Ruhe bis ihn ein Wort, freundlicher als alle frühern Worte, vom Gegentheil überzeugte. Der Tillchen ward es oft todesbange und doch wieder so selig, wenn sie an den Blick des kohlschwarzen Auges dachte, das sie so unsäglich liebreich ansah. Sie träumte daheim jeder Begegnung nach, wie er plötzlich purpurroth geworden als sie um die Waldesecke trat, und er mit Einem Sprung über den Bach bei ihr war, um die Zweige auf ihrem Pfad zurückzubiegen: wie er sich die lockigen Haare von der Stirn schüttelte, und sie zuerst bemerkte, daß er doch im Grund ein wirklich schöner Mensch sei. Dann besann sie sich auf jedes Wort das er zu ihr geredet. Daß er sie lieb habe war nicht über seine Lippen gekommen, und dennoch war es der Inhalt jeder Rede gewesen. Nichts als Freundliches und Süßes hatte er zu ihr gesagt, und wie hätte sie da Unfreundliches drauf erwiedern können! War sie bei ihm, so war Heiterkeit und Friede in ihr; aber allein, und noch mehr in Gegenwart der Eltern befiel sie stets eine große Bangigkeit. »Was kann das für ein Ende nehmen?« so fragte sie sich, und unmöglich konnte ihr die Antwort genügen: »Nun, daß Du wieder nach Hause kömmst, und alles ist wie sonst, und daß Du ihn nicht mehr siehst.«

Auch ihm begann dieselbe Sorge aufzusteigen. Traf er sie allein, so war alles gut, aber zu ihr vor andern Menschen, nicht einmal von ihr hätte er ein Wort reden können. Am stärksten war seine Angst vor ihrem Vater, der in seinem blauen Ueberrock und den Stock mit einer elfenbeinernen Billardkugel darauf in der Hand so stattlich und streng aussah wie ein Bürgermeister.

So fest sich nun die jungen Leute einbildeten, daß kein Mensch ihre Neigung durchschaue, so sprach doch bald die ganze Nachbarschaft davon. Den Franz warnte sein Vater, daß er sich keinen Korb bei einem reichen Mädchen holen solle, die ihn sicher nur zum Besten habe. Dieß Wort, einmal ausgesprochen, rüttelte die ganze Seele des stillen Menschen gewaltsam auf. Er war gewiß daß sie ihn nicht zum Besten hatte: zu wohl konnte er bemerken wie sie nach seinem Fenster oft lange, lange hinaufsah: sie hatte seine Hand nicht weggestoßen als er gestern in der Dämmerung beim Abschied zuerst die ihrige muthig gefaßt und an sein Herz gedrückt hatte. Doch begriff er wohl, daß dieß nicht das letzte Ziel seiner Wünsche sei, und die Drohung seines Vaters: »die wird niemals deine Frau!« brachte ihm mit einemmale den Entschluß in's Reine: »Die muß deine Frau werden!«

Eben hatte er sie aus dem Gartenzaune hinausschreiten, und den Fußpfad nach Dottendorf einschlagen sehen. Er eilte ihr am Bergabhange voraus, und sah unten zwischen den wechselnden Büschen ihr hellblaues Kleid bald erscheinen, bald verschwinden. Jetzt wandte er sich und stand unvermuthet vor ihr, als sie auf ein von Buschwerk eng eingeschlossenes Wiesenplätzchen hinaustrat. Kein fremder Mensch war rings zu erblicken; die Berge erhoben sich so nah zu beiden Seiten, als wollten sie dieß Asyl der Liebe aller Welt unzugänglich machen.

Wie der Franz und das Tillchen so nah beisammen standen und sich in die Augen sahen, da brachen ihnen beiden die Thränen hervor, und sie sagten sich's unverholen: sie wollten daß die Welt ewig draußen hinter den Bergen bliebe und sich nicht um sie kümm're, dann möchten sie gern im Thal allein wohnen, und bei allen Entbehrungen glücklich und zufrieden sein. Den trauten Worten folgten die herzinnigsten Küsse, und es war ihnen als ob von heut an Niemand auf Erden sie etwas anginge, und sie einander schon von jeher angehört hätten und vereint bleiben müßten bis in den Tod. Sie redeten ab wo sie sich am andern Tage wieder treffen wollten und kamen dasmal auf der höchsten Klippe zusammen, wo sie weit über den Rhein und Stadt und Dörfer schauen konnten. Die Abendsonne funkelte in die fernen Fensterscheiben, die feurig und golden zwischen dem dunkeln Grün heraufblitzten. Am blauen Himmel schwammen weiße Wölkchen die sich nach und nach rosenroth färbten. Als nun der Franz das Wenige aufzählte was er von Besitz zu erwarten habe, und wie angestrengt sie würden arbeiten und erwerben müssen, versicherte Tillchen daß sie alles missen könne was sie gewohnt sei, und daß das beste Zimmer im elterlichen Hause ja nie halb so prächtig ausgesehen habe, als hier von der Klippe die blumigen Auen, reich mit Weinlaub umkränzt voller Singvögelchen und Schmetterlinge. Und sollten sie auch, statt in diesem Paradiese, zu Bonn im engen Vivatsgäßchen wohnen müssen, und nichts sehen als ein enges Stübchen und vor dem Fenster eine schwarze Mauer, so wollten sie dennoch ein glückseliges Paar sein.

Daheim fand Tillchen im Zimmer der Mutter schon Licht angezündet und den Vater anwesend. Der machte ihr ernstliche Vorwürfe daß sie so lange die Mutter allein ließe: es sei neun Uhr, und weil er fast drei Stunden auf sie gewartet habe, werde er heute wohl nicht mehr zum Breuer in den Zehrgarten kommen. Wo sie denn zu der ungewöhnlichen Stunde gesteckt habe?

Der hochaufgeregte Zustand in dem sich das Mädchen befand, gab ihr Muth alles zu beichten. Sie ließ sich von dem immer zorniger anschwellenden Gesicht ihres Vaters gar nicht in's Stocken bringen, und meinte jede mögliche Einwendung durch die Versicherung zu entkräften, daß sie bei aller Armuth mit dem guten lieben Franz dennoch glücklich sein werde.

Da schlug der Brauer auf den Tisch, daß ein Stempel durchbrach und schrie: »Dobei ben ich ever net glücklich, wemming Doochter en Geckinn eß, on mir zo Schand on Spott ene Musikant en de Familje brenge wellt. Dat liggen ich net, on wann de dich op dä Kopp stellß.« »Dabei bin ich aber nicht glücklich, wenn meine Tochter eine Närrin ist, und mir zu Schand' und Spott einen Musikanten in die Familie bringen will. Das leid' ich nicht, und wenn Du Dich auf den Kopf stellst.«

So ging es fort mit vielem Schelten, und auch Frau Stingchen bekam ihr gutes Theil ab, weil sie nicht strenger ihr mütterliches Auge über Tillchen gehalten. Sie wußte sich nicht besser dem Zorn ihres Mannes zu entziehen, als indem sie ihr Phlegma spornte sich noch viel ärger über das Tillchen zu ereifern, und indem sie vollends an dem Musikanten kein gutes Haar ließ.

Am andern Tage schon befahl der Brauer den Heimzug in die Stadt, und glaubte mit dieser Maßregel die verhaßte Verbindung auf immer zerrissen zu haben. Ganz das Gegentheil empfand die Tochter. Sie war im strengsten Gehorsam erzogen und immer musterhaft sittsam gewesen. Der erste Kuß den sie dem Geliebten gewährt hatte, entschied für ihr ganzes Leben. Es war ihr ganz undenkbar nun einem Manne fremd zu werden, zu dem sie einmal so nah und innig vertraut gestanden. Vor Qual und Reue würde sie vergangen sein, hätte sie einen Schritt zurück thun sollen. Drum also vorwärts, was auch daraus entstehe.

Sie bestürmte den Vater mit Zureden, ihrem Erwählten, ehe er ihn verwerfe, nur ein kurzes Gespräch zu gönnen. Sie wähnte es unmöglich daß ein alter geldstolzer Bürger einen schönen Bauerburschen mit andern Augen ansehen könne, als seine verliebte Tochter. Alles vergebens! Der Brauer blieb dabei: »Ene Musikant, dä om Danzboddem spild, küt mer net en ming Familje!« »Ein Musikant, der auf dem Tanzboden spielt, kömmt mir nicht in meine Familie!«

Indeß fand Franz hundert Mittel und Wege sein Tillchen insgeheim zu sehen und zu sprechen. Je heftiger der Widerstand von Seiten des Alten und der Verwandtschaft war, um so ruhiger und fester bildete sich der Entschluß der Liebenden aus.

Franz unterließ es zur Kirmes zu spielen, und nahm sich eifrig der Bewirthschaftung des Gütchens an, welches dadurch bald eine bessere Gestalt bekam. Nach einem Jahr war Tillchen großjährig. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstage trat Franz, anständig in Kleidung und Betragen vor den Brauer und hielt um sie an. Da half es nichts, daß er die Violine an den Nagel gehängt; dem blieb er immer: der Musikant. Kein Blick ward ihm von dem zornigen Alten vergönnt, der eben das Wochenblatt las, und ohne sich darin stören zu lassen den allerschnödesten Bescheid gab.

Am andern Tage verließ Tillchen das Elternhaus, und bezog ein bei ehrbaren Leuten gemiethetes Quartier. Das dreimal wiederholte gesetzliche Abfragen des Vaters um seine Einwilligung erfolgte, und Frau und Verwandte die ein Aeußerstes, Unerhörtes in ihrer Familie nicht gern geschehen ließen, redeten jetzt zum Guten. Aber der Brauer blieb bei seinem Wahlspruch: »Ich'en ben keene Wimpel om Daach! Minge Wellen eß wie enen Eecheboom, on ene Musikant sall mer net en ming Huus komme.« »Ich bin kein Wimpel auf dem Dache! Mein Wille ist wie ein Eichbaum, und ein Musikant soll mir nicht in mein Haus kommen.«

Tillchen ging mit blutendem Herzen und tausend Thränen zum Altar, ohne den elterlichen Seegen. Der schönste Lebenstag ward ihr noch dazu reichlich durch Tadel und Spott der übelmeinenden Freundinnen verbittert, welchen die gutmeinenden sich beeilten ihr zuzutragen. Kaum aber war sie einige Monate verheirathet, und für ihren Ungehorsam weder vom Donner zerschmettert, noch von der Erde verschlungen worden, so kehrte sich die Meinung der Welt um. Jeder tadelte die Härte des Vaters, der nun, da die Sache nicht mehr zu ändern war, dennoch hartnäckig verweigerte, das junge Paar zu sehen, und noch viel weniger daran dachte, ihnen ein wenig aufzuhelfen, da es ihnen doch bei allem Fleiß so sauer wurde.

Die Basen, welche früher den Brauer am meisten gegen die Heirath aufgehetzt hatten, kamen jetzt und erzählten: »Ich ben och letz ens lans dem Tillche si Huus komme. Ich moß ever sage, das 's e Pläsihr ze sehn, wat die Lückcher brav on fliißelich senn. Dä Mann stond em Gaade on laat selver met Hand an, on hild ene Regier' unger dä Kneech als wenn hä ene gemaate Halve wör. Si Vatter hat sich jetz en Raustand gesatz. Dä Gaade dernevve met dem Berrebohm han se och gekoof, on do lege se Sommerhüüscher an met grön Dächelcher, grad wie beim Wirth Plönnes dergegenüver. Gett Aach, Gevatter, die krigge dä Plönnes noch unger»Ich bin auch neulich an Tillchens Haus vorüber gegangen. Ich muß aber sagen, das ist ein Vergnügen zu sehn, wie die Leutchen brav und fleißig sind. Der Mann stand im Garten und legte selbst mit Hand an, und hielt eine Ordnung unter den Knechten, als wenn er ein gemachter Halbwinner wäre. Sein Vater hat sich jetzt in Ruhestand gesetzt. Den Garten daneben mit dem Birnbaum haben sie auch gekauft, und da legen sie Sommerhäuschen an mit grünen Dächelchen, grade wie beim Wirth Plönnes gegenüber. Gebt Acht, Gevatter, die kriegen den Plönnes noch unter

Verdrießlich drehte sich dann der Brauer um, und sagte: »Loot mich doch geweerde met dem Musikantekroom; do wird jo si Lebbedesdags nix öönteliches on däftiges druuß!« »Laßt mich doch in Ruhe mit dem Musikantenkram; da wird ja sein Lebtag nichts ordentliches und solides draus.«

Nach längerer Zeit kamen wieder die Basen und sagten: »Nä, Herr Vetter, Ihr had ever en Enkelche krig, esu e leev Dihrche han ich noch net gesenn. Et lit en der Weeg wie e Pröpsche, on et hät hingen em Ank alt ä ganz brung Löckelche. Et glich üch, wie us dem Geseech geschnedde. Et Tillche on dä Franz dähten üch on ühr Frau geen für Patt on Gott begehre, wenn se eckersch wößte, ob – – –« »Nein, Herr Vetter, Ihr habt aber ein Enkelchen bekommen, so ein liebes Thierchen hab ich noch nicht gesehn. Es liegt in der Wiege wie ein Pröbstchen, und es hat hinten über dem Nacken schon ein ganz braunes Löckchen. Es gleicht Euch wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Tillchen und der Franz möchten Euch und Eure Frau gern zu Pathen bitten, wenn sie nur wüßten, ob – – –«

Nun fingen der Frau Stingchen die Augen zu strömen an, und sie gab ihrem Manne die besten Worte. Der aber verbiß sich sein menschliches Gefühl und sagte: »Dä Pehk kann minges Gefalls Patt werde bei dem Schnorrant singem Puht! Ich well nix dervon wesse!« Der Pehk (ein Bonner Straßenviolinist) kann meinetwegen Pathe werden bei dem Kind des Schnorranten. Ich will nichts davon wissen.«

Und er nahm seinen Stock mit der Billardkugel und ging zum Breuer in den Zehrgarten, wo er seinen Gevatter den Kohlenhändler zu treffen pflegte. Dieser hatte schon das frohe Familien-Ereigniß erfahren und gratulirte dazu in der Voraussetzung, daß sich jetzt die Versöhnung von selbst verstünde. Der neue Großvater aber sagte feierlich: »Ich'en ben keene Wimpel om Daach, wie Ihr sed, minge Wellen eß wie enen Eechenboom, on ene Musikant sall mir net en ming Huus komme, Ich bin kein Wimpel etc. etc. (Wie oben.) on sing Puhten och net.« Und seine Kinder auch nicht.

Der Kohlenhändler stritt sehr eifrig gegen seinen Gevatter, und warf ihm vor: er habe ein Herz so hart und schwarz wie eine Ruhr'sche Steinkohle. Doch das entzweite die Beiden nicht, die gewohnt waren, jeden Schoppen mit Disput zu würzen. Meist warfen sie einander ihren Reichthum vor, und jeder wußte, wenn der andere ein neues Stück Land gekauft oder ein Kapital auf ein Haus geschossen hatte. Dann stichelten sie auf allerlei Unternehmungen und sagten: »Das kann ein Mann thun, wie Ihr seyd, der da und da wieder ein paar tausend Thaler auf Einem Brett profitirt hat.« Dann läugnete dieser den großen Profit und überraschte den Andern seinerseits durch die Mitwissenschaft von einem vermeintlich in aller Stille abgeschlossenen Handel. Dabei geriethen sie oft heftig aneinander und schmunzelten doch im Stillen, denn je mehr sie mit dem Munde den Reichthum verläugneten, um so stolzer schwoll ihr Herz im Bewußtsein desselben.

Während der Bierbrauer mit dem Kohlenhändler dieses Scheingefecht im Zehrgarten hielt, stritt der hübsche gewandte Sohn des Erstern, Tillchens Bruder, mit dem allerliebsten Töchterchen des Letztern gewöhnlich einen ähnlichen Streit durch. Er warf ihr vor: »Meenß Du, ich hätt et net gesenn, Drückche, wie Du dem Student met dä lang Hoor us der Giergaß nohgesehn häß? Jo, dat weeß mer, dat Ihr Mädcher jetz no em Börgerschsonn nix mih froog. Et moß perfohsch ene Student senn!« »Meinst Du, ich hätt' es nicht gesehen, Gertrud, wie Du dem Studenten mit den langen Haaren aus der Giergasse nachgesehen hast? Ja, das weiß man, daß Ihr Mädchen jetzt nach einem Bürgerssohn nichts mehr fragt. Es muß durchaus ein Student sein.«

Dann erwiederte Drückchen ganz im Eifer: »Dem Mottekob soll ich nohgesehn han? Dat sähs de eckersch dat ich net merke soll, wie Du no der schön' blond' Professerschdoochter geluurt häß, die Eenem esu off en der Allee zo begeene küt!« »Dem Mottenkopf soll ich nachgesehen haben? Das sagst Du nur damit ich nicht merken soll, wie Du auf die schöne blonde Professorstochter gelauert hast, die einem so oft in der Allee begegnet.«

Da fiel ihr der Brauerssohn ins Wort und schwur: »No well ich doch mi Lebbesdags keene Droppe Muselwing mih en de Mond packe, wenn ich no Eener luure, als no Dir, Drückche!« »Nun will ich doch mein Lebtag keinen Tropfen Moselwein mehr in den Mund nehmen, wenn ich nach Einer laure, als nach Dir, Gertrud!«

Wenn der Kohlenhändler noch so spät aus dem Zehrgarten heim kam, so traf er doch noch den Sohn seines Gevatters vor dem halbgeöffneten Fensterladen an, hinter dem seine Tochter hellmunter hervorguckte, und eben so wenig den Streit über die Blicke zu enden wußte, als Er seinen Disput über die Kapitalien. Daß das eine Liebschaft sei, hatte er längst gemerkt: es gehörte auch keine besonders scharfe Brille dazu, um solches zu durchschauen, denn eine blinde Frau hätte es mit dem Stock fühlen können. Obschon er nun nichts in der Welt dawider haben konnte, so meinte er doch, es gehöre sich dazu, daß ein rechtschaffener Vater bei einer Liebschaft zanke und keife. Deßwegen brummte er regelmäßig: »Woröm senn ming Lade noch net zo? Gehüürt sich dat für en anständig Mädche hee em Düstere ze karessire? Esu ene Blag, wie Du, dörf' jo von Tühten on Bloose noch nix wesse! On dä lange Stropp do, hät dä nix mih ze dohn, als hee Ovends op Schluht ze komme?« Warum sind meine Laden noch nicht zu? Gehört sich das für ein anständiges Mädchen hier im Dunkeln zu liebeln? So ein halbes Kind, wie Du, dürfte ja vom Tuhten und Blasen (sprichwörtlich) noch nichts wissen! Und der lange Strick da, hat der nichts besseres zu thun, als hier Abends zum Stelldichein zu kommen?«

So suchte er es dem Päärchen sauer zu machen, bis der Gevatter Brauer nebst seinem Sohn im Sonntagsstaat erschien und in aller Form um Drückchens Hand anhielt. Schwierigkeiten, meinte der Brauer, wären bei Leuten, die wie sie, ihr Auskommen hätten, keine vorhanden. Sie brauchten nur zu überlegen, was jeder von ihnen hergeben solle, um den Beiden ein recht nettes Häuschen und ein eignes Geschäft in einer guten »Nahrungsstraße« einzurichten. Da sagte der Kohlenhändler auf hochdeutsch, wie es sich bei feierlichen Gelegenheiten schickt: »Herr Gevatter, es ist nur Eine Schwierigkeit vorhanden; aber ehe Die auf Seite gerückt ist, kann ich meine Einwilligung zur Heirath nicht geben. Wenn meine Tochter ihren Hochzeitstag feiert, dann muß die ganze Familie in Frieden und Einigkeit zu mir auf's Traktament kommen, und dabei darf mir keiner von der Verwandtschaft fehlen. Wollt Ihr Euch nun mit dem Tillchen aussöhnen, so ist es mir recht, daß Euer Sohn meine Tochter bekömmt; aber in eine Familie, die in Uneinigkeit und Feindschaft mit einander lebt, lasse ich mein Kind nicht hinein heirathen.«

Der Brauer hätte am liebsten erwiedert: »Das geht Euch nichts an! Thut was Ihr wollt, dann behält jeder seinen Willen!« Aber er wußte, daß mit seinem Gevatter auch nicht zu spassen sei; noch weniger mochte er es darauf ankommen lassen, daß sein Sohn ihm die Scenen wiederhole, die er mit Tillchen zum Spektakel der Stadt kaum überstanden hatte. Drum bezwang er sich und sagte: »Solche Dinge beschließt ein vernünftiger Mann nicht im Sturm. Ich will überlegen, was ich zu thun habe.«

Am andern Tage kam der Sohn und stellte seinem künftigen Schwiegervater vor, daß er alles verderben würde, wenn er auf seiner Weigerung bestünde, nicht eher die Hochzeit einzurichten, bis die Versöhnung geschlossen sei. Träfe der Vater das Tillchen mit Mann und Kind bei der Trauung in der Kirche, so könne er ja nicht anders, als sie freundlich begrüßen. Sein Herz sei längst geschmolzen; er wolle sich nur nicht als wankelmüthig bekennen, und am wenigsten auf Bedingungen hin.

Diese Darstellung leuchtete dem Kohlenhändler ein, und er beschloß, dem Gevatter die Beschämung des gebrochnen Eigensinns zu versüßen, indem er sie auf einen rührenden Augenblick verlegte. Aber dem Schwiegersohn schärfte er ein, seinen Alten wohl zu bearbeiten; denn wenn die Sache mißlinge, versicherte er, so habe auch Er seinen Eigensinn, und lieber wolle er am Tage selbst die Hochzeit noch einmal aufschieben, als vor der ganzen Verwandtschaft als ein Narr dastehen.

Mit Angst und Sorge erwartete das Brautpaar einen Hochzeittag, der ihnen leicht, wenn sie ihn erreicht zu haben meinten, auf manches Jahr hinaus in die Ferne schwinden konnte. Klüglich erinnerte keiner den Brauer an die Bedingung, um nicht seinen Trotz aufzuwecken; man erweichte ihm vielmehr hinterlistiger Weise das Herz, indem man recht beweglich über ähnliche Fälle redete, die da und da passirt sein sollten.

Endlich war der ersehnte und gefürchtete Morgen angebrochen. Verschwenderisch war der Palm von der Hausthüre der Braut bis zur Kirche ausgestreut. Die Nachbarn lehnten gedrängt in den Fenstern, um die Wagen voll geputzter Gäste zu bewundern. Alle Gesichter der eintretenden Verwandten lachten den gedeckten Tisch an, auf dem das appetitlichste Frühstück bereit stand. Nur das Brautpaar wechselte sorgenvolle Blicke, und die Schwiegerväter standen düster und schweigend neben einander.

»Et lück' ald lang em Steff!« »Es läutet schon längst in der Stiftskirche!« erinnerte die Mutter, »gommer noch net?« »Gehen wir noch nicht?« »Es fehlt noch Jemand von der Familie,« sagte der Brautvater, »ohne den ich nicht gehe.«

Jetzt öffnete sich die Thür, und so stattlich, daß ihr eigener Vater sie nicht kannte, trat Tillchen herein. Er hatte sie in zwei Jahren nicht mehr gesehen. Als sie das elterliche Haus verließ, waren ihre Wangen bleich und abgehärmt, die Augen tiefliegend und die Gestalt zum Durchbrechen hager geworden. Jetzt hatte sie ein volleres Gesicht als je in den Mädchentagen, und die frauenhafte Breite um Schultern und Hüften gab ihr ein ächt respektirliches Ansehen. Der Alte meinte sein Stingchen wieder zu erblicken, wie sie in den ersten Ehejahren neben ihm des Sonntags in der Baumschule gesessen, und er dann bei sich dachte: »Ich hab' doch die schönste Frau aus der ganzen Stadt!«

Fast wäre er der Tochter entgegengegangen; da fiel sein Blick auf ihren Mann der hinter ihr hereinkam, und verdüstert wandte er sich um. Sein Gevatter beachtete alles genau und rüstete sich zu einer Anrede, welcher die Brautleute zitternd entgegenharrten. Da trat Tillchen, die von Allen herzlich begrüßt und von der Mutter weinend umhalst worden war, zu dem Vater und sagte: »Guten Morgen, lieber Vater! Gebt Ihr mir keine Hand?« Sie nahm die Hand die er wegzuziehen versuchte; als sie sie aber mit beiden Händen ergriff und aus ihren Augen eine heiße Thräne drüber hinrollte, da ließ er sie ihr, und antwortete mit einem streng sein sollenden Ton: »Daag Till' (Guten) »Tag«.!« und kein Wort weiter.

Nun wagte sich der Schwiegersohn vor, und sagte leise: »Mein hochgeehrter Herr Vater, wenn Ihnen meine Gegenwart unangenehm ist, so will ich mich sogleich wieder entfernen.« Der Brauer brummte halblaut ohne aufzuschau'n: »Sie sind ja hier nicht in meinem Haus!«

Des Kohlenhändlers Gesicht wurde immer zorniger und röther; eben wollte er heftig losbrechen – da nahm Tillchen ihrer Magd die schüchtern vor der Thüre stehen geblieben war, das Kind vom Arme, welches laut aufjauchzte und ihr sein: »Aidaidai« entgegenlallte. Unwillkürlich blickte der Großvater hin, und erschrocken über seines Herzens Bewegung stampfte er mit dem Fuße. Gleichsam als wolle er seinen Grimm neu beleben, zwang er sich das Auge auf den verhaßten Musikanten zu richten. Sein Vorurtheil gegen diesen Stand hatte seiner Phantasie den Franz stets als einen etwas ruppigen tölpelhaften Landstreicher ausgemalt. Wie sank ihm der Hochmuth als er mit dem durchbohrendsten Blick nichts entdecken konnte, das zu seiner Lieblingsvorstellung von einem Musikanten paßte. Der junge Mann sah ganz verständig und ehrbar aus, hatte eine schöne männliche Haltung, und war durchaus nicht im Bänkelsängerstyl gekleidet, sondern so daß er für einen Kirchenvorstand passiren konnte. Er verglich ihn mit allen Umstehenden, und fand halb mit Verdruß halb mit Vergnügen, daß er sich seiner nicht zu schämen habe – hinge ihm nur der Schandfleck nicht an, daß er ehedem zur Kirmes aufgespielt hatte.

Die allgemeine Stille unterbrach plötzlich der Kohlenhändler mit einer fast donnerähnlichen Stimme: »Sollen wir heute Hochzeit halten oder nicht? Des Prattens Schmollens. bin ich müd. Ich bin auch kein Wimpel auf dem Dach, und auch mein Willen ist wie ein Eichenbaum, das werd' ich zeigen!«

Dieser unvorsichtig ausgesprochene Wahlspruch gab dem Brauer seinen ganzen Trotz wieder. Fest richtete er sich auf um das Zimmer zu verlassen. Da stand ihm seine Tochter mit dem Enkel noch im Wege. Der Kleine sah die stattliche Weste mit den glänzenden Knöpfen, streckte hellhauchzend beide Händchen danach aus und klammerte sich fest an den Großvater an. Da brach der Alte schluchzend zusammen, so daß ihn der Schwiegersohn mit seinen Armen stützen mußte. Er stieß ihn nicht weg, so wenig als die Tochter, die er nun mit dem Kinde zitternd und weinend in die Arme faßte.

Die Hochzeit des Sohnes wurde an dem Tage gefeiert.



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