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Deutschland

Es war nicht schwer zu bestimmen, warum der Engländer grundsätzlich mißverstanden wird. Warum aber wird es der Deutsche? Er ist doch nicht tierartig, sondern allzu menschlich; und auch bei ihm, wie beim Franzosen, überwiegt, der Verstand, das Übertragbare par excellence. Jede Betrachtung Deutschlands, die zugleich richtig und allgemeinverständlich ausfallen soll, muß bei dieser Fragestellung ansetzen. Nun gibt es »den« Deutschen, genau genommen, nicht. Wie mir das Deutschtum zum erstenmal zum beunruhigenden Problem ward, da half mir niemand mehr als der greise russische Botschafter in London, Graf Benckendorff, der mich bei irgendeinem Ausspruch über die Deutschen unterbrach: »Ne dites pas les Allemands: il n'y a que des Allemands.« Jeder Deutsche ist für sich tatsächlich eine Monade ohne Fenster; daher wohl mußte der Erfinder der Monadologie ein Deutscher sein, und hieraus ergibt sich mit Notwendigkeit eine solche Mannigfaltigkeit, mag es noch so viel Gemeinschaften geben auf Typusgleichheit hin, daß man vom Deutschen nicht im selben Sinne reden darf wie vom Franzosen und Engländer. Hier ist sein Fall dem »des« Inders analog. Trotzdem tritt der Deutsche heute als Masse in historische Erscheinung, wie sonst nur der Amerikaner; insofern gibt es vom Standpunkt der anderen »den« Deutschen doch. Der wird als ein sehr Bestimmtes gesehen; als solche Bestimmtheit wird er von allen mißverstanden. So läßt sich doch von Mißverständnissen reden, welche »den« Deutschen betreffen, und von allgemein-deutschen Eigenschaften, die sie hervorrufen. Deren nun kommen, soweit ich sehe, fünf oder sechs vor allem in Betracht. Ich will sie nacheinander, doch ohne ausdrückliche Ordnung, behandeln, da sich ihre Bereiche überschneiden.

Die erste Ursache der Unverständlichkeit des Deutschen ist seine Sachlichkeit. Er ist wohl das eine sachliche Geschöpf, das Gott erschuf. Nur unter Deutschen unter allen Wesen, die wir kennen, konnte die Fichtesche Bestimmung ohne Gegenbewegung einleuchten, daß Deutschsein eine Sache um ihrer selbst willen zu tun bedeute. Selbstverständlich gelingt kein Werk, das nicht mit Liebe und insofern als Selbstzweck betrieben wird: doch von dieser Bestimmung bis zu der, daß die Sache mehr bedeute als der Mensch, ist ein sehr weiter Weg, und für Deutschland, für Deutschland allein auf Erden, gilt sie. Sei ein Werk noch so persönlich bedingt, liege sein Sinn noch so sehr in der Lebensqualität, die es verkörpert, der Deutsche sieht in der Sache das Eigentliche. In den ersten Jahren des Bolschewismus ging ich einmal den Vortrag eines bewährten deutschen Rußlandkenners hören, der gerade aus dem Sowjet-Staat kam und über dessen Wesen berichten sollte: er hielt einen sachlichen Vortrag über die Idee des Mehrwerts; also das eine, was bei der Bewertung des Bolschewismus jeder Bedeutung ermangelt. So war die deutsche Revolution von Hause aus ein Widersinn und insofern praktisch ungefährlich – gefährdeten Verwandten gegenüber vertrat ich dies von vornherein, ja ich übernahm jede Gewähr dafür, daß nichts passieren würde – weil die Revolutionäre sachlichen Erwägungen zugänglich waren. Selbstverständlich macht sich Umsturz nie bezahlt; selbstverständlich vermindert eine Agrarrevolution zunächst den Bodenertrag, selbstverständlich müssen Unschuldige leiden. Der echte Revolutionär handelt aus dem blinden »Dennoch« primärer Leidenschaft heraus. Beim Deutschen gibt es das nicht. Bei ihm entscheidet das »Sachliche« durchaus. Der 9. November 1918, den ich zufällig in Berlin verbrachte – es war die vierte Revolution, diese stereotypste aller Begebenheiten, die ich durchleben mußte –, bescherte mir zwei denkwürdige Erfahrungen. Frühmorgens begegnete mir ein Balte, ehemaliger russischer Marineoffizier, moralisch gebrochen: »Lasen Sie die Proklamation der Kieler Matrosen?« Auf meine bejahende Antwort fuhr er fort: »Die habe ich ja verfaßt; ich tat es seinerzeit in Helsingfors, um durch geschickt ablenkende Wendung einem Gemetzel der Offiziere vorzubeugen. Nun haben diese Esel sie abgeschrieben, repetieren danach.« Später ging ich mit einem Professor unter die Linden. Er schnupperte in der Luft und meinte: »Es ist, so fühle ich, allerhöchste Zeit, die Republik zu proklamieren. Kommen Sie mit zum Reichskanzlerpalais?« Ich tat es, obwohl es mich nichts anging. Der Gelehrte wollte einen der Volksbeauftragten sprechen. Die hätten keine Zeit, er möge seine Anregung dem Adjutanten zur Weitergabe mündlich mitteilen. Der Professor erklärte daraufhin, die Republik müsse sofort proklamiert werden. Bald stürzte der Adjutant zurück und fragte, die Hacken zusammenschlagend: »Meinen Herr Geheimrat, daß eine Republik genügt, oder muß es eine demokratische Republik sein?« Das ist deutsche Sachlichkeit. Sie bestimmt fast alles nach außen zu sichtbare deutsche Leben. Sie ist die Wurzel der nurdeutschen Idee des Fachmanntums: sie ist nur deutsch, obgleich es überall Sachverständige gibt, weil nur in Deutschland der Mensch seinen funktionellen Mittelpunkt im Fach hat und nicht umgekehrt. In dieser Hinsicht lernte ich während der Inflationszeit von einem jungen Kellner viel, der sich darüber, aufhielt, daß der Cafébesitzer, ein türkischer Teppichhändler, selbst nach dem Rechten sehen wollte: »Darüber kann ein Fachmann nur lachen«, schloß er im gleichen Tonfall und mit dem gleichen Ausdruck, den man so oft bei Geheimräten sieht. Später einmal saß ich bei einem Frühstück in Berlin an einer Tischecke mit Lunatscharsky und einem großen deutschen Naturforscher zusammen. Dieser wollte wissen, wie die Exzellenz – da Lunatscharsky Unterrichtsminister ist, war er natürlich in allen Hinsichten auf einer Ebene mit seinen deutschen Kollegen zu betrachten – die Heranbildung der Bewohner Turkestans zu echten Kulturmenschen betreibt. »Wir setzen natürlich die Tradition Wilhelm von Humboldts fort.« Lunatscharsky und ich konnten kaum ernst bleiben. Dem guten Teufelsdrökh jedoch war und blieb unfaßlich, wie Unterricht anders als aus rein sachlichen Gesichtspunkten geleitet werden könne. Dieses Primat der Sache in der deutschen Seele ist auch die psychologische Wurzel des meisten deutschen Idealismus: der Deutsche wagt nicht, sich für etwas einzusetzen, das er nicht sachlich rechtfertigen kann. Daher Bethmann-Hollwegs unglückseliger Ausspruch zu Kriegsbeginn. So las ich neulich in einem Prospekt des Zirkus Krone: »Meine Schöpfung ist nicht zur Unterhaltung da, sie soll belehren, das Wissen bereichern, die Weltanschauung vertiefen.« Es fehlt jeder Sinn für den Wert der Freude an sich, für deren spirituelle Qualität, der für den Engländer so charakteristisch ist, es sei denn, das Festefeiern beruhe seinerseits auf Weltanschauung und das jeweilige Fest werde im Geist einer Sache veranstaltet. So behauptet selbst der gerissenste deutsche Geschäftsmann, unter Opfern einem Ideal zu dienen. Gleichen Geists war Deutschlands innere Stellung zum Weltkrieg. Was zumal die Angelsachsen am wenigsten verstanden, was die Hauptnahrung der späteren Vorstellung war, die Deutschen seien ein Volk von Teufeln, war eben ihr Bestreben, ihr Tun durch metaphysische Gründe zu rechtfertigen. Daß die Deutschen nach Macht strebten und für ihr Leben kämpften, verstanden jene wohl; nicht aber, daß sie dies in ihren Augen selbstverständlich Berechtigte noch metaphysisch zu begründen für nötig hielten; das konnte, so meinten sie, nur schlechtes Gewissen bedeuten. – Und ebenso beruht auf der Vorherrschaft des Sachlichen der mangelnde Sinn für nationale Ehre. Ehre ist nie sachlich zu begründen. Das Gefühl dafür besteht entweder primär, oder es fehlt. Alle bestimmende Ehre im deutschen Leben war von jeher die Ehre von Kasten oder einzelnen, die von der Norm abwichen und ihr Spezifisches den anderen oktroyierten. Dies illustriert am besten das deutsche Zwangsduell gegenüber der anerkannten Wahlfreiheit in diesen Dingen unter romanischen Völkern. Über diesen Punkt sowie darüber, wie alles Bildhafte, in Schönheit Fundierte, also auch alle Form, alle Staatlichkeit in Deutschland romanischen Geistes war, lese man die Betrachtungen eines Römlings Otto von Taubes (In Navigare necesse est, Insel-Verlag) nach, eine der tiefsten Betrachtungen, von denen ich wüßte, über das deutsche Wesen.

Aber in dem, was nach außen zu am typischsten als Sach-Kult in die Erscheinung tritt, liegt nun einmal des Deutschen Lebenselement. Und da es bei ihm allein dort liegt, so wirkt er so unverständlich und unheimlich. Dem Deutschen bedeuten Vorstellungen und Ideen mehr als jede Realität. Ein Brite prägte einmal das Witzwort: »Gäbe es zwei Tore, auf deren erstem stände: Eingang ins Himmelreich, und auf deren zweitem: Eingang zu Vorträgen über das Himmelreich, alle Deutschen drängten durch das zweite.« Dieser Mann blickte tief. Wirklich bedeutet die Vorstellung dem Deutschen sein Lebenselement. So erzählte ein sehr bekannter philosophischer Verleger mir einmal begeistert, fast alle Bücher eines der bedeutendsten lebenden Philosophen, die er verlegte, lägen unverkauft im Keller: »und so soll es sein.« Der gute Mann war fähig, unter Opfern den Verkauf zu hintertreiben, nur damit seine Vorstellung von der Notwendigkeit des Mißerfolgs des Wertvollen bei Lebzeiten gewahrt bliebe. Hiermit hielten wir denn die eigentliche Wurzel der Sachlichkeit und sind zugleich in der Lage zu verstehen, inwiefern das gleiche Motiv seinen Ausdruck sowohl in Wirklichkeitsbeherrschung wie in rein Fiktivem finden kann. Im 18. Jahrhundert gab es in Frankreich ein Versailles, von einem mächtigen König bewohnt. In Deutschland gab es gute fünfhundert ähnliche Gebilde, in denen es äußerlich identisch herging. Doch in Versailles wurde Geschichte gemacht und an den deutschen Miniaturhöfen nur gespielt. Aber eben dieses Spiel entsprach den Deutschen. Genau so sind die von den Ententekommissionen so gründlich mißverstandenen militärischen Demonstrationen zu verstehen. Sie sind als Schaustellungen Selbstzweck. Und wie war es im Mittelalter? Liest man die Geschichte der frühen deutschen Kaiserzeit, so begegnen einem beinahe ausschließlich Berichte von Tagungen; wie Kongreßstiere zogen die Kaiser dazu von Stadt zu Stadt. Bei den Tagungen kam natürlich nie das mindeste heraus, noch sollte es das tun. Heute tagen in Deutschland nicht nur die Kaiser, sondern auch die Kunstmaler, die Sparkassenbeamten, ja es tagt die Schule der Weisheit. Die gleiche psychologische Wurzel wie das Darstellen und Tagen hat denn auch das deutsche »Protestieren«, vom historischen Protestantismus bis zu dem, was einem tagaus, tagein in Form von »Entschließungen« begegnet. Der Protest ist Selbstzweck, es soll gar nichts bei ihm herauskommen. Daher die erfahrungsmäßig geringe Überzeugungskraft deutschen Protestierens; jeder fühlt, daß ein Erfolg gar nicht beabsichtigt wird. Deswegen behält der Deutsche seinen Protest auch dann nicht für sich, wenn er ganz genau weiß, daß er durch Schweigen dessen Ziel sicherer erreichte. Wie völlig harmlos das deutsche Protestieren ist, ersah man jüngst am Falle Theodor Lessing: die ganze deutsche Studentenschaft, ja die Mehrheit des deutschen Volks stand geschlossen gegen ihn auf. Und es passierte nur dies, daß Lessing eine Sinekure erhielt, einen Forschungsauftrag ohne Lehrverpflichtung: so wurde ihm der sehnlichste Wunsch der allermeisten Forscher erfüllt. Hiermit hängt denn wohl auch das deutsche Sprichwort »Viel Feind', viel Ehr'« zusammen.

Aber der gleiche psychologische Umstand erklärt wiederum allen deutschen Triumph auf dem Gebiet der Dinge und Tatsachen. Ist eine herrschende Vorstellung wirklichkeitsgemäß und liegt ihr »sachlicher« Sinn darin, sich in Wirklichkeit umzusetzen, dann erreicht das deutsche Volk, was kein anderes erreicht. Nur Deutsche konnten vom Wunder der Rentenmark begnadet werden: es waren eben alle auf Grund der Idee des Goldwerts bereit, alles Vermögen auf einmal zu opfern. Nicht anders, grundsätzlich, steht es mit jedem großen deutschen Unternehmen; dessen Möglichkeit beruht Mal für Mal auf der Opferbereitschaft für eine Idee. Und weiter: nur Deutsche konnten sich ohne weiteres so umstellen, daß der Versailler Vertrag zur unmittelbaren Vorstufe des deutschen Neuaufstiegs wurde. Diese Umstellungsfähigkeit ist nur ein besonderer Ausdruck dessen, was gemeinhin als deutscher Konservativismus in Erscheinung tritt; sie hat die gleichen psychologischen Wurzeln wie sonst die deutsche Rechthaberei und Standpunkttreue. Der Deutsche ist nicht im englischen Sinn konservativ; er lebt nicht instinkthaft die historische Kontinuität. Dafür glaubt er an zeitlose Werte, und die Fortdauer in der Zeit, aber auch die Möglichkeit plötzlicher totaler Neugeburt ist des Zeitlosen Allegorie. Der Deutsche glaubt aus dem gleichen Motive wie kein anderer an wohlerworbenes Recht, wie er sich andererseits mit jedem Unrecht, innerlich unbelastet, abfindet. Die deutsche Sachlichkeit ist also die psychologische Wurzel des spezifisch deutschen Idealismus sowohl als der deutschen Charakterlosigkeit. Und alle diese Eigenschaften rühren letztlich daher, daß beim Deutschen die Vorstellung vor der Wirklichkeit den Vorzug hat. Es kann dies jeweils ein Ideal sein, oder die Staatsraison, oder das Verdienen, oder das bestehende Recht, oder eine persönliche rancune. Ich weiß von maßgebenden Deutschen, die geradezu glücklich waren, am Versailler Vertrag ein feststehendes Instrument zu besitzen, und sich beim bloßen Gedanken ängstigten, eine Revision könne ihnen diese innere Sicherheit nehmen. Ähnlich war es von je. In der Kathedrale von Assisi prangt ein Fenster, wenn ich nicht irre von Giotto gemalt, in welchem Friedrich Barbarossa auf dem Rücken liegt und der Papst seinen Fuß auf seinen Bauch setzt. Die Italiener auf dem Bilde schauen verlegen-belustigt drein. Ich möchte wetten, daß die Deutschen auf dieser Zeremonie bestanden hatten; in deren Augen war sie irgendwie geltendes Recht. Auch die deutsche Treue leitet aus diesem Prädominieren des Sachlichen über das Persönliche ihren Sondercharakter ab. Natürlich sind die Deutschen, vom Standpunkt der sonst üblichen Begriffe, das treuloseste aller Völker; diese These Leopold Zieglers muß als erwiesen gelten. Niemand »fällt« oder »stellt sich« so leicht »um«; dies muß so sein, da das Prinzip der lebendigen Kontinuität, das rein Persönliche, nicht unmittelbar und letztinstanzlich bestimmt; das Ideal der deutschen Treue bedeutet insofern eine Kontrastideologie. Aber es gibt eine Art Treue, die sonst niemand kennt. Bei einem Kriege zwischen Litauern und Polen schlugen sich auf der ersteren Seite deutsche Landsknechte so gut, daß die Polen ihnen nahelegten, doch zu ihnen überzugehen. Sehr gern – aber erst nach heute abend, lautete die Antwort, denn bis dahin läuft unser Kontrakt. Bis zum Abend aber waren sie alle tot.

 

Hiermit gelangen wir denn zu dem deutschen Grundzug, den ich schon oft behandelt habe (vgl. zumal die Kapitel »Deutschlands Beruf in der veränderten Welt« und »Erscheinungswelt und Geistesmacht« in Philosophie als Kunst und »Deutschlands wahre politische Mission« in Politik, Wirtschaft, Weisheit): zur Irrealität des deutschen Geists. Dieser lebt typischerweise in eigener Sphäre rein für sich; seine Erkenntnis ist nicht unmittelbar lebendig, sondern herausgestellt. Und dies macht, daß sie grundsätzlich außer Kontakt steht sowohl mit der persönlichen als mit der äußerlichen Wirklichkeit. Hier nun muß der Deutsche dem unbefangen in-sich-selbst-Zentrierten – und das sind, mehr oder weniger, alle Völker Europas außer dem deutschen – unmittelbar unheimlich erscheinen, denn die letztlich unpersönliche Bedingtheit des Lebens, die sich daraus ergibt, wirkt unmenschlich; das Menschliche in einem Menschen verliert ja proportional dem Grad, in dem sein Bewußtsein in der Welt herausgestellter Vorstellungen zentriert ist, an Bedeutung, und da können die anderen wirklich nicht wissen, womit sie rechnen und worauf sie sich verlassen sollen. Hierzu tritt das Folgende. Insofern die Erkenntnis sofort beim Einfall herausgestellt, d. h. verredet, wird, entflieht sie dem Gesamtorganismus, und die Persönlichkeit primitiviert sich, gemäß psychologischem Kompensationsgesetz, bei fortschreitender Entwicklung, anstatt sich zu differenzieren. Die deutsche Sentimentalität, der deutsche Lyrismus, ja das deutsche Gemüt verdanken nämlich ihren typischen Sondercharakter nicht hoher Ausbildung der Gefühlssphäre, sondern vielmehr deren Unausgebildetheit.

Und ebenso unglücklich wirkt der mangelnde Zusammenhang beim Deutschen zwischen Denken und Sein auf seine Beziehung zur Außenwelt. Da geht seine Neigung dahin, Ideale und Programme, unabhängig vom Willen der Beteiligten, zu oktroyieren. Der Ton jeder Verordnung beweist es; noch nie habe ich eine gelesen, die mich nicht im Innersten verstimmt hätte. Dies liegt eben daran, daß die herausgestellte Vorstellung als solche regiert, daß deren logische Inhalte und Folgerungen für wichtiger gelten als die lebendigen Menschen, auf die sie sich beziehen. Wie soll da zumal der Russe den Deutschen nicht für seelenlos halten? Die bloße Vorstellung, daß es auf den Willen nicht ankomme, wenn nur die »Sache an sich« gut sei, ist ungeheuerlich.

Aus dieser eigentümlichen Einstellung der Mehrheit ergibt sich denn ganz natürlicherweise das an sich Sinnwidrige, daß Deutschland praktisch, so oft nicht vom Typus abweichende Kasten bestimmen, von Gelehrten regiert wird. Hier wäre denn der Ort, über das deutsche Kastenwesen einige Worte zu sagen. Die Deutschen sind physiologisch ein Kastenvolk, nicht anders wie die Inder. Und dies hat die gleichen Gründe. Auch die Inder sind als Nation introvertiert, auch bei ihnen dominiert das Denken. Also kann der tatsächlichen Verschiedenheit nur dadurch Rechnung getragen werden, daß anerkannte präexistierende Rahmen den jeweiligen Verschiedenheiten normale Auswirkungsmöglichkeit schaffen; und da genügt eine beschränkte Anzahl solcher Rahmen, weil jeder Mensch einem Typus angehört und es nur eine begrenzte Zahl von Typen gibt. Der Inder und der Deutsche kann, bis auf seltene Ausnahmen, nicht im selben unbefangenen Sinne Individualist sein wie der Brite oder der Italiener; er braucht eine Rechtfertigung in der Welt herausgestellter Vorstellungen. Wie es nun in Indien die Kschattryas und Radschas gab und gibt, so gab und gibt es in Deutschland Typen, von denen die gegebene allgemeine Charakteristik nicht gilt, welchen die typische Freiheit des nordischen Herrenmenschen eigentümlich ist. Ganz naturgemäß stellten die denn seinerzeit die Herrenschichten. Der deutsche Aristokratismus ist absolut nicht der Ausfluß der normalen Gesinnung eines Herrenvolkes, sondern dessen, daß sich der geborene Herr in seiner Mitte von Hause aus in einer ähnlichen Lage befindet wie der Hecht im Karpfenteich. Immerhin zeigte sich von jeher, daß die skizzierte Grundanlage allgemein deutsch ist. Auch der deutsche Aristokrat schlug, sooft die Sonderlichkeit seines Typus verblaßte, in den Urtypus des Gelehrten zurück. Und lange schon fühlt sich der deutsche Adelsstand in keinem anderen Sinne als Stand, wie es Briefträger, Kaufleute und Ärzte auch sind – welche Auffassung den bloßen Begriff eines Aristokraten annulliert. Ja, der Deutsche ist von Typus wegen Gelehrter. Dies galt sicher schon von den Zimbern und Teutonen, und es ist ewig schade, daß sich im Gefolge des Marius kein satirisch veranlagter Soziolog befand, der den Gelehrten im Zustand vollkommener Unbildung beschrieben hätte. Was macht nun den Gelehrten als Typus? Er ist der Mensch, der von Natur, Berufs und Amts wegen ursprünglich in der Welt herausgestellter Vorstellungen lebt. Selbstverständlich hat er Existenzberechtigung: er ist sogar sehr notwendig. Er soll das sachlich Faßbare herausarbeiten, bis in die letzten Konsequenzen verfolgen; er soll den Jungen sachliche Kenntnisse beibringen. Aber von Hause aus ist er nicht der tiefe, sondern der oberflächliche Mensch par excellence; er ist es zumal als Philosoph. Tiefe ist Funktion der realen Verwurzelung in der Tiefe, tiefer Erkenntnis ist ein Mensch proportional dem Grade fähig, in dem sein Bewußtsein diese reale Tiefe unmittelbar spiegelt. Dieses ist nun für den Gelehrten als Typus von Hause aus unmöglich, weil ja sein Bewußtsein in der Welt herausgestellter Vorstellungen lebt und dementsprechend außer Kontakt ist mit seiner realen Tiefe. Gelten Gelehrte für tief, so hängt dies meist damit zusammen, daß die lieben Menschen zwischen Tiefe und Verstiegenheit schlecht unterscheiden. In Deutschland wissen tatsächlich nur Ausnahmemenschen um diesen Unterschied. Immer wieder begegnete es mir, daß auf den Darmstädter Tagungen gelehrte Redner als Höhepunkte des Ganzen gefeiert wurden, die als Wissende nicht wert waren, minderberühmten die Schuhriemen zu lösen. Sie waren eben der Mehrzahl am verständlichsten. Und in der Tat ist für ein deutsches Durchschnittspublikum kein abstrakt-theoretischer Vortrag je zu schwer. Ja, der Gelehrte ist der wesentlich oberflächliche Mensch. Und in seiner Mehrheit ist er sogar der wesentlich dumme. Diese Behauptung ist kein Paradoxon. Bei aller Geistesarbeit entscheidet allein die Qualität. Ist jeder Schuster ehrwürdig, weil nützlich, so ist jeder nicht große Maler und Dichter überflüssig. So ist auch nur der große Gelehrte ein höherer Mensch. Hat einer nur die Anlage des Gelehrten, ist aber als solcher unbegabt, dann steht er unter anderen Typen, denn der Gelehrte ist ja außerhalb seines Fachs, wie jedes Witzblatt kündet, besonders unzulänglich. Wie soll nun ein Volk von Gelehrten nicht in der überwiegenden Mehrzahl unbedeutende Gelehrte hervorbringen? Das kann gar nicht anders sein, denn der Durchschnitt des bestbegabten Volks ist niedrig. So kommt bei guten 70% der deutschen Gelehrtenliteratur auf tausend Seiten knapp ein origineller Gedanke. Wer sich ob dieser Behauptung ärgern sollte, der mache sich nur klar, daß bei diesem Prozentverhältnis, in Anbetracht der absoluten Anzahl, in Deutschland immer noch mehr bedeutende Gelehrte leben müssen als irgendwo sonst. Selbstverständlich sind gerade die unbedeutenden Gelehrten die berufenen Lehrer: ihre Aufgabe ist ja, der Masse Wissenschaft beizubringen, und das vermag mit Erfolg nur der, welcher der Masse ähnlich ist. Der Wert hoher Begabung wird vielfach überschätzt: auf sehr vielen Betätigungsgebieten zeitigt unterdurchschnittliche die schönsten Erfolge; jeder versteht doch nur den, welcher ihm einigermaßen gleicht. All diese Vorbehalte ändern aber nichts daran, daß ein unbegabter Mensch von gelehrter Einstellung im großen und ganzen unter jedem anderen Typus steht. In Deutschland nun gilt der gedankenärmste Gelehrte als höheres Wesen, bloß weil er Gelehrter ist. Hierin liegt ein absolutes Mißverständnis. Es ist unsinnig, einen Menschen bloß deshalb als höherwertig anzusehen, weil er uninteressiert nach Wahrheit strebe: alles kommt darauf an, ob er berufen ist, sie zu finden. Hier ist die amerikanische Auffassung der deutschen überlegen. Amerika hat zwar kein nationales Organ für den Wert des großen und freien Geistes. Aber wenn es den Durchschnittsgelehrten nach dem Maßstab des social service, der Anwendbarkeit seiner Ergebnisse zum Besten der Allgemeinheit beurteilt, so hat es recht. In jedem richtig eingestellten sozialen Organismus war die Stellung des Gelehrten als solchen mit Recht eine bescheidene, rein regulative. In Deutschland ist sie die oberste, sobald keine höhere Kaste dominiert, denn dieses gelehrte Volk erkennt im Gelehrten allein instinktiv seinen echten Repräsentanten. Und das bedeutet nicht dasselbe wie China, weil dort der Gelehrte par définition der vollendete Edle zu sein hat. So beruht denn das meiste Unglück von Deutschlands Geschichte auf dominierendem Gelehrtentum. Schon die, welche Arminius stürzten, waren wahrscheinlich ihrer Anlage nach völkisch eingestellte Professorennaturen. Seit Bismarcks Abgang dominierte der Gelehrte durchaus, und war es auch nur der vollkommen unwissende Gelehrte. Seit dem Kriege ist das alles noch schlimmer geworden. Dem Gelehrten fehlt seiner Natur nach jedes Verständnis für psychologische Wirklichkeit. Es ist recht eigentlich Gottes Wille, daß er taktlos sei. Er kann nur das Gewordene, nie das Werdende begreifen. Für das lebendige Leben fehlt ihm jedes Organ. Dies ist denn der letzte Grund, warum das hochbegabte Deutschen-Volk immer nur kurzfristig, wenn gerade Große bestimmten, nationale Größe erreichte.

 

Der deutsche Gelehrtengeist erscheint den anderen Völkern nun desto unheimlicher, als er die ganze traditionelle deutsche Maßlosigkeit zum ausführenden Organ hat. Auf diese brauche ich hier nicht näher einzugehen: es ist die eine Eigenschaft, die alle ausländischen Beurteiler von jeher einstimmig bemerkt haben und die der Deutsche selbst nur teilweise richtig deutet, wenn er sie in Funktion seines Weitengefühls und Unendlichkeitsstrebens bestimmt. Das Verallgemeinern des Gelehrten in der Abstraktion findet seinen völkisch-praktischen Ausdruck in Überarbeit und Massenproduktion. Treten sogenanntes Weitengefühl und Unendlichkeitsstreben in den Dienst des Gelehrten, dann wird aus ihnen zwangsläufig empirische Maßlosigkeit; dann führen sie zur Alleinherrschaft von Masse und Zahl; dann ist das Ergebnis häßlicher als irgendwo in Amerika, weil es nicht naiven Überschwang zum Ursprung hat, sondern trockene Berechnung. Denn es handelt sich dabei eben nicht nur um Unendlichkeitsstreben und Weitengefühl als Wertbestimmtheiten, sondern zugleich um das Chaos einer noch ungebändigten Dynamikernatur und das Geltungsbedürfnis des Introvertierten, dem in dieser Welt nicht ganz geheuer ist. Das Unheimliche der deutschen Maßlosigkeit wird nun vollends unverständlich, wo es sinnlos waltet. Der tiefste Impuls des Deutschen ist anti-zweckhaft. Er tut, was er von innen her muß. Aber wenn dies im Fall des ideal und groß Veranlagten zu seltensten Leistungen und Schöpfungen führt, so führte es beim Volk als Ganzem durch seine ganze Geschichte hindurch typischerweise zu dem, was ich in Deutschlands wahrer politischer Mission als »sinnloses Heldentum« bestimmte. Der Landsknecht recht eigentlich war zu allen Zeiten des deutschen Täters Urbild. Nun ist das sinnlose Heldenleben des Kriegers immerhin schön, denn es bejaht die Tragödie, baut sich auf dieser auf, und alle Tragödie ist tief. Eine Tragödie des Geschäftsmanns gibt es demgegenüber nicht. Wenn auch dieser wieder und wieder für nichts riskiert, wenn auch er den zweckfreien Eroberer spielt, so ist das nicht nur sinnlos, sondern widersinnig. Und da kein Mensch, solang er irgend kann, an absolut Sinnloses glaubt, so wird der Deutsche gerade hier, wo er am absichtslosesten waltet, der schlimmsten Ränke verdächtigt. Seine Michelei wird als unerforschlicher Ratschluß Satans mißverstanden.

Doch mit den betrachteten sind die deutschen Mißverständlichkeiten noch nicht erschöpft. Beim Deutschen liegt der primäre Bedeutungsakzent, wo überhaupt das Innerliche mitspricht, nicht auf dem Leben, sondern dem Er-leben (ein Wort, das es bezeichnenderweise in keiner anderen Sprache gibt), im Pathos und nicht im Ethos. Sein zweites Wort ist: das war ein ungeheures Erlebnis. Großes Erleben nun kann den verschiedensten Ursprung haben. So kann eine Niederlage unter Umständen ein größeres Erleben vermitteln als ein Sieg. Dies hat denn die von 1918 getan. Sie hat sicher befruchtender gewirkt, als es der Sieg bei den Siegervölkern getan hat. Ebendeshalb steigt Deutschland seither unaufhaltsam wieder auf. Wie sollen das Franzosen verstehen, denen die Gloire das Höchste ist? Wie die Briten, deren Psyche zwar von jeder Erfahrung tief beeinflußt wird, doch nicht im Sinne subjektiven Erlebens, sondern organischer Wandlung? Wie die Italiener, die überhaupt nichts erleben? Und nun bietet der Deutsche gar das unglaubliche Schauspiel, daß jeder für sich eine Monade ohne Fenster ist und die Gesamtheit doch wie eine Maschine funktioniert! Hiermit hielten wir denn bei der entscheidend wichtigen Spannung in der Deutschen-Natur. Insofern der Deutsche als Typus Gelehrter ist, ist er introvertiert und damit außer unmittelbarem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit. Kein richtiger Gelehrter sieht je wirklich ein anderes als seine Vorstellung; daher seine Zerstreutheit und sein Taktmangel. Aber andererseits ermöglicht gerade die gelehrte Zentrierung des Bewußtseins in der herausgestellten Vorstellungswelt, so sie (im kantischen Verstande) »praktisch« wird, ein Höchstmaß von Massenorganisation. Denn da unterstellt sich einfach das Leben von Millionen einem Begriff. Da herrscht dieser absolut, das Persönliche des einzelnen spricht überhaupt nicht mit. Versteht man da nicht das Sprichwort des russischen Muschik, der dem Deutschen alles ihm Unverständliche zutraut: er habe sogar den Affen erfunden? Der Deutsche sieht tatsächlich »den anderen« nicht. Er ist nicht, wie der Mittelländer, marktgeboren, er sieht sich selbst nicht primär vom Standpunkt der anderen, er weiß praktisch überhaupt nur von sich. Und auch sich »sieht« er nicht eigentlich – sehen kann man nur von außen her; deshalb täuscht er sich zumeist über die Art seines wirksamen Wesens; deswegen ist alles, was er über sich sagt und schreibt, vom Standpunkt der anderen gewöhnlich Phantasmagorie. Es mag in der Erlebnissphäre wahr sein, aber dieses Sosein ist wirklich nur für den, welcher sie so erlebt. Des Deutschen Allverstehen erfolgt tatsächlich nur in der Phantasie, die sich kompensatorisch zur realen Erlebnis-Enge in desto weiteren Räumen bewegt. Hieraus erklärt sich denn vielerlei. Vor allem der dauernde deutsche Schrei nach Gemeinschaft – ein Schrei, den keiner ausstößt, dem Gemeinschaft natürlich ist. Der Sinn möglicher Gemeinschaft wird in Deutschland vollkommen verkannt. Gerade dort soll es Gemeinschaft geben, wo jeder einzig ist und folglich einsam bleiben muß. Dementsprechend bedeutet deutsche Gemeinschaft beinahe allemal ein Zunahetreten gegenüber dem Heiligtum des einzelnen. Darum werden Gemeinschaften in Deutschland typischerweise auf etwas hin gegründet, wo sie allein von etwas oder einem her in Gutem sinnvoll sind Vgl. meine Studien »Von der Grenze der Gemeinschaft« und »Vom falschen Gemeinschaftsideal« in den Heften 3 und 14 meines »Wegs zur Vollendung«.. Daher die unausdenklichen Greuel des deutschen Vereinswesens. Sie alle haben ihren Seinsgrund darin, daß der Deutsche den anderen ursprünglich überhaupt nicht sieht. Seine besondere psychologische Einstellung bedingt, daß er mit seinen Mitmenschen von Hause aus keinen empfindungs- und gefühlsmäßigen Kontakt hat. Deswegen legt er auf Gemütsäußerungen soviel Wert. Der selbstverständlich tief Empfindende ist in seinen Äußerungen instinkthaft keusch. Der Deutsche glaubt an Gemüt nur, wenn es exhibiert wird, denn sonst bemerkt er es nicht. Nun, nicht anders ist der Gelehrte in anderen Ländern auch. Aber nur in Deutschland ist die Mehrheit so. Und diese selbe Mehrheit ist organisiert, im höchsten Grade weltgewaltig, und sie gibt den allgemeinen Ton an! Denn das tut doch nicht der Stille im Lande, den der Deutsche wohl aus unbewußter Selbsterkenntnis über alles schätzt – er fühlt: so, wie er ist, sollte er sich möglichst still verhalten –, sondern der weithin Sichtbare; in der modernen Welt also vorzüglich der Handlungsreisende. Ja, wenn unter allen diesen Umständen den anderen nicht angst und bange werden soll, dann muß das Gruseln außerhalb des Bereichs der seelischen Möglichkeiten liegen. Es gibt wohl noch mehr Gründe für das deutsche Unverstandensein. Aber die angeführten erklären, meiner Meinung nach, vollauf jenes deutsche Schicksal.

 

Wenden wir uns nun dem Ursprung der betrachteten Eigentümlichkeiten zu und beginnen wir dabei mit einer tieferen Fassung der letzten. Sie liegt der landläufigen Vorstellung, daß es zwei Deutschland gebe, Weimar und Potsdam, zugrunde. Es gibt in der Tat die zwei Deutschland; nur handelt es sich dabei um kein Entweder-Oder, sondern um polare Koordinaten. Der Deutsche ist, in der Sprache der Jungschen Schule, als Volk ein objektiver Introvertierter, d. h. in sich gekehrter Denktypus. Dies bedeutet nicht, daß er zur Extraversion, d. h. zur Einstellung auf die Außenwelt, unfähig wäre, wohl aber, daß dies nur mittels seiner minderwertigen Funktionen geschehen kann. Selbstverständlich besagt dieses Urteil nicht, daß der Deutsche hier weniger »tüchtig« wäre als andere Völker: er ist bekanntlich das tüchtigste Wesen dieser Welt. Es besagt aber, daß seine Tüchtigkeit nicht seinen besten Sinn verkörpert. Hier gilt es denn, ein verhängnisvolles Mißverständnis aufzudecken. Der Deutsche sieht allzuleicht in zwei grundverschiedenen Dingen ein und dasselbe. Was den Wert der deutschen Kleinarbeit gegebenen Falles macht, ist nicht Tüchtigkeit: da äußert sich vielmehr die Seelenfülle des mittelalterlichen Handwerkers, der um seiner eigenen Seele willen sein Lebtag an einem der Außenwelt unsichtbaren Kirchenornamente schuf. Auf diese Art »Liebe zur Sache« hin bedeutet das korrelative Substantiv des »Stillen im Lande« einen Ehrentitel; und diese Art »Liebe zur Sache« ist heute noch die eigentliche Seele deutscher Qualitätsarbeit. Aber diese Seele kann verlorengehen; und tut sie dies, so wird nicht eine hochwertige, sondern eine minderwertige Qualität des Deutschen bestimmend: eben seine »Tüchtigkeit«; das ist die Identifizierung mit der Arbeit an sich. Da ist die Freude an der Kleinarbeit nicht Ausdruck seelischer Ergriffenheit, sondern einfach von Geistmangel; da bedeuten das schrittweise Vorgehen, die dem Geringsten geschenkte Aufmerksamkeit, die Unermüdlichkeit und Unenttäuschbarkeit des Deutschen nichts Besseres, als daß er sich mit einem Minimum von Geist und Seele dem Gesetz der Erde anpaßt; da rührt sein Welterfolg daher, daß Trägheit und Routine dem Geist der Erde am besten entsprechen. Man vergesse nie: Der Geist des Esels ist diesem von Hause aus viel angepaßter als der des Genies. Ähnliches meinte wohl auch Victor Hugo, als er sein Gedicht von der Weltschöpfung im Verse ausklingen ließ:

Et Dieu et le pourceau immonde
Se regardèrent.

Hat deutsche Tüchtigkeit so phantastischen Erfolg, so kann dies, rein a priori beurteilt, nur daran liegen, daß hier Niederes am Werk ist. Man gedenke hier des über die französische Beschränktheit, den englischen Athletengeist Gesagten, welche beide der Weltherrschaft nicht im Wege stehen: es bedarf grundsätzlich geringer Fähigkeiten, um Erfolg im Sinn der Tüchtigkeit zu haben. So ist diese denn das genaue Gegenteil von Liebe zur Sache im guten Sinn: sie ist ein rein Mechanisches; ihr Inspirator ist geistigen Falles Satan, nicht Gott. Man gedenke nur der Konvergenz dieser Art deutscher Tüchtigkeit mit der amerikanischen efficiency, und man sieht gleich klar. Das Schöpferische, das Geistige, das Seelische, das Metaphysische im Menschen verträgt keine Routine, keine Überarbeit. Wären die Deutschen ein Volk von Armen und Beinen, dann allein hätten sie ein Recht, darauf stolz zu sein, womit sich ihre Mehrheit heute am meisten brüstet. Aber das Wesentliche und Beste des Deutschen liegt gerade auf geistig-seelischem Gebiet. So ist seine Freude an der Arbeit nur dort, so wie er einmal ist, geistig-seelisch bestimmt, wo sie im Geist des Stillen im Lande erfolgt. Legt er den Akzent überhaupt auf Weltgewaltigkeit, so kann er nicht umhin, eine von Hause aus minderwertige Funktion überzubetonen. Dies vor allem erklärt denn das Schicksal des wilhelminischen Deutschlands. Es bedurfte einer ungeheuren, schier übermenschlichen Anspannung von Energie, um das Volk der Dichter und Denker, das es bewußtermaßen war, in das weltgewaltige von gestern und heute umzuschaffen. Diese Überanstrengung konnte ihrerseits nicht umhin, einen gewaltigen Verlust an Persönlichkeit und Seele einzuleiten; damit die Deutschen wesentlich »tüchtig« wurden, mußten sie ihr Bestes unterdrücken. Hier liegt die Ursache der von allen, welche zählen, erkannten und betonten Seelenlosigkeit und Maschinenmäßigkeit Neu-Deutschlands. Und diese ist durch die Forderung, daß nun im Massenbetrieb Qualitätsarbeit geleistet werden soll, nicht zu überwinden: deutscher Geist und deutsche Seele sind nun einmal in Form des Amerikanismus noch weniger lebensfähig, wie sie's in der übertriebenen Preußentums sind; so sind ja auch die Deutsch-Amerikaner von allen Amerikanern die materiellsten. Und nun weiter: wo alles Verstehen der Welt mittels der Persönlichkeit und Seele allein gelingt, so konnte der betrachtete innere Verlust nicht umhin, eine gesteigerte innere Isolierung einzuleiten. Sie wurde denn auch in der wilhelminischen Ära zur historisch bestimmenden Wirklichkeit und führte schließlich zum Kriege gegen alle und zur Niederlage.

Doch daß der Deutsche in seiner jüngsten Periode den Akzent in sich falsch legte, bedeutet, noch einmal, nicht, daß er seine minderwertigen Funktionen überhaupt nicht ausleben soll: er soll nur wissen, daß es sich hier eben um minderwertige handelt. Der kürzeste Weg zum Verständnis dessen, in welcher Einstellung der Deutsche mit allen seinen Fehlern im Kosmos richtig eingestellt erscheint, führt über das Beispiel Kants. Dieser gelangte bei der Beerdigung seiner Schwester, die er sehr liebte, zur plötzlichen Erkenntnis, daß er sie 25 Jahre nicht gesehen hatte, obgleich sie nur einige hundert Meter von ihm wohnte. Dies kam daher, daß beide jeden Tag zur gleichen Zeit spazieren gingen, nur zufällig in entgegengesetzter Richtung. Dies war bei Kant kein Minderwertigkeitsbeweis: die extreme Geregeltheit seines äußeren Lebens war vielmehr die notwendige psychologische Kompensation der inneren Freiheit seines Geists. Gleiches gilt nun von der deutschen Ordnungsliebe überhaupt. Gleiches von seiner »Bürgerlichkeit«. Bei dieser handelt es sich grundsätzlich nicht, wie bei der französischen, um Rentnerpsychologie, sondern um das äußere Sicherungsbedürfnis des Introvertierten, dessen eigenstes Leben sich in der Innenwelt vollzieht. Insofern ist sogar gegen die deutsche Pedanterie nichts zu sagen. Nur muß der Akzent auf der anderen Seite, der inneren Freiheit, liegen.

Was nun vom einzelnen gilt, gilt von der ganzen Nation. Der Makrokosmos dieser spiegelt immer den Mikrokosmos der Einzelseele wieder, d. h. innerhalb der Nation herrscht das gleiche Gewichts- und Wertverhältnis zwischen den verschiedenen Typen, wie zwischen den verschiedenen Funktionen innerhalb der einzelnen. Hier wie dort beruht deshalb alle Vollendung darauf, daß auf dem Höchstwertigen der Akzent ruhe, und daß das Minderwertige eine subalterne Rolle spiele, die als solche freilich nützlich, ja ehrwürdig sein kann. So gibt es in Deutschland den Organisations-, den Ordnungs-, den bürgerlichen Typ; er bildet sogar die Mehrheit. Aber selbst im Höchstfall bedeutet er den minderwertigen Teil des Volks, nicht wie bei Engländern und Amerikanern, wo die Introvertierten typischerweise minderwertig sind, den besten. Also darf er nicht bestimmen. Und hier komme man ja nicht mit quantitativ basierten Billigkeitserwägungen: wer wesentlich Unteroffizier ist, will im tiefsten gar nicht mehr sein als dies Vgl. die ausführliche Erledigung des falschen Gerechtigkeitsideals, auf das dieser Satz Bezug nimmt, im Kapitel »Indische und chinesische Weisheit« meiner Schöpferischen Erkenntnis.. Steigt er über seine gottgewollte Stellung hinaus auf, so dokumentiert er dies dadurch, daß er die Lebensganzheit in den Gesichtskreis des Unteroffiziers hinabzieht. Dies war denn in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Geschichte in wachsendem Maße der Fall. Und ist es jüngst weniger der Unteroffizier als der Sparkassenbeamte, der zum Reichskanzlerposten für prädestiniert gilt, so ist das kaum ein Vorzug zu heißen.

Doch aus dem Gesagten folgt wiederum nicht, daß, wie dies Deutschlands Feinde so gern hätten, die Tüchtigkeit aufhören und Deutschland zurückfallen soll in jenen romantischen Zustand, den sie von Hoffmanns Erzählungen her für allein echt deutsch halten. Der Tüchtige soll bleiben, nur eben als Arbeitstier ohne Bedeutungsbetonung; als Sicherer der inneren Freiheit. Auch der Ordnungstypus soll bleiben: äußere Freiheit, wie die politischen Nationen, erstrebte der Deutsche aufrichtig nie; seitdem er sie hat, wendet er sie so schlecht als nur möglich an, ja er tut, was er kann, um sie durch neuerfundene Bindungen zu annullieren; er braucht äußere Disziplin, um seiner innerlichen Freiheit die Wage zu halten. Ein Dresdener Buchhändler sagte mir einmal: »Früher, als noch der König da war, da hatte ich, wenn ich vom Geschäft nach Hause ging und in die erleuchteten Fenster des Schlosses sah, das sichere Gefühl: der schafft noch feierabends, was du nicht verstehst. Jetzt fühle ich mich unsicher. Ich brauche einen festsitzenden Rock, um mich wohl in meiner Haut zu fühlen.« Weil Ähnliches von der überwiegenden Mehrzahl aller Deutschen gilt, frommt ihnen Demokratie im englischen Sinne nicht. Kaum waren die früher herrschenden Kasten fort, so setzte die Vorherrschaft auf Geld oder Beziehungen fundierter Minoritäten ein, die, da sie keinen historischen Hintergrund hatten, ihre Macht desto rücksichtsloser betonten. Und damit hörte bei der überwiegenden Sachlichkeit der Mehrheit adelige Gesinnung zu bestimmen auf. Hierher vor allem rührt es, daß Deutschland in allen seinen großen Zeiten, so oder anders, aristokratische Struktur trug: damit edle Gesinnung bestimme, muß bei diesem Kastenvolk eine richtige Kaste von gleichsam von Amts wegen Edelgesinnten den Ton angeben; anders geht es bei der deutschen Veranlagung nun einmal nicht. Man muß wahrscheinlich für alle Zeiten damit rechnen, daß der Sicherungs- und Ordnungstyp in Deutschland die Masse bilden wird; eben insofern nannte ich die Deutschen in Deutschlands wahrer politischer Mission das Bürgervolk par excellence. Aber ebendeshalb wieder frommt Deutschland, soll es »in Form« sein, Massen- oder auch nur Majoritätsherrschaft nicht. Sie kann hier nicht die volonté générale, die schon Rousseau von der volonté de tous wohl unterschied, zum Ausdruck bringen. Alles Wertvolle in Deutschland liegt auf anderer Ebene als die deutsche Tüchtigkeit. Nur muß, noch einmal, diese Funktion eben auch ausgelebt werden. Daß hierzu vor 1870 die Möglichkeit fehlte, ist die psychologische Ursache der späteren Hypertrophie des Mechanismus. Zur Illustration des wahren Verhältnisses zwischen diesem und der deutschen Innerlichkeit sei noch ein besonders lehrreiches Beispiel angeführt. Was bedeutet das deutsche »Wandern« bei Musik? Daß das rein Innerliche, sogar auf dem Gebiet der freien Kunst, maschinenmäßige äußere Kompensation verlangt. Denn das Wandern ist nicht seinerseits ein Ausdruck geistig-seelischen Erlebens: es ist wesentlich Parademarsch.

Damit wäre denn implizite bestimmt, wer in Deutschland herrschen soll: das ist der Ausnahmetyp, dessen innere Freiheit sich von Natur aus weltgewaltig äußert. Deshalb war Deutschland von jeher das Land der Fürsten und Höfe. Deshalb wird Demokratie, in welchem Verstande immer, seine Bewohner niemals auf neue Höhen führen. Wohl ist Deutschland Amerika in einer Hinsicht am wahlverwandtesten; es versteht sich von allen Ländern Europas bei weitem am besten auf Massenorganisation. Aber dieses Deutschland ist dem besten deutschen Geist am fernsten (wie denn die Deutsch-Amerikaner drüben, ich sagte es schon, typischerweise die ungeistigsten Amerikaner sind). Mit wahrem Schrecken nehme ich von der wachsenden Idealisierung des Zustandes der Vereinigten Staaten seitens Deutschlands »geistiger Führer« Kenntnis. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch muß selbstverständlich alles geschehen, damit das Volk möglichst bald wieder wirtschaftlich hochkomme. Und da ist die Übernahme amerikanischer Methoden und Zusammenarbeit auf deren Grundlage mit Amerika heute der schnellste Weg. Aber wehe, wehe über Deutschland, wenn es darin ein anderes sieht, als es die vorbereitende Arbeit vor den Freiheitskriegen war. Wehe, wehe über Deutschland, wenn es im Amerikanismus ein Ideal sieht. Und leider gilt dies schon von allzuvielen. Der reinen Sachlichkeit ist ein Ideal grundsätzlich das andere wert, wenn es nur Ideal »überhaupt« ist. Und da äußert sich das verdrängte Persönliche dann so, daß es seine Liebe kritiklos auf Beliebiges überträgt. Einem nicht unbedeutenden Kunstgelehrten, den ich in meiner Jugend kannte, mußte der Maler, mit dem er sich gerade befaßte, jeweils der größte sein. Und so kannte ich einen Bakteriologen, der dem Menschenorganismus darob ernstlich gram war, daß die lieben Typhusbazillen die durch sie verursachte Erkrankung in ihm so schlecht überstanden …

Nein, soll ein in seiner Masse introvertiertes Volk in Form sein, dann müssen Typen anderer Einstellung herrschen. Hier erscheint Indien, als Sinnbild betrachtet, für Deutschland vorbildlich. Als höchste Kasten gelten die Brahmanen. Doch nicht sie herrschen in der Welt. Das tun besonders dazu gezüchtete Fürsten, die sogar, auf daß ihre Sonderart sich möglichst auspräge, aller indischen Anschauung zum Trotz, mit Fleisch gefüttert werden. Nun glaube ich gewiß nicht an eine Restauration der deutschen Fürstenherrlichkeit; über diese ist die Entwicklung hinausgeschritten. Doch Äquivalentes wird allerdings wiedererstehen müssen, soll Deutschland wieder »in Form« kommen. Die herrschende Schicht darf nicht aus den Gelehrten in weitestem Verstand, sie muß aus ganz anders gearteten, der Masse des Volks gegenüber Fremden rekrutiert werden. Kommt es nicht in spätestens einigen Jahrzehnten zu solch sinngemäßer Restauration, dann wird sich Deutschland zwangsläufig zu einer Karikatur Amerikas auswachsen, zu einer Karikatur, weil wesentlich Kolossales nur in kolossalem Format kein Zerrbild ist.

 

Vom zuletzt Betrachteten und Bedachten aus finden wir denn den besten Zugang zum Verständnis der Sonderart der deutschen Innerlichkeit. Sie ist pathisch, d. h. weiblich geartet. Bei jedem weiblichen Menschen bildet das immer auch vorhandene Männliche die minderwertige Funktion. Gerade eine solche wird typischerweise, aus psychologischem Kompensationsdrange überbetont. So beweist denn gerade die deutsche Männlichkeitsbetonung weibliche Artung. Und daß das männliche Urbild gerade Unteroffizierscharakter trägt, beweist seinerseits wieder die Minderwertigkeit der männlichen Funktion. Gewiß ist sie nicht bei jedem Deutschen minderwertig, aber Deutschland bringt Männer im besten Sinn nur gleichsam als Sonderkaste hervor. Kein wirklich männliches Volk verfiele darauf, den übersensitiven Nervenmenschen Bismarck als des Deutschen Reiches Schmied in Hemdsärmeln vorzustellen. Eben hier liegt die psychologische Wurzel des überbetonten Machtwillens der wilhelminischen Ära. Der wesentlich männliche Engländer betont ihn nie; er sucht sein Männliches viel eher abzuschwächen, indem er sich zurückhält, leise redet, weiblich-suggestiv wirkt usw. Ebendaher rührt die deutsche Mißachtung der Frau. Der Brite vergöttert sie, was aber nicht hindert, daß ältere Frauen dieser wesentlich männlichen Nation viel männlichere Züge tragen als die meisten glattrasierten deutschen Männer gleichen Jahrgangs. Der Deutsche mißachtet sein Weibliches in der Frau, was natürlich auf den Frauentyp zurückwirkt. Und weiter: eine der Superioritäten des Franzosen über ihn beruht darauf, daß jener die Arbeit der Frau, vom Haushalt bis zur Toilette, als ein dem Berufsleben des Mannes Gleichwertiges achtet: natürlich ist es das. Aber der »männliche Protest« des Deutschen verhindert hier die klare Erkenntnis. Den wesentlich weiblichen Charakter des Deutschen beweist seinerseits, daß er von Hause aus nicht selbstbeherrscht ist, sondern der Bindung durch Herausstellungen bedarf: das ist nichts anderes wie das Bedürfnis der Frau, vom Mann ihr Gesetz zu erhalten. Gleiches bedeutet die deutsche Organisationsfreude: das deutsche Volk ist ja, wie Walter Rathenau so oft mit Recht betonte, nicht wesentlich organisatorisch, sondern organisierbar. Gleiches bedeutet seine Pflichtethik. Pflichterfüllung, nicht persönliche Verantwortung als Höchstes hinzustellen, beweist primäres Hingabebedürfnis. Der Mann fragt instinktiv nicht »darf ich?«, sondern »will ich?«. Eben hier liegt die psychologische Wurzel der deutschen Neigung, »sich auf den Boden der Tatsachen zu stellen«; eben hier die des deutschen Mangels an Zivilcourage: solche hat die Frau nur ausnahmsweis; sie hat typischerweise nur den Mut zu dem, was sich schickt. Endlich beweist die Physis der deutschen Majorität allein schon das Überwiegen des weiblichen Prinzips: die Breithüftigkeit, die Artung der Haut, des Fettansatzes und der Korpulenz sind weibliche Geschlechtscharaktere. Doch der entscheidende Beweis des pathisch-weiblichen Grundcharakters des Deutschen liegt in seinem Akzentlegen auf das Er-leben anstatt aufs Leben. Hier nun geht das spezifisch Weibliche in das über, was den Introvertierten als solchen charakterisiert. Wenn der Deutsche immer »darf ich?« fragt, so liegt das auch an der Unsicherheit des in-sich-Gekehrten gegenüber den Aufgaben der Außenwelt; eben darauf beruht sein überlautes Gebaren, wo er irgendwie sicher ist, daß er »darf«, besonders wenn er Masse hinter sich weiß; einfach als in-sich-Gekehrter kann der Deutsche nicht als so unbefangener Individualist in die Erscheinung treten wie der Italiener. Daher denn der Schein, die Deutschen seien ein Herdenvolk. In der Tat läßt sich kein zweites Volk gleich kritiklos kommandieren. An sich ist aber der Deutsche ein genau so ausgesprochener Individualist wie der Engländer, Franzose und Italiener, nur in anderer Hinsicht, in anderer Einstellung; er ist es als Erlebender, d. h. für sich; für sich allein. Von seinem Einzigkeitsbewußtsein her grenzt und schließt er sich von allen anderen ab; allein als Herdenwesen, was ja als genus jeder ist, ist er mit ihnen im Kontakt. Er ist als Individualist ein Eigenbrötler, was Individualismus als solcher keineswegs verlangt. Der in sich gekehrte Individualist braucht nun die äußere Ordnung zur Kompensation. Insofern ist die deutsche Herdenhaftigkeit der »Regel« des Mönchslebens äquivalent.

Bisher schrieb ich nun so, daß der Leser meinen kann, es überwögen bei der deutschen Einstellung die Nachteile. Aber das Gegenteil ist wahr. Ist der Deutsche betontermaßen in sich gekehrter Individualist, ist er als solcher hochbegabt, erkennt er gleichzeitig die Grenzen an, welche seinem Typus von Natur aus gesetzt sind, dann ist der Deutsche der erste Europäer. Warum? Weil das Einzige im Einzigen das Tiefste und Letzte im Menschen ist, weil alle Ewigkeitswerte vom Einzigen her ins Leben eingreifen und deshalb durch den, der in ihm sein Bewußtseinszentrum hat, die tiefsten Schöpferkräfte hindurchwirken. Hieraus erklärt sich denn, warum die überwiegende Mehrzahl aller ganz großen Europäer, seitdem der Deutsche die nötige Entwicklungsstufe erstiegen hat, aus Deutschland stammt. Sie stammt aus Deutschland auch auf den Gebieten, auf denen die Nationalanlage unzulänglich erscheint: auch Wilhelm von Oranien, Friedrich der Große, Stein und Bismarck waren Deutsche. Die deutsche Einstellung ist eben für jeden Außergewöhnlichen zur Vollentfaltung die günstigste. Nur der Deutsche denkt so selbstverständlich zunächst an sich und an sich allein, ohne primäre Bezugnahme auf andere, daß sein Einziges zu seiner höchstmöglichen Ausgestaltung gelangt. Das Gegenbeispiel hierzu bietet Frankreich. Hieraus folgt nun aber für die Volksgesamtheit etwas, was das demokratische Ideal für Deutschland, soll dieses menschheitsbedeutsam sein, endgültig begräbt: soll Deutschland groß sein, so kann der Bedeutungsakzent des ganzen Volks nur auf dem Einzigen, und folglich auf der Projektionsfläche des historischen Lebens, auf wenigen Einzelnen liegen. Ist in Frankreich Paris allein Kopf, so ist ganz Deutschland, als Wert, immer nur um einiger Einziger willen da. Hier handelt es sich um eine ebenso wesentliche, durch keinerlei Willensentscheidung zu ändernde Struktur, wie bei der Tatsache, daß in Frankreich Eliten bestimmen und unter Angelsachsen der sozial-politische Nachdruck auf jedem Einzelnen ruht, weshalb sie freilich recht tun, auf die äußere Freiheit den Hauptakzent zu legen. Dem Polaritätsgesetz entsprechend bringen Engländer und Franzosen nie Einzelne hervor, die den größten Deutschen vergleichbar wären; selbst die besten Vertreter der französischen Eliten waren deutschen Einzelnen nie gleichwertig. Umgekehrt aber stehen deutsche Mehrheiten schicksalsmäßig unter denen anderer Völker. Von hier aus gelangen wir denn zur richtigen Einschätzung des Urphänomens des deutschen Neids. Selbstverständlich bedeutet dieser ein metaphysisches Mißverständnis. Wenn der Bedeutungsakzent beim Deutschen, wo er richtig liegt, auf dem Einzigen ruht, so kann er zwar nicht auf jedem Einzelnen liegen, wohl aber liegt er bei jedem auf seiner Einzigkeit. Und da diese eben einzig ist, so stellt sich die Frage des Vergleichs vernünftigerweise nicht. Aber in der Erscheinung ist solches Einzigkeitsbewußtsein, wie ich anläßlich Ungarns näher ausführen werde, nur in der Sondergestaltung des Grandseigneurs manifestationsfähig. Und der Deutsche ist wesentlich Bürger, fühlt sich überdies als Introvertierter unsicher in der Welt. So kann er nicht einsehen, daß die Entsprechung bestimmender Einzigkeit auf der empirischen Ebene, das Vorherrschen Weniger im Sinn des Werts, keinen Geringeren entwertet. Es ist für den Kleinen, der nicht metaphysisch bewußt ist, das muß man zugeben, auch wirklich nicht leicht anzuerkennen, daß auf dem Großen alle Bedeutung ruht. England ist neidfrei, insofern wirklich jeder zählt. Man mag in Deutschland demokratisieren, soviel man will: jeder Deutsche weiß im innersten Herzen doch, daß es in Deutschland nur auf wenige ankommt, und diese Erkenntnis verträgt nur der innerlich Vornehme. Dies erklärt denn verschiedene Sondererscheinungen, die kaum jemand versteht. Erstens liegt auch hier eine Hauptwurzel des deutschen Monarchismus: instinkthaft träumt der Deutsche vom Führer, mit dem er sich kraft dessen bloßer Stellung nicht vergleichen kann; dieser wiederum ist, aus dem gleichen Grund, sei er noch so deutsch, ebendeshalb neidfrei. Dann erklärt sich hieraus die merkwürdige Tatsache, warum so viele gerissene Geschäftsleute arme Geistige oder Heilige mäzenieren. Sie wissen, daß solche über ihnen stehen; insofern sie sie aber unterstützen, vertragen sie das Gefühl ihrer Unterlegenheit. Weiter erklärt sich hieraus die selbstverständliche gegenseitige Anerkennung und Belobung der Professoren: insofern Kastengleichheit besteht und gegenseitige Anerkennung Norm ist, wird die persönliche Ungleichheit erträglich.

Herrscht nun aber die Mehrheit als solche in Deutschland auch nur im geringsten vor, dann bestimmt zwangsläufig mehr als irgendwo auf Erden Neid. Dann zeigt Demokratie ihr häßlichstes Gesicht. Dann werden alle Werte negiert. Dann erlangt die Billigkeit über die Gerechtigkeit Vgl. meine Studie »Gerechtigkeit und Billigkeit« im 12. Heft des »Wegs zur Vollendung«. das Übergewicht; dann wird Qualitätsleistung unmöglich, das wertfeindliche Ethos des Gemütes letztbestimmend. Der spezifisch deutsche Sozialismus, der jeden Wettbewerb ausschalten möchte, der aus dem Arbeiterheer am liebsten eine Beamtenschaft schüfe, innerhalb derer jeder einzelne auf Grund seiner Anciennität allein aufrückte und als Geheimrat endigte In diesem Sinn erlebte ich zu Anfang der deutschen Revolution etwas Köstliches. Ich erkundigte mich in einem Hause nach der Portiersfrau. Es wurde mir gesagt, die »Frau Rat« sei abwesend. Frau Rat? Ja, ihr Mann war Mitglied des Arbeiter- und Soldatenrats geworden. Darin lag für die biedere Familie wohl der ganze tiefere Sinn der Revolution., ist eine der kulturfeindlichsten Erscheinungen aller Zeiten. So müssen denn die Deutschen, wenn sie als Volk in Verfassung sein wollen, obgleich sie an sich kein aristokratisches Volk sind, sich aristokratisch organisieren. Zu allen großen Zeiten haben sie es getan. In allen künftigen großen Zeiten werden sie's wieder tun. Der äußerliche Antrieb hierzu liegt im pathischen Hingabebedürfnis: die deutsche Mehrheit will geführt werden. Aber der tiefste Grund ist der Instinkt, daß nur in aristokratischer Verfassung das deutsche Volk als Volk, nicht nur als Hervorbringer Einzelner, wertvoll erscheinen kann. Deshalb stammt alles kulturell Wertvolle in Deutschland aus seiner Fürstenzeit, soviel gegen die meisten Höfe zu erinnern sei.

 

Was entspricht nun dem Deutschen, von seinem Besten her beurteilt, als äußere Betätigung? Das Bekennen. Bei wem der Nachdruck, so er richtig liegen soll, auf dem Erleben und damit dem Subjektiven ruht, der ist sich selbst nur treu, wo er sich zweckfrei ausdrückt. Daher der eigentümliche Egotismus aller deutschen Großen, in erster Linie Goethes, den zumal kein Brite versteht: der Deutsche muß sich zunächst zu sich selbst bekennen, will er im Guten tätig sein; denn bekennt er sich zu anderen, so verliert er sofort den Kontakt mit seinem persönlichen Sein. Alles große Deutschtum war denn tatsächlich Bekennertum in irgendeinem Sinn. So war und ist es andererseits – wie jeder Genius seinen Affen hat – alles schlechteste. Luthers »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« war Bekennertum; so ist es aber auch der Exhibitionismus deutscher Hochzeitsreisender. Die deutsche Lyrik ist Bekennertum. Bekennertum ist aber auch die Sucht, aller Klugheit nicht allein, sondern allem Anstand zum Trotz »ganz offen die Wahrheit zu sagen«. Die deutsche Musik ist Bekennertum; aber so ist es auch die deutsche Lust, private Gefühle auszukramen. Der Introvertierte kann sich in der Außenwelt tatsächlich nur sinnvoll betätigen, insofern er bekennt, denn nur sein Innenleben ist für ihn ganz wirklich. Ist er schöpferisch, so bekennt er Eigenstes. Ist er es nicht, dann lebt er aus der Wiederholung fremden Bekennens heraus. Daher das unaufhörliche Goethezitieren der Deutschen; daher ihr rastloses Singen; sie müssen fremde Lieder singen, um sich selbst zu fühlen. Von hier aus wird denn klar, inwiefern die Deutschen wirklich das Volk der Dichter und Denker sind; nur als solche sind sie als Volk im besten Sinn sie selbst. Aber freilich sind sie auch in quantitativem Verstand das Volk der Denker und Dichter. Keine Nation der Erde bringt so viele Philosophen hervor. Von der Unzahl der Veröffentlichungen abgesehen: ich kenne kaum einen Deutschen, der nicht eine strikt persönliche Weltanschauung hätte, sei er im übrigen Schuster oder Schwerindustrieller. So ist auch die Zahl der deutschen Dichter, mit Hofmannswaldau zu reden, naupengeheuerlich. Ein glücklicher Zufall trieb mir das folgende aperçu von Moritz Lederer in die Hände: »Man muß einmal in einem dramaturgischen Bureau gearbeitet haben, um zu erfahren, mit welchem Recht wir uns das ›Volk der Dichter‹ nennen. Wer will errechnen, welches Volk den größten Dichter hervorgebracht hat? Aber eins wußte ich schon nach kurzer dramaturgischer Tätigkeit: so viele Dichter, insbesondere so viele Dramatiker, wie in Deutschland, gibt es bestimmt bei keinem Volk der Erde. Zwanzig, dreißig Dramen am Tag an einer einzigen Bühne sind durchaus keine Seltenheit. Ein süddeutsches Nationaltheater verbuchte während meiner Tätigkeit im Monat durchschnittlich 450 Eingänge. Man kann demnach die Anzahl der in einem Jahr eingereichten Dramen ziemlich zuverlässig mit 5000 angeben. Natürlich ist dieser Segen nicht bei jedem der vierhundert deutschen Theater gleich groß. Erfahrungsgemäß werden an mittleren und kleinen Bühnen mehr Stücke eingereicht als an großen führenden Theatern. Aber man haut gewiß nicht sehr daneben, wenn man die Anzahl der an den deutschen Bühnen in einem Jahr einlaufenden Manuskripte auf zwei Millionen errechnet. Dazu kommen dreihunderttausend Dramen, die bei den Verlagsanstalten eingereicht und direkt an die Autoren zurückgegeben werden, ohne die Theater zu erreichen. Jedenfalls kann man sagen, daß auf jeden zehnten erwachsenen Deutschen ein Dramenmanuskript entfällt; Um sich einen Begriff davon zu machen, was diese 2 300 000 Manuskripte bedeuten, muß man wissen, daß ein solches Exemplar im Durchschnitt 600 Gramm wiegt. Alle zusammen wiegen demnach 1 380 000 Kilo; 275 Eisenbahnwaggons sind nötig, diese dramaturgische Produktion eines Jahres zu verschicken. Ein Heer von 25 000 Briefträgern ist erforderlich, sie an Ort und Stelle zu bringen. Fünfhundert Lektoren oder Dramaturgen haben ein Jahr lang voll zu tun, sie zu lesen. Legt man die einzelnen Hefte oder Bücher an der Kopfseite nebeneinander, so ergeben sie eine Strecke von rund 700 Kilometern, ein D-Zug braucht ungefähr 12 Stunden, um die Länge dieser Literatur zu bewältigen. Trennt man sie aber auf und legt die einzelnen bedruckten oder beschriebenen Seiten nebeneinander, so erhält man ein Papierband, mit dem man nahezu die Erde umspannen kann. Wohlgemerkt: das sind die Zahlen für die Produktion eines einzigen Jahres. Errechnet man jedoch die Summe für die dramatische Leistung eines deutschen Menschenalters (gleich dreißig Jahren), so kommt man auf geradezu phantastische Ziffern. Erst dann kann man ganz ermessen, mit welch gutem Recht wir uns das ›Volk der Dichter‹ nennen.« Dabei rechnet Lederer allein mit den Dramatikern; die sicher noch bedeutend größere Anzahl der Lyriker nimmt er aus. Gewiß präjudiziert die Zahl nichts über die Qualität. Sicher bringt Deutschland gerade mehr schlechte Philosophen hervor als irgendein Land. Prozentual beurteilt, dürfte es dem unphilosophischen England gegenüber schlecht abschneiden. Denn hat dieses nur ganz wenige Philosophen für sich anzuführen, so sind diese wenigen doch meist beachtenswert, während 90% der deutschen gar nichts taugen. Ebenso steht es mit der Poesie. Aber andererseits bedingt die nationale Denker- und Dichteranlage, daß Deutschland am häufigsten größte Dichter und Denker hervorbringt. Also ist auf den geistigen Schöpfer allerdings in Deutschland aller Nachdruck zu legen. Ein bekannter Schriftsteller fragte mich einmal, als eine neue Reichspräsidentenwahl in Frage stand: »Uns beide nehme ich natürlich aus. Aber für wen würden Sie nun stimmen? Für Gerhart Hauptmann oder Hermann Sudermann?« Das war natürlich naiv. Nicht ohne Naivität war auch Thomas Manns Proklamierung Gerhart Hauptmanns zu Deutschlands König. Aber zweifellos hat auf dem Dichter und Denker im Deutschen Reich der nationale Schwerpunkt zu ruhen.

Und damit, noch einmal, auf dem Einzigen. In Deutschland auf Majorität, ja auf Masse zu setzen, bedeutet Bekenntnis zu unentrinnbarer Inferiorität. Das deutsche Volk ist nun einmal so strukturiert, daß sein Wert in seinen Einzelnen liegt, nicht in Klassen, wie bei aristokratischen Nationen, wie bei den Ungarn, nicht in Eliten wie in Frankreich, und schon gar nicht bei den Massen. Mag Deutschland für sich denken, was es will: vom Standpunkt Europas, von dem der Menschheit, von dem der Ewigkeit beurteilt liegen die Dinge so und nicht anders. Hier hegt der Sinn des Goetheworts:

Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit.

Selbstverständlich treibt das Einzigkeitsbewußtsein seinerseits nur zu oft die allerseltsamsten Blüten. Sind die nicht einzigkeitsbewußten Deutschen neidisch auf solche, von denen sie fühlen, daß sie mehr sind als sie, so sind es die meisten kleinen Einzigkeitsbewußten wiederum in Form grotesker Selbstüberschätzung, was in seiner Projektion auf die Ebene des äußeren Lebens zu jener Überschätzung der Stillen im Lande führt, die wohl als Deutschlands schlimmste Pest betrachtet werden darf. Denn der Kleine, der irgendeinen Stillen zum Gott macht, meint natürlich sich. Nur die Stillen im Lande haben offenbar auf Bedeutung für die Allgemeinheit Anspruch, denen ein Gott gab, zu sagen, wie sie leiden. Statt dessen hält sich nun jeder, sofern er nur nach außen zu nichts leistet, hohe Gefühle hat und von der Welt nichts will, jedem Bewährungsfähigen für überlegen. Leider beweisen ja Gefühle als solche nichts: gleich hohe können einer Magenverstimmung wie einem metaphysischen Erlebnis ihren Ursprung danken. Im übrigen aber liegt es in jedem Liebenden zu behaupten: so wie ich hat noch keiner vor mir geliebt. Die Stillen im Lande werden nun zu einer öffentlichen Kalamität, seitdem sie sich nicht mehr damit beschäftigen, was ihnen einzig ziemt: sich still zu verhalten. Heute schreien sie; sie machen zum großen Teil die öffentliche Meinung. Und gar zu oft leiden sie an unmittelbar pathologischem Größenwahn. Ich erhalte jährlich wohl über drei Dutzend Bücher oder Manuskripte ohne jeden Wert, zu deren jedem der Autor oder ein Freund desselben bemerkt, es handele sich um die wichtigste Leistung aller Zeiten, der Verfasser sei unter allen Umständen größer als Jesus Christus. Solcher Urteilsfehler beruht darauf, daß sich bei extrem Introvertierten alle Libido von der Außenwelt aufs Ich zurückzieht und dieses damit zu Weltgröße erweitert. Hier liegt – Margarete Müller-Senftenberg zuerst hat dies ganz deutlich gemacht – die eigentliche Wurzel des schizophrenen Größenwahns. Sie ist in der Tat die Wurzel der meisten deutschen Selbstüberschätzung. Im gleichen Sinn überschätzt der Deutsche überhaupt das Kleine gegenüber dem Großen. Es ist phantastisch, welche Bedeutung sich in Deutschland »kleinste Kreise« beimessen. Einmal kam ein tiefsinniger Geheimrat zu mir und erzählte mir: »Wir saßen zu drei in Schlachtensee. Wir hielten das Schicksal der Welt in der Hand. Leider haben wir es vertan.« Er war im übrigen ein tüchtiger Mann, wenn ich mich recht erinnere, einer der obersten im Reichsschatzamt. Nicht anders steht es grundsätzlich mit solchen Kreisen, die sich um wirklich Bedeutende scharen. Meist fehlt deren Gliedern jeder Sinn für Maß, Proportion und Relativität. Weil einer »schöpferisch« oder »unbedingt« oder »substanzhaft« oder bahnbrechend überhaupt ist, soll er gleich der Eine, auf den es ankommt, der schlechthin Größte sein. Wo doch, im Zusammenhang des Menschenwerdens beurteilt, selbst einem Nietzsche nur die Rolle eines Stoßtruppführers unter anderen der neuen Ära zukommt, wo die Welt, mit der allein die »Geistigen« rechnen, nur eine Provinz des Lebens ist, und nur die wenigen, die einen Alle betreffenden Weltimpuls, wie Jesus, mit einzigartiger Strahlkraft ausstrahlen, das sind, wofür in Deutschland, in verschiedenen, voneinander hermetisch abgeschlossenen Kreisen, immer wieder viele gelten … Aber durch solche Auswüchse darf man sich nicht beirren lassen. Solche kommen immer vor, wo es in erster Linie »Wuchs« gibt. Deutschlands ganze Bedeutung beruht tatsächlich auf solchen, die sich in erster Linie einzig fühlen.

Mit dem betrachteten Verhältnis hängt denn vieles sonst Unerklärliche zusammen. Erstens die typische Deutschfeindlichkeit des bedeutenden Deutschen. Sehe ich vom Schweigen oder Lügen aus Takt und Klugheit ab, so erschien der große Deutsche nur in dem einen Falle nicht deutschfeindlich, wo er das Volk gleichsam als Landesvater betrachtete. Wie sollte es auch anders sein? Bedingt eine Volksstruktur, daß alle Bedeutung auf dem Einzelnen und Einzigen ruht, dann muß dieser sich im Gegensatz zur Masse fühlen. Eben deshalb wanderte der hervorragende Deutsche von jeher am liebsten aus. Deswegen konnte gerade Deutschland die Rasse der Fürsten stellen, zu deren Eigenart gehört, daß sie sich mit jedem Volk identifizieren. Philipp II. von Spanien, Katharina von Rußland, Eduard VII. von England, Albert von Belgien und Ferdinand von Rumänien waren Deutsche. Viele unter ihnen waren ausgesprochen deutschfeindlich. Waren sie es nicht, so erschien ihnen doch selbstverständliche Pflicht, auf ihren Ursprung das geringste Gewicht zu legen. Der bedeutende Deutsche kann gar nicht anders als a-national erscheinen, beurteilt man ihn nach französischem oder englischem Maßstab. Sobald der Bedeutungsakzent auf dem Einzigen ruht, gibt es keine Nation. Ebendeshalb scheidet jeder Ordensbruder par définition aus seinen irdischen Beziehungen aus. Mit dem gleichen Umstand hängt zusammen, daß das deutsche Volk nie neue Völker geschaffen, sondern vielmehr von jeher, immer wieder in anderen aufgegangen ist; es beruht nicht allein auf seinem patriarchalischen Charakter. Hier hat Georg Groddeck (in seiner »Arche« vom 7. März 1927) das Angemessene gesagt: »Der Kannegießer (so nennt Groddeck hier sich selbst) weiß, daß dieses Volk in ganz anderem Sinne als die Engländer am Leben schafft. In ewiger Fruchtbarkeit niemals alternd, jung wie am ersten Tage schenkt es als Mutter, der Welt dem Gedeihen der heiligen Rasse der Weißen schaffende, fügsam geduldige, streitbare und nimmer müde Kinder. Was geht diese Mutter das Gezänk der Staaten an? Seit Jahrtausenden strömen von ihr fort Menschen und Völker, aus ihr geboren hierhin und dorthin, nach Osten und Westen und Süden und Norden. Es bricht ihr das Herz nicht, wenn ihre Söhne von ihr abfallen, wenn sie sich, wie jüngst die Engländer, gegen die Mutter wenden; sie leidet, aber im Innersten unversehrt wendet sie den Blick vom Tage ab der Zukunft entgegen. Und kaum vernarben die Wunden, die ihre Kinder ihr schlugen, vergißt sie, was man ihr tat, und sendet neue Scharen von Angelsachsen und Franken und Alemannen und Schwaben in die Welt. Sie hat es nicht nötig, Herrin zu spielen, die Welt zu erobern, mit Heldentaten und Abenteuern ihren Namen in der Leute Mund zu bringen, sie braucht nichts zu werden, sie ist.« Selbstverständlich folgt hieraus nicht, daß die deutsche Nation sich als solche preisgeben soll. Sie soll sich behaupten, so sehr es nur irgend geht, denn nur insofern sie dies tut, kann sie die nie alternde Mutter sein. Aber ihre Aufgabe soll sie allerdings nicht in dem sehen, worin sie es in ihrer jüngsten Periode sah, sondern eben darin, daß sie die gebenedeite ewige Mutter ist immer neuer größter Söhne.

 

Hiermit gelangen wir denn zur Bestimmung der deutschen Aufgabe in der Welt. Noch einmal: selbstverständlich soll Deutschland sich als Volk und Staat behaupten. Wie es allgemeine Menschenrechte gibt, so gibt es allgemeine Völkerrechte; und zumal im Zeitalter der Selbstbestimmung der Völker bedeutet es Verbrechen, hier auch nur ein Tüttelchen seiner Rechte kampflos preiszugeben. Aber Deutschlands Weltbedeutung beruht allerdings nicht auf seiner Tüchtigkeit, seiner Arbeitskraft, seiner Organisation, seiner Ordnung, seinen sozialen Wohlfahrtseinrichtungen. Heutzutage ist es überhaupt lächerlich, auf das, was der Tüchtigkeitsbegriff umschließt, seinen Stolz zu setzen: Tüchtigkeit, Ordnung, industrielles und mechanisches Können, gute Erziehungsanstalten und dergleichen werden bald ebenso allgemeine Selbstverständlichkeiten sein, wie daß jedermann zwei Beine hat. In diesem Sinn beweist es erschreckendes Minderwertigkeitsgefühl, daß das ganze deutsche Volk darauf stolz war, daß Dr. Eckener den Ozean überflog. Dergleichen können die jüngsten Völker auch, werden wilde mit ihren scharfen Sinnen bald viel besser können. Deutschlands Weltbedeutung beruht auch nicht darauf, welche äußere Machtstellung es einnimmt. Der Amerikanismus, der heute psychologisch den preußischen Militarismus zu ersetzen beginnt, wird, falls der Bedeutungsakzent auf ihm ruhen bleibt, zu einer noch furchtbareren Katastrophe führen, wie dieser: nämlich nicht zur äußeren Niederlage, von welcher ein starkes Volk sich immer schnell erholt, sondern zur inneren Entwertung. Der preußische Offizier ist an sich edelster Artung, nur ist sein Typus beschränkt; er verhält sich zu dem Deutschen, welcher im Guten herrschen kann, wie ein einzelner Dominikaner zur Kurie. Nur insofern hat er versagt. Ich persönlich zweifle nicht daran, daß das deutsche Volk früh oder spät eine neue anerkannte Herrenschicht hervorbringen, deren Dauer in der Zeit unter den neuen Verhältnissen natürlich nicht auf dem Bluterbe, sondern Kooptation beruhen wird, welche Herrenschicht Deutschland besser regieren dürfte, als es je früher regiert ward. Verliert derweil der Staat, wie ich's erwarte, an Bedeutung, gilt gleiches von der auswärtigen Politik im Rahmen Europas, so kann es sehr wohl sein, daß bei dem vorherrschenden rein sachlichen Gesichtspunkt beim Regieren, welche diese Entwicklung bedingte, Deutschland zum bestregierten Land Europas würde. Aber nicht darauf kann Deutschlands Weltbedeutung je beruhen. Gut regieren können andere Völker auch. Nur das, was ein Volk allein oder am besten kann, macht es jeweils bedeutsam. In diesem Sinn beruht Deutschlands ganze mögliche Weltbedeutung auf seiner Geistigkeit.

An Geistigkeit ist Deutschland allen anderen Völkern Europas im selben Sinne voraus, wie es Frankreich an Kultur ist und England an politischem Takt. Das Indien Gandhis setzt die moderne Welt dadurch in Erstaunen, daß das indische Äquivalent der christlichen Idee des Nicht-Widerstehens dem Übel, das Ahimsa, eine politische Macht bedeutet: den besten Indern ist in der Tat Religion das ausschlaggebend Wichtige; deshalb kann dort nur ein Religiöser Realpolitiker sein. Genau so nun ist allen Deutschen, welche zählen, das Geistige das ausschlaggebend Wichtige, ob sie es im. übrigen zugeben oder nicht. Dieser Unterschied ist dermaßen wichtig, daß ich näher auf ihn eingehen muß. Die Deutschen sind durchaus nicht das klügste oder sonst geistig begabteste Volk Europas; fern davon, viel eher darf da der Michel als ihr Urbild gelten. Doch keinem Volk der Erde bedeutet das Geistige so viel. Was diese Bestimmung besagt, macht der Vergleich mit Amerika am deutlichsten. Der Amerikaner ist sehr oft sehr klug. Aber nur in Ausnahmefällen ist ihm Erkenntnis oder Verwirklichung geistiger Werte in irgendeinem Sinne Selbstzweck. In seinen Augen ist das Geistige immer nur dazu da, entweder geschäftlich oder sozial zu nützen, oder aber zu unterhalten. So geschah es mir, daß eine große amerikanische Zeitung, die mich um eine Aufsatzserie über sehr tiefe Probleme gebeten hatte, nach Erhalt derselben einen Redakteur mit einem auf Quintanermentalität berechneten Schema für die geforderte Umarbeitung zu mir schickte: unser Publikum verlangt Aufsätze anderer Art; Magazine-articles haben einen anderen Stil. Daß ein Fordwagen keinen Maßstab für Pegasus abgibt, daß ein origineller Geist ablehnen muß, sich nach der Vorliebe des Mannes auf der Straße zu richten, schien die Schriftleitung unfähig zu verstehen. Es handelt sich, wenn geistige Werte verwirklicht werden sollen, in erster Linie eben nicht um die Größe der Begabung, sondern die Akzentlage im Bewußtsein; ruht der Akzent beim größten Geist auf Äußerlichem, so ist er ungeistig. Der Wert der Einzelleistung beruht selbstverständlich trotzdem auf dem Begabungsgrad. Bei einem Volk indessen ist der Grad der Geistigkeit ausschließlich nach der ursprünglichen Einstellung zu messen; da stellt sich die Frage der Begabung überhaupt nicht, denn jedes Volk bringt Begabte hervor. Die Geistigkeit der nationalen Leistung hängt einzig davon ab, ob auf den Geistigen und deren Leistung der Akzent ruht oder nicht. Ersteres ist nun in Deutschland am meisten von allen modernen Völkern der Fall. Überdies bringt entsprechende Einstellung allein das Beste im Deutschen angemessen zur Geltung. Jeder materielle Deutsche wirkt unangenehm gegenüber dem gleich oder mehr materiellen Engländer oder Franzosen. Und umgekehrt wirkt der geistig eingestellte Deutsche unmittelbar überzeugend und werbend auf jedermann. So liegt denn auch Deutschlands praktisches Interesse darin, daß es sich entsprechend ein- oder, wo nötig, umstelle. Hier gedenke man nur der deutschen Musik: es veranstalte jede deutsche Stadt zweimal im Jahr Musikfeste – sicher wären sie alle überlaufen seitens der ganzen Menschheit, oder würden es doch bald sein. Der jüngste Wiederaufstieg Deutschlands in der öffentlichen Meinung der Welt nach seinem beispiellosen Sturz beruht einzig und allein auf der deutschen Geistigkeit und deren Prestige. Nein, Deutschlands ganzer Sinn beruht auf dem, was es außer seiner Tüchtigkeit kann. Diesem »außerdem« hat alles andere untergeordnet zu werden.

So ist für Deutschland vor allem wichtig, daß der geistige Schöpfer privilegiert werde und nicht in die Lage komme, sich in die Armee der Arbeiter einzureihen. Was immer in Deutschland aus dem sozialistischen Gedanken heraus geschieht, ist, von der Menschheit aus beurteilt, minderwertig. In diesem Sinne halte ich nichts für wichtiger als den Sieg meiner Peterspfennig-Idee. In angelsächsischen und romanischen Ländern fand sie bisher mehr Anklang als in Deutschland, obwohl Persönlichkeiten wie Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauß, Siegfried Wagner, Oscar A. H. Schmitz und Elisabeth Förster-Nietzsche sich zu ihr bekannten. Sogar Aufrufe wurden im Namen des sozialistischen Gedankens, von Berühmtheiten unterzeichnet, gegen mich lanciert. Aber es hilft nichts: ich habe dennoch recht. Deshalb setze ich den betreffenden Aufsatz in der Gestalt, wie er im Heft 13 des »Wegs zur Vollendung« erschien, noch einmal hierher. Vielleicht wird man seine Tragweite in diesem Zusammenhang besser verstehen.

»Als ich, im September 1926, Gelegenheit hatte, mehrere Tage in Weimar zu verbringen und mit den Hütern des dortigen Geisteserbes Rücksprache zu nehmen, kamen mir einige Gedanken, die mir von praktischer Bedeutung scheinen. Sie seien hiermit der Öffentlichkeit mitgeteilt.

Nach heutigem deutschen Recht wird literarisches Erbe dreißig Jahre nach dem Tode des Autors »frei«, d. h. es steht fortan zur freien Verfügung derer, die es ausbeuten wollen. Daß die Schutzfrist von dreißig Jahren zu kurz ist und daß ich hoffe, daß sie demnächst auf fünfzig Jahre, wie in den meisten anderen Ländern, verlängert werden wird, sei nur nebenbei bemerkt: solange ererbtes Eigentum überhaupt als berechtigt gilt, ist zum mindesten billig, daß noch die Enkel der Schöpfer geistiger Werte deren Nutznießung haben, und es steht erfahrungsgemäß fest, daß bei einer Schutzfrist von nur dreißig Jahren schon die Kinder in einer großen Zahl von Fällen enterbt werden. Doch dieses, wie gesagt, nur nebenbei. Ich finde es verfehlt, daß geistiges Erbe überhaupt je ganz frei wird, denn gerade dadurch wird die Absicht vereitelt, es der Menschheit vollkommen sinngemäß nutzbar zu machen.

[Fußnote aus technischen Gründen im Text wiedergegeben. Re] So wie die Welt einmal geworden ist, hat die zuerst nur amerikanische Auffassung, daß Wohlstand Normalzustand ist (bzw. sein soll) und Reichtum der sinngemäße Exponent jedes Wertes ist, historisch gesiegt. Und dieser Tatbestand ist aus fünf Gründen rein positiv zu bewerten: erstens, weil es in der heutigen Welt tatsächlich leicht ist, jede Qualität zur Reichtumsquelle zu machen. (Hier gedenke man bloß der einen Tatsache, daß Deutschland trotz Niederlage und ungeheuerlichster Verschuldung unaufhaltsam wieder aufsteigt: ein geringes, schnell arbeitendes Kapital bedeutet heute mehr als das größte, das sich nicht oder langsamer umsetzt. So ist Kapital heute mehr Resultat als Ursprung, ähnlich wie Gott für Hegel Resultat und nicht erste Ursache war.,) Zweitens, weil enge Verhältnisse nachweislich verengen und verbilden. Drittens, weil die psychologischen Nachteile des Reichwerdens erfahrungsgemäß schwinden, wo Reichtum zur selbstverständlichen Lebensbasis geworden ist. Viertens, weil auch Geistiges auf Erden nur mit materiellen Mitteln fruchtbar zu machen ist. Fünftens aber und vor allem, weil es Sache des souveränen Geistes ist, den Tatsachen diesen oder jenen Sinn zu geben. Die alte Auffassung, daß der Geistige arm sein müsse oder daß man aus Idealem keinen materiellen Nutzen ziehen dürfe, war ihrerseits nur eine besondere Sinngebung des souveränen Menschen, die mit dessen Glauben steht und fällt, weswegen die diesbezüglichen Einwände von Idealisten nur insofern sie Ausdruck des Willens sind, daß es beim alten bleiben müsse, ernst zu nehmen sind. Gleiches gilt vom Einwand, daß nur minderwertige Geistesarbeit in materiellem Sinne Kurs haben könne. Natürlich geht der ursprüngliche Geschmack der persönlich Minderwertigen auf Schlechtes, und diese werden immer in der Mehrzahl sein. Aber da die Welt ausschließlich von Vorurteilen regiert wird und in Wahrheit immer nur ganz wenige bestimmen, so genügt es, das Vorurteil einzuführen, daß alles Gute das Recht auf materielle Bewertung habe, damit sich gar bald das Erforderliche von selbst realisiere. Zunächst wird dies gleichsam durch Prämiierung von Einzelnen oder seitens Einzelner geschehen, allmählich wird es allgemeine Sitte werden. So nahm in Deutschland Johannes Müller als erster für geistliche Vorträge Eintrittsgeld und schuf sich dadurch eine Existenz. Heute steht Gleiches jedem, welcher reden kann, frei. – Wohlstand darf insofern schon heute, historisch gesehen, als Normalzustand gelten und materieller Reichtum als sinngemäßer Ausdruck jedes Wertes. Liegen die Dinge, dank dem Weltkriege, im heutigen Europa vielfach anders, so ist andererseits gewiß, daß die Armut trotz aller Kriegsfolgen schon in wenigen Jahrzehnten in einem heute unerhörten Grade überwunden sein wird. Dafür steht schon der »Materialismus« aller Massen des Erdballs Gewähr. – Wenn dem nun also ist – ist es da nicht unmittelbar sinnwidrig, daß das höchste Geisteserbe der Menschheit nicht eine materielle Macht an sich darstellt?

Ich will am allen geläufigen und einleuchtenden Beispiel Weimars anknüpfen. Das klassische Weimar ist aus der Zeitlichkeit in die Ewigkeit aufgestiegen. Es bedeutet heute schon für Deutschland Ähnliches, was das klassische Athen der Menschheit bedeuten würde, wenn es erhalten wäre, und wird der ganzen Menschheit sehr bald Ähnliches bedeuten. Sicher wird es bald zu den besuchtesten Pilgerstätten der Erde gehören. Nun tut der Staat, soviel ich höre, für Weimar allerhand. Aber der Staat wird immer mehr andere Verpflichtungen haben, die ihn immer ausschließlicher in Anspruch nehmen werden. So wie er sich entwickelt hat, wird er immer mehr zum Ausdruck des sozialistischen Gedankens im Sinn der Massenwohlfahrt werden. Seine Aufgabe wird immer ausschließlicher die sein, zwischen den verschiedenen Mächten des Lebens einen gerechten Ausgleich herzustellen und aufrechtzuerhalten. Also wird er immer weniger für das rein Qualitative sorgen können, d. h. er wird seinem Sinne immer mehr widerstreiten, und ist dies einmal der Fall, dann wird er sich entsprechenden Aufgaben zwangsläufig immer weniger gewachsen erweisen. Daraus ergibt sich denn logisch – in »Politik, Wirtschaft, Weisheit« habe ich dies ausführlich dargelegt –, daß sich das Qualitative, sofern es fortbestehen will, immer mehr unabhängig vom Staat fundieren muß.

Nun liegen die Dinge betreffs Weimar so, daß sich das Goethe-Haus gerade – knapp – erhält, daß aber das Goethe-Erbe – wohl das reichste Geisteserbe der Menschheit – für sich auch nicht annähernd über die Mittel verfügt, um sich so auszuwirken, wie es könnte und sollte. Nur in antiquarischer Hinsicht gelingt es einigermaßen, in der millionenmal wichtigeren prospektiven bisher überhaupt nicht. Unter »prospektiv« verstehe ich die Förderung des fortlebenden, sich in Kindern und Kindeskindern ad infinitum immer wieder verkörpernden Goetheschen Geists. Viel schlimmer noch steht es mit den anderen Exponenten Weimars, am schlimmsten dem Nietzsche-Archiv, dessen Fortbestehen dank der allzu kurzen Schutzfrist schon in wenigen Jahren unmittelbar gefährdet erscheint. Dabei ist Nietzsche erwiesenermaßen der erste und größte Prophet der neuentstehenden Welt. Ist dieser Tatbestand nun nicht ganz einfach eine Schmach? Das geistige Weimar müßte von sich aus über ein Millionenbudget verfügen. Dann erst könnte das Erbe seiner Großen so fruchtbar werden, wie es, ideell beurteilt, werden kann. Dann erst könnte es fortwachsen, fortzeugen. Nun wird man einwerfen: aber es fehlt eben an dem Geld. Damit gelange ich denn zum eigentlichen praktischen Ziele dieses Aufsatzes: es wird eine Kleinigkeit sein, dieses Millionenbudget für die Zukunft zu beschaffen, sobald nur erkannt ist, was es gilt, erstens, und, wo der Hebel anzusetzen ist.
Was die erste Seite des Problems betrifft, so brauche ich dem bereits Gesagten nur Weniges hinzuzufügen. Die geistigen Werte der Menschheit werden immer mehr auch als Menschheitswerte gelten. Den Geist Weimars zu erhalten, ist, extrem ausgedrückt, vom Menschheitsstandpunkt sehr viel wichtiger noch als die Erhaltung des Deutschen Reichs. Und so werden die Dinge von Jahrhundert zu Jahrhundert immer mehr bei allen echten Geisteswerten liegen. Wie ich in Menschen als Sinnbilder ausgeführt habe, gibt es auf geistigem Gebiete nur persönliche und keine sachlichen Werte. Es handelt sich nicht nur bei Christus um dessen strikt persönlichen Geist, sondern ebenso bei jedem geistigen Schöpfer. Folglich muß grundsätzlich in jedem Falle alles daran gesetzt werden, den rein persönlichen Charakter zu erhalten. Dies kann nun offenbar nur so geschehen, daß das jeweilige Geisteserbe – das Goethe-Erbe zum Beispiel – eine ebenso eigenlebige Institution wird, wie es das Christus-Erbe in Gestalt der Kirche war. Nur wenn nicht der Staat, nicht irgendeine fremdartige Macht, nur wenn das jeweilige Geisteserbe selbst sich aus eigenem Recht erhält und verwaltet, besteht die Gewähr, daß der persönliche Geist fortleben wird. Andererseits: daß dieses Ziel auf dem angegebenen Wege wirklich erreichbar ist, erscheint durch das Fortleben der Person Jesu, im Unterschied von allen anderen Geistern, dank der Kirche, so absolut bewiesen, daß kein Wort weiter darüber zu verlieren ist. So darf ich denn ohne weiteres zum zweiten Punkt übergehen, wo der Hebel anzusetzen ist, damit das Analogon der Kirche jeweils entstehe.

Die Dinge liegen da nun äußerst einfach. Geistiges Eigentum darf nie ganz frei werden, ein bestimmter Prozentsatz dessen, was es einbringt, muß der Allgemeinheit vorbehalten bleiben. Und zwar soll der Gewinn nicht etwa dem Staat anheimfallen, der ihn dann beliebig verwendet – etwa zur Erhaltung von Idioten –, sondern einer neu zu schaffenden eigenen, der Kirche analogen Institution, die nur dem Geistigen dient und die dank dem »Peterspfennig der Literatur« im selben Sinn aus eigenem Recht erhalten und von sich aus wiederum das Geistige sichern würde, wie der echte Peterspfennig die katholische Kirche erhält, die dann von sich aus das Fortbestehen des katholischen Glaubens sichert. Hier werden, natürlich sofort die verschiedensten Gegenargumente einsetzen. Auf die möglichen Gegner, welchen alles Institutionelle an sich ein Greuel ist, und welche die bloße Insinuation, daß etwas Kirchenähnliches positiv zu beurteilen und gar neu zu gründen wäre, ablehnen, brauche ich nicht näher einzugehen, denn sie sind nicht ernst zu nehmen. Dauerhaftes läßt sich auf Erden nun einmal so allein schaffen, daß das Fortleben selbständiger Tradition gesichert wird. Das Argument, daß jedes Institut zu einer Sinekure für Minderwertige, zum ausschließlichen Betätigungsfeld verständnisloser Bürokraten und irgendwie zu einem Ausdruck von Bonzenwirtschaft würde, hat allerdings viel geschichtliche Erfahrung für sich. Aber es heißt die menschliche Phantasie doch gar zu gering einschätzen und von der Freiheit gar zu wenig erwarten, wenn man nicht einmal, so viel für möglich hält, daß auf Grund der reichen bisherigen Erfahrung eine neue Form gefunden werden könnte, die Neuzuschaffendes, also traditionell vollkommen Unbelastetes, vor den üblichen Übeln in hohem Grade bewahrte. Unter allen Umständen wird es sehr viel leichter fallen, Geister zu finden, die als unmittelbare Beamte des literarischen Erbes das Geistige geistgemäß verwalten, denn als Staatsbeamte. Nun zu der Seite des Problems, die die Wirkung des Peterspfennigs der Literatur auf die Verbreitung der Geisteswerte haben würde. Gegen meinen Vorschlag wird selbstverständlich das übliche Argument mobilisiert werden, daß die von mir vorgeschlagene Prozentabgabe das, was allen zugute kommen soll, verteuern würde, wie denn die meisten Dichter erst nach Ablauf der Schutzfrist ins Volk gedrungen wären. Letzteres Argument entspricht von Hause aus fehlerhaftem Denken. Nicht weil die Schutzfrist abgelaufen, sondern weil die Zeit großen Geistern langsam entgegenreift, werden diese erst später allgemein gelesen. Und dann soll die heilsame, weil verbilligende Konkurrenz der Verleger nach Ablauf der Schutzfrist gar nicht ausgeschaltet werden – es soll nur jeder Verleger eine kleine Abgabe zahlen. Und dies würde zu einer nur ganz geringfügigen Verteuerung führen, da ja schon eine ganz geringe Abgabe genügen würde, um die Verwirklichung dessen, was ich hier meine, sicherzustellen. Es liegen ja Jahrhunderte, und Jahrtausende vor uns, das, Geisteserbe kumuliert sich von Jahr zu Jahr, und überdies steht, auf Grund aller historischen Erfahrung mit Sicherheit zu erwarten, daß, wenn einmal die erforderliche Institution besteht, ihr sehr bald auch erhebliche Stiftungen zufallen werden, die über die schweren Anfänge hinweghelfen, womit denn auch das weitere Argument, die durch den Peterspfennig erzielbaren Summen seien zu gering, widerlegt wäre. Im Gegenteil, sie werden früher oder später so sehr groß sein, daß gerade die »Kirche der Literatur« von sich aus eine rechtzeitige. Verbilligung der Geisteswerte, ohne Schaden für die unmittelbaren Interessenten, in die Wege leiten könnte. Doch jetzt zum letztentscheidenden Einwand der antimateriellen Geistigen. Die welche damit kommen: wenn das Geistige sich nicht auch ohne Stützung halten könne, dann sei es nicht schade darum, sind bestenfalls leichtfertige Kinder: nichts geht von selbst auf dieser Welt; ohne Predigt der Evangelien, also sinn- und sachgemäße Reklame, wäre das Christentum niemals zur Macht geworden, denn die Mehrzahl der Menschen war immer stumpf und dumm und wird es ewig sein. Ebenso wirken große Geister ins Weite nur insofern, daß Berufene ihren Wert der Masse angepriesen haben, die dann auch von dem gefördert wird, was sie nur halb versteht. Im selben Sinne wären die meisten großen Geister verhungert, wenn nicht ein paar einsichtige Mäzenaten sie unterstützt hätten, und nicht viel anders liegen die Dinge noch heute. Ja sie liegen sehr viel ernster als früher. Das Chauffeur-Zeitalter wird dem nicht unmittelbar seinen Zwecksetzungen Dienstbaren weniger hold sein, als es irgendein Zeitalter dem Outsider gegenüber war; und zwar weniger wegen des bestimmenden Charakters der Massen als wegen der herrschenden Vorstellung, daß jeder sich einspannen und in Reih' und Glied mit allen arbeiten müsse, und der Gesichertheit des Lebens aller, welche also arbeiten. Denn gerade so arbeiten kann der geistig Schöpferische nicht; er muß Muße haben. Daß der Geistige überhaupt »verdienen« solle, ist in bezug auf seinen Typus eine ebenso unwürdige Vorstellung, wie daß der normale Berufsmensch betteln dürfe. Von Mäzenaten, so oder anders, unterstützt zu werden, ist vielmehr die einzig würdige Art zu leben für den geistig Schöpferischen. Überhaupt gab es nie eine menschenunwürdigere Auffassung, als daß jeder unbedingt sein ganzes Leben entlang verdienen müsse: die ganze Rechtfertigung dieses Arbeits-Zeitalters liegt vielmehr darin, daß in absehbarer Zeit so viel Vermögen – kollektives sowohl als privates – angesammelt sein wird, daß die Frage der Sorge um den nackten Lebensunterhalt sich nicht mehr in der bisherigen Form stellen und jeder von einer höheren Lebensbasis ausgehen wird. Wir Heutigen sollen also nicht etwa kommenden Drohnen vorarbeiten, sondern nachdem das Arbeitsethos als Basis dem Unbewußten einmal eingebildet ist, wird die Arbeit ohne ihre heutige Idealisierung zur automatischen Seite des Lebens gehören, so wie das Herz automatisch arbeitet, und das Bewußtsein wird sich ausschließlich mit Höherem befassen. Unter allen Umständen aber muß der. geistige Schöpfer vom persönlich-Verdienen unabhängig gemacht werden. So allein kann er der Händler-Einstellung entgehen; die ihm innerlich schadet. Nun, eine neue höhere, weil objektivierte Art des Mäzenatentums zu begründen – gerade das würde der progressive Sinn der Literaturkirche sein. Ich begann mit der Forderung, die heiligen Stätten des Geists zu sichern. Dies tat ich hauptsächlich, weil dies taktisch den besten Weg bedeutet, der Zukunft zu dienen. Die meisten glauben nun einmal allein an vergangene Größen. Meinen tue ich in erster Linie natürlich die Sicherung der jeweils Lebenden. Die Sicherung in produktiven Grenzen zu halten, wird eben Sache des betreffenden Instituts sein. Dieses gilt es zunächst zu schaffen. Dieser Grundfrage gegenüber sind alle technischen Schwierigkeiten Kleinigkeiten. Zunächst muß der Fonds für das Geistige da sein. Wird er einmal falsch verwendet, nun, so kann man im schlimmsten Falle Revolution machen. Aber daß bei solcher etwas herauskommt, hängt wiederum davon ab, daß die Literaturkirche mit ihrem Schatz präexistiert. So bedürfte es denn nur eines kleinen, ganz kleinen und harmlosen gesetzgeberischen Akts, um für die Dauer sehr Großes und unendlich Wichtiges zu erreichen; in meinen Augen Wichtigeres, als es alle bisherigen Errungenschaften der Nachkriegsneuzeit sind. Und dieser Akt könnte sich ohne weiteres auch auf längst Verstorbene beziehen. Ich sehe nicht ein, warum die Verleger frei gewordener Autoren von einem bestimmten Termin ab nicht ebenso selbstverständlich bestimmte neue Abgaben leisten sollen, wie jeder von uns ohne weiteres von heute auf morgen neu beschlossene Steuern zahlt.

Doch nun erst gelange ich zu dem, was für mich die Hauptsache ist. Der Peterspfennig der Literatur darf unter keinen Umständen einem Wohltätigkeitszwecke dienen. Die Wohltätigkeit ist Sache des Staates. Der wird bald nur dem größten Glück der größten Zahl zu dienen haben. Demgegenüber sollte das Nicht-Staatliche, angesichts der unaufhaltsam übermächtig werdenden Chauffeurwelt, desto ausschließlicher das Qualitative pflegen. Daß das Erbe großer Geister dazu dienen sollte, Esel zu fördern, ist unmittelbar sinnwidrig. Bei der neu zu schaffenden Institution muß es sich um ein extrem qualitativ, d. h. aristokratisch und hierarchisch Eingestelltes handeln, denn vor dem Geist gibt es nur mehr und weniger, nie und nirgends Gleichheit. So müßte das zu schaffende Analogon der Kirche von Hause aus so organisiert werden, daß nur das Höchstwertige gefördert würde. Im Falle Lebender wird dies gewiß nie fehlerfrei gelingen, wenn es auch sicher, falls die richtigen Männer in den entsprechenden Senat gewählt und, notabene, ebenso unabhängig wie Richter gestellt würden, leichter gelingen dürfte, als Analoges auf irgendeinem Gebiete gelingt. Aber völlig fehlerfrei wird es im Falle Toter gelingen, und darauf kommt es zunächst an, um, so wie die Welt nun einmal ist, das Erforderliche überhaupt zu begründen. Es ist der Geist der Großen in ähnlichem Sinne zu perpetuieren, wie die Kirche den Geist Christi und der Heiligen perpetuiert. Nun, um die betreffenden Geister herauszufinden, bedarf es nur eines Ähnlichen, wie es die Prozesse sind, welche die Kirche im Falle einer fraglichen Heiligsprechung vornimmt. Bis das Geisteserbe eines Geistesschöpfers frei wird, wird es sich in den allermeisten Fällen schon entscheiden lassen, ob er zu den ›Heiligen‹ des Geistes gehört oder nicht. Ist es der Fall, dann muß sein Geist für alle Ewigkeit besonders dotiert werden.«

 

Was ist also Deutschlands wahre Aufgabe in der Welt, unter Voraussetzung der Eigentümlichkeiten dieses Volks, die wir uns im vorhergehenden bewußt machten? Sie kann nur in folgendem bestehen. Erstens einmal ist Deutschland das Laboratorium der Welt. Gerade zu dieser Erfüllung prädestinieren es die meisten derselben Eigenschaften, die in anderer Richtung so oft verderblich wirken. Ideen und Vorstellungen bedeuten dem Deutschen mehr als Wirklichkeiten, die Sache mehr als der Mensch. Diese wiederum betreibt er wesentlich zweck- und absichtslos. Endlich ist das Er-leben, also die Erfahrung ihm das Bedeutsamste. Alles dies macht den idealen Experimentator. So war denn Deutschland zu allen seinen bewegten Zeiten tatsächlich ein Laboratorium. Es war dieses, soweit der mittelalterliche Rahmen erlaubte, zur Zeit Eckeharts. Es war es in großem Stil zur Zeit der Reformation. Es ist Laboratorium im allergrößten Stil zu dieser Zeit. Man tue alle geistigen Bewegungen. der übrigen Welt auf eine Wagschale und die von Deutschland auf die andere: die letztere wird sinken. Es experimentiert in Deutschland jeder irgendwie. Auch die Geschäftsleute tun es: sonst würden sie so viel nicht riskieren; sonst wären sie nicht so stolz darauf, gelegentlich Opfer zu bringen. Und sicher sind die Laboratorien bei den großen Fabriken für die Leiter das, was sie am meisten freut. Es kommt ihnen innerlich vielmehr aufs Experimentieren an sich an, als darauf, was dabei praktisch herauskommt. Die Bestimmung von Deutschland als einem Laboratorium läßt uns denn auch einsehen, warum es kein Unglück bedeutet, wenn es kulturell und in der Annehmlichkeit überhaupt den Vergleich mit vielen Ländern nicht aushält. Keinem Laboratorium kann man nachsagen, daß es wohnlich sei. Aber zunächst muß das Richtige gefunden sein, ehe man es anwenden kann. So arbeitet die Nation, der es aufs Suchen mehr ankommt als aufs Gefunden haben, mehr als eine andere unmittelbar für die Menschheit.

In zweiter Linie ist Deutschland das Gewissen der Welt. So nannte man es schon lang. Aber man verstand es einseitig moralisch und ward dann dadurch beirrt, was jedem auf dem Weg politischen Handelns als Schicksal aufgelegt wird. Was es in Wahrheit mit der richtigen Bestimmung für eine Bewandtnis hat, erhellt am deutlichsten, wenn man es auf dem Hintergrunde Englands bedenkt. England weiß nie, was es tut. Deutschland tut nichts, bevor es nicht zu wissen glaubt, was sein Tun bedeutet, und hat es etwas getan, so ist ihm vornehmstes Bedürfnis, sich über den Sinn des Getanen klar zu werden. Deutschland ist ferner Bedürfnis, seine Erkenntnis, zu bekennen. Deutschland ist also richtig der Spiegel der Welt, wie es, wenn ich nicht irre, Leibniz zuerst hieß. Und zwar ist Deutschland der einzige reine Spiegel, den wir haben, denn die französische Klarheit hat allemal rein-französische Vorurteile zum Grund. Nie ist der Franzose objektiv. Der Deutsche ist es durchaus. Also kann er eine ungeheure Bedeutung gewinnen, überall, wo es Allgemeingültiges gilt. Fortan wird nun zum mindesten die Hälfte alles politischen Lebens allein aus universalistischer Perspektive im Guten zu meistern sein. Es muß ein neues Völkerrecht zur Geltung gelangen Hier verweise ich auf die bestimmten Vorschläge, die im Baltikum-Kapitel dieses Buches stehen.. Die Beziehungen der Völker untereinander müssen überhaupt so weit als irgend möglich auf Recht und Billigkeit fundiert werden. Daß subjektivistische Nationen dazu trotz besten Willens außerstande sind, beweist, was Frankreich und England aus dem Völkerbund gemacht haben. Soll dieser jemals segensreich wirken, dann muß deutscher Geist ihn beseelen. Deutschem Geist allein gemäß wird ferner sein, die Beziehungen zwischen Weißen und Farbigen neuzugestalten, die alte Vorherrschafts- und Ausbeutungspolitik zu liquidieren. Endlich ist Deutschland vor allem berufen dazu, kraft seines unpolitischen Charakters, die Eigengesetzlichkeit der Politik, wie sie am reinsten der italienische Geist vertritt, der Eigengesetzlichkeit des menschheitlichen Kulturwollens ein- und unterzuordnen. Dazu muß es kommen. Mit rein egoistischer Politik ist auf lange Sicht hin wenig mehr zu wollen. Und wie in Indien nur der religiöse Führer zugleich Realpolitiker sein kann, weil im indischen Bewußtsein das Religiöse die tiefste Realität vertritt, so ist dem Deutschen natürlich, das Primat überall dem Geist und Geistigen und damit dem Kulturellen gegenüber dem Politischen zuzuerkennen. Sonst. kommt es gar bald zu einem neuen europäischen Krieg, und dann ist es mit Europa aus. Ich habe mich oft gefragt, wie es nur möglich sei, daß die Greuel der Jahre: von 1914-1918, die den modernen Maschinenkrieg unter allen Umständen zum Verbrechen stempeln, keine allgemein-europäische Front gegen den Krieg ins Leben gerufen haben. Jetzt weiß ich die Antwort: die überwiegende Mehrzahl hat weder Gedächtnis noch Phantasie; sie lebt aus dem Augenblick heraus, lebt dabei primitive Triebe aus; und die verlangen unter Männern natürlich für alle Ewigkeit Krieg. Der Deutsche nun hat mehr Gedächtnis als die anderen und auch mehr Phantasie, insofern als er am meisten in der Vorstellung lebt. Also, ist er der prädestinierte Protagonist des Weltfriedensgedankens. Doch die mögliche Bedeutung Deutschlands im betrachteten Sinn beschränkt sich nicht auf Einzelaufgaben: in der neuentstehenden Welt, wo auf dem Übertragbaren aller Nachdruck ruht, hat das Volk eine physiologische Vorzugsstellung, in der das Menschheitliche – um es einmal so zu sagen – über dem Nationalen von Hause aus dominiert. Denn hier liegt die Wurzel des deutschen Universalismus. Bei diesem handelt es sich weniger denn je um ein zu Überwindendes: fortan kann gerade der Universalismus dem deutschen Volk nationale Bedeutung schaffen. Gewiß wird das exklusiv Nationale an Bedeutung in Zukunft nicht abnehmen, im Gegenteil; inwiefern auch das Nationale höchste Zukunftsbedeutung bat, werden wir im Italien-Kapitel sehen. Aber die neuentstehende Welt – hier verweise ich nicht nur auf das Buch gleichen Namens, sondern vor allem auf meine »Vision der kommenden Weltordnung« im »Weg zur Vollendung«, Heft 10 – wird ein höchstgespanntes bipolares Gebilde sein; Nationalismus, aus irrationaler Wurzel gewachsen, und geistgeborener Universalismus, in den Mächten der Wissenschaft, der Metaphysik, der Religion, des Rechts, der Wirtschaft, des Kapitals verkörpert, werden sich gegenseitig die Wage halten. Den universalistischen Pol zu vertreten, ist kein zweites Volk so berufen wie das deutsche. Erkennt es darin seinen eigentlichen Sinn, dann wird auch sein Expansionsdrang, ja seine Maßlosigkeit ihren Gefahrencharakter im Bewußtsein der anderen verlieren. Denn dem Universellen ist Unendlichkeitsstreben gemäß, und kein Maß ist zu groß für das Allumfassende. Dann wird Deutschland das für alle lebende Land sein, so wie es jeder große Deutsche von jeher war. Es gibt nämlich nicht einen europagültigen Deutschen, der nicht von dieser universalistischen Weite gewesen wäre. Der nationalistische Deutsche, im Gegensatz zum nationalistischen Franzosen, zählt kulturell und menschheitlich nicht, der ist pommerische oder bayerische Privatangelegenheit, wenn nicht gar die von Vereinen. Im Rahmen des Universellen jedoch kann auch die minderwertige Funktion des Deutschen im Guten wirken: der sachliche Deutschentyp zuerst kann zeigen, wie alles Versachlichbare auf die Stufe der Sachen zu senken und damit als Lebensproblem zu erledigen sei. Denn was zur »Tüchtigkeit« gehört, muß anstandshalber ebenso selbstverständlich und unmittelbar funktionieren wie die Post oder allerpersönlichstenfalls ein lebendiger Schutzmann als Wegweiser auf einer Straßenkreuzung.

Damit gelangen wir denn zur tiefsten und heiligsten deutschen Aufgabe: sie ruht auf der Grundlage des tiefsten deutschen Pathos. Als Introvertierter vermag der Deutsche aus letzter Tiefe nur zweierlei: innerlichst erleben oder aber aus letzter Innerlichkeit heraus vulkanisch hervorbrechen. Und das bedeutet in der Erscheinung: er kann aus letzter Tiefe zeugen und gebären. Die großen Aufwühler der Geschichte des nach-antiken Europa waren sämtlich Deutsche: von der politischen Aufwühlung durch die Völkerwanderung bis zu Luther und Nietzsche. Aber vor allem waren Deutsche die großen Verarbeiter, die jeden geistigen Impuls assimilierten und in Form universeller Geistesschöpfungen herausstellten und dergestalt fortpflanzten. Denn da die Deutschen ein weibliches Volk sind, so ist der Zeuger Ausnahme in ihm, der Gebärende Regel. Doch hier erst erweist sich die ganze Menschheitsbedeutsamkeit des Deutschtums. Das jeweilige letzte Wort Deutschlands, von seinen großen mütterlichen Geistern herausgestellt; erhob nie den Anspruch, ein absolut letztes zu sein, wie es dies beim Franzosen tut; seine Klarheit war nie im buchstäblichen Sinne abschließende Klarheit. In einer Welt des Werdens und Vergehens bedeutet solche immer nur Beschränktheit. Absolut letzte Worte wird es, solang die Menschheit lebt, nie geben; immer wieder wird sich das Menschheitsproblem neu stellen, immerdar das Leben problematisch bleiben. So nun sieht der Deutsche es allein. Der einzige, der es überhaupt vergleichbar sieht, ist der Jude; und die Juden sind als Schöpfer des Alten Testaments und insofern Begründer jenes Ethos, auf das die ganze westliche Weltgewaltigkeit zurückgeht, ihrerseits eins der allergrößten Menschheitsvölker, wie immer es mit ihnen sonst bestellt sei. So liegt gerade im problematischen, ja im undeutlichen Charakter des Deutschen sein größter Vorzug, wie im allzu deutlichen des Franzosen sein größter Nachteil liegt. Selbstverständlich bedingt die gezeichnete deutsche Anlage, daß nur die Höchstpunkte im Guten bedeutsam sind. Die meisten Aufwühler sind nur Störenfriede, die meisten Verarbeiter formunfähige Wiederkäuer, die unter der Maske geistiger Interessiertheit nur geruhsames Philistertum spazieren führen; und die meisten problematischen Naturen sind solche im schlechten Sinn. Doch die Struktur des deutschen Volks bedingt eben, daß es nur auf diese Größten ankommt. Alles andere bei ihm ist, vom Standpunkt der Menschheit, Vorstufe.

Auf der Ebene des zuletzt Betrachteten bringen denn die Deutschen gelegentlich Gestalten und Gestaltungen hervor, denen kein anderes Volk Europas Gleichwertiges zur Seite setzen kann. Hier liegt zunächst die Urwurzel der deutschen Musik, der größten Musik aller Zeiten. Musik ist nicht Sein im bildhaften Sinn, sondern Werden und Vergehen im Rahmen einer Sinneseinheit Vgl. meine ausführlichen Betrachtungen über das Wesen der Musik im Kapitel »Werden und Vergehen« von Wiedergeburt.: größte Musik kann folglich nur ein Volk des Werdens schaffen, dessen letztem Wesen entspricht, innerlich zu erleben und sein Erlebnis zu bekennen. Hier liegt die Urwurzel der großen deutschen Philosophie; der Philosoph ist auf dem Gebiet des Verstehens das gleiche wie der Musiker auf dem des Gefühls. Und hier liegt auch die Urwurzel der unvergleichlichen menschlichen Größe der Deutschen, welche solche erreichten. Das bisher größte Beispiel solcher bietet Goethe. Worauf beruht dessen Menschheitsbedeutung? Auf jener letzten, äußersten Vorbildlichkeit, daß in ihm alles Unzulängliche produktiv wurde. Sie ist die letzte und äußerste deshalb, weil Menschsein unzulänglich sein heißt; so verstand sogar Christus sein armseliges Menschsein in bezug auf seinen göttlichen Kern. Da nun die menschliche Bedeutung des Deutschtums den meisten Nicht-Deutschen vor allem fraglich ist, so sei hier der Fall Goethe etwas eingehender analysiert. Goethe war typisch deutsch; das meiste im Lauf dieses Kapitels über den Deutschen überhaupt Gesagte gilt von ihm. Die lutherische Sinnesart hallt wieder aus dem orphischen Urwort: »So mußt du sein usw.«; die seltsam theoretische Art, auf die er zu sich selbst stand, war ein Ausdruck unter anderen der Irrealität des deutschen Geists; von dieser her strebte auch er dem Erlebnis zu. Wohl suchte er seine Natur dynamisch zu entwickeln, aber vor allem lag ihm doch daran, das Ergebnis dessen zu erleben. Auch ihm war das Erlebnis an sich die eigentliche Zentrale seines Lebens, obschon er weniger davon sprach als die Modernen und es im Objektiven, der Objektivation, zumal der begrifflichen, zu fassen strebte; auch seine äußerste Instanz war daher das Ja-Sagen zu sich selbst; die Willensbestimmtheit, die zur Erfüllung auf der Ebene des Ethos, im Unterschied vom Pathos, führt, fehlte, wie den meisten Deutschen, auch ihm. Dieses tritt gerade im Faust sehr deutlich zutage, diesem seltsamen Gedicht, in dem man Zustand an Zustand gereiht sieht, ohne daß der spätere je eine notwendige Vertiefung oder Steigerung eines früheren bedeutete; diesem Drama, welches dermaßen episch ist, daß es eigentlich mit nichts anderem als dem natürlichen Tode ausklingt, denn nicht die mindeste Steigerung liegt darin, daß Faust sein tat- und ereignisreiches Leben als Landwirt abschließt. Vergleicht man damit das Leben irgendeines großen Tatmenschen oder Heiligen, so erhellt sofort, was dieser Umstand bedeutet. Auch Goethes Männliches lag auf der Ebene des Tüchtigkeits- und Ordnungstyps: man vergesse nie, daß Goethe guter Staatsminister eines Kleinstaats war und ein sehr guter Geschäftsmann; so ist er der eigentliche Begründer des Autorenschutzes durch das Verlagsrecht. Goethe war also, als Typus, ein deutscher Geistiger wie andere auch. Und der bloße Reichtum seiner deutschen Veranlagung im Sinne der Extension macht ihn noch nicht zu dem ganz großen Mann, als welcher er heute erkannt ist. Goethes Größe beruht auf der unvergleichlichen Tiefe, Wahrhaftigkeit und Intensität seines Deutschtums. Sie beruht zunächst, in Funktion unserer Grundbestimmungen ausgedrückt, darauf, daß sein Leben ein einziges Experiment, eine einzige Gewissenserforschung war, daß er die Welt in einzigartiger Reinheit spiegelte und daß seine Existenz ein einziges »Stirb und Werde« bedeutet. Nun aber setzt Goethes Einziges ein. Von Hause aus bewegte sich sein Leben zwischen den beiden deutschen Polen: erleidendes Erleben – Irrealität des Geistes; von jenem ging er aus, in diese stellte er es wieder und wieder hinaus, zu jenem strebte er aus diesem immer wieder zurück; aber von dieser Seinsebene gelangte er zu einer höheren hinauf. Insofern er, als große deutsche Ausnahme, nicht die »Sache« letztlich ernst nahm, sondern sich selbst, nicht die herausgestellte Erkenntnis, wie der Gelehrte, sondern sein persönliches Leben, gelangte er, in den letzten Jahrzehnten seines Erdenwandels, zu einer Verschmelzung von subjektivem Erleben und objektivem Erkennen, zu einer Synthesis des erkenntnisbedingten Lebens, das aber nie am Ende war, nie am Ende sein konnte, weil sein Sinn ewiges Fortschreiten war. Damit wurde nicht nur alles Unzulängliche überhaupt in Goethes Person und Dasein im höchsten Sinne produktiv: dank seiner unvergleichlichen Ausdrucksgabe wurde es dies für alle. Damit leuchtete, historisch gesehen, ein neues, höheres, weil von tieferer Erkenntnis bedingtes Wirklichkeitsbewußtsein in Europa auf. Denn damit wurde der Geist aus der Entwirklichung, in die ihn das Christentum versetzt hatte, zum Beherrscher des Lebens berufen. Damit begann sich der Fluch des Essens vom Baum der Erkenntnis dank erreichten höheren Bewußtseins in Segen umzusetzen. Damit tauchten neue Möglichkeiten der Vollendung am Horizonte auf. Daher denn die ungeheure suggestive Kraft von Goethes Persönlichkeit. Sie beruht vor allem auf der bestimmten Bewegung, die er versinnbildlichte, und zwar dank dem epischen Gange seines Lebens so bis ins Einzelne deutlich, daß man der Zeitlupe gedenkt: der Bewegung von der Irrealität des Geistes her zum vollendeten Wirklichkeitsbewußtsein. Alle Menschen suchen ja heute den Weg, ob sie es wissen oder nicht, aus der Selbstentfremdung zum Selbstbewußtsein zurück. Diese Selbstentfremdung begann in dem Augenblick, wo das Bewußtsein überhaupt erwachte, und mit ihm die Fähigkeit, zu den Dingen der Welt nicht unmittelbar, sondern auf der Bildfläche des Vorgestellten in Beziehung zu treten; dies besagt unter anderem der Mythos vom Sündenfall. Aber diese Selbstentfremdung hat sich fortlaufend gesteigert, sie ist heute so groß geworden, daß der Mensch als vorstellendes Wesen jeden Zusammenhang mit seiner Wirklichkeit verloren hat. Mehr noch: der einseitig entwickelte Verstand hat den ganzen seelischen Organismus der westlichen Menschheit zersetzt; diese ist, als Vorstellende weiter als irgendeine frühere, als Seiende in einen chaotischeren Zustand zurückgefallen, als dieses je seit Sintflutstagen der Fall war. Nun ist es unmöglich, die alte Unschuld wiederzugewinnen. Jetzt kann nur eines helfen: die Einsicht so weit zu vertiefen, daß sie nicht zerstörend bleibt, sondern wieder aufbauend wird. Jetzt kann neues Leben erst aus vollendetem Wissen erblühen Vgl. die Ausführung dieses Gedankenganges im Kapitel »Was uns nottut, was ich will« meiner Schöpferischen Erkenntnis..

Das erste ganz große Beispiel dergestalt erkenntnisbedingten Lebens hat Goethe gegeben. Und damit wäre wohl klar, worin die tiefste Möglichkeit des Deutschtums überhaupt liegt: sie liegt, in einem Wort gesagt, in der immer erneuten Möglichkeit einer Wiedergeburt aus dem Geist. In irgendeiner Form verwirklichte jeder ganz große Deutsche gerade diese Möglichkeit. Dies gilt von Luther im Sinn religiöser Selbstbestimmung, von Nietzsche in Form psychologischer Selbstbesinnung, von Stefan George im Sinne geistgeborener Selbst-Formung. Gewiß folgt hieraus nicht, daß das deutsche Volk von allen das größte sei. Dieser in Deutschland leider noch landläufigen Vorstellung liegt nichts Besseres als der typische Größenwahn des Introvertierten zugrunde, welcher immer an der Grenze der Schizophrenie liegt. Weder Geist, noch geistige Entwicklung, noch auch Kultur sind Selbstzwecke. Selbstzweck ist letztlich für jeden nur sein individuelles Heil, was an der Schwelle des Todes zum mindesten auch jedem klar wird. Eine Einstellung, die in diesem Heil ihr Ziel sieht, ist absolut tiefer als die des deutschen Geistigen. So sind auch englische Lebenszentrierung auf der praktischen Besserung der Welt, französische Ausdrucks- und spanische Haltungskultur an sich kein Geringeres als deutsche Geistigkeit. Angesichts des Hochmuts der Priester dieser muß ich jedesmal der drei gedenken, die zu Schlachtensee das Schicksal der Welt in der Hand hielten und es leider vertaten. Es ist auch höchste Zeit, daß das ridicule dieses Hochmuts aufhörte. Ein noch so tiefer oder ehrlicher Denker ist als Denker an sich einem Menschenkind beliebiger Einstellung nicht überlegen. Er ist auch nicht substanzreicher, er ist bloß anders. Die Deutschen sind einfach sonderliche Menschen mit daraus sich ergebenden sonderlichen Aufgaben. Sie sind das Volk bestimmender Bewußtheit, bestimmenden Geists. Ebendeshalb können sie vieles schlechter als andere Völker. Als Menschen sind sie typischerweise besonders unzulänglich. Wohl aber sind sie, als ewig Werdende, trotz ihrer großen Fehler, die geborenen Pioniere in Zeiten der Erneuerung. Und das ist viel. Wohl aber bringen sie von Zeit zu Zeit ganz große Strebende und niemals Fertige hervor. Und das ist gewaltig. Denn Menschsein heißt streben und nie fertig sein.

 

Zum Schluß noch ein Wort über Österreich. Ob es zum Anschluß kommt oder nicht in Raum und Zeit, das weiß ich nicht. Doch daß er wesentlich bereits erfolgt ist, ist desto gewisser. Gleichfalls gewiß ist, daß die Staatsgrenzen Europas immer weniger bedeuten werden. Österreich ist urdeutsch, daran ist nicht zu rütteln. Wer immer an Deutschland denkt, muß Österreich als integrierenden Bestandteil mit hineinbeziehen.

Allerdings sind die Österreicher anders als die Reichsdeutschen. Aber welcher Deutsche wäre nicht irgendwie anders als jeder andere? Hier verweise ich auf den Eingang dieses Kapitels zurück: der Deutsche steht und fällt mit seinem Partikularismus. Er steht und fällt jedenfalls im Guten mit ihm, denn da der Akzent in ihm, wo er richtig liegt, auf dem Einzigen ruht, so muß dieses in der Erscheinung extreme Mannigfaltigkeit ergeben. Nationaler Ausgleich im französischen oder englischen Verstand ist für Deutsche unmöglich, ohne daß sie ihr Bestes preisgeben. Hier nun gehen die Möglichkeiten und Notwendigkeiten des Partikularismus so weit, daß Deutschland direkt undeutsche Typen organisch einschließt, und zwar nicht bloß im Sinn aus der Art geschlagener Sonderkasten, sondern unmittelbar nicht deutscher Völkerschaften. Auf dem Gebiet des Lebens gibt es ja nirgends Monaden im absoluten Sinn; alles hängt hier innerlich und äußerlich zusammen; hier gibt es kein Ich ohne korrelatives und polares Du. So war keine Kultureinheit je hermetisch abgeschlossen. Die Antike lebte recht eigentlich in bezug auf das kultivierte Barbarentum. In das moderne Europa gehören zwei wesentlich nicht-europäische Länder als notwendiges Du mit hinein. Erstens Rußland. »Für sich« wird Rußland immer ausschließlicher einerseits und andererseits asiatischer, trotz aller Intellektualisierung und Technisierung, die heute ebensowenig ein inneres Verhältnis zu Europa mehr erfordern, wie Rechnenkönnen eine persönliche Beziehung zu Adam Riese. Aber wer könnte den heutigen Seelenzustand unseres Erdteils ohne Bezugnahme auf Dostojewsky verstehen? Wer wird ihn bald ohne Lenin verstehen können? Dabei bedeuten beide Geister für Rußland ganz anderes als für uns. Dostojewsky steht zu seinem geliebten Vaterland in einem ähnlichen Verhältnis wie Jesus zu den Juden: er ist wesentlich nicht Rußlands Messias. Lenin hingegen wird im Osten immer mehr zum Bild eines Heiligen, während er uns, absolut genommen, das Satanische repräsentiert, und historisch den Erwecker der kompensatorischen fascistischen Gegenbewegung. Das zweite nicht-europäische Land, das dennoch unbedingt zum neuen Europa gehört, ist das schon betrachtete Spanien. Analog steht es denn mit Deutschland, das hier im selben Sinn als Spiegel Europas erscheint, wie der beste deutsche Geist die Welt spiegelt; direkt undeutsche Elemente gehören grundsätzlich mit hinein. Erstens weil die Begriffe Deutschland und deutscher Geist mehr zusammenfallen, als die von Deutschland und deutschem Volkstum; ganz Mittel- und Osteuropa beherrscht nun einmal jener; dann, weil das Nationale beim Deutschen überhaupt eine geringere Rolle spielt als bei anderen Völkern. Deshalb entsprach das politische Ungebilde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation dem deutschen Wesen besser als der moderne Nationalstaat. Der Staat ist keine organisch-deutsche Idee; noch heute, wie zu Arminius' Zeiten, fühlt sich der Deutsche viel mehr als Stamm oder als Partei, denn als Volkheit. Weitere Unterschiedlichkeiten schafft die Abgeschlossenheit der deutschen Natur. Da leben grundverschiedene Menschen nah beieinander, ohne ineinander überzugehen, gleich wie verschiedene Blumen in einem Garten. Der ungeistige Kölner hat mit dem Belgier mehr Ähnlichkeit als mit dem Deutschen Goethescher Artung; der reine Niedersachse, der Hamburger ist dem Engländer nächstverwandt. Andererseits sieht der Russe im Tschechen mit Recht einen in slawischer Sprache redenden Deutschen: sein besonderer Protestantismus ist in der Tat, wenn irgendetwas, deutsch. Der Tscheche ist ohne eigene Seele; die Verselbständigung des tschechischen Staats bedeutet viel mehr eine soziale als eine nationale Umwälzung. Alle Oberschichten Böhmens waren längst austrofiziert, außerordentlich viele bedeutende Österreicher waren andererseits tschechischen Ursprungs. Der Österreicher nun, vom Neu-Deutschen noch so verschieden, gehört ins Reich der Deutschen auf Grund des Rechts der Erstgeburt hinein, denn er repräsentiert Deutschlands ältesten Kulturtypus.

Österreich ist das eine repräsentative deutsche Land – »Stille im Lande« gibt es aller Art auch unter deutschen Stämmen, doch sie bedeuten politisch und historisch nichts –, dessen lebendige psychologische Wurzeln nicht erst aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg stammen. Seine Bewohner sind die einzigen Deutschen von mit den Westvölkern gleichem kulturellen Alter. Es ist das einzige Land, in dem die Tradition des Heiligen Römischen Reiches fortlebt, wo der deutsche Universalismus sonach noch heute einen Körper hat, weshalb kein Wunder erscheint, daß die Idee jenes Reiches Österreichs beste Jugend neu ergreift. Daß Österreich im übrigen anders ist als die anderen deutschen Länder, ist nur ein Sonderausdruck dessen, daß Deutschland potentiell alle nur möglichen Typen in sich begreifen kann, die letztlich doch den gleichen Generalnenner haben: auch der Österreicher bekennt sich letztlich zum deutschen Geist. Der Österreicher ist nicht introvertierter Denktyp; er ist kein Ordnungsmensch; er ist in erster Linie psychologisch und gefühlsmäßig begabt, insofern dem Engländer ähnlich. Er ist diskret, hat Form, auf allen Gebieten, ein dem französischen gleichwertiges Qualitätsbewußtsein, weswegen Weltreputationen außer in Paris auch in Wien gemacht werden. Was speziell diese Stadt betrifft, so verhält sie sich zu Deutschland so, daß seine Bildung persönlich und nicht sachlich ist, daß Grazie hier der Schwere gegenübersteht, Leichtfertigkeit dem Ernst, Esprit der Gründlichkeit, Lyrismus mozartisches Geistes dem Gemüt. Aber der Österreicher ist andererseits charakterschwach, und mit seiner Tüchtigkeit ist es nicht weit her. Geistig unbegabt ist er durchaus nicht; überaus viele Erfindungen hat er zuerst gemacht, doch war er meist zu indolent, um sich das Urheberrecht zu sichern. Vor allem aber war der österreichische Deutsche dank seiner Stellung der herrschenden Schicht in der Donaumonarchie, die aber wenig zu tun hatte und keine ernste Verantwortung trug, zu einer Art von Luxuspflanze geworden; dies gilt zumal vom Höchstausdruck des Österreichertums, dem österreichischen Adel. Dessen Leben war schon lange ein rein dekoratives gewesen. Kein Wunder denn, daß er, als das Gebäude der Donaumonarchie zerfiel, zu Staub zerbröckelte, so wie der Stuck, wenn eines Palastes Decke einstürzt. In den Söhnen so mancher lebender österreichischer Aristokraten sind aller Wahrscheinlichkeit nach die Begründer von Dynastien formvollendeter Oberkellner zu verehren. Denn der Kellner ist wohl die letzte Sublimierung des Kavaliers; als Kellner sind wohl alle auf Kulturboden überzüchteten Geschlechter aller Zeiten geendet, wenn sie nicht ausstarben.

Aber wenn die feinste Blüte des alten Österreichertums historisch erledigt ist, so gilt dies mitnichten von Österreich als Wesen und Ganzheit. Dessen Länder sind noch kerngesund. Als ökonomisches Zentrum des Nahen Ostens hat Wien mehr Zukunft denn je. Vor allem aber lebt noch der österreichische Geist, dieser uralte und hochdifferenzierte Kulturgeist, der immer wieder beliebiges Blut assimilierte, welcher Völkerschaften verschiedenster Sprache durchdrang und dank dem jahrhundertelang die politische Wundertat vollbrachte, sie mit sanfter Hand auch äußerlich zusammenzuhalten. Dieser Geist ist der Antipode des preußischen. Seine Lebensmodalität liegt im Lassen und nicht im Tun, in der Weichheit und nicht in der Härte. Das Österreichertum ist insofern wesentlich, politisch beurteilt, der zweite Brennpunkt des Kraftfeldes Deutschland, dessen erster Preußen ist; es war kein Zufall, daß zuerst Österreich, später Preußen führte, nachdem einmal der mittelalterliche Zustand hinter ihm lag und Differenzierungen größeren Stils den kleinen Platz gemacht hatten. Aber in Zukunft darf man »Deutschland« ebensowenig allein in der Spannung Preußen-Österreich einbeschlossen sehen, als in der Spannung von Weimar und Potsdam: Weimar, Potsdam und Wien zusammen erst umgrenzen mit einiger Genauigkeit den ganzen Reichtum des deutschen Wesens, wie es sich heute darstellt. Wieder einmal wirkt sich das Weltgesetz des »Stirb und werde« aus. Das alte Preußen ist tot; so ist es das alte Österreich. Theoretiker meinten nach dem Zusammenbruch, nun sollte Weimar allein bestimmen. In Wahrheit aber entsteht, aus dem Sterben der alten heraus, eine neue reichere Einheit als es irgendeine frühere war: was in der Explikation nicht mehr lebensfähig ist, wird nun Bestandteil eines Größeren, Niedagewesenen. Potsdam ist der Brennpunkt einerseits von Klein-Deutschland, andererseits der modernen deutschen Weltgewaltigkeit; Potsdam ist insofern auch das Sinnbild des amerikanisierten Deutschland. Weimar ist das des reinen und universellen deutschen Geists. Wien nun ist Sinnbild und Brennpunkt zugleich der deutschen Kultur. Kultur gibt es nur als Form, als äußeren Ausdruck, als Leben. Nur die extravertierte Abart des Deutschen hatte insofern die psychologische Möglichkeit, Kultur zu schaffen. Diese nun ist in ihrer Wiener Prägung hei aller Sonderart nicht weniger universell wie der Geist von Weimar. Von Wien aus hat die deutsche Musik die Welt erobert. Der österreichische Mensch hat als Kulturtyp überall werbende Kraft. Wien liegt im Osten; den heute selbständigen jungen Völkern schenkte es zuerst Kultur. Aber zugleich bedeutet es in ähnlichem Sinn das Fenster Deutschlands nach dem Westen, wie dies St. Petersburg für Rußland war. Es gehört noch psychologisch in die alte Kulturgemeinschaft der Christenheit hinein. Es ist nicht wesensverschieden von Frankreich und England. So ist es kein Wunder, daß die Wiedereroberung Europas durch deutschen Geist im kulturpolitischen Verstand seit Versailles von Österreich ausgeht. Mag Österreich noch so schwach sein: die in ihm lebendige Idee ist noch heute die, welche einstmals das Heilige Römische Reich Deutscher Nation erschuf. Österreich ist innerlich nicht allein noch, sondern auch schon europäisch. Gewiß wird es nie mehr vorherrschen. Das Heilige Römische Reich ersteht nie wieder; Geschichte wiederholt sich nicht. Wohl aber wird Österreich im künftigen Groß-Deutschland, durch den Dreiklang Wien-Potsdam-Weimar umgrenzt, als Vertreter deutscher Kultur eine größere Rolle spielen, als während des letzten Jahrhunderts der Donaumonarchie. Denn im inniger zusammenhängenden Europa von morgen wird die geistige Wurzel dessen, was einmal in Gestalt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erblühte, nämlich die übernational-europäische Idee, in zeitgemäßer, erweiterter Form die Geschichte erneut bestimmen.


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