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Europa

Erweist sich das Motto dieses Buchs, das Wort des Heidenapostels: »Wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten«, nicht mehr als gerechtfertigt? Aufmerksam habe ich Kapitel auf Kapitel nach der geschwinden ersten Niederschrift durchdacht: ich habe nicht den Eindruck, daß ich irgendeinem Volke nicht gerecht, gerade gerecht geworden sei. Alle Völker haben ihr Gutes. Aber nicht eines hat ein Götterrecht auf Hochmut. Vor allem aber macht sich jedes einfach lächerlich, wo es auf andere herabsieht im Größenwahn, das Menschheitsideal zu verkörpern. Wenn etwas allgemein gilt, dann ist es dies, daß die Vorzüge überall durch korrelative Nachteile kompensiert erscheinen. Ich gedenke der gegenseitigen Verunglimpfung, wie sie seit Weltkriegstagen noch gang und gäbe ist: ist nicht herzliches Lachen die mildeste Antwort auf Frankreichs Anspruch, der Lehrer der Menschheit zu sein – denn das bedeutet das klassische Wort magistrature; den Anspruch Deutschlands, der Menschheit Arzt zu sein – denn so allein ist der Satz, daß die Welt am deutschen Wesen genesen solle, verständlich; den schweizerischen, das politische Vorbild zu verkörpern, den englischen, für alle the white man's burden zu tragen, und so fort? Gegen Alfred Adlers Auffassung »des« Menschen ist viel zu sagen. Aber die Völker, die sich vor allen überheben, sind letztlich wohl samt und sonders Adlersche Fälle und insofern bemitleidenswert: ihr Großtun bedeutet in Wahrheit Minderwertigkeitsgefühl. Zwar hat ein Schüler Freuds jüngst ausgeführt, Alexander der Große habe die Welt nur erobert, um seinen Ödipuskomplex abzureagieren; so mag es unter Nationen auch Freudsche Fälle geben. Jungsche Fälle des Sinnes, daß ein Traum der Größe und Schönheit deren Wirklichkeit vorweggenommen hätte, kenne ich nicht. Denn Völker haben kein »Selbst«, das zu integrieren wäre. Ist die Psychologie der Massen so viel primitiver als die jedes einzelnen, so ist das sehr einfach daraus zu erklären, daß in der Masse nur die empirisch-psychologischen Elemente, also die bloßen Ausdrucksmittel des Metaphysischen, des eigentlich Menschlichen zur Geltung kommen. Verliert sich der einzelne in ihr, so verliert diese proportional dem Grade an Wert. Völker sind mehr oder weniger günstige Mittel der Selbstverwirklichung. Mehr sind sie nicht und können sie nicht sein.

Hieraus ergibt sich andrerseits zugleich, worin berechtigter Nationalstolz besteht. Dostojewsky sagt, für jeden bezeichne seine Volkheit den Weg zu Gott. Jeder ist an das empirische Verwirklichungsmittel seines Volks gebunden; dieses gibt jeder sinnvollen Zielsetzung die Richtung und setzt ihr Grenzen; insofern bezeichnet die Idee des jeweiligen Volks den Exponenten der Richtung, in welcher jeder seiner Söhne für sich streben soll. Folglich muß die Selbstbestimmung und möglichst vollkommene Erfüllung aller seiner Möglichkeiten jedem Volke Ziel sein, weil psychoanalytische Normalität allein dem Selbst volle Ausprägungsmöglichkeit gewährt. Unterdrückte Völker sind immer seelisch häßlich, allzu arme nur ausnahmsweise innerlich frei. Die gleiche Erkenntnis setzt sinnvollem völkischem Selbsterhöhungsstreben zugleich die Grenze. Nicht allein Unterdrückte, auch Unterdrücker nehmen Schaden an ihrer Seele. Nicht allein zu enge, auch zu weite Verhältnisse schaden; jede Betonung des Ich-Pols ohne korrelative Betonung des Du schafft pathologische Verhältnisse. Hier liegt der tiefste Grund der meisten Völkertragödien.

So sind denn die Auswüchse des Nationalismus nur als Krankheitssymptome richtig zu beurteilen. Hier aber wird die Grenze sinnvoller psychoanalytischer Betrachtung am selben ideellen Ort im völkischen Zusammenhang offenbar, wie im individuellen. Ist das Analysierbare nicht letzte Instanz – alles Nähere betreffend verweise ich auf die psychoanalytischen Kapitel von Wiedergeburt – dann sind auch die jeweiligen Unzulänglichkeiten völkischer Anlage keine letzten Instanzen. Dann liegen die Dinge bei den Völkern ebenso wie beim einzelnen: recht eigentlich das Unzulängliche ist und macht produktiv. Hieraus erklärt sich denn, warum die problematischen oder Sünder-Völker für den Menschheitsfortschritt nachweislich mehr bedeutet haben und bedeuten als die Vollendungsvölker. Die Juden sind das unzulänglichste Volk der ganzen Menschheit, die Vorzüge der Hellenen waren durch ungeheure Fehler überkompensiert. Und heute bedeuten Deutsche und Russen mehr als Briten und Franzosen. Auch der letzteren Menschheitsbedeutung stammt aus der Zeit, wo sie noch keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit hatten. Wie unbedingt die Dinge so liegen und nicht anders, beweist besonders deutlich Skandinavien. Auch dieser Kulturkreis war, eine kurze Zeit lang im höchsten Sinne menschheitsbedeutsam: das war, als die Frau in ihm zuerst im modernen Westen sich ihrer Problematik bewußt ward. Aber nachdem jedes Mädchen in sich ihr Ibsen-Stadium wie eine Embryonalphase erledigt, ist es mit dieser Bedeutung aus.

Schwingen wir uns aber jetzt zum höchsten Gesichtspunkt auf, der erdverhafteten Menschen erreichbar ist, so müssen wir sagen: wie sollte es anders sein, als daß in der Vollendung der Völker als solcher kein letztes Ziel liegt? Dieses Leben ist nur Mittel zu höherem Zweck; wäre es anders, kein Pessimismus erschiene schwarz genug. Die unüberwindliche Tragik des Lebens ist die Voraussetzung aller Geist- und Sinnesverwirklichung. Jedes rein irdische Ziel wird durch die bloße Tatsache seiner Vergänglichkeit ad absurdum geführt. Hieraus allein schon erhellt der grundsätzliche Widersinn jedes statischen Ideals und damit der Widersinn jedes Vorbildlichkeitsanspruchs eines Volks, das sich in irgendeinem Sinn endgültig am Ziele glaubt. Selbstverständlich hat kein nur halbwegs großer Einzelner weder sich selbst noch erst recht sein Volk jemals am Ziel gewähnt. Aber die meisten europäischen Völker dieser Zeit glauben sich entweder am Ziel, als richtige Pharisäer, oder aber sie hoffen es demnächst zu erreichen. Deswegen mußte ich sie zunächst nach Möglichkeit lächerlich machen, oder doch wenigstens ihre Bedeutung relativieren. Solange sie so groß von sich denken, wie sie es heute tun, gibt es für sie kein Heil. Und tatsächlich sind alle mehr als unvollkommen. Nicht eines Wirklichkeit entspricht auch nur annähernd dem, was es von sich denkt.

Dies ist die erste Folgerung, die wir, wie mir scheint, aus unserer Reise durch Europa ziehen dürfen. Die zweite ist erfreulicher. Wir dürfen getrost bekennen, daß es auf Erden keine reichere Mannigfaltigkeit gibt als die der kleinen Halbinsel am asiatischen Kontinent, die wir Europäer bewohnen; sogar in Indien nicht, trotz der großen Buntheit dieses Erdteils. Nur vom Standpunkt des Jahrmarkts von Plundersweil ist Indien mannigfaltiger, nicht im Sinn der Substanz; dies erweist schon der physiologische Monismus aller Inder. Gerade die Substanz nun ist in Europa von Volk zu Volk ganz wunderbar verschieden. Freilich muß man näher zusehen, um dessen gewahr zu werden. Zu Beginn meiner Weltreise schrieb ich: »Europa fördert mich nicht mehr. Zu vertraut ist mir diese Welt, um meine Seele zu neuen Gestaltungen zu zwingen. Und dann ist sie an sich auch zu beschränkt.« So konnte ich schreiben, weil mir dazumal der Planet als Ganzes normale Umwelt war. Seit dem Kriege mußte ich mich auf Europa beschränken. Und da erging es mir wie während der Kriegsjahre auf meinem estländischen Landsitz: wo ich früher über die geringe Anzahl möglicher Spaziergänge klagte, entdeckte ich nun jeden Monat einen neuen. Und wie ich auf diesen Spaziergängen im kleinen Umkreis mehr Sonderlichkeiten bemerkte, wie ehedem auf meinen weiten Fahrten, so sind mir in Europa mehr Nuancen ins Auge gefallen, als ich auf meiner Weltreise große Unterschiede wahrnahm. Unter allen Umständen aber bietet mikroskopische Schau mehr Kurzweil als teleskopische. Wie soll man über den Sternenhimmel lachen? Jeder Blick ins Menschengetriebe, und desto mehr, um je Intimeres es sich dabei handelt, bietet des Unterhaltenden die Fülle.

Doch unsere Überschau Europas führt noch zu einem dritten Ergebnis. Und dieses bestätigt den Satz des Reisetagebuchs, der unmittelbar auf den zuletzt zitierten folgt: »Ganz Europa ist wesentlich eines Geists.« In der Tat: gelangten wir nicht unwillkürlich Mal für Mal dahin, die verschiedenen Völker und Länder in Korrelation zueinander zu betrachten, nicht nur das eine auf dem Hintergrund des anderen? Allerdings gelangten wir dahin. Immer wieder ergab sich für uns aus dem Sosein eine Sendung; solche aber setzt offenbar eine vorherbestehende höhere Einheit voraus. Immer wieder bestätigte sich der Titel: die Auseinanderlegung bedeutete wirklich die Spektralanalyse eines nach außen zu einheitlichen Körpers. So bliebe dieses Buch unabgeschlossen, wenn wir auf die Behandlung der Komponenten nicht eine Bestimmung des Ganzen folgen ließen. Und zwar nicht als Resümé, sondern eben in dem Sinn, daß die verschiedenen Elemente, die das Spektrum nachweist, als notwendige Bestandteile in einen einheitlichen Körper hineingehören.

 

Inwiefern gibt es ein »Europa«, das es unzweifelhaft in einem anderen als geographischen Verstande kürzlich noch nicht gab? Es gibt es insofern, als die weiteren Zusammenhänge innerhalb der Menschheit, die neuerdings in Erscheinung treten, von sich aus neue Differenzierungen bedingen. Und zwar handelt es sich dabei um innerliche, um psychologisch bedingte Zusammenhänge. Keine bloß äußerliche Einheit hatte je Bestand. Die früheren Versuche, Europa zu vereinheitlichen, wie sie, mehr oder weniger bewußt, Julius Cäsar, Karl der Große und Napoleon unternahmen, scheiterten, weil die Unterschiede zwischen den verschiedenen Völkern Europas damals mehr bedeuteten als das, was sie gemein hatten. Überdies hatten sie damals wirklich nur wenig gemein. Vom Standpunkt möglichen Erlebens war die Entfernung zwischen Paris und Köln noch zu Napoleons I. Zeiten beinahe so groß wie heute die zwischen Sidney und Berlin; der psychische wie der physische Organismus gestaltet sich, in seiner Weite und Enge, korrelativ zur Umwelt. So war der Berliner vom Pariser damals wirklich mehr unterschieden als heute vom Australier. Heute nun ist der Raum als Bedeutsamkeit überwunden. Die Wissenschaft hat allgemeine Verständigung ermöglicht. Auf Grund der Verlegung des Bedeutsamkeitsakzents im Seelengefüge vom Unübertragbaren auf das Übertragbare (vgl. die Ausführungen in der Neuentstehenden Welt) ist der ökumenische Zustand werdende Wirklichkeit. Und damit ist eine neue sehr weite Ganzheit da. Aber diese bedingt doch mitnichten Uniformierung: insofern sie eine lebendige Ganzheit ist, bedingt sie, im Gegenteil, von sich aus neue Differenzierung, so wie jedes vielzellige Wesen gegenüber dem Einzeller in neuem Sinn differenziert erscheint. Dieser ist in seiner Winzigkeit, das wissen wir heute, gleichfalls hochdifferenziert; so waren es einstmals die Sippen und Stämme. Aber das Große ist eben in neuem und anderem Sinn gegliedert. So bedeutet es einen Denkfehler, aus der Überwindung des Raums und der Verständigungsschranken auf tiefergehende Angleichung zu schließen; und die Erfahrung hat ihn auch schon als solchen erwiesen. Frankreich und England haben seit 1914 in hohem Grade in Symbiose gelebt, und nie waren beide Völker verschiedener, noch ihrer Verschiedenheit stärker bewußt als seither; so hat die Berührung des Ostens mit der europäischen Zivilisation gerade den asiatischen Nationalismus ausgelöst. Wohl aber bedingt jede vorherbestehende Ganzheit, noch einmal, von sich aus eine gegenüber der früher bestehenden andersartige Differenzierung. Wie einstmals Sippen mehr bedeuteten als Nationen, ja wie es solche bis zur französischen Revolution im heutigen Sinne überhaupt nicht gab, so artikulieren sich heute, vom innerlich vorherbestehenden ökumenischen Zustand aus, neue lebendige Einheiten. Eine von diesen ist nun Europa. Europa entsteht nicht von wegen der pan-europäischen oder irgendeiner ähnlichen Bewegung, sondern diese wie jede andere gleichsinnige Bewegung ist nur möglich, weil sie unter anderen eine von sich aus lebendige und primär wirkende Tendenz vertritt. Europa entsteht, weil das allen Europäern Gemeinsame angesichts des nahegerückten und übermächtigen nichteuropäischen Menschentums an Bedeutung gewinnt gegenüber dem, was sie trennt, und damit neue Faktoren, gegenüber früheren, im Bewußtsein vorzuherrschen beginnen. Dieses primäre Europäer-Bewußtsein ist es denn, was uns ermöglichte, die einzelnen Völker vom Standpunkt ihrer Sendung aus zu beurteilen: besteht ein primäres Europäerbewußtsein, dann ist solche Beurteilung ebenso selbstverständlich möglich, wie im physischen Körper Lunge und Leber auf ihren Sinn hin zu bestimmen sind.

Es entsteht also heute ein lebendiges »Europa« als Glied der Menschheitsökumene. In allen führenden Geistern ist es als psychologische Wirklichkeit schon da. Das ganz bestimmte Unbewußte, das seine sonderliche Geschichte bedingt, welches Sosein über die Stellung zur Außenwelt letztinstanzlich entscheidet, beginnt sich im Bewußtsein auszuwirken. Es beginnt sich auszuwirken, weil der Mensch ein Unterschiedswesen ist und sich je nach seiner gegebenen Relation zum Du so oder anders entwickelt. Früher konnte der Unterschied zwischen deutschem und französischem Wesen als primär bedeutsam gelten. Heute wiegt das Unterschiedsbewußtsein gegenüber dem russischen und erst recht dem asiatischen Wesen vor und dies wird immer mehr der Fall werden, je mehr die Stimmungen und Verstimmungen des Weltkriegs abklingen. Und ebenso akzentuiert sich das Unterschiedsbewußtsein gegenüber der Neuen Welt. Vor nicht gar langer Zeit noch gehörten gebildete Nordamerikaner selbstverständlich zu uns. Heute verkörpert zum mindesten die jüngere Generation buchstäblich eine neue Welt. Der Ur-Geist der amerikanischen Erde und der Negergeist ringen schon als Dominanten mit den aus Europa eingewanderten um die Vorherrschaft und wie das Ergebnis auch ausfalle: die Endsynthese wird spezifisch amerikanisch sein, von Europa vielleicht nicht weniger verschieden, wie es die griechische Kultur war von der minoischen und phönizischen und ägyptischen, von denen sie abstammte Vgl. die hochinteressanten Feststellungen C. G. Jungs in seinem Vortrag »Die Erdbedingtheit der Psyche« auf der Tagung 1927 der Schule der Weisheit, abgedruckt im Leuchter 1927 ( Mensch und Erde). Ich zitiere daraus die folgenden Fragmente: »Zunächst fiel mir der bei den Amerikanern große Einfluß des Negers auf, ein psychologischer Einfluß natürlich, ohne Blutmischung. Die emotionale Äußerung des Amerikaners, in erster Linie sein Lachen, können Sie am besten in den Society Gossip Beilagen der amerikanischen Blätter studieren; jenes unnachahmliche Rooseveltlachen finden Sie in der Urform beim amerikanischen Neger. Der eigentümliche Gang mit relativ losen Gelenken, oder die schwingende Hüfte, die man bei Amerikanerinnen so häufig beobachtet, stammt vom Neger. Die amerikanische Musik bezog ihre Hauptinspiration vom Neger; der Tanz ist Negertanz. Die Äußerungen des religiösen Gefühls, die revival meetings, die holy rollers und sonstige Abnormitäten, sind stark unter dem Einfluß des Negers – und die berühmte amerikanische Naivität in ihrer charmanten Form sowohl wie in ihrer mehr unangenehmen Erscheinungsweise, kann leicht mit der Kindlichkeit des Negers verglichen werden. Das durchschnittlich ungemein lebhafte Temperament, das sich nicht nur bei Baseballgames zeigt, sondern ganz besonders in einer ungewöhnlichen sprachlichen Ausdruckslust, wovon der unaufhörliche und uferlose Strom von Geschwätz in den amerikanischen Zeitungen das sprechendste Beispiel ist, ist kaum von den germanischen Vorfahren herzuleiten, sondern gleicht vielmehr dem »chatering« des Negerdorfs. Der fast absolute Mangel an Intimität und die alles verschlingende massenhafte Gesellschaftlichkeit erinnert an primitives Leben in offenen Hütten mit völliger Identität aller Stammesgenossen. Es schien mir, als ob in allen amerikanischen Häusern alle Türen immer offen stünden, wie auch in den amerikanischen countrytowns keine Gartenzäune zu finden sind. Alles scheint Straße zu sein … In der amerikanischen Heldenphantasie spielt der indianische Charakter eine Hauptrolle. Die amerikanische Sportsauffassung ist weit jenseits der europäischen Gemütlichkeit. Nur noch die indianischen Initiationen können mit der Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit eines rigorosen amerikanischen Trainings wetteifern. Die Gesamtleistung des amerikanischen Sportes ist deshalb bewundernswert. In allem, was der Amerikaner will, kommt der Indianer zum Vorschein; in der außerordentlichen Konzentration auf ein gewisses Ziel, in der Zähigkeit der Verfolgung, im unentwegten Ertragen größter Schwierigkeiten kommen alle legendären Tugenden des Indianers zur vollen Geltung … Ich habe bei meinen amerikanischen Patienten gefunden, daß ihre Heldenfigur auch den indianischen religiösen Aspekt besitzt. Die wichtigste Gestalt der indianischen Religionsformen ist der Shaman, der Doktor und Geisterbeschwörer. Die erste, auch für Europa wichtig gewordene amerikanische Erfindung auf diesem Gebiete war der Spiritismus, die zweite die Christian Science und sonstige Formen von Mental healing. Die Christian Science ist ein Beschwörungsritual, die Krankheitsdämonen werden abgeleugnet, der widerspenstige Körper wird mit entsprechenden Formeln besungen und die einem hohen Kulturniveau entsprechende christliche Religion wird zur Zauberheilung benutzt. Die Armut des geistigen Inhaltes ist erschreckend, aber die Christian Science ist lebendig, sie besitzt eine durchaus bodenständige Kraft und wirkt diejenigen Wunder, die man in den offiziellen Kirchen vergeblich suchen würde. So bietet uns der Amerikaner ein seltsames Bild: ein Europäer mit Negermanieren und indianischer Seele. Er teilt das Schicksal aller Usurpatoren fremder Erde: gewisse australische Primitive behaupten, man könne keinen fremden Boden erobern, denn im fremden Boden leben fremde Ahnengeister, und so würden die Neugeborenen fremde Ahnengeister inkarnieren. Darin steckt eine große psychologische Wahrheit. Das fremde Land assimiliert den Eroberer. Aber unähnlich den lateinischen Eroberern in Zentral- und Südamerika haben die Nordamerikaner mit strengstem Puritanismus das europäische Niveau gehalten, aber sie konnten es nicht hindern, daß die Seelen ihrer indianischen Feinde die ihrigen wurden. Die jungfräuliche Erde hat es überall an sich, daß wenigstens das Unbewußte des Eroberers zur Stufe des autochthonen Bewohners hinuntersinkt.«. Mochte nun das Gemeinschaftsbewußtsein aller Westländer bisher trotz allem vorherrschen: bei den heutigen psychologischen Verhältnissen kann das Unterschiedsbewußtsein nicht umhin, zu dominieren. Wenn die Amerikaner zunächst, kulturell beurteilt, immer jünger werden müssen, bis daß eine eigene amerikanische Kulturseele sich bildet, werden wir uns zwangsläufig, in Relation zu ihnen, immer älter vorkommen. Immer weniger kann davon die Rede sein, daß wir uns »amerikanisieren« – soll dieses Verbum einen Sinn haben, so muß es doch Tieferes bedeuten als die bloße Übernahme rationellerer Wirtschaftsmethoden. Wir werden bald frenetische Nur-Europäer sein. Wir werden uns, bis auf individuelle Ausnahmen, nicht besser, sondern schlechter als ehedem verstehen. Und dies, so paradox dies klinge, gerade deshalb, weil »Verstehen« an sich in Zukunft eine immer größere Rolle spielen wird. Je dümmer ein Mensch, desto mehr erscheint ihm selbstverständlich; das Staunen ist des Weisen Privileg. So muß das Unverständliche als solches immer mehr auffallen, je mehr verstanden wird. Und tatsächlich kann niemand einen anderen verstehen, dessen Unbewußtes zu sehr vom seinen abweicht. Nicht nur die verschiedene Seelen-Struktur, auch das historische Alter der Seelen schafft unüberbrückbare Differenzen. Andererseits aber wird aus dem gleichen Grunde das Gleiche und Ähnliche schärfer als ehedem als solches erkannt. So wird den Bewohnern Europas unaufhaltsam bewußt, daß oberhalb der einzelnen Völker und Kulturen in Europa eine neue lebendige Wirklichkeit besteht: die des Europäers. Dementsprechend wird der Franzose, der Deutsche usw. anders als er früher war; seine Relation zum Ganzen hat sich verschoben. Und diese Verschiebung spiegelt sich im Bewußtsein und greift von diesem her wiederum schöpferisch ins Werden der Wirklichkeit ein.

 

Um welche Art Wirklichkeit kann es sich nun beim »Europäer« handeln – denn nur er, nicht die höhere Einheit des ökumenischen Menschen geht uns hier an –? Wird er eine neue Rasse darstellen? ein neues Volk? o nein: sondern eine neue Stileinheit. Die Stileinheit und nichts anderes ist es, was überhaupt lebendige Gemeinschaften schafft. Das biologische Material war, im großen betrachtet, von je das gleiche. Was für Völker daraus wurden, was für Kulturen, hing einzig davon ab, ob ein Geist und welcher sie jeweils beseelte. Dieser Geist gab dem Urstoff jedesmal die ihm entsprechende Gestalt und damit zugleich die Seele. Hier liegen die Dinge nicht anders wie bei Gemälden. Farben, Formen und deren Gesetze liegen jedermann vor; doch ein Rembrandt schafft Einziges vermittels ihrer. Mit dem gleichen Einzigkeitscharakter steht und fällt bedeutsames nationales Dasein. Tausende und Abertausende von Völkern sind, aus gleichem oder doch nahverwandtem Urmaterial gebildet, über die Erde gewandelt. Doch nur wenige unter ihnen gewannen jemals wirklich Gestalt, nur ganz wenige unter diesen behaupteten sich für die Dauer. Das waren dann jedesmal die, welche sich so zu den anderen verhielten wie die Werke eines Rembrandt zu denen eines geringen Malers. Gewiß verkörpern auch diese einen besonderen Stil; es ist unmöglich zu leben, ohne irgendeinen Stil zu haben. Das Wort Buffons le style c'est l'homme même gilt für alle Bereiche des Lebens insofern, als der Stil die letzte unzurückführbare Synthese von rational und irrational verkörpert, als welches alles Lebendige ist Vgl. die genaue Ausführung der hier nur skizzierten Gedankengänge in den Kapiteln »Jesus der Magier« von Menschen als Sinnbilder und »Geisteskindschaft« von Wiedergeburt.. Aber es gibt großen und kleinen Stil; es gibt überzeugende und nicht überzeugende; es gibt übertragbare und nicht übertragbare Über letzteres Problem lese man meine Studie »Die begrenzte Zahl bedeutsamer Kulturformen« nach in Philosophie als Kunst.. Von Dauer ist eine Volkheit immer nur dann, wenn sie einen Menschheitswert verkörpert und insofern allen einleuchtet, und wenn dieser Wert kein Miniatur-Wert ist, der sich nur unter der Lupe offenbart, sondern ein weithin sichtbarer und ausstrahlender. Weil dem so ist, deshalb trauern die heutigen Franzosen der Entnationalisierung ihrer gallischen Vorfahren nicht nach, sie sind vielmehr stolz auf sie. Und so leben auch nur die Völker und Kulturen, die eine hohe Stileinheit verkörperten, als Gene im Menschheitserbe fort. Es sind dies in erster Linie die Ägypter, Juden, die Griechen, Römer, Inder und Chinesen. Sie leben persönlich fort, genau wie die Gene in jeder neuen Lebenseinheit der Einzelzelle. Ebendeshalb lernt man alte Sprachen bei uns, oder Sanskrit in Indien, um dem modernen Leben gewachsen zu werden: es gilt das eigene lebendige Erbe zu vitalisieren. Ein Volk ohne eigene Seele, d. h. ohne eigene Stileinheit, ist nur Material.

Der Wechsel und Wandel der auf Erden vorherrschenden Völker ist also in Wahrheit ein Wechsel und Wandel der Stile, nicht der Völker. Die pflanzen sich seit Adam als Urstoff fort; die Form gibt ihnen der jeweils herrschende Geist. Zweifelsohne ist dieser seinerseits, in seiner Manifestation, an bestimmtes Blut mehr oder weniger gebunden. Aber auf diese Bindung den Hauptnachdruck zu legen, ist dennoch immer falsch. Was hat der heutige Amerikaner rein angelsächsischen Bluts mit dem Engländer gemein? Er ist psychologisch von ihm viel mehr verschieden als der Franzose vom Deutschen. So ist der Ost-Jude chazarischer Abstammung nichtsdestoweniger durchaus Jude. Und die eingewanderten Germanen sind überall in den ursprünglich besiegten Völkern untergegangen. Was von der Natur her wirklich bestimmt, ist die Landschaft im paideumatischen Verstand. Genaue Aufklärung über den von mir öfters verwandten Begriffs »Paideuma« von Leo Frobenius gibt dessen Büchlein gleichen Namens, erschienen in der Serie Erlebte Erdteile (Frankfurter Sozietätsdruckerei). Bestimmte Seelen (nicht Geister: der Geist ist aus der Erde nie zu erklären Vgl. meine Vorträge »Der erdbeherrschende Geist« und »Der Mensch aus kosmischer Schau« im Leuchter 1927 ( Mensch und Erde). erscheinen zweifellos an bestimmte Landschaften gebunden, gleichviel, warum dem so sei. Und hier kann deren Synthese allein für sich einen so mächtigen Faktor bedeuten, daß es auf die Blutkomponente kaum ankommt. Die heutigen Griechen sind immer noch durchaus Griechen, obschon nur verschwindend, wenig althellenisches Blut in ihren Adern rollt. Die Franzosen naturalisieren ohne weiteres jeden Fremden, weil sie sich stark genug wissen, jeden zu assimilieren. Aber wir wissen nicht, was Paideuma, Kulturseele oder psychische Atmosphäre letztlich bedeuten. Demgegenüber ist die Stileinheit, in der dieses Unverständliche sich überall manifestiert, wo vorhanden, ein gegenständlicher Begriff.

Der Stil macht ebenso das Volk wie den Einzelmenschen. Sind nun die Betrachtungen dieses Buches nicht ein einziger Beweis dafür? Überall erwies sich das Psychologische als erste und letzte Instanz. Alle Unterschiede erwiesen sich als letztlich auf Einstellungsunterschieden beruhend – Einstellung ist aber nichts anderes wie künstlerische Form. Der Deutsche beurteilt alles von der Sache, der Italiener vom Menschen her; beim Engländer liegt der Bedeutungsakzent im Unbewußten, beim Franzosen am hellstbeschienenen Ort des Tagesbewußtseins. Die bestimmende Gestalt, die Stileinheit braucht nun durchaus nicht »national« zu sein. Auf die Frage, ob er ein Engländer sei, antwortet eine der Hauptpersonen in Bernard Shaws Heiliger Johanna empört: ich bin ein Gentleman. So antworteten noch während des Weltkriegs russische Reservisten auf die Frage, was sie für Landsleute seien: wir sind Rechtgläubige. Jeder Fürst steht innerlich oberhalb der Nationen, jeder Aristokrat fühlt sich Standesgenossen anderer Nation verwandter als Volksgenossen anderen Niveaus. Wer Mönch wird, tritt bewußt aus allen natürlichen Verbänden heraus. So schafft die Internationale der Sozialdemokratie, schafft erst recht die in Moskau zentrierte eine reale und doch nicht nationale Einheit. Ja, wenn ich mein eigenes Selbstbewußtsein analysiere – als was finde ich mich? An erster Stelle als mich selbst, an zweiter als Aristokraten, an dritter als Keyserling, an vierter als Abendländer, an fünfter als Europäer, an sechster als Balten, an siebenter als Deutschen, an achter als Russen, an neunter als Franzosen – ja als Franzosen, denn die französischen Lehrjahre haben mein Ich tief beeinflußt. Mein Fall ist vielleicht abnorm, weil ich mich eigentlich nur mit meinem geistigen Wesen identisch fühle und in meiner Körperlichkeit primär nur Material sehe. Um so besser glaube ich die wahre Bedeutung des Bluts ermessen zu können. Alles Triebhafte ist zweifelsohne blutsbedingt. Weil dem so ist, deshalb ändern sich die Völker als biologische Einheiten im Lauf der Jahrtausende so wenig – das meiste Leben der Menschen wird genau so von primitiven Trieben bestimmt wie das der Tiere. Doch der Geist eines Volks ist demgegenüber ein qualitativ Verschiedenes. Den Zimbern und Teutonen wird der fanatischeste Alldeutsche nicht nachsagen wollen, daß sie »deutschen Geist« vertraten, noch wird er es dem reinrassigen Juden Gundolf abstreiten, daß er heute einer seiner typischesten Repräsentanten ist. Die Verknüpfung geschieht hier mittels des Jungschen kollektiven Unbewußten. Doch nie ist sie unlöslich. Einen Geist kann ein Volk genau so verlieren, wie der Einzelne den seinen sterbend aufgibt; nur daß das Volk als biologische Einheit weiterlebt. Auf den Geist nun bezieht sich aller kultureller Wert, auf ihn allein bezieht sich Wert überhaupt. Freilich muß dem Blute zugestanden werden, was des Blutes ist; da erst physische Abstammung und Tradition zusammen beim Menschen den eigentlichen Vererbungsfaktor ausmachen Vgl. die genaue Behandlung dieses Tatbestandes, im Kapitel »Der Sinn des ökumenischen Zustands« der Neuentstehenden Welt. und das Blut allein irdisch fixiert, so ist es ausgeschlossen, einen Geist ohne Blut zu perpetuieren; auch in Klöstern geschieht dies ja auf besondere Art. Doch der Nachdruck ruht immer und überall auf dem Geist. Und dessen einer Exponent ist der Stil.

Deshalb kann von einer Gleichwertigkeit aller Völker bloß als Völker keine Rede sein. Völker als solche haben überhaupt keinen Wert, sie sind nur Urstoff. Alles kommt darauf an, ob eines einen besonderen Stil hat und was dieser an sich wert sei. Hieraus erklärt sich denn manches. Warum kann man in Europa füglich nur von französischem und deutschem Geiste reden? Weil nur bei Franzosen und Deutschen der Akzent überhaupt auf dem Geiste ruht. So selbständig die anderen Völker sein mögen: begeben sie sich auf die Ebene des Geists, so sind sie Provinzen entweder von Deutschland, oder von Frankreich. England hat dafür ein Ethos von großer Werbekraft, eine vorbildliche Gemeinschaftskultur und eine höchst übertragbare äußere Zivilisation. Rußlands Stil wurzelt in der Spannung zwischen seiner Naturnähe und seiner Spiritualität, derjenige Spaniens in der zwischen dem Urbewußtsein des Fleisches und extremer Haltung. So dürfen wir denn die Gegenwart, wenn wir verstehen wollen, trotz aller herrschenden Vorurteile, nicht anders betrachten, wie wir die Geschichte sehen. Abertausende von Völkern sind da untergegangen, und wir trauern ihnen nicht nach. Und damit tun wir recht, denn das Menschengeschlecht bleibt auf alle Fälle bestehen; desgleichen lebt Kultur, wo es sie gibt, durch das Leben und Sterben der Völkerschaften hindurch. Da stellt sich denn die Frage: was kann, was wird die Geburt des Europäertums bedeuten? Welche Veränderungen wird sie bedingen? Welche Aufgabe hat es in der Welt? Kann freier Wille hier mithelfen, auf daß Gutes werde? Diesen Fragen müssen wir uns nunmehr, zum Abschluß, zuwenden.

 

Der Europäer und mit ihm Europa entsteht, wir sahen es, zwangsläufig. Er entsteht aus der innerlich erlebten vorherbestehenden Menschheitsganzheit heraus als spezifisches Differenziationsprodukt. Er entsteht aus dem Unterschiedsbewußtsein gegenüber Ost und West, welches das Gemeinschaftsbewußtsein der Europäer gegenüber dem Bewußtsein dessen, was sie trennt, immer mehr überwiegen läßt. Unsere geistige Reise durch Europa lehrte uns nun, wenn irgend etwas, dies, um ein wie ungeheuer mannigfaltiges, zerklüftetes Gebilde es sich bei Europa handelt; der Balkan ist recht eigentlich sein Prototyp. Deshalb kann von Vereinheitlichung im Sinn von Unterschiedsverwischung im Fall Europas in Gutem keine Rede sein. Ihm zuzumuten, daß es sich wie Amerika oder Rußland vereinheitliche, heißt es vollkommen verkennen, soweit Theorie in Frage steht, und praktisch seinen Untergang wollen. Geht alles gut, dann wird sich eine neue höhere Einheit oberhalb der im übrigen in alter Kraft fortbestehenden Nationen bilden. Geht es schlecht, so muß es sich vollständig zersetzen. Für diesen Prozeß, im Guten wie im Schlimmen, gibt es nun eine historische Analogie, die nicht ernst genug beherzigt werden kann: das Gebiet des vorherrschenden Islam im nahen Osten. Nie hat der Islam die Völker- und Kulturunterschiede verwischt. Trotzdem fühlten sich alle Muslim, solange die Religion lebendig war, an erster Stelle als Brüder; und als solche waren sie bestimmte, sehr starke Charaktere. Wo nun aber, im nahen Osten, das Nationale seine letzte Bedeutung verlor, ohne daß eine andere positive Macht an seine Stelle trat, da entstand unmittelbar Levantinertum, d. h. das Charakterloseste, was es auf Erden gibt. Nichts ist lehrreicher in diesem Sinn als der Vergleich zweier Bewohner. Konstantinopels, die augenscheinlich die gleiche Rassenmischung darstellen, aber von denen der eine ein Türke ist, der andere nicht. Dieser ist wesentlich Herr, wesentlich Charakter; jener gesinnungsloser Schieber. Europa droht nun zweifellos entsprechende Gefahr, wenn nicht die höhere Einheit des lebendigen Europäertums bewußt wird und zu besonderer neuer Stileinheit führt. Denn nationale Abschließung im früheren Sinn ist wohl noch politisch, nicht aber mehr psychologisch möglich.

Dies nun führt uns zu einer im ersten Augenblick überraschenden Konsequenz: gerade um Europas willen darf der internationale Gedanke in Europa nicht siegen. Die tiefste Ursache dieses Verhältnisses bestimmten implizite bereits die Eingangsbetrachtungen dieses Kapitels. Völker sind nie mehr als Material zur Selbstverwirklichung des Einzigen. Um nun das einzige metaphysische Wesen zu manifestieren, bedarf es auf dieser Erde der Akzentlegung auch auf Empirisch-Einziges. Das ist zunächst die empirische Individualität. Aber auf der Ebene der Gattung, des Typus, die jeder auch persönlich verkörpert, ist es die Volkheit; insofern konnte Dostojewsky lehren, daß das eigene Volk jedem Menschen seinen Weg zu Gott verkörpere. Hier nun kommt auf richtige Akzentlegung alles an. Versteht einer seine Einzigkeit in Form des banalen Egoismus, so verliert er seine Seele, anstatt sie zu gewinnen, denn er zentriert sich im Nicht-Selbst. Dies gilt in noch höherem Grade, wenn er Nationalgefühl nicht in Funktion seiner persönlichen Einzigkeit pflegt, sondern in der seiner Beziehung zum »Mitmenschen«: jede Relation innerhalb des äußerlich gegebenen ist als solche äußerlich. Legt der Mensch nun den Akzent auf die Internationale, d. h. eine abstrakte Beziehung zwischen allen Menschen, dann muß er ganz veräußerlichen, denn eine internationale Menschheit gibt es nicht. Nun ist die Macht des internationalen Gedankens in der neuentstehenden Welt über alle Begriffe groß. Wo einmal das Übertragbare über dem Unübertragbaren dominiert, wo die Raumgrenzen illusorisch geworden, wo alle Rechtsbegriffe, alle Wissenschaft, alle Geschäftsinteressen internationale Verständigung verlangen, sind entsprechende »Internationalen« nicht nur Wirklichkeiten, sondern Notwendigkeiten. Aber deren Vertreter dürfen es, sofern sie an ihrer Seele nicht Schaden nehmen wollen, nur gleichsam Funktionäre sein. Hier erscheinen denn die Juden vorbildlich. Sie waren von jeher Internationalisten, doch immer von der Basis extrem betonten jüdischen Volkstums her. Der jüdische Internationalismus bedeutet nicht das gleiche wie der anderer Völker: er ist einfach Ausdruck des Interesses der parasitären Existenz daran, daß alle hemmenden Schranken im Wirtskörper schwinden Überdies hat es auch tief-weltanschauliche Gründe, die wiederum in lebendigstem Volkstum wurzeln. Über den letzteren Punkt sei an dieser Stelle nur soviel gesagt: Die jüdische Ethik operiert ausschließlich mit absoluten Werten; sie verlangt unmittelbar die Begründung des Gottesreichs, eines Reichs absoluter Gerechtigkeit. Moralischer Relativismus ist dem Juden physiologisch unverständlich. Im Ethos des nordischen Menschen, zumal des Engländers, sieht er ein wesentlich Un-Ernstes: Spielregeln sind ihm unsere Normen, nicht mehr. (Dies hat der Zionist Maurice Samuel in seinem Buch You Gentiles (Harcourt, Brace & Co., New York) so deutlich gemacht, daß ich alles Nähere betreffend auf ihn verweise.) Dieses Reich des Spiels will er instinktiv im Namen Gottes zerstören. Hieraus, und nicht etwa aus der Rache über sekuläre Bedrückung – kein Volk revoltierte je weniger gegen solche, denn seit Jahrtausenden ist sie der Juden Lebenselement – erklärt sich der jüdische Ursprung der meisten subversiven Theorien sowohl als der meisten ihrer tatkräftigsten Vertreter und Verwirklicher: jede Naturkraft wirkt zerstörerisch, wo sie außer Zusammenhang schafft. Eben hier wurzelt das meiste dessen, was dem praktischen Antisemitismus immer wieder Nahrung gibt. Der Sinn des Alten Testamentes ist reines Ethos, in unerhörter Einseitigkeit. Aber Geist überhaupt ist, praktisch beurteilt, in erster Linie Ethos, denn daran hängt seine Fähigkeit zur Initiative. Wirkt er im Zusammenhang mit allen Kräften der Seele und des Bluts, dann baut er auf; wirkt er außer Zusammenhang, dann muß er zersetzen. Das bekannte Zersetzende des jüdischen Geistes rührt nun daher, daß zwischen dem, was sein Ethos den Juden selbst und dem, was es den Wirtsvölkern bedeutet, Diskrepanz herrscht. Die Juden selbst verdanken eben ihm ihre ungeschwächte Erhaltung durch so viele Jahrtausende. Doch auf die Artfremden wirkt es zerstörerisch, denn nicht allein entspricht er diesen nicht, es ist in vielen tiefsten Hinsichten gegen sie gerichtet.. Die Juden können die bodenständigen Nationen nicht als letzte Werte anerkennen, sie müssen die Verflüssigung alles Festen, die Verwischung aller Grenzen wollen bis auf die eine zwischen Jude und Goj; daher das jüdische Revolutionärtum, an sich eine Paradoxie bei diesem konservativsten aller Völker, die jemals lebten. Aber ihr Internationalismus ist nichts anderes als der weltanschauliche Exponent eines für sich äußerst stark betonten Volkstums. Deshalb schadet er dem echten Juden nicht. Wir müssen auf die Judenfrage an dieser Stelle noch etwas näher eingehen, denn von ihr aus ist der Sinn der Unterscheidung zwischen Über- und Internationalismus am schnellsten einzusehen. Der Jude ist, vom Standpunkt der anderen und in bezug auf die anderen beurteilt, ein funktionell-parasitärer Typus; so hat es seine seltsame Geschichte bewirkt. Die Juden allein waren überall die Händler und Geldmenschen im naturalwirtschaftlichen Mittelalter. Und als dann der intellektuelle Fortschritt kam und mit ihm die Verflüssigung des Besitzes; als ferner das internationale Moment im Geschäftsverkehr, dank der Verbesserung der Verbindungen im Räume, dominierend ward, da erlebten die Juden immer mehr eine Hochkonjunktur für ihre angeborene Art, die sich entsprechend potenzierte. Und sie wird sich weiter potenzieren, denn noch ist diese Hochkonjunktur im Wachsen, nicht im Niedergang. Gerade jetzt, wo infolge des allgemeinen Substanzverlusts der nationalen Wirtschaften auf internationale Beziehungen alles ankommt; gerade jetzt, wo der innerlich Internationale die Situation am ehesten instinktiv erfaßt; gerade jetzt, wo die durch Weltkrieg und Versailler Vertrag eingeleitete neue Ära der Gewalt mit ihrem Korrelat, der Notwendigkeit für die Schwächeren, sich abzufinden, dem, der mit Übermacht zu rechnen, ja von ihr Vorteil zu ziehen gewohnt ist, die natürliche Vorzugsstellung gewährt, ist es ganz einfach lächerlich, mit einer Erledigung der Juden zu rechnen. Solange sie Juden bleiben und sich bewußt zu ihrem Volkstum bekennen, werden sie sich vielmehr immer mehr zu der internationalen Nation konsolidieren. Und da es freilich internationale Werte zu vertreten gibt, so können sie vielleicht noch einmal eine rein segensreiche Rohe spielen. Aber nur, sofern sie andererseits Juden bleiben. Sobald sie ihr Judentum preisgeben, müssen auch sie als Internationalisten verderben, wie es so viele liberale Juden schon heute tun. – Für Nicht-Juden nun gibt es vom Bekenntnis zur Internationale kein mögliches Heil. Jeder muß sich zunächst zu seinem Volkstum bekennen, wie dies in höchstem Grad gerade die Juden tun. Und wer kein Parasit ist, sondern Wirtskörper, der muß sich eben zu diesem bekennen, d. h. zur Einheit von Landschaft und Volk.

 

Der internationale Gedanke darf also nicht siegen. Das ist, so paradox dies klinge, die erste Voraussetzung dessen, daß Europa keine Todgeburt darstelle. Dagegen muß, wieder um Europas willen, der übernationale über den nationalen den Sieg davontragen, denn nur so kann sich Europa als Ganzes gegenüber den Übermächten im Osten und Westen halten; der übernationale Gedanke im Sinn eines ebenso positiven Europäertums von gleichem Einzigkeitsbewußtsein, wie es das Einzigkeitsbewußtsein des Einzigen als Selbst oder Volkszugehörigkeit je war. Inwiefern solche entstehen kann, zeigt das angeführte. Beispiel des Islam. Und es können jederzeit solche neue, nie dagewesene lebendige Synthesen als Voraussetzungen des Einzigkeitsbewußtseins erwachsen: die Nation als solche ist ja erst wenig über hundert Jahre alt; vorher gab es die Christenheit, die Adelsgemeinschaft, die Sippe, den Stand, eine Nation gab es nicht. Erwächst nun der lebendige Europäer als neuer Typus, dann wird dies eine weitere scheinbare Paradoxie ergeben: die Nationen werden sich nicht weniger, sondern eher mehr als früher im Verhältnis zueinander, akzentuieren. Bei vielen Gelegenheiten habe ich gezeigt, daß das neue Zeitalter eine Synthese darstellt von extremem Universalismus und ebenso extremem Partikularismus: das muß in Europa am stärksten in Erscheinung treten. Gedenken wir wiederum Indiens, des einen sonstigen Erdteils gleicher Buntheit: dort handelt es sich um ein wie zufälliges Nebeneinander, denn der Grundton liegt dort auf dem Irrationalen. Im rationalen. Europa hingegen bedingt ein Verschiedensein das andere; dort herrscht Korrelation innerhalb eines vorherbestehenden Ganzen; es ist ein wesentlich differenziertes organisches Gebilde. Wird also Europa seiner selbst gegenüber Ost und West als einer ausschließlichen Stileinheit bewußt,, dann muß dies ebenfalls von den echten Stileinheiten gelten, die es zusammensetzen. Und damit gelangen wir zur genaueren Bestimmung Europas im Unterschied von allen anderen Kollektivgebilden der neuentstehenden Welt; ich rede hier, wohlgemerkt, nicht von dem, was werden »soll«, sondern von dem, was unaufhaltsam wird. Die Nationen akzentuieren sich tatsächlich immer mehr. Ihr Einzigkeitsbewußtsein wird tatsächlich immer größer. Wie wenig dies dem internationalen Gedanken zu weichen gesonnen ist, beweist jede Verhandlung in Genf und die wachsende Bedeutungslosigkeit der liberalen Presse. Dies ergibt denn einen allgemeinen Gespanntheitszustand höheren Grades, als er je früher vorlag. Epimetheische Geister befürchten eben deshalb von Tag zu Tag einen Neuausbruch des Weltkriegs. Der kann sich aber gar nicht wiederholen, denn die Spannungen sind schon heute in letzter Instanz dem Prinzip der Solidarität und nicht dem des Daseinskampfes unterstellt.

Dies ist so, weil in der Tiefe des Unbewußten das Europäertum schon lebt. Aus diesem Grunde erscheint denn die Ära des Nachkriegsnationalismus, im Gegensatz zu dem der Vorkriegszeit, als eine Ära nie dagewesener gegenseitiger Befruchtung. Man gedenke des ungeheuren Einflusses, welchen die russische Emigration, d. h. der europäisch verbliebene Teil der russischen Geistigen, auf ganz Europa ausübt. Man gedenke des geistigen Austausches zwischen Frankreichs und Deutschlands besten Geistern, eines Austausches, wie er nie intensiver war, weniger als zehn Jahre nach dem Krieg. Man gedenke der neuentstehenden europäischen Bedeutung Spaniens im Sinn einer Rezeption seines Geists seitens aller, welche zählen, der Durchsäuerung ganz Europas durch den neu-italienischen Gedanken, der zeugenden Wirkung, die sogar Ungarn und die moderne Türkei beweisen, der zwar widerwilligen, aber nicht weniger unaufhaltsamen geistigen Kontinentalisierung Englands: wenn das nicht Gemeinschaft bedeutet, dann gab es solche nie. Denn wahre Gemeinschaft ist immer ein Gespanntheitszustand, analog dem von Liebe und Ehe. Das einzigartig Produktive der Nachkriegs-Gemeinschaftsbildung beruht nun allein darauf, daß überall und in allen Hinsichten sich just die Ausschließlichkeit des Eigenen als für die anderen bedeutsam erweist; der Nationalismus, bisher Funktion des Prinzips des Daseinskampfes, wird also nunmehr zur Funktion des Solidaritätsprinzips. Damit erfahren denn alle Verhältnisse eine Verschiebung. Die Verherrlichung der eigenen Nation auf Kosten der anderen, bisher selbstverständliches Gebot, erscheint auf einmal absurd. Es wird auf einmal wieder begriffen, was Dr. Johnson meinte mit seinem harten Wort: patriotism is the last refuge of a scoundrel, und Grillparzer mit seinem Satz, daß der Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität führe. Es wird primäres Erleben, daß sich die verschiedenen Völker untereinander ergänzen. Und so lesen und hören die, in deren Seele der zukünftige Zustand schon Wirklichkeit geworden, schon heute die Tiraden, in denen ein europäisches Volk über andere hinausgehoben wird, mit ähnlichen Gefühlen, mit denen sie von assyrischen Sklavenfoltern lesen. Dieses Buch hat nun, so hoffe ich, klar gemacht, inwiefern die nationalen Unterschiede in erster Linie auf Einstellungsunterschieden beruhen. Es müßte ferner einleuchtend gemacht haben, inwiefern jede bestimmte Einstellung eben dadurch bestimmte Möglichkeiten ausschließt. Von jedem Blickpunkt ist nicht alles zu überblicken. Der Deutsche ist vom Standpunkt der Briten beschränkt, der Franzosen vom Standpunkt der Deutschen, und so ist es jeder vom Standpunkt irgendeiner Nation. Aber ebenso hat jede relative Vorzüge vor allen anderen. Und alle zusammen ergänzen sich im Rahmen der höheren Synthese des Europäertums. Ist nun der »Europäer« der höchste Mensch schlechthin? Sicher wird es bald einen entsprechenden »Übernationalismus« geben, der zeitweilig ebenso virulent werden muß, als es irgendein Nationalismus je war; das wäre dann das europäische Äquivalent des messianischen Amerikanismus. Aber auch der Europäer ist natürlich nicht der Idealmensch; seine Grenzen gegenüber dem Osten habe ich bereits im Reisetagebuche abgesteckt. Wohl aber kann er mehr sein als irgendein früherer Bewohner Europas, weil er der Weitere ist. Alle Überlegenheit beruht auf Integration des sich auf seiner Ebene Ausschließenden zu höherer Einheit.

 

Der Europäer kann mehr sein als irgendein früherer Bewohner Europas. Hier geht denn die notwendige Entwicklung in Funktion des Fatums in die nur mögliche in Funktion der Freiheit über. Dieses Problem habe ich in seiner Grundsätzlichkeit in der Neuentstehenden Welt ausführlich behandelt. Hier bedarf es nur der Bestimmung des speziell-Europäischen. Wann kann der Europäer mehr werden als jeder frühere Eingeborene unseres Erdteils? Wenn jeder als besondere Nation die anderen bewußt als Ergänzungen seiner im Rahmen Europas bejahen lernt. Dann, aber nur dann. Denn dann, aber nur dann, würde die Idee des den anderen-gleich-tun-Wollens, diese unglückselige Idee, die vor allen am Selbstmordversuch Europas schuld ist, der einer neuen Arbeitsteilung unter den Völkern Platz machen. Denn dann allein würde die psychologische Voraussetzung solcher Arbeitsteilung organische Wirklichkeit: eine molekulare Umlagerung des Selbstbewußtseins dahin, daß aller Nachdruck bei der Liebe zum eigenen Volk darauf zu ruhen käme, was dieses allein kann oder was es am besten kann. Denn damit würde aus dem, was bisher Prinzip der Eitelkeit, des Neids, des Zurückseins und -bleibens, des Statismus war, ganz von selbst ein prospektives Prinzip: die eigene Nation würde allgemein als das erkannt, was sie jedem Großen von jeher war: als Aufgabe. Es gilt – so würde dann jeder Volksvertreter fühlen – das beste, und das allein aus jedem Volk zu machen, wozu in ihm die Möglichkeit hegt. Und nicht mehr zur ausschließlichen. Selbsterhöhung, sondern zum besten eines Höheren; nicht auf Kosten der anderen, sondern zum besten aller. Und damit wäre das bisherige Volksbewußtsein von innen her überstiegen.

Was würde sich den Völkern nunmehr als vornehmste völkische Aufgabe stellen? Die Antwort ist nicht zweifelhaft: die bisherigen zu besseren umzuschaffen. Daß in Europa ganz neue Völker entstehen sollten, ist nicht gerade wahrscheinlich. Wohl mögen bisher zurückgebliebene sich irgendeinmal, wie über Nacht, an der Spitze befinden; Walter Scott kannte die Schotten noch als halbe Wilde, und heute stellen sie die modernen Aufgaben gewachsenste Bevölkerungsschicht des britischen Weltreichs dar; so mögen junge Völker, die ihre, erste Form vom neuen Zeitgeist erhielten, manchen alten, durch Vergangenheit allzu belasteten, über den Kopf wachsen. Aber da es sich bei Europa um einen wesentlich alten Erdteil handelt, insofern Indien und China ähnlich, und sein Unterschiedsbewußtsein gegenüber Amerika und Rußland vor allem darauf beruht, so ist nicht anzunehmen, daß hier umwälzende Veränderungen zu gewärtigen sind. Aber die einmal vorhandenen Völker können besser werden, die gealterten können einen verjüngenden Impuls empfangen, die noch ungefügen es zu einem Stil bringen. Heute bieten fast alle ein im ganzen schlechteres Bild als in früheren Zeiten. Die Höhepunkte hegen bei den meisten weit zurück; in den alten Kulturschichten wird allenthalben Entartung merklich; die neuaufsteigenden sind noch allzuhäufig nicht mehr als Rohmaterial. Aber dergleichen passierte von jeher, in Anbetracht der Endlichkeit aller Vererbungsreihen; und es wird auch immer wieder geschehen. Umgekehrt kann ein Volk sich immer wieder phönixartig erneuern oder eine höhere Stileinheit aus sich heraus schaffen oder in eine solche eingehen. Die meisten verkennen, wie sehr es mit den Völkern ähnlich steht, wie mit den Familien. In Wahrheit ist jede Familie von ausgesprochenem Typus eine richtige Nation. Je nachdem, welche Familientypen dominieren, sieht das Volk so oder anders aus. Die verschiedenen Menschenarten sind ja aus einer Wurzel, oder doch wenigen, nicht anders entstanden, wie aus dem Wolf auf die Dauer Möpse und Spitze wurden. Und wie Familien auf die Dauer aussterben, wie sich nur einige Typen weitervererben und andere nicht, so verändern sich die Völker entsprechend den jeweiligen Dominanten. Die heutigen Franzosen haben nur mehr ausnahmsweise äußere Ähnlichkeit mit denen, welche Clouet malte; der beste traditionelle Engländertyp kommt in der jungen Generation alten Kulturbluts nur mehr ausnahmsweise vor. Insofern stehen die Völker automatisch in unausgesetzter Wandlung. Diese führt von sich aus besserem zu, wo ursprüngliche Kraft, von lebendigem Stil beseelt, sich differenziert. Sie führt genau so von sich aus schlechterem zu, wo Differenziertes erstarrt oder verfault. Unter allen Umständen aber schwindet jede Fortschrittsmöglichkeit, wo alle Spannungen ausgeglichen sind. Alle Wertverwirklichung setzt als Medium irdische Spannung voraus. Die Inder wurden geistig groß, als die Mischung zwischen den Einwanderern aus dem Norden und den Urbewohnern einen bestimmten starken Spannungszustand stabilisiert hatte. Analoges gilt für Hellas. Wie aus der Plastik ersichtlich, war der eingewanderte Herrentypus rein nordisch; und er war ungeistig, problemlos, wie es der Schwede heute noch ist. Aber eben aus der Mischung entstand die unerhörte hellenische Geistigkeit, von den Hellenen selbst schon, vor aller Psychoanalyse, als Spannung zwischen Apollinischem und Dionysischem richtig gedeutet. Gleichsinnig fiel Englands Höchstzeit mit der Stabilisierung einer besonders glücklichen Mischung von romanisiertem Normannen- und rein germanischem Sachsentum zusammen. Und der Deutsche endlich ist menschheitsbedeutsam nicht als »nordischer Mensch«, sondern als das wesentlich geistige Wesen, als das er sich auf Grund einer sehr komplizierten keltisch-germanisch-slawischen Mischung schließlich stabilisiert hat. Der Urtypus des Deutschen ist schon lange nicht mehr Siegfried, sondern, in modernem Bilde – Stresemann. Ihm ähnlich waren alle deutschen Geistigen; auch der Goethe-Typus, der übrigens dinarisch sein soll, ist ihm verwandter als dem des Skandinaven.

Wenn der Europäer nun heute geringer erscheint, als er es früher war, und die neue Situation Europas andererseits von sich aus neue Möglichkeiten schafft, dann ist es klar, daß aus dem schlechter gewordenen tatsächlich besseres werden kann. In diesem Sinn ist es denn gut, daß der neue engere Zusammenhang Europas die Exogamie so sehr begünstigt. Nichts kann für alle Völker Europas günstiger sein als der Import skandinavischen Bluts. Ein Segen ist in Deutschland jede protestantisch-katholische Mischehe, denn der deutsche Katholik ist unter allen Umständen der Träger eines älteren Kulturerbes und der Protestant, umgekehrt, die stärkere und freiere Kraft. Eine wahre Gnade für die Unterschichten ist jede Zumischung von Kulturblut durch Bastardierung oder dank Frauen, welche in jene hinabtauchen. Ja, wer will sagen, ob nicht auch die Zumischung jüdischen Bluts, sofern sie nicht zum Rassentode führt, sich auf die Dauer als günstig erweisen wird? Sicher wird sie Intelligenz und Sensibilität verfeinern. Noch fehlen in Deutschland ja alle Anhaltspunkte zur Beurteilung dessen, was jüdische Zumischung auf die Dauer wirkt. Aber Spanien hat sie kaum geschadet. Dort fließt dieses Blut wohl in den meisten Adern, denn zur Zeit der katholischen Könige war ein sehr hoher Prozentsatz aller Bürger und Adligen jüdischen Bluts, diese wurden zwangsbekehrt, und in den ersten Zeiten wurde die Rassenfrage nicht gestellt. Im Glauben an den hohen Prozentsatz jüdischen Bluts im Spaniertum bestärkt mich der spanische Castizo, jenes extreme Nachdrucklegen aufs Blut der späteren Zeiten: dies wäre kaum erfolgt, wenn nicht die Unreinheit des Bluts die Regel gewesen wäre. Ja, wer weiß, ob sogar Negerblut für die Dauer schadet? Das so überaus häufige Wollhaar der Italiener geht gewiß auf schwarze Sklaven der Römerzeit zurück. Puschkin und Alexandre Dumas hatten beide schwarze Urgroßväter. Und was das gelbe Blut betrifft, so ist gar der Begründer der Paneuropa-Bewegung Halbblut-Japaner. Nein, gegen Mischung ist a priori nichts zu sagen, denn alles bestehende sogenannte reine Blut geht an irgendeinem Punkt auf stabilisierte Mischung zurück.

Vor allem aber gleicht sich auf die Dauer jede Spannung, die Bedingung aller Werteverwirklichung, aus, und da gilt es neue zu schaffen. Und hiermit gelangen wir zum eigentlichen Problem des Europäertums, dem Problem seines besonderen Stils. Der lebendige Europäer ist etwas anderes als der Franzose, Engländer, Deutsche usw. als sich selbst letzte Instanz, wie das Gemälde eines Rembrandt ein anderes ist gegenüber dem eines Meissonier. Und daraus folgt: nicht nur die Gesamtsynthese des Menschen, auch seine Komponenten müssen beim Europäer andere sein, als sie es bei den bisherigen Nationen waren. Jede Veränderung im Gesamtorganismus findet in der Veränderung jeder Zelle ihre Spiegelung; jeder neue Gesamtzustand schafft von sich aus andere Bestandteile. Und tatsächlich sterben die alten: wir erlebten heute keine so frenetischen Wiederbelebungsversuches seiner, vom altpreußischen Monarchismus bis zum Wotanskult, von den Ideen der französischen Revolution bis zu Cäsars Idee von der natürlichen Grenze der lateinischen Welt, wenn dieses Alte nicht dem natürlichen Tode nahe wäre. Der ökumenische Mensch kann, in der Tat, weder Altpreuße noch Kurhesse, noch Franzose Poincaréscher Artung, noch ein John Bull sein. Seine Weite schließt von sich aus viele Gestaltungen aus. Hier ereignet sich denn das gleiche Wunder, das sich in jeder organischen Metamorphose, von der embryonalen Entwicklung bis zur Vererbung, zeigt. Gewisse Gestaltungen vergehen ganz. Andere vererben sich als unsichtbare, andere als sichtbare Gene. Zu Beginn dieses Kapitels sahen wir, wie Alt-Indien, Ägypten, China, Judentum, Hellas, Rom und europäisches Mittelalter unvermischt im Menschheitskörper fortleben. In »Jesus der Magier« und »Geisteskindschaft« habe ich gezeigt, wie im gleichen Sinne alle großen Geister persönlich fortleben, ob man sich ihrer bewußt erinnert oder nicht. Insofern gilt die christliche Forderung eines persönlichen Verhältnisses zu Jesus für das einzig produktive Verhältnis zu jedem großen Geist. Nun, ganz im gleichen Sinne werden die echten Stileinheiten des bisherigen Europas von selbständigem und allgemeinem Wert auch im neuen fortleben. Aber auch nur die werden es tun; alle bloßen Provinzialismen, erst recht natürlich alle Un-Formen, werden ganz vergehen. Und das sollen sie auch: es kann Besseres an die Stelle des Früheren treten, und vom Menschen als biologischer Einheit sowohl wie als Gottes-Kind geht ja dabei nichts verloren.

Dies führt uns denn zur Frage der Blutmischung zurück. Selbstverständlich ist jede Stileinheit als solche eine rein geistige Einheit. Und sie ist, wo es sie gibt, das Primäre; der neue Sinn schafft einen neuen Tatbestand; ja neuer Sinn belebt neu sogar im Verstande physischer Vitalisierung; so war die Wirkung des Christentums und des Islams im Mittelmeerbecken, so ist es heute die des westlichen Geists in der östlichen Welt. Aber soll eine neue Stileinheit entstehen, dann müssen die alten Gestaltungen auch auf ihrer Ebene eingeschmolzen werden; es muß auch eine rein physische Verjüngung stattfinden. Dies ist denn der Grund, warum noch keine Kultur anders wie im Zusammenhang mit neuer Blutmischung geboren ward. Zwischen physischer und geistiger Verjüngung besteht ein Entsprechungsverhältnis: einerseits verjüngt jeder neue geistige Impuls als solcher; andererseits ist die Rezeptionsmöglichkeit neuer Geistesimpulse an physiologische Lockerung gebunden, weshalb es doch immer neue Völker sind, die die neuen Impulse übernehmen; denn recht eigentlich darum handelt es sich schon, wenn neue Schichten hochkommen oder die Angehörigen des gleichen Glaubens aus verschiedenen Stämmen untereinander freien. Ohne eine günstige neue Blutmischung ist Völkerverjüngung aus dem gleichen Grund nicht möglich, wie Verwandtenehen für die Dauer verderblich, wirken. Heute nun bedarf es solcher Verjüngung wie nie seit der Völkerwanderung. Die neuentstehende Welt erscheint in bezug auf die alte dermaßen neu, die Verwandlung reicht dermaßen tief ins intimste Zellengewebe hinein, daß die alten Kristallisationen nur mehr hemmend wirken. Und schon seit lange bereitete sich die Krisis auch auf dieser Ebene vor. Es war kein Zufall, daß in den Adern so außerordentlich vieler repräsentativer Geister des letzten halben Jahrhunderts Judenblut floß; der Mischtypus des Amerikaners könnte nicht so allgemeinwerbende Kraft beweisen, wenn er nicht eben die Manifestation eines neuen Einsinnigen, Positiven, Zeitgeistgemäßen ermöglichte; schon seit längerer Zeit lassen sich bei beinahe jeder höheren Intelligenz unter Engländern irische oder wenigstens schottische Vorfahren nachweisen. Gleiches und ähnliches muß in der nächsten Zukunft immer stärker in die Erscheinung treten. Frankreichs beste Zukunftsgewähr sehe ich in diesem Sinn in der großen Anzahl russischer Emigranten, die es bevölkern; das russische Blut wirkt nämlich überall als Dissolvens; bei der großen Starrheit der heutigen französischen Seelenstruktur ist Lockerung das eine, was ihr nottut. Und so muß sich auch der Deutsche in vielen Hinsichten wandeln, wenn er als Volk europagültig werden will. Er muß sich verfeinern, sich seelisch differenzieren, höheren Formensinn ausbilden, größere Haltung gewinnen. Ja, der Deutsche muß als Nationaltypus das werden, was er als großer Einzelner immer war: mehr als Nur-Deutscher. Er muß das werden, was einmal als politisches Ungebilde eines Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in die Erscheinung trat. Zu welchen großen Deutschen gehörte die romanische Form nicht notwendig hinzu? Man abstrahiere von Goethes klassischer Bildung und seiner Sehnsucht nach Klassik, und er wäre nicht da. Gleiches gilt heute von Stefan George. Gleiches gilt von Friedrich II., dem Hohenstaufen, von Friedrich dem Großen, von Bismarck, dem ersten Meister, am Hof Napoleons III., des französischen esprit. Das Gleiche galt ganz allgemein vom gesamten deutschen Adel: dessen Normen waren und sind allgemein romanischen Ursprungs, denn dem Deutschen fehlt ursprünglich der Sinn für Form. In Hölderlin war wiederum Griechentum persönlich lebendig, in Nietzsche Romanen- und Slawentum, ebenso in Leibnitz. Ja, der deutsche Geist war in seinem Höchstausdruck immer mehr als deutsch; er stellte von jeher eine übernationale Spannung dar. So liegt es denn im Deutschen von Hause aus mehr als in jedem anderen europäischen Volk, den Europäertypus aus sich heraus zu entwickeln. Hier biegt seine ganze mögliche große Zukunft in der Nachkriegswelt.

 

Bei der Behandlung der einzelnen Nationen wurde genug gesagt, um jedem Einsichtigen ihrer Vertreter nahezulegen, von selbst darauf zu kommen, inwiefern er an der seinen arbeiten soll. Es geschah, wo irgend möglich, mit Humor, um schädigenden inneren Gegenbewegungen vorzubeugen. Und das spanische Motto insistir nunca ist mehr als irgendwo Völkern gegenüber am Platz. So will ich über dieses spezielle Problem nichts weiter sagen. Und was gar Ratschläge für Blutmischung betrifft, so wäre es Vermessenheit, hier jetzt schon Bestimmtes predigen zu wollen. Nur von Einsicht geleiteter richtiger Instinkt vermag, wie ich's im Kapitel »Von der richtigen Gattenwahl« des Ehebuchs ausgeführt habe, für die Dauer das Richtige zu schaffen. Zum Schluß sei denn hier nur gezeigt, inwiefern Europa als Ganzes sich umstellen, worin es seine wahre Aufgabe sehen muß, um als positiver Faktor der Menschheitsentwicklung weiterzubestehen.

Mit seiner materiellen Vormacht ist es natürlich aus. Es ist gegenüber der neuen Welt sehr schwach, sehr klein geworden. Auch seine Vormachtstellung im Osten wird bald zu Ende sein. Vielleicht rückt gar das industrielle Zentrum unseres Planeten nach Asien hinüber. Erfindung ist schwierig, nachahmen kann der Affe. Bald wird all unser technisches Können menschliches Gemeingut sein. Bald werden wir Europäer, wenn wir uns mit unseren Errungenschaften brüsten, so angesehen werden, wie Cornelius Nepos geschähe, wenn er mit dem Anspruch auf allgemeine Verehrung unter uns träte: wir sind unsere eigenen Klassiker geworden. So ist unser Prestige, der wichtigste aller Machtfaktoren, hin. Vor allem aber unterminieren die sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte unsere materielle Macht. Hierüber wurde im Baltikum-Kapitel das Nötige gesagt. Unter diesen Umständen zwingt die bloße Selbsterhaltung Europa, sich auf das einzustellen, was es am besten kann, was ihm niemand nehmen kann. Das nun ist seine Geistigkeit.

Europas ganze Bedeutung beruhte von je auf ihr; wer das nicht weiß, versteht den Begriff »Geist« falsch. Es handelt sich nicht um Intellekt, Logik, Prinzipien und dergleichen: Geist ist ganz allgemein das Sinn-Prinzip im Menschen, der Urgrund aller Schöpfung, aller Form, aller Initiative, aller Übertragung und subjektiv alles Verstehens. Die zwei Grundkategorien, im Rahmen derer er sich äußert, sind die, welche man seit Griechentagen Logos und Ethos heißt. Auf Logos und Ethos beruht nun alle europäische Bedeutung. Rein ethisch war die Bedeutung der Juden, die, obschon kein europäisches Volk, an der Bildung des europäischen Geists in höchstem Grade mitbeteiligt sind und heute zum mindesten im selben Sinne notwendig zu uns gehören wie bestimmte Parasiten zum Darm. Der Logos und das Ethos des Christentums, nicht sein Eros, sind die Urquelle seiner historischen Macht. Im Logos und Ethos, in verschiedener Gewichtsverteilung, lagen die »Sinne« des Griechen-, des Römertums. Mit den Germanen trat vor allem ein neues höheres Ethos in die Welt. Mit Renaissance und Reformation glitt der Akzent wieder mehr auf den Logos-Pol. Aber unter allen Umständen war es der Geist, auf den in Europa immer alles ankam. Es ist ein durch nichts zu rechtfertigendes Vorurteil, im Fall von Europa den Akzent nur im mindesten auf den Eros zu legen. Selbstverständlich war auch dessen Prinzip in ihm am Werk. Aber wurde es so überstark herausgestellt, so hing dies mit dem Leonardo-Wort zusammen: dove si grida, non è vera scienzia. Jeder Inder, jeder Chinese, jeder Araber lebt mehr Liebe als ein Europäer. In diesem Vorwiegen des Logischen und Ethischen liegt eine Beschränkung, gewiß, doch eine im großen nicht zu ändernde, mit der der Europäer sich abzufinden hat. Vor allem aber liegt in dem dem Negativen korrespondierenden Positiven seine ganze Bedeutung. Überall macht Beschränkung den Meister. Wir wären nicht die berufenen Träger der Geistigkeit auf Erden, wir wären nicht, wie ich's im Reisetagebuch formulierte, Gottes Hände, wenn nicht auf dem Geistigen bei uns der ausschließliche Bedeutungsakzent ruhte. Griechische Form hegt noch Ost-Asiens Kunst zugrunde, jüdisches Ethos allem in der Welt wirkenden Ethos überhaupt. Alle Wissenschaft ist europäischen Ursprungs. Was aber das Christentum betrifft, so beruht dessen expansive und wandelnde Kraft eben darauf, daß es auf die Praxis gerichtetes Verstehen verkörpert. Es gibt in Asien wenn nicht tiefere, so doch zweifellos ebenso tiefe Religionen; aber in ihnen lebt nicht das Prinzip des erdbeherrschenden Geists. An und für sich ist Geist ja, wie ich im Adyar-Kapitel des Reisetagebuchs zeigte, irdischmachtlos; selbst die gewaltigste Spiritualität vermag nichts, wo ihr der, an welchen sie sich wendet, nicht entgegenkommt – man gedenke der Legende vom zweiten Schacher am Kreuz. Im Europäer ist nun der Geist wesentlich erdbeherrschend. Dank ihm kann er auf Erden historisch wirken. Das macht, daß der Europäer eine Synthese von Geist, Seele und Körper darstellt, dank der auf Grund des Korrespondenzgesetzes von Sinn und Ausdruck das Letztgeistige irdisch wirksam wird.

So beruhte Europas Bedeutung von jeher auf seiner Geistigkeit. Die Völker, bei denen der Akzent nicht auf ihr lag, blieben ohne Menschheitsbedeutung. Daß Europa zeitweilig, hin und wieder, auch äußerlich mächtig erschien, war nicht primärer Ausdruck des europäischen Geists, sondern dessen Folge im Reich der Anwendung, so wie Vermögen auf Grund von Erfindungen entstehen, die ein weitabgewandter Forscher aus rein geistigem Interesse betrieb. Heute nun beruht Europas Bedeutung auf seiner Geistigkeit wie nie zuvor. Denn das ist das eine, worin es noch einzig ist. Es ist zugleich das eine, was gerade jetzt in unerhörtem Grade steigerungsfähig ist. Alle Sinnesverwirklichung auf Erden hat empirische Spannungen zur Voraussetzung. Diese nun steigern sich in Europa in einem Grad, wie es nie früher vorkam. Extrem gespannt ist das innere Verhältnis unseres Kontinents gegenüber dem neuen Westen wie dem neuen Osten. Die Annäherung der verschiedenen Völker Europas untereinander hat ihrerseits extreme Spannung-Schaffung zur Folge. Dazu kommt die äußere Notlage, sich durch geistige Überlegenheit zu behaupten. So kann Europa eben jetzt in die Ära seiner höchsten Geistigkeit eintreten. Jetzt können auch die an sich ungeistigen Völker Europas an ihrem Werke teilnehmen. Die Spannung an sich zeugt neue Fähigkeiten und wer nicht führen kann, mag dennoch, als Europäer, immer noch ein besserer Zweiter sein als irgendein Nicht-Europäer. Doch die Hauptursache dessen, warum Europa in dieser einen Hinsicht größte Zukunftsaussichten hat, beruht darauf, daß Geistigkeit nur dort regieren kann, wo aller Nachdruck auf dem Einzigen ruht und seinem Wert. Alle Werte sind personal. Wie Christus den unendlichen Wert der Menschenseele proklamierte und lehrte, daß kein Weltgewinn den Schaden an der eigenen Seele aufwöge; wie alle Ethik im freien Entschluß des Einzigen ihren Sinn hat; wie jede schöpferische Originalität im Einzigen wurzelt, wie es kein anderes als persönliches Verstehen gibt: so steht und fällt die Herrschaft des Geists auf Erden damit, daß der Bedeutungsakzent auf dem Individuum ruht und nur auf ihm. Das nun tut er heute allein beim Europäer. Was man die Genialität der nordischen Rasse heißt, die zweifelsohne geistig unbegabter ist als manche südliche, beruht einfach darauf, daß der nordische Mensch physiologisch Individualist ist. So verhalf sein Blut überall dem Einzigkeitsprinzip, dem eigentlich Schöpferischen zur Geltung. Aber gleichviel, wie es mit der nordischen Frage stehe: heute vertritt Europa, welch Blutes immer, allein auf Erden das Prinzip der Einzigkeit Vgl. die genaue Deduktion dieser entscheidend wichtigen Erkenntnis in meiner Wiedergeburt und im Vortrag »Der Mensch aus kosmischer Schau« im Leuchter 1927..

Damit hätten wir denn die konkrete Bestimmung dessen gefunden, worin Europas Aufgabe im kommenden Zeitalter besteht. Sie besteht im Vertreten des Prinzips des Individualismus. Sie liegt in direktem Gegensatz zu dem, was desorientierte Weltverbesserer auf Grund des Erlebens des Weltkriegs wähnen. Europas Zukunft liegt nicht im Sieg des Sozialismus. Ich bin der letzte, den ungeheuren Wert des sozialistischen Gedankens zu verkennen, am wenigsten in seiner Verkörperung im historischen Materialismus. Tag für Tag krampft sich das Herz in mir zusammen, wenn ich sehe, wieviel mehr minderwertige Kinder, nicht nur im physischen, sondern auch im geistigen und moralischen Verstande, in armen Familien erwachsen, als innerhalb vornehmer Häuser; dies beruht ohne jeden Zweifel auf materiellen Umständen. Wäre es anders, in sozialer Niederung verharrende Bastarde, deren es Millionen gibt, würden ihren hochgeborenen Vätern gleichen; wäre es anders, man fände es nicht selbstverständlich, wie es fast jeder tut, daß solche in der mütterlichen Schicht verbleiben. Und umgekehrt, die häufigen Bastarde, die den großen Namen ihres nicht-wirklichen Vaters tragen, würden nicht allgemein ganz natürlich als der pseudoväterlichen Schicht zugehörig anerkannt. Immer wieder habe ich gestaunt, wie selbstverständlich getreue Untertanen von der »wahren« Abstammung ihrer Landesherren reden, ohne daß dieses ihren Legitimismus beeinträchtigte. Der historische Materialismus hat in sehr hohem Maße recht; und es beweist in meinen Augen niedrigste Hartherzigkeit und radikal bösen Willen, dies abzuleugnen. Die sozialistische Welle, die heute über unseren ganzen Planeten hinfegt, und trage sie noch soviele Höhen und Berge ab, ist unmittelbar, ein Segen. Nachdem wir endlich soweit sind, materielle Werte schaffen zu können, nachdem es nicht nur mehr den Weg des Erbes unverzinsbarer Nibelungen-Horte gibt, muß es dahin kommen, daß Wohlstand Normalzustand wird. Und zur Erreichung dieses Ziels ist tatsächlich kein Opfer zu groß. Wenn man weiß, wie furchtbar die Lage der Unterschichten bis vor kurzem war und in außereuropäischen Ländern heute noch ist, nachdem man ferner weiß, daß das geistig und moralisch Niedrige, was ihm nachzusagen ist, zum mindesten zu 70% auf den üblen äußeren Umständen beruht, muß alles darangesetzt werden, um das Allgemein-Niveau zu haben. Es muß vor allem die Lohnsklaverei aufhören, die darin besteht, daß Arbeit mit Ware gleichgesetzt wird. Weil es darauf an erster Stelle ankommt, daß das allgemeine Niveau gehoben werde, kann sich, sozial beurteilt, der spirituelle Gandhi mit Lenin berühren. Doch was für Rußland und Indien Evangelium sein kann, kann es für Europa nicht mehr. Europa hat den sozialistischen Gedanken in die Welt gesetzt. Es hat ihn, soweit als ohne Vernichtung der europäischen Kulturtradition möglich ist, bereits verwirklicht oder wird ihn doch bald verwirklicht haben. Also kann es bei ihm, sofern es noch Lebenskraft hat, nicht mehr verweilen. Und es hat Lebenskraft, mehr denn je. Es verjüngt sich ja, und wird sich, je mehr »Europa« Wirklichkeit wird, in der inneren Verwandlung seiner Komponenten immer mehr verjüngen. Also können sich ihm neue und höhere Ziele stellen. Der Sozialismus ist notwendig als Verbreiterer der Basis höherer Problemstellung. Bei ihm zu bleiben, ist Sache der noch Rohen. Der Individualismus steht an sich genau so viel höher als der Sozialismus, als Christi Lehre vom unendlichen Wert der Menschenseele über der antiken Sklavenverachtung stand. So ist Europas Aufgabe zwar nicht anti-, wohl aber jenseits-sozialistisch. Und darauf beruht seine ganze große Zukunftsmöglichkeit.

 

Knüpfen wir jetzt an dem Punkte wieder an, an dem uns klar ward, daß jede Monade unter den Menschen ihre Qualifikation und Stellung auf Grund ihrer spezifischen Relation zum Ganzen erhält. Wir sagten damals, Europa konstituiere sich zwangsläufig auf Grund seiner Gegensatzstellung zu Amerika und zum Osten. Was sehen wir nun in Amerika? Dort hört das Individuum unmittelbar zu existieren auf, trotz aller Ellbogenweite auf dem Gebiet der Leistung; die ganze Entwicklung bewegt sich in der Richtung der Standardisation; die Sitten werden innerhalb jeder Schicht so uniform, wie sie es nur je in Regimentern waren. Beruhte das Gleichheitspostulat zuerst darauf, daß daraufhin allein ein Zusammenleben der Allzuverschiedenen möglich war, so wirkt es nun immer mehr auf die Natur zurück. Das Ideal gleichen Denkens, gleichen Fühlens wird unaufhaltsam Wirklichkeit. Der amerikanische Individualismus gilt heute einzig und allein noch auf geschäftlichem Gebiet, insofern jeder tun kann, was ihm Verstand und Macht zu tun erlauben. Gedankenfreiheit hört mit entsetzenerregender Geschwindigkeit zu bestehen auf. Das Individuelle wird heute nur mehr ausnahmsweise als Wert verstanden. Geistige Interessen als solche gibt es kaum: aller geistige Wert wird in der Anwendung gesucht, und zwar in der Anwendung auf den kollektiven Nutzen. So will jeder immer mehr allen anderen gleichen. Jede Schule behauptet »demokratischer« als die andern zu sein, womit sie meint, daß sie originalitäts- und überlegenheitsfeindlicher als die anderen ist. Immer mehr wird der Mann auf der Straße zum Ideal. So führt das Majoritätsprinzip zu einer Tyrannei, wie es nie eine mächtigere gab. Denn sie bewirkt und schafft ja das Glück des Menschen auf der Straße, zumal sie einen Optimismus oktroyiert, der, so wenig er dem wahren Zustand entspricht, desto mehr wie der verbotene Alkohol wirkt. Das kann nun zunächst von Jahr zu Jahr nur schlimmer werden. Erstens primitiviert sich die Amerikanerseele. Dann werden auch drüben, über kurz oder lang, die Schichten zur Geltung gelangen, die heute keine haben. Die Spannung zwischen der alten Kolonialkultur und dem sich seiner selbst bewußt werdenden jungen Leben muß immer größer werden, zumal jene schon heute greisenhafte Züge trägt, und je größer solche Spannung, desto mehr droht radikaler Wandel. Unter allen Umständen rückt Amerika unaufhaltsam von Europa ab. Zwar zweifle ich nicht an seiner späteren Zukunft: es wird jenseits des Wassers eine neue originale Kultur entstehen, psychologisch nicht von der europäischen Wurzel allein, sondern auch von der indianischen und afrikanischen gespeist. Sie wird dem Geist des Kontinents entsprechen, vermutlich nicht geistig, sondern religiös, sozial und praktisch sein, so wie es die der Inkas war. Und zu deren Entstehung bedeutet der Untergang der Kolonialkultur die unerläßliche Vorstufe. Zunächst muß sich Amerika primitivieren, denn nur aus Kindern werden einmal normale Erwachsene. Späterhin mag die Vermählung der Urgeister Europas, Amerikas und Afrikas in neuer Landschaft ähnlich produktive Spannungen schaffen, wie analoge Vermählung dies in Indien und Hellas tat. Ich persönlich erwarte von Amerikas fernerer Zukunft viel; sicher geht die Prophezeiung des Reisetagebuchs noch in Erfüllung. Aber zunächst muß Amerika, in die Primitivität zurückversinkend, seine ganze Energie im Physiologischen erschöpfen. Das tut alle Jugend; der heutige amerikanische Idealismus ohne Gegenstand spiegelt nur im großen wieder, was jeder Jüngling durchlebt. Die Zeit von der Mayflower bis vor dem Weltkrieg, mit Washingtons Verfassung, wird einmal als Äquivalent dessen gelten, was das goldene Zeitalter für Griechenland bedeutete. Aber was für Amerika gut ist, mag leicht der übrigen Welt Verderben bringen. Es hat nun einmal die materielle Macht, die unter allen Umständen das größte Prestige besitzt. So kann seine an sich gesunde Primitivierung leicht so lange als Fortschritt mißverstanden werden, daß darüber geistige Nacht auf unserem ganzen Planeten hereinbricht …

Und nun zu Rußland. Zunächst sei kurz darauf hingewiesen, wie sehr Amerika mit dem bolschewistischen Rußland konvergiert. Auch seine Weltanschauung ist heute materialistisch und antimetaphysisch. Die sexuelle Emanzipation, die Amerikas jüngste Weiblichkeit verfolgt, unterscheidet sich in nichts Wesentlichem von den russischen Bestrebungen und Erfüllungen. Ebenso beginnt die amerikanische Kasten-Ethik immer mehr der russischen Klassen-Ethik zu gleichen, und die dortige Justiz immer mehr der russischen Klassenjustiz; auch die amerikanische Intoleranz gegenüber Un-Amerikanischem wird der russischen immer ähnlicher. Gleiches gilt von der maschinellen Gleichmacherei, die auch auf ähnlichen Ursachen beruht. Je niedriger die ursprüngliche soziale Schicht, desto mehr ist das Kollektive Ideal. In Amerika wie Rußland sinkt das Individuum im gleichen Sinn in die undifferenzierte Gruppe zurück. Im übrigen aber ist Rußland ein Spezifisches, und gerade dieses Spezifische schafft zu Europa die Spannung. Das heutige Rußland hat eingestandenermaßen den kollektiven Menschen im Gegensatz zum selbstbestimmten Individuum zum Ziel. Dort hofft man geradezu (man erinnere sich des Zitats im Italien-Kapitel) die bisher leider unvermeidliche Persönlichkeit einmal durch einen Apparat zu ersetzen. Wer selbst nicht Rußland kennt, d. h. seine Seele innerlich versteht, der assimiliere René Miller-Fülöps Geist und Gesicht des Bolschewismus (Amalthea-Verlag), das einmal als das klassische Buch über die leninistische Phase gelten wird; es wird gewiß dem Positiven des neuen Rußland nicht gerecht, desto vollkommener jedoch dem, was Rußland für Europa bedeutet. Der Bolschewismus als Volksbewegung – der natürlich ein ganz anderes ist, als was seine doktrinären Vorkämpfer meinen – ist nur aus der im Unbewußten fortwirkenden Leibeigenschaft heraus zu verstehen: er verspricht das paradiesische Reich der namenlosen Masse. Und wie es zu gehen pflegt: das Zukunftsideal hat mit dem, was es am meisten bekämpft, die größte Ähnlichkeit. Das russische Arbeiterideal erinnert an nichts so sehr, als an den Zustand einer römischen Trireme, wo die Sklaven, zu bestimmten Stunden abgelöst, nach den Hammerschlägen des Aufsehers im Takt die Ruder führten. Da der Bolschewismus das Paradies für solche vorbereitet, in deren Seele die Leibeigenschaft noch fortlebt, ist auch der Maschinen-Gott, den er an die Stelle des Christengotts zu setzen strebt, kein Ungeheuerliches. Dem armen Teufel ist das Essen das Heiligste; für ihn ist der Materialismus die angemessenste Religion. Zeigt dies sich heute erst, so hegt dies nur daran, daß erst heute materielle Mittel bekannt sind, den materiellen Allgemeinzustand zu heben. Damit nehme ich von dem nichts zurück, was ich in der Neuentstehenden Welt zugunsten des Bolschewismus schrieb. Zweifelsohne ist er heute das Evangelium für die Massen des Ostens, denn diesen tut heute in erster Linie materieller Aufstieg not; zweifelsohne sind die führenden Bolschewisten echte Idealisten. Zweifelsohne herrscht unter der heute führenden Schicht eine echte Idealität und ein frisches neues Leben. Die symbolische Bedeutung Moskaus für den Osten im prospektiven Sinn steht gar nicht in Frage. Aber unmittelbar verächtlich erscheint mir der Europäer, der darüber die Tatsache vergißt, daß Millionen gerade der Menschen, die unseren, den europäischen Geist, in Rußland verbreiteten, auf scheußlichste Weise hingeschlachtet wurden, unmittelbar verächtlich zumal der Deutsche, der auf diesen Hinweis hin überlegen bemerkt: Revolutionen werden nicht in Handschuhen gemacht; dergleichen sagt nur der, der persönlich, zu feige ist, auch nur gegenüber einem Schutzmann aufzumucken. Unmittelbar verächtlich dünkt mich der Europäer, der darüber hinweggeht, daß es für den Bolschewismus nur Klassenethik gibt: was für die sogenannten Arbeiter geschieht, ist gut; allen anderen gegenüber ist schlechthin alles erlaubt. Das ist ein niedrigerer Standpunkt als der irgendeines bekannten wilden Stamms; das ist unzweideutige Verbrecherethik. Sie ist nicht eines Geists mit der katholischen Inquisition, denn diese glaubte ehrlich, durch Verbrennung die Seele des Ketzers zu retten, während die Tscheka nur den materiellen Vorteil einer bestimmten Menschenklasse wahrt. Hier ist der herrschende Satan nicht Luzifer, sondern jener Teufel, den Dostojewsky schildert: ein schäbiger städtischer Intelligenter mit einer Lakaienseele. Die neu-russische Ethik ist zu verstehen und insofern zu entschuldigen allein aus dem Geist des russischen Sektierertums. Lenin pflegte zu sagen: es tut nichts, wenn drei Viertel aller Menschen zugrunde gehen, wenn nur das überlebende Viertel kommunistisch ist. Das ist, insofern Lenin ein großer Mann war, religiöser Fanatismus. In der Tat ist die entscheidend wichtige Erkenntnis, die wiederum Miller-Fülöp uns vermittelt hat, die, daß der Bolschewismus grundsätzlich eines Geists ist mit allen echtrussischen Sekten. Sie alle wollen das Himmelreich auf Erden verwirklichen; sie alle standen in Opposition zur Kirche vor allem deshalb, weil deren Heilsversprechen nicht genügend positiv und irdisch war. So war auch die ganze russische Intelligenz von jeher utilitarisch; geistige Interessen um ihrer selbst willen kannte sie nie; man erinnere sich des Ausspruchs Leo Tolstois, ein einziges Paar Stiefel sei wertvoller als der ganze Shakespeare. So ist denn die bolschewistische Diesseitigkeit in erster Linie typisch-russisch. Ihr Idealismus und Fanatismus ist eines Sinns mit dem irgendeiner russischen Sekte. Verabscheut der Bolschewist den Bürger, sieht er in der Freiheit ein bürgerliches Vorurteil und im Niedermetzeln der Ketzer keine Sünde, so hat dies keinen anderen Sinn, wie die Verurteilung der herrschenden Kirche im großen, oder im kleinen des Tabakrauchens, oder die Selbstverstümmelung oder die Selbstverbrennung echter Fanatiker, wie der Duchoborzen und Chlysty. Nun wird es beim heutigen Zustand in Rußland gewiß nicht bleiben. Schon die Erziehung steht dafür Gewähr: werden die Kinder unmittelbar zum Ungehorsam erzogen, so muß dies zur Folge haben, daß die nächste oder übernächste Generation ebenso autoritätsungläubig werden wird als die heutige autoritätsgläubig ist. Insofern wird also Rußland amerikaähnlich werden, was übrigens alle seine Kenner schon vor dem Weltkrieg als seine wahrscheinlichste Zukunft voraussagten; hier sieht man das umgekehrte Gefälle wie jenseits des großen Teichs. Ebenso wird entsprechend der die russische Seele beherrschenden Polarität das heute herrschende »Tier« sicher wieder einmal dem »Gotte« wenn nicht Platz machen, so ihm doch wieder irgendeinen Platz an der Sonne einräumen. Insofern sind die Eurasier wohl als die heredes designati der orthodoxen Bolschewisten als geistige Führer anzusehen. Aber asiatisch wird Rußland auch dann bleiben; seine europäische Periode ist um. Und vor allem wird es kollektivistisch bleiben. Der Kommunismus war in irgendeiner Form jedes Russen Ideal. Nie fühlte er sich als Besitzer im Recht; immer hatte er als irgendwie Bevorzugter ein schlechtes Gewissen. Deshalb wird der Nachdruck in Rußland für lange, lange Zeit auf den dumpfen Massen ruhen bleiben. Und da diese noch ganz barbarisch sind, mit Urherdeninstinkten, so kann es in Rußland so bald keine neue Kultur geben. Jetzt ist wohl klar, daß Europa mit allem, was an ihm Wert ist, in ebensolchem Gegensatz zu Rußland steht wie zu Amerika. Und auch dies auf lange Zeit hinaus. Der Russe ist primitiver, als der Amerikaner aller Voraussicht nach je werden wird. Ich bin einer größten Zukunft für Rußland gewiß, einer größten in jedem Sinn. Sicher wird im Bereich dieses wunderbar reichbegabten, sowohl, kraft- wie seelenvollen Volkstums einmal eine der bedeutsamsten Menschheitskulturen aufblühen. Aber die große lichte Zukunft, die ich voraussehe, kann erst nach Jahrhunderten dämmern. Bis dahin ist Chaos Unvermeidlichkeit.

Äußerlich wird Amerika als Wirklichkeit und Symbol und Rußland zum mindesten als letzteres in der nächsten Zukunft auf alle Fälle vorherrschen. Warum? Weil in Zeiten der allgemeinen Barbarisierung das Primitive dem Zeitgeist am besten entspricht. Es ist nun einmal das Zeitalter des Chauffeurs und des Negertanzes. Hier sei denn ein weiteres Wort über den sozialen Fortschritt gesagt. Jedes Lebensphänomen ist vieldeutig. Das des herrschenden sozialen Gedankens hat nun auch den Sinn, daß die Einzelseele in die primordiale Gruppenseele zurücksinkt. Das amerikanische Ideal des Service, vermeintlich das höchste der christlichen Zivilisation, deckt sich psychologisch mit der Norm jedes Negritostamms. Es ist ein furchtbares Zeichen der niederlagebedingten deutschen Demoralisation, daß sonst ernstzunehmende Vertreter des deutschen Geists im Ideal Henry Fords den Exponenten eines höchsten Ethos, ja gar des Vornehmheits-Ethos sehen. Das Service-Ideal reicht über das der sozialen Nützlichkeit nicht hinaus; es weiß vom Einzigen nichts. Ein hoher standard of living, nicht das Heil der Seele, ist ihm höchstes Ziel. So wird die Produktion zum Selbstzweck, eine Absurdität, die sich als solche auch schon praktisch darin erweist, daß immer mehr Amerikaner auf künftige Einnahmen hin leben, womit alle Gegenwart immer mehr in Schuldknechtschaft gegenüber der Zukunft gerät – was vom Standpunkt der Seele die gleiche Fron bedeutet wie die der Juden in Ägyptenland; nur daß das Glück, das sie dem irdischen Bewußtsein bietet, auf die Höher- und Tieferentwicklung unmittelbar tödlich wirkt; hier erscheint Amerika tatsächlich satanischen Geists. Und ebenso ist es ein furchtbares Zeichen der Demoralisierung und Entgeistigung, daß eine Philosophie (wohl zu unterscheiden von der psychotherapeutischen und pädagogischen Methode) wie die Alfred Adlers, die auf den »Mitmenschen«, also einen Relationsbegriff, den Nachdruck legt, nicht für menschenfeindlich gilt Vgl. auch meine Studie »Vom falschen Gemeinschaftsideal« im 14. Heft meines »Weg zur Vollendung«.. Was Adler als Wertschöpfer will, was Amerika als Wirklichkeit vertritt, ist, von der Seele her beurteilt, identisch mit dem Ideal des bolschewistischen Kollektivismus. Der Mensch soll wieder in der Gruppe untergehen. Gewiß bedeutet diese Rückbildung den Weg zur Verjüngung, ganz abgesehen davon, daß sie andererseits, in äußerlich-technischer Hinsicht, absoluten Fortschritt einleitet; letzteren stelle ich, noch einmal, wo er vorliegt, gar nicht in Frage. Aber es handelt sich im Osten und im Westen von Europa nichtsdestoweniger vor allem um eine Rückkehr zu den Müttern der Primitivität. Daraus erklärt sich letztlich die Wertfeindlichkeit von Amerika sowohl als von Rußland: Die Dimension der Werte ist die der Einzigkeit. Daraus folgt denn für Europa nicht nur ein verschiedenes So-sein, sondern das Dasein einer von der der anderen Erdteile verschiedenen Aufgabe. Ja Europa hat heute die größte Aufgabe, die sich ihm jemals, stellte. Ihm und ihm allein ist es anheimgegeben, das Heilige Feuer des Geists in der langen geistigen Nacht, die der Menschheit als Ganzem bevorsteht, vor dem Verlöschen zu hüten. Denn wenn die Mehrheit der Menschheit, zum Zweck der Verjüngung, in die Gruppenseele zurücktaucht, dann bedeutet dies geistig-seelische Nacht.

 

Daß Europa diese Aufgabe erfüllen kann, liegt daran, daß sein Eintritt in die neuentstehende Welt, und zwar Europas allein auf Erden, ohne Unstetigkeitsmoment erfolgt. Wissenschaft und Technik sind echtgeborene Kinder seines Geists: deren Rezeption bedingt deshalb keine Revolution im psychischen Gefüge. So bedeutet uns der Sozialismus nur eine Folge unter anderen des Christentums; er ist unmittelbar auf tiefstgeistige Wurzeln zurückzubeziehen. Dementsprechend sind nicht nur die europäischen Eliten, sondern auch die europäischen Massen gegen Amerikanismus und Bolschewismus grundsätzlich immun. Keine Bewegung im großen kann in Europa mehr um der Materie willen den Geist verwerfen. Es ist der ganzen übrigen Welt psychologisch voraus. Amerika muß sich primitivieren, weil jetzt erst sein Urgeist, nach langer Okkupation durch fremde Geister – die Periode des herrschenden Puritanismus war recht eigentlich die eines herrschenden Kriegsrechts von Eroberern – bestimmend wird, und dieser ist nicht minder primitiv als der russische. Des letzteren Jugend liegt auf der Hand. Der Osten und ferne Osten wiederum muß zunächst, wie in der Neuentstehenden Welt ausführlich begründet wurde, durch eine Phase des Materialismus hindurch. Und auch wo er spirituell bleibt: seine besondere Art der Spiritualität entspricht nicht mehr modernen Verhältnissen; der traditionelle indische Heilige ist nicht Vorbild mehr. Er ist vom Standpunkt psychologischer Differenziation dem Europäer nicht ebenbürtig; sein Bewußtsein ist noch im hohen Grade Kollektivbewußtsein. Jetzt gilt es aus strikt persönlicher Initiative, aus ausdrücklichem Einzigkeitsbewußtsein heraus die spirituellen Werte zu realisieren, welche Indien noch in Funktion eines undifferenzierten Gruppenbewußtseins realisiert. Damit gelangen wir denn zum Problem der Grundform Europas als Ganzheit zurück. Europas Sinn liegt in seinem Individualismus; heute mehr denn je in diesem Zeitalter des siegreichen Kollektivismus. Welcher Europäer nun wäre, mit dem Amerikaner und Russen verglichen, nicht Individualist? Der Spanier ist es als Mensch von Fleisch und Blut; der Franzose als gesellschaftliches, der Brite als politisches Wesen; der Deutsche ist als Erlebender Individualist, der Italiener als Persönlichkeit schlechthin. Aber keiner war es bis heute ganz bewußt; deshalb allein war die Groteske möglich, daß Europa zum Nährboden kollektivistischer Tendenzen ward. Jetzt nun liegen die Dinge so, daß Europa sich nur insofern überhaupt behaupten kann, als es den bewußten Akzent auf sein Individuelles legt. Denn nur dann kann es den Akzent legen auf das Qualitative. Von der Quantität her gibt es keinen Wert. Doch ganz abgesehen vom Wertproblem: auch nur irgendeinen Nachdruck auf das zu legen, was Amerika, Rußland und das erwachte Asien in erster Linie vertreten oder von Anlage wegen besser können, bedeutet verhängnisvolles psychologisches und politisches Mißverstehen. In der neuen enger zusammenhängenden Menschheit hat jede Monade Bedeutung ausschließlich auf Grund ihrer Einzigkeit. Also bedeutet jede Akzentlegung auf Sozialismus, Demokratie und Prosperität im Fall Europas ein Akzentlegen auf seine minderwertige Funktion; es bedeutet dasselbe, wie wenn Deutschland seinen Stolz nicht in Goethe, sondern im Unteroffizier erblickte, sei dieser im übrigen noch so erstklassig in seiner Art. Selbstverständlich wird auch in Europa das Sozialisierbare sozialisiert werden; das gehört ins Kapitel der pünktlich gehenden Straßenbahn. Selbstverständlich wird auch alles Amerikanisierbare amerikanisiert werden; das gehört ins Kapitel des gut organisierten Warenhauses. Aber kein Europäer sollte je weiter damit prunken, was in diesem Sinne gut funktioniert. Dergleichen können, potentia wenigstens, Schimpansen auch. Der Akzent darf in Europa einzig und allein auf dem Qualitativen und damit dem Individualistischen und Einzigen ruhen. Denn auf der heute von der Menschheitsvorhut erreichten Bewußtheitsstufe gibt es Werteverwirklichung nur mehr vom Individuellen und Einzigen her, mittels rein persönlicher Verantwortung und Initiative. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der herrschenden Natur-Mutter, der Gruppe; wir leben auch nicht mehr in dem des Mittlers, des Sohns; wir leben im Zeitalter des Heiligen Geistes, da jeder von sich aus und für sich das Heil für sich und alle zu wirken hat …

… In diesen letzten Betrachtungen sprach ich viel von »Sollen«. Das ist, weil Europa noch nicht ist; weil hier viel Spielraum für die Freiheit bleibt. Aber geschildert habe ich doch seinen wirklichen Geist genau im selben Sinn, wie ich in den früheren Kapiteln den seiner Komponenten schilderte. Ich begann dieses Buch in heiterer Stimmung. Tiefernst klingt es aus. Wie sollte es nicht? Das Dasein des ganzen schönen bunten Spektrums, an dem ich mich während des Schreibens so sehr freute, hängt heute davon ab, daß der spektroskopierte Gesamtkörper fortlebt. Und das braucht nicht zu sein. Irdische Zielsetzungen sind immer mißlich. Das herrliche Epos von Goethes Leben klang in Vernichtung aus. So manche Kultur verging, bevor sie ihren Höhepunkt erreichte. Der Gondwana-Kontinent, die Atlantis ging unter. Die menschliche Dummheit, die menschliche Trägheit ist unermeßlich groß … Ich konnte nur zeigen, was sein, was werden kann …


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