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Das Baltikum

Im Sommer 1920 ward mir zum erstenmal nach der Revolution die Rückkehr in meine Heimat, Estland, gestattet. Ich fand in Rayküll äußerlich nichts verändert. Mein Haus stand noch, genau so eingerichtet, wie ich es 1918 verlassen hatte. Meine alten Leute bewillkommneten mich herzlicher denn je. Meine sämtlichen Gewohnheiten waren bekannt, wurden respektiert.

Wie sollte es anders sein? Vor anderthalb Jahren erst war ich von meinem Stammschloß fortgezogen; den Weltkrieg über hatte ich ununterbrochen dort gelebt. Und doch wunderte ich mich. Und schon in wenigen Tagen ging meine Verwunderung in Schauder über. Ich war als Gespenst heimgekehrt. Wurde ich auch von denen liebenswürdig aufgenommen, welche sich vor dem Umsturz anders zu geben pflegten, so lag dies eben daran: gegen Gespenster ist jeder höflich; man kann nie wissen … Und dann war ich keinesfalls mehr irdische Realität. Ich war in der Tat so heimgekehrt, als wäre ich mein eigener Großvater gewesen: vor 40 Jahren selbstverständlicher Besitzer, nun in keiner Hinsicht mehr am Platz, alle spätere Ordnung störend. Oder vielmehr, die Diskrepanz war eine viel größere noch. Für das Bewußtsein der Esten schieden Jahrhunderte 1920 von 1918. Damals gab es sie als Volk gar nicht, sie waren nur Unterschicht. Nun war ein kaum je ernstlich gehegter Selbständigkeitstraum dank einer einzigartigen historischen Konjunktur, welche die Schaffung der kleinen selbständigen Baltenstaaten als Bollwerk gegen den Bolschewismus den Siegermächten des Weltkriegs erwünscht erscheinen ließ, erfüllt.

Aber warum war ich deshalb zum Gespenst geworden? Hier lag eine wahre Ironie des Schicksals. Wir Balten hatten 1918 die Deutschen ins Land gerufen, weil dies das einzige Mittel war, es vor Zerstörung durch die Russen zu retten. Wir haben also nicht nur alle bisherige Kultur des Landes geschaffen: auch daß sie während des Weltkriegs erhalten blieb, ist unser Verdienst. Aber wir waren eine dünne Oberschicht anderer Rasse, anderer Sprache. Es schlug die Stunde des Aufstiegs derer, die bisher unten waren. Und da wurden wir aus dem Geist desselben Bolschewismus heraus, zu dessen Abwehr die Selbständigkeitswünsche der Esten und Letten Erfüllung fanden, erledigt. Und die Siegermächte unterstützten in diesem Fall noch jenen Geist, weil seine besondere Auffassung von Privatbesitz und -recht die neuen Staatswesen am schnellsten kreditwürdig machte. Dieser Geist des Bolschewismus war – und ist, wo er noch herrscht – von einer Kraft, von der sich keiner eine Vorstellung machen kann, der ihn nicht erlebt hat. Wie selbstverständlich annullierte er Geschichte. Das war in Rußland möglich, weil dessen geschichtlich gewordene Struktur im Unbewußten der Mehrheit seiner Bevölkerung nie Wurzel gefaßt hatte. Sie glaubte weder an römisches noch germanisches Recht; was die Oberschichten an Ordnung in die Welt gesetzt, war für ihr Unbewußtes nicht verbindlich; sie waren physiologisch die gleichen geblieben wie zur Zeit Stenka Rasins; die marxistische Ideologie war nur ein neues Auswirkungsmittel für uralte Triebe Vgl. meine ausführliche Bestimmung des wahren Sinns des Bolschewismus in meiner Neuentstehenden Welt.. Die französische Revolution ließ die fundamentalen Gesetze, die das frühere Franzosenleben geregelt hatten, psychologisch beurteilt, intakt, denn alle Franzosen erkannten sie, wenn nicht bewußt, so doch unbewußt an; daher die Möglichkeit der späteren Restauration. In Rußland fand eine vollkommene solution de continuité statt. Da kamen neue Menschen hoch, denen die Rechte derer, die kürzlich noch geherrscht hatten, nicht mehr bedeuteten, wie heutigen Griechen die Besitztitel der Pelasger. Da sieht man, wie alles letztlich auf die realen psychischen Kräfte ankommt. Recht kann sich nicht halten, wo es nicht anerkannt wird; Besitz ist illusorisch, wo der Glaube an seine Berechtigung schwand. Da beginnt das Leben wirklich vollkommen neu.

Die estnische Revolution war nun ihrem Geiste nach zunächst ein Sonderausdruck der russischen, wie denn in Estland, als sie ausbrach, viel mehr Russen hausten als solche, denen Estland-Heimat war; sie war es in dem weitesten Verstand, daß sie Geschichte annullierte. Seit 1918 war es auf einmal, als hätte es uns Balten als eigentliche Eingeborene seit siebenhundert Jahren nicht gegeben. Und es lag wirklich das Äquivalent von Jahrhunderten zwischen 1920 und 1918. Das spürte ich nun von der ersten Minute an. Die sechs Wochen, die ich damals auf alte Art im angestammten Schloß verbrachte, waren die furchtbarsten meines Lebens; vor ständigem Herzklopfen konnte ich kaum schlafen; die äußere Unverändertheit der Umwelt ließ mich das innere Anderssein nur desto stärker fühlen. Und das Gefühl war so entsetzlich vor allem darum, weil ich bald wußte, daß es sich bei dieser »russischen« Revolution auf baltischem Boden um ein Sinnwidriges handelte. Sicher wäre mir die Abfindung mit dem gleichen Schicksal im eigentlichen Rußland leichter geworden, denn dort war es Anangke. Das Baltikum jedoch gehört dem westlichen Kulturkreis an. Das Unbewußte seiner sämtlichen Bewohner hatte kaum mehr lebendige russische Motive in sich, wie das der Franzosen. Der estnische und der lettische Staat leisteten, indem sie den Damm gegen die sarmatische Flut bildeten, genau das gleiche, wie bisher die baltischen Ritterschaften. Der ganze Gegensatz zwischen Deutsch-Balten und Urbewohnern war insofern künstlich konstruiert. Ich wußte, daß Estland sich bald nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich westlich orientieren würde, daß es sich bei seinem Bolschewismus nicht um den Ausbruch der wahren Natur, sondern eine von außen her importierte Seuche handelte …

 

Und doch bin ich für nichts dankbarer, als Geist, als gerade für die Tragödie meines Baltentums. Dank dieser habe ich persönlich erlebt, was sonst allenfalls, als halbe Wahrscheinlichkeit, aus mythenhafter Überlieferung rekonstruiert wird. Ich habe ein Volk persönlich entstehen sehen. Als ich ein Kind war, da handelte es sich bei den Esten noch um kein Volk, sondern – ich gebe hier bekannten Wörtern ein wenig abweichenden Sinn – Bauern- und Dienerschaft; Gesinde. Wie denn ein Bauernhof charakteristischerweise bei uns mit dem letzteren Wort bezeichnet wurde. Die Sprache war die eines Urvolks; Abstrakta fehlten fast ganz. Dafür gab es reichste Möglichkeit, die hunderterlei Nuancen zwischen Wald und Moor, zwischen Wiese und Feld, zwischen den verschiedenen Flugarten des Wildes zu bezeichnen. Ungefähr gleichzeitig mit mir erwuchsen die ersten Geschulten und Gebildeten, die sich, da sich in der Heimat kein genügendes Tätigkeitsfeld für sie fand, über das ganze russische Reich verteilten. Wie nun die Revolution kam, da erwies sich urplötzlich ein regierungsfähiges neues Volk als da; so plötzlich, daß ich mir ein für allemal gelobte, eine Wirklichkeit nie mehr nach dem Augenschein zu beurteilen. In meiner Jugend war das Baltikum, politisch beurteilt, deutsch, denn nur die deutsche Oberschicht zählte. Dann erschien es russisch. Im Kriege, als Millionen russischer Soldaten das Gebiet besetzt hielten, erreichte dieser Aspekt seinen Höhepunkt. Aber kaum kamen, 1918, die Deutschen, da war es wiederum, als sei Estland ununterbrochen deutsch gewesen. Und als die deutschen Truppen, im Herbst des Jahres, fortmußten, da war Estland auf einmal ganz unzweideutig estnisch und nichts anders. Wo kamen die betreffenden Führer her? Sie waren natürlich schon früher da, mitten unter uns; nur merkte man sie nicht. So sehr kommt auf die Bedeutung alles an … Gewiß schien manches, was nun vorging, nicht nur gewaltsam, sondern künstlich herbeigeführt. Es mußte eine Schriftsprache fertig sein, die allen modernen Anforderungen genügte; sie mußte verstanden werden. Die ersten Staatsmänner erfanden persönlich Wort auf Wort. Ich erlebte den Erlaß eines Unterrichtsministers, nach dem ein bestimmtes Verbum von nun an anders als bisher zu konjugieren sei. Aber es war doch nicht künstlich, was da geschah, denn das Volk griff das Vorgeschriebene sofort und selbstverständlich auf. Es war, in neuzeitlichem Ausdruck, eben das, wovon die ältesten Mythen berichten: irgendein König erfand die Sprache, schuf die Begriffe, wandelte Jäger zu Ackerbauern um … Das ist auch heute noch möglich, es war nicht nur einmal so. Es bedarf nur der gleichen Bruthitze des Entstehen-Wollens und -Könnens zugleich, und die Schöpfungsgeschichte wiederholt sich in ihrer ganzen alten Unwahrscheinlichkeit.

Ich kann aus eigener Erfahrung nur von Estland reden. Aber in Lettland war es nicht viel anders. Und Litauen bot, trotz der einmaligen historischen Selbständigkeit und Größe der Litauer, insofern ein noch extremeres Bild, als es diese Nation seit langem kaum mehr gab; sie mußte nicht nur befreit, sondern zum Teil neu erfunden werden. Aber ähnlich war es letztlich wohl überall, wo in Europa als Folge des Weltkriegs neue Völker entstanden. Darüber muß man sich klar sein, um die Gewaltsamkeit ihrer Politik zu verstehen. Toleranz ist der Normalausdruck innerer Sicherheit. Selbst England war immer nur liberal, wenn es sich auf lange hinaus als ungefährdeter Sieger wußte, und unterdrückerisch, wenn es sich gefährdet fühlte. Die meisten Sukzessionsstaaten entstanden nun künstlich, unvorbereitet, dabei in den meisten Fällen im Rahmen nicht naturgemäßer Grenzen, so wie sie eben Lehrer der Mathematik und Religion abstecken, wenn sie Geographie behandeln, und dabei in erster Linie darauf bedacht sind, durch Sicher-Tun ihre Autorität zu behaupten. So konnte ihr innerer Zustand auf lange hinaus auch im Frieden nur ein Kriegszustand sein. Die Expropriations- und Minoritätenpolitik erklärt sich so allein. Der eine neue Staat, der innerlich vollkommen reif zu seiner Entstehung war, Finnland, hat sie ja in keiner Weise mitgemacht. Äußerlich lagen die Verhältnisse dort nicht viel anders wie im Baltikum. 90% Finnen, 10% Schweden; beide lieben sich nicht. Aber in beiden prädominiert das Gefühl des Finnländertums und der gemeinsamen Geschichte. Damit war eine radikale Politik wie die der meisten anderen Sukzessionsstaaten psychologisch ausgeschlossen. Äußerlich war diese überall wohl russisch inspiriert. Ohne das Beispiel, daß eine Klasse andere mit gutem Gewissen einfach vernichtet, daß sie den Besitz glatt konfisziert, wie ähnliches zuletzt unter der spanischen Inquisition, und auch da nur im Fall von Individuen geschah, hätten Tschechen, Rumänen, Serben, Esten, Letten usw. nie daran gedacht, ihre Heimatgenossen anderen Volkstums so zu behandeln, wie dies geschehen ist. Gewiß mußte die Landfrage eine neue Lösung finden; wo einmal die alte Herrenschicht zur bloßen Minorität geworden war, entsprachen die alten Besitzverhältnisse nicht den neuen historischen Umständen. Auch Härten wären keinesfalls ganz zu vermeiden gewesen, denn jede Annullierung von wohlerworbenem Recht durch neues. wirkt als solche. Doch die besonderen Härten, die in dieser Krisis bestimmend wurden, sind nichts als mehr oder weniger gelungene Bolschewismus-Imitation. Die Völker, die sich ihrer schuldig machten, werden sich einmal ihrer schämen. Ökonomisch erscheinen die betreffenden »Reformen« schon überall ad absurdum geführt. Und ebenso dämmert es den jungen Völkern schon fast überall, so wenig sie's noch zugeben, daß es ein Widersinn war, die Minoritäten ausschalten zu wollen. (In diesem Sinn hat gerade Estland mit seiner Gewährung der Kulturautonomie einen vorbildlichen Schritt einer besseren Zukunft zu getan.) Nach der furchtbaren Zerstörung des Weltkriegs und nach dessen Folgen ist die Sammlung aller besten Kräfte zu gemeinsamem Werk schlechthin überall die erste Voraussetzung zum Neuaufbau. Überdies stirbt, gerade auf Grund der neuen Karte Europas, die so viele Fremdvölker neuen und deshalb besonders intoleranten Nationen einverleibte, der alte Nationalitätsbegriff. Der Staat wird sich notwendig viel mehr spezialisieren müssen als früher der Fall war, das Volkstum unabhängig vom Staat eine Bedeutung gewinnen, die es nie früher hatte Die bisher beste Untersuchung des sich neubildenden Verhältnisses von Staat und Volkstum enthält eine Abhandlung gleichen Titels von Gerhard von Mutius in der »Europäischen Revue« vom September 1927.. Und dann bedeuten Katastrophen im Völkerleben nie viel. Wohl mögen Verträge die wahren Kräfteverhältnisse lange verschleiern: auf die Dauer setzt es sich durch. Die ruinierten Minoritäten kommen, wo sie etwas taugen, erst recht wieder hoch. Unterdrückung stärkt bekanntlich: sonst wären die Tschechen usw. nie Nationen im modernen Sinn geworden. Unterdrückung stärkt erst recht, wenn innerlich starke Minoritäten entwurzelt werden: dies beweisen die Juden. Seit Urzeiten wurden gerade politisch Machtlose typischerweise reich. So werden die verlorenen Vermögen gewiß bald so oder anders neu entstehen. Die Minoritäten haben aber vor allem deshalb Zukunft, weil ihr Schicksal sie zwingt, für das der neuen Zeit Gemäße einzutreten; weil also ihre politische Zurückgebliebenheit, wo sie vorlag, jetzt aus reinem Selbstinteresse in Vorwegnahme einer ferneren Zukunft umschlagen muß. Ja, gerade die Minoritäten, die für erledigt gelten, sind heute die wahren Wegbereiter des neuen Europas. Der Staat verliert an Bedeutung: es liegt im Interesse der Minoritäten, und nicht in dem der Majoritäten, die insofern die Reaktion vertreten, sich für das neue Verhältnis von Staat und Nation einzusetzen. Das Majoritätsprinzip hat sich dadurch, daß es Minoritäten entrechtete, vom Standpunkt der fortschrittlichen Menschheit ad absurdum geführt: da muß, auf daß die Zukunft besser werde, neues, neu zu schaffendes Recht eingreifen. Hier handelt es sich darum, daß das Individuum als solches – nicht etwa die Minoritäten als solche, denn dann muß den Majoritäten logischerweise das gleiche internationale Recht zugestanden werden, und alles bleibt grundsätzlich beim alten – zum internationalen Rechtssubjekt, zum Träger gewisser unveräußerlicher Menschenrechte werde, die ihn erforderlichenfalls vor seinem eigenen Staate schützen. Dann allein und erst dann, wenn solches neues Recht besteht, wird die Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Staat, zu dieser oder jener Nation, keine gefährlichen Reibungen mehr schaffen. Schon im Augenblick der Weltkriegserklärung zeigte es sich, daß die alten Begriffe und Normen überall der Revision bedürfen. Überall erwies sich ein erheblicher Teil gerade der tätigsten Bevölkerung als dem Lande, das sie bewohnte, staatlich nicht zugehörig. Nun konnte ihnen auf Grund des bestehenden Rechts, falls sie feindlichen Staaten angehörten, alles genommen werden. Welch ein Unterschied gegenüber noch der Krimkriegszeit, da der damalige Generalgouverneur von Estland, ein Herr von Gruenewaldt, sich sorgte, ob sein Kaiser nicht gar zu ungehalten darüber sein werde, daß einige in Reval ansässige englische Kaufleute nicht so bequem mitsamt ihrer Habe abziehen konnten, wie sich's ziemte! Die traditionelle Symbiose verschiedener Nationalitäten stammt aus der Zeit vor dem Sieg der Idee des reinen Nationalstaats. Der Weltkrieg hat erwiesen, daß diese und Zusammenleben überhaupt sich, in Anbetracht immer neuer möglicher Kriegsgefahr, gegenseitig ausschließen. Die bestehende Unvereinbarkeit trat denn nach Friedensschluß überall in grotesker Kolossalität in Erscheinung. Die in den Siegerländern verbliebenen Vermögen der Bürger besiegter Staaten wurden konfisziert, als ob wir zur Zeit des Sulla lebten. Ja die Bürger des eigenen Landes, soweit sie der Nationalität besiegter Staaten angehörten, wurden unter Zustimmung der Weltmeinung entrechtet. Dies führte denn seinerseits zu grotesken Gegen-Erscheinungen: ausgerechnet jetzt, wo die Menschheit sich wie nie vorher vereinheitlicht, wo gebieterisch erscheint, um neuen Konflikten vorzubeugen, daß zwischen Gebieten hohen und niederen Bevölkerungsdrucks ein Ausgleich stattfände, schließen sich die Länder, hauptsächlich wohl um nicht wieder in die Lage zu kommen, fremdes Geld zu rauben, wie nie vorher gegen Einwanderung ab. Und andererseits wimmelt die Welt, wie nie vorher, von Staatenlosen und solchen, die beliebige Staatsbürgerschaft erwarben. Es ist nämlich in einigen Hinsichten wiederum praktischer als früher, nicht Bürger des Staats zu sein, den man bewohnt. Überdies fühlen sehr viele schon instinktiv, daß die Zeit der Bedeutsamkeit des Staats im Vorkriegssinne um ist. 1917, als Rußlands Zusammenbruch drohte, überlegte ich mir, welche Staatsbürgerschaft meinem ferneren Leben am besten entsprechen dürfte; und entschied mich in der Idee zunächst für Monaco, weil es dort die geringsten Steuern gab und Kriegsgefahr ausgeschlossen schien. Leider erfuhr ich bald, daß dieser vorbildliche Staat grundsätzlich keine Fremden naturalisiert …

Ja, die Minoritäten haben eine große Zukunft vor sich. Und dies hat nicht nur empirisch-politische, es hat metaphysische Gründe. Zweifellos waren die vormals Herrschenden oder Privilegierten auch schuldbelastet; noch nie kam es vor, daß eine Klasse ihre Vormachtstellung nicht auch mißbraucht hätte. Aber diese Schuld ist nunmehr reichlich gesühnt. Von den Ländern und Fällen, wo die Verfolgung bis ans Leben ging, sehe ich ganz ab: die bloße Tatsache des Sturzes und Ruins bedeutet für den durch hohe Stellung Typisierten seelisch tausendmal mehr als für den kleinen Mann, und verträgt er ihn innerlich, so bedeutet das tausendmal mehr, als wenn ein Bauer sich heraufarbeitet. Welcher Umstand dadurch potenziert wird, daß eine höherorganisierte Seele einer feineren Umwelt unbedingt bedarf. Das ist es, was die jetzt in den gemeinten Ländern Vorherrschenden ganz verkennen: genau so wie die Bolschewisten, insofern ihnen persönlich Gefängnis, Verschickung und dürftigste Lebensfristung in fremdem Land als normale Lebensbedingung erschien, die allerletzten waren, um die Wohnungsfrage gerecht zu lösen, genau so sind alle Wertmaßstäbe, die jene bei der Entschädigung (wo solche überhaupt vorgesehen ist) anlegen, von Hause aus verfehlt. So haben denn die einstmals Privilegierten schon heute alle Schuld überreichlich abgebüßt. Aber jetzt winkt ihnen ein neues Privileg: Böses mit Gutem dadurch zu vergelten, daß sie alle Kraft daran setzen, Ungerechtigkeit für die Zukunft unmöglich zu machen. Das Häßliche und Grausame, das sich in der Seele der Neuhochgekommenen so hochgradig manifestiert, ist zu einem sehr großen Teil die Folge früher fehlender Aufstiegsmöglichkeit: solch seelischen Verbildungen muß für die Zukunft vorgebeugt werden. Es darf überhaupt keine Bedrückten und Nicht-Geachteten mehr geben. Ja, den verfolgten Minderheiten steht insofern eine unmittelbar messianische Aufgabe bevor.

Was grundsätzlich von allen Minoritäten gilt, gilt im allerhöchsten Grade von den Deutsch-Balten. Diese haben in keiner Weise historisch ausgespielt. Erstens einmal setzen die Esten und Letten das fort, was wir begannen, in allen Hinsichten; und wo keine wirkliche solution de continuité vorliegt, kann auch die Vorstellung nicht dauernd lebendig bleiben. Die kultivierten Wälder, das Hauptkapital der jungen Staaten, sind unsere eigenste Schöpfung; stemmen sich Eesti und Latwiya als Glieder der westlichen Völkergemeinschaft Rußland entgegen, so setzen sie damit, noch einmal, nur die traditionelle Politik der baltischen Ritterschaften fort. Wir aber denken nicht daran, auszusterben. Der ausgewanderte Teil wird natürlich in den jeweiligen Asyl-Völkern aufgehen. Aber sehr viele sind geblieben, ein ursprünglich Emigrierter nach dem andern kehrt zurück. In der Arche Noah rettete sich von jeder Tierart nur ein Pärchen, und mehr als genügend Tiere zählt meines Erachtens dieser Planet: bei uns sind weit mehr als ein Paar fast jeder Familie daheimgeblieben. Und die Daheimgebliebenen erscheinen, als Gesamtheit, innerlich nicht geschwächt, sondern gestärkt. Obgleich sie ruiniert sein sollten, erhalten sie mehr deutsche Schulen als je zuvor; ihr geistiges Leben ist intensiver geworden; wo sie der Scholle näher kommen, wie in Litauen und Lettland, wo Restgüter erhalten blieben, jedoch so klein, daß ein Herrenleben nicht mehr möglich ist, dort wird auf die Dauer eine Verjüngung der Rasse die Folge sein: immer erneut ersprießen Kulturen aus Bauerntum hervor. Und dann ist unser Typus wesentlich gefahrenfroh: wir waren verknöchert, weil wir zu lang zu sicher waren. Nunmehr erwacht aufs neue die alte Kraft. Ich weiß von nur sehr wenig Balten, die so herabgekommen wären, daß kein Neu-Aufstieg mehr, wenn nicht für sie, so doch für ihre Kinder, wahrscheinlich wäre. Das ist für mich der entscheidende Beweis dafür, daß adelige Gesinnung absolut höher steht als bürgerliche. Die Balten sind nämlich ein rein aristokratischer Menschtyp, darin in Europa den Ungarn nächstverwandt. Auch die dem Stande nach Bürgerlichen – im Baltikum hieß man sie Literaten – sind als Typen, verglichen mit den Reichsdeutschen, reine Herrenmenschen; bei allem Gemeinschaftssinn fühlt jeder Balte sich an erster Stelle einzig. Natürlich tritt dieses heute nach Verlust der äußeren Herren-Position nicht mehr so deutlich in die Erscheinung. Aber wie prachtvoll mannigfaltig war, auf Grund des herrenmäßigen Einzigkeitsbewußtseins, das alte baltische Leben! Ich lebte in Rayküll immer als Einsiedler. Aber fuhr ich je zu Festen auf andere Schlösser, dann freute ich mich desto mehr daran, wie jeder einzelne im besten Sinn Original war; jeder war da ein Typus für sich, wie jeder einzelne der homerischen Helden; es hätte eigentlich, genau wie dazumal, nur Vornamen zu geben gebraucht. Um dieses Einzigkeitsbewußtseins willen vertrugen die Balten denn auch ihren Sturz wie keine andere gestürzte Oberschicht in dieser Zeit. Von den Männern will ich schweigen. Aber man nenne mir ein modernes Äquivalent des Folgenden. Als die Deutschen über den Sund nach Estland einzumarschieren drohten, wurden sämtliche männlichen Mitglieder des Adels, derer die Bolschewisten habhaft wurden, in zwei Viehwaggons gepfercht und nach Sibirien verschickt (bis auf zwei kehrten sie alle ungebrochen wieder heim); sämtliche Edelfrauen jedoch über dem Minen- und Torpedolager der baltischen Flotte interniert. Ein Matrose stand mit einer Lunte Wache: kaum kämen die Deutschen über das Eis, so sollte das ganze Gebäude in die Luft fliegen. Nicht eine Edelfrau bewies die geringste Furcht; es herrschte vielmehr ausgelassene Heiterkeit – von den niederen Mordgesellen lassen wir uns doch nicht imponieren. Eben deshalb wurden sie baldigst freigelassen. Ja, adelige Gesinnung ist die menschlich höchste im absoluten Sinn. Der Bürger ist der Mensch der Sicherung, der Adelige der Mensch der Gefahr, des Risikos. Gesichertheit nun widerspricht dem Sinn des Lebens, auf das ja unter allen Umständen Todesstrafe steht. Insofern der Bauer im Erdenschicksal verhaftet ist, ist auch er kein Mensch der Sicherung. Aber ganz sinngemäß gestaltet ist einzig der Typ des Edelmanns. Deshalb werden wir Balten bestimmt nicht untergehen, solange wir uns nicht verbourgeoisieren. Überall schlägt heute eine neue Adelsstunde, so sehr, daß vielfach von einem Wiederanknüpfen an die Zeit von vor 1789 die Rede ist: dies liegt eben daran. Und in der Tat ist die neuentstehende Welt den noch so ruinierten Edelleuten am meisten, den Proletariern am wenigsten hold. Diese drohen in einem Grad zu verbourgeoisieren, wie dies von keinem Bürger jemals galt. Man prophezeit den Niedergang Frankreichs von wegen seiner Rentnerpsychologie: was war das französische Rentnertum je, an Zahl sowohl als an Grad, verglichen mit dem Sozialrentnertum, das sich in Deutschland bildet? Von den Krankenkassen über die Arbeitslosenversicherung bis zur Altersfürsorge: alle neueste Sozialgesetzgebung zielt dahin, den Arbeitern Rentner-Seelen zu schaffen. Schon heute ist es vielfach so, daß wer nicht durch irgendwelche Schiebung mit 40 Jahren gesicherter Sozialrentner ist, sich deklassiert glaubt … Bleibt es dabei, dann geht Deutschland, wie jedes Land, das ähnlich gute Gesetze gibt, unfehlbar zugrunde. Doch es kann nicht so bleiben. Schon ist der Zirkel durchlaufen. Wenn privilegierte Könige, privilegierte Priester, privilegierte Edelleute, trotz ihrer geringen Zahl, sich als für die Dauer untragbar erwiesen, so wird dies erst recht von privilegierten Arbeiterschaften gelten. Wo sich die ganze Welt industrialisiert und kein außereuropäisches Volk noch den Gedanken des Sozialrentners gefaßt hat, ist klar, daß Europa die Konkurrenz nur aushalten wird, wenn es wieder »gefährlich zu leben« lernt. Tut es dies aber, dann wird der Edelmann ganz von selbst wieder zum Führer werden.

 

Was ist es nun mit dem Baltikum als Ganzheit, von Europa her gesehen? Zunächst ist es ein Gebiet eigensten Geists. Ich kenne wenige Landschaften von gleicher Gestaltungskraft; nur Nordamerika und der Balkan scheinen mir, als Boden, gleich schöpferisch. Neueste Forschung weist den Völkern, die man früher kaukasisch oder indogermanisch hieß, meine Heimat als Urheimat zu; gern schenke ich dem Glauben. Sicher wohnten die Goten einmal dort. Das Estnische zählt in seinem Sprachschatz noch heute gotische Worte. Seither haben Völker finnischer, germanischer und slawischer Abstammung umschichtig prädominiert (die Letten, die heutigen Herren Lettlands, kamen erst nach den Deutschen hin; die Urbevölkerung, welche diese vorfanden, war nicht lettisch). Aber nicht auf der Abstammung ruht hier der Bedeutungsakzent, ebensowenig wie in den Vereinigten Staaten, sondern auf dem einheitlich-Besonderen, in das alles Blut in den baltischen Landen eingeht. Der Reichsdeutsche, welcher im Baltikum aufwuchs, wurde Balte; so der Pole, Schwede, Russe, ja der Jude. Fand diese Assimilation nicht statt, so lag das daran, daß sich die Betreffenden – so vor allem die russischen Beamten – künstlich abschlossen. Gewiß ist der Balte kein festdefiniertes Gebilde. Sein nördlicher Typus berührt sich mit dem nordischen Menschen, der auch den Schweden und den Petersburger macht; sein südlicher und westlicher wiederum mit dem Polen. Und das Deutschtum der historischen Oberschichten gibt jedem Balten – wes Blutes immer, denn das Herrschende wirkt immer bildend durch Suggestion – einen besonderen deutschen Charakter, unabhängig von Sprache und Bildung. Aber sogar beim Deutsch-Balten macht nicht das Deutschtum den Balten, obgleich er bis auf seltene Ausnahmen einen stärkeren und ausschließlicheren Akzent auf sein Deutschtum legt als irgendein anderer Deutscher, sondern sein Baltentum. Dieses ist in abstracto schwer zu definieren, da es sich um ein Grenzgebilde handelt. Doch ein Blick auf das eine Analogon seiner, das es in Europa gibt, öffnet das Tor zum Verständnis: ich meine den Belgier. Belgien stellt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, psychologisch, französisch-deutsches Grenzland dar. Ob das Deutsche dominiert, wie beim Vlamen, oder das Gallo-Romanische, wie beim Wallonen: sein Belgiertum ist doch sein Wesentliches. So ist auch der Balte an erster Stelle Balte, gleichviel ob er mehr deutsch ist oder mehr polnisch, schwedisch (der Typus des Estländers ist entschieden mehr Schwedisch als deutsch) oder russisch, ob er den völkischen Akzent auf das Deutschtum oder das Esten- und Lettentum legt. Jeder wurzelechte Bewohner des Baltikums wirkt auf den Außenstehenden in erster Instanz als Balte. In ihm leben, noch so unbewußt, deutsche Ideale, deutsche Kulturtradition und deutsches Ethos, skandinavische Unabhängigkeit, allgemein slawische Geschmeidigkeit und Schnelligkeit und spezifisch russische Urwüchsigkeit und Großzügigkeit als Elemente nebeneinander, das Ganze zusammengehalten durch den spezifischen Landschaftsgeist, welcher die Urform des Wikingers schuf. Denn der Wikinger war wesentlich wohl Balte: der abenteuerfrohe Sohn des baltischen Meers. In seiner Wikingerartung liegt denn auch die spezifische Grenze des heutigen Balten. Gleich den seefahrenden Normannen ist er seelisch nicht reich ausgeschlagen; leicht wirkt er trocken und dürr. Er ist klug, temperamentvoll, geistreich, doch nur im Ausnahmefall weltoffen im pathischen Sinn. Tritt hier noch Turanierblut als Dominante hinzu, wie bei den Esten, so werden Positivismus und Nüchternheit zu Grundzügen. Es gibt sehr viele mögliche und wirkliche Schattierungen, je nach der Verteilung der Elemente. Aber das Baltentum als solches ist dennoch überall das Grundcharakteristikum. Dessen reiner Typus tritt natürlich, wie überall, nur bei Begabtesten klar in Erscheinung; und unter diesen waren bisher alle oder doch fast alle deutschen Bluts. Aber diese Deutschen sind wiederum alle im gleichen Sinne anders wie Reichsdeutsche. Handle es sich um Harnack oder Patkul, Alexander von Oettingen oder Karl Ernst von Baer, den Chirurgen Werner Zoege von Manteuffel, den letzten Estländer des traditionellen großen Formats, Alexander Keyserling, meinen Großvater, den Mongolenhäuptling Ungern-Sternberg oder mich: immer war es der gleiche Grundtypus.

Ohne Zweifel nun werden die heute herrschenden Volksschichten des Baltikums immer mehr in den traditionellen Grundtypus hineinwachsen. Soweit sie von ihm abweichen, tun sie's ja viel mehr als Unterschichten, denn als Träger besonderen Bluts. Und daß es auch in ihnen liegt, nach Überwindung des Untertanen- und Parvenügefühls zu Herrentypen zu werden, beweist schon heute ihre ausgesprochene Antibürgerlichkeit. Offenbar liegt das am Genius loci. Auch Schweden, auch Rußland ist unbürgerlich. Aber Schweden ist dabei nicht aristokratisch, und Rußland wesentlich unadelig; kann es heute im Zeichen der Diktatur des Proletariats regiert werden, so liegt das am gleichen Umstande, der den Russen von je mit seiner Niedrigkeit großtun ließ. Die baltische Landschaft nun gebiert immer wieder Herren.

Natürlich wird der Este und der Lette als Balte anders sein als der Deutsch-Balte; selbstverständlich spielt das Blutserbe mit und dann die psychologische Situation. Die Esten und Letten sind nur dem Geist des Nachkriegseuropas einigermaßen angepaßt und verleugnen bewußt alle Tradition, zu der wir Deutsch-Balten uns bewußt bekennen. Die estnische Nüchternheit ist spezifisch turanisch, ebenso ihre Zähigkeit; unverkennbar ist hier die psychische Verwandtschaft mit Ungarn und Türken. Andererseits haben die Esten viel Skandinavisches und wenig spezifisch Deutsches in ihrer Seelenstruktur. So ähneln die indogermanischen Letten wiederum den Slawen. Und doch sind beide Völker, wie sich jedem Außenstehenden auf den ersten Blick offenbart, der Deutsch-Balten nächste Verwandte; sie verhalten sich nicht anders zu diesen, wie der aus dem tiers-état hervorgegangene Franzosentyp zum alten Adel. Auch hier handelt es sich ja um rassenmäßig verschiedenes Blut. Überall in Europa, das seine Sonderart, im Unterschied von der Rußlands, Amerikas und Chinas dem verdankt, daß seine verschiedenen Landschaften immer erneut erobert wurden, was immer neue Überschichtungen ergab, sind die verschiedenen Klassen grundsätzlich verschiedenen Bluts. Hieraus erklärt sich viel, zumal in der Geschichte der letzten zweihundert Jahre, wo die Religion der Gleichheit zum erstenmal dem Tatbestand eine mächtige Gegenideologie entgegensetzte. Sind alle Franzosen trotz aller Blutsverschiedenheit wesentlich Franzosen und (freilich in weit geringerer Vereinheitlichung) alle Deutschen wesentlich Deutsche, so liegt das daran, daß Geschichte und Landschaft zusammen das Verschiedenblütige psychisch zusammenschweißten. Im Baltikum nun ist es in erster Linie die Landschaft, die alle Bewohner des Baltikums zu Balten macht; sie ist von größter formender Kraft. Und besteht kein historisches Gemeinsamkeitsbewußtsein, so besteht andererseits in weit höherem Grade Blutsgemeinschaft, als die früheren Ober- und die früheren Unterschichten wahrhaben wollen. Alle Eroberer der Erde ohne Ausnahme zeugten von jeher Kinder mit den Töchtern des Landes. Insofern in früheren Zeiten, im Gegensatz zur heutigen, mehr Nachkommen der Ober- als der Unterschichten am Leben blieben, waren sie buchstäblich die eigentlichen Landesväter; im Anfang der Geschichte stammten ja oft ganze Stämme von ihren Königen ab. So erklärt sich der durchgehend fränkische Typus der meisten Franzosen bis auf die des Südens und Westens – der eingewanderten Franken waren niemals viele. Gleiches hat sich natürlich in sehr hohem Maß im Baltikum ereignet. Zumal die Esten führen sicher kaum weniger germanisches – schwedisches und deutsches – Blut in ihren Adern wie finnisch-ugrisches; überdies besteht wohl noch eine gotische Ur-Unterlage. Diese Blutsgemeinschaft, nicht die Rassenverschiedenheit ist denn die Hauptwurzel des Extremismus der baltischen Agrarrevolution.

 

Welche Zukunft ist dem Baltikum zu prophezeien? Zweifelsohne eine sehr wichtige, bedeutsame. Wie so oft, wird sich auch hier Zurückgebliebensein als Vorzugsstellung erweisen. Deutschland steigt neuerdings recht eigentlich wegen des Dreißigjährigen Kriegs, der es zurückwarf, unaufhaltsam hoch: dank dem hat es noch begabungsschwangere Mittel- und Unterschichten, kann seine Bildungspyramide eine so breite Basis haben; heute steht ja fest, daß Demokratie die Unterschichten an Begabung sterilisiert und begabte Erblinien frühzeitig aussterben läßt: gegen Wohlleben muß man ebenso immunisiert werden wie gegen Blattern, und bei allzu schnellem Aufstieg bleiben die Vorbedingungen solcher Immunisierung unerfüllt. Im Baltikum nun sind wertvollste nordische Menschen bis vor wenigen Jahren ganz erdverhaftet geblieben. Der ganze Schwindel vom einzig wertvollen Germanentum ist heute ja wissenschaftlich erledigt: es ist der nordische Mensch, ob rein, ob mit ostbaltischem Blut vermischt, auf den es ankommt, und diesem Typus gehören auch die Esten und Letten an. Aber die deutsche Herrenschicht war gleichfalls auf ihrer Ebene zurückgeblieben; und insofern sie ein abgeschlossenes Sonderdasein führte, insofern sie in einem vormodernen Zustand verweilte, ist auch sie unverbraucht. Wie aller Einfluß von oben nach unten geht, so machen die Esten und Letten jetzt zunächst unsere Fehler nach. Wir begingen den Fehler, das Deutschtum als politische Idee aufzufassen, was es unter den gegebenen Verhältnissen nicht sein konnte. Im gleichen Sinne sehen die Esten und Letten jetzt ihre Ziele im Esten- und Lettentum; ihr Nationalismus ist in nichts sinnreicher als der unsere. So werden die verschiedenen Stämme, die das Baltikum bewohnen, denn wohl eine Weile in interner Fehde miteinander leben. Aber die eigentliche Geschichte meines Heimatlandes kommt ja erst. Was bisher auf seinem Boden vorging, war nichts anderes, wie was überall nach ersten Eroberungen geschah. Die eigentliche Geschichte des Ostens Westeuropas hat ungefähr um tausend Jahre später begonnen als die seines Westens. Dies wiederum entspricht der Nachbarschaft mit Rußland, dessen eigentliche Geschichte vielleicht noch gar nicht begonnen hat; dessen zaristische Zeit wird möglicherweise einmal mit der vorminoischen Periode gegenüber dem klassischen Hellas verglichen werden. Hier denn müssen wir wieder an Belgien denken, jenes genaue Pendant, im Westen, des Baltikums, wenn wir richtig sehen wollen. Was ist auf dessen Boden nicht alles geschehen! Wer hat dort nicht alles geherrscht! Zuletzt, sehr spät, entstand ein dauerhaftes selbständiges Reich eigenen Charakters. So steht das Baltikum ganz gewiß noch im Beginn seiner Entwicklung. Erst kam das Ritterzeitalter – dessen Verkörperer waren wir Deutsch-Balten; jetzt ist das der Urbewohner angebrochen. Aber dabei wird es nicht bleiben. Zwangsläufig werden immer mehr Vermischungen stattfinden. Zwangsläufig wird das Eingezwängtsein zwischen Deutschland, Polen und Rußland auf die Dauer eine neue Einheit schaffen, und dies zwar gleichsinniger Art, wie es die der baltischen Ritterschaften war. Ob diese Länder immer selbständig bleiben, wer kann es sagen? Jeden Augenblick mag Rußland sie überrennen; sie mögen auch wieder unter andere Fremdherrschaft geraten. Aber wenn der so wenig zahlreiche Adel schon nicht eigentlich zu erobern, geschweige denn zu assimilieren war, so wird dies erst recht von den weiter gefaßten Volkheiten gelten. Und immer mehr werden, in der Gefahr, alle Balten zusammenstehen, so wie die deutschbaltische Jugend in derselben Zeit, wo das Baltentum vernichtet werden sollte, ganz selbstverständlich ihr Blut gegen die roten Armeen vergoß. Bis daß sich das neue Rußland konsolidiert hat, wird das Baltikum dauernd gefährdet bleiben. Das war Belgien jahrhundertelang auch. Doch desto sicherer, des bin ich überzeugt, wird eine neue baltische Nation sich bilden. Und ist es dann soweit, dann werden auch die, die uns Deutsch-Balten heute hassen, in uns die ersten Bildner des Reiches anerkennen. Dann werden die alten Wappenschilder wieder hervorgesucht werden. Dann wird die Ritter- und Domkirche zu Reval, heute estnische Bischofskirche, die Denkmäler der Ritterschaften, unter anderen den Ehrenkranz für den Ritterschaftshauptmann Alexander Keyserling nicht mehr als Überbleibsel der Fremdherrschaft bewahren, sondern als Wahrzeichen früher nationaler Geschichte.

Rußland als solches gehört ins eigentliche Bild Europas nicht mehr hinein. Es beginnt ein neues historisches Dasein. Was es Europa war, durch seine große Literatur, gehört, wesentlich gesehen, einer vom Standpunkt der Gegenwart beinahe ebenso belanglosen Vergangenheit an wie das perikleische Zeitalter in bezug auf die neugriechische Politik. Dort wird Gewaltiges, Bedeutsamstes geschehen, doch im Zusammenhang einer neuen, außereuropäischen Welt, nicht anders wie in Amerika. Aber wie ich anläßlich Spaniens ausführte: als angrenzendes Land gehört Rußland doch wiederum zu Europa. Dieses geht im Osten, psychisch wie geographisch, in Rußland über, gleichwie es mit Spanien in Afrika übergeht. Insofern bedeutet nun das Baltikum viel mehr als Belgien, mit dem ich es zuerst verglich. Letzteres Land vermittelt ja nur zwischen nahe verwandten Kulturen: das Baltikum und das Baltentum vermitteln innerlich und äußerlich zwischen zwei gewaltigsten wesensverschiedenen Kultur kreisen. In dieser Vermittlerrolle sehe ich denn die große baltische Aufgabe. Höchst merkwürdig war es, wie sich im neuen Estland in kürzester Frist nach der Revolution ein Zustand konsolidierte, den man nicht anders als nachbolschewistisch heißen kann; nachbolschewistisch nicht allein wegen der radikalen Reformen, welche als erstes einsetzten, auch nicht wegen der Überwindung des Bolschewismus an sich, sondern weil der neue, entschieden westengemäße Zustand doch ein Kind des bolschewistischen Geists, im Gegensatz zum liberal-demokratischen ist; es hat sich dort also Zukunft konsolidiert. Der russische Einfluß wird im Baltikum immerdar sehr stark sein. Und er war es immer. Trat dies vor dem Kriege nicht für alle sichtbar in Erscheinung, so lag dies an der Gegensatzstellung gegenüber Rußland, zu dem das Baltikum politisch gehörte, und dessen Russifizierungspolitik. Die meisten wissen nicht, daß Feindschaft ebenso Gemeinschaft schafft wie Liebe und nur der Gleichgültige unbeeinflußt bleibt. Jetzt, wo diese äußere Hemmung fehlt, kann sich der russische Einfluß nur immer stärker manifestieren. Wenn nicht die meisten, so doch die besten und repräsentativsten baltischen Emigranten in Deutschland finden mehr und mehr, wieviel von Rußlands Seele in ihnen lebt; und die Esten gar reden gern untereinander russisch, so wie die Balten noch zu meines Großvaters Zeiten französisch redeten. So muß im Baltikum auf die Dauer ein richtiges Übergangsgebilde zwischen Rußland und Europa entstehen, ein Übergangsgebilde, das aber doch sein Zentrum im Westen hat, genau wie Amerika, möge der Urgeist des Kontinents sich einmal noch so stark manifestieren, wesentlich europäischen Ursprungs bleiben wird. Und ein solches Übergangsgebilde braucht Europa. Wie Rußland ein Fenster nach Europa haben mußte – Peter der Große schuf es –, so bedarf Europa heute mehr denn je eines Verbindungsglieds mit dem neuwerdenden Osten, und zwar eines lebendigen, verleibten Bindeglieds, nicht bloß vermittelnder Theorie. Denn Rußland vertritt heute eine Zukunft, an welcher jeder, so oder anders, teilhaben muß, der sich den Aufgaben der neuen Geschichtsperiode überhaupt gewachsen erweisen will. Am Polarisationszentrum Moskau erneuert sich nicht allein ganz Asien: gewaltig ist seine Bedeutung auch für den Westen. Anläßlich Italiens sahen wir, inwiefern der Fascismus mit dem Bolschewismus an der Wurzel eins ist; das Schlußkapitel wird zeigen, wie sehr auch der Geist des jüngsten Amerikas mit diesem konvergiert. Sowjet-Rußland ist insofern ein Ausdruck unter anderen einer den ganzen Erdball immer mehr beherrschenden Zeitgeisteinheit. Aber ganz unabhängig vom historischen Symbolträgertum seines heutigen Zustands bedeutet Rußland für Europa viel: auch der Einfluß, den es seit Dostojewsky ausübt, wirkt stetig und gleichsinnig fort. Warum besitzt der doch so chaotische Dostojewsky-Mensch so ungeheure werbende Kraft? Nicht allein wegen seines Verflüssigungszustands gegenüber der Erstarrung vieler alteuropäischer Gestaltungen, wovon wir anläßlich Spaniens handelten: sondern weil in Rußland der Mensch jener weitesten inneren Spannung vorgebildet ist, dessen Typus allein den Aufgaben der Ökumene ganz gewachsen erscheint. Für deren Bewältigung ist der Europäer bisheriger Artung zu eng, zu provinziell; er verhält sich da ähnlich zum Russen wie der Franzose zum Deutschen und Angelsachsen. Da dies nun unbewußt jeder zukunftsträchtige Europäer fühlt, so muß Rußland eine ungeheure werbende Kraft beweisen, was immer Bewußtsein vorschütze; man erinnere sich der Betrachtung am Eingang des England-Kapitels über den Sinn der Liebe von Volk zu Volk. Unter diesen historischen Umständen nun scheint mir der Baltentyp eine sehr bedeutende Zukunftsmöglichkeit zu verkörpern; so winkt auch dem kleinen Land, von dessen Dasein vor dem Weltkrieg die wenigsten auch nur etwas ahnten, wenn nicht alle Zeichen trügen, bedeutende Zukunft. Gewiß nicht im Sinn politischer Größe. Doch in dem sehr viel wichtigeren: einer Wiege bedeutsamer Individuen. Die Aufgabe des Landes als solchen liegt auf einer Linie mit der von Polen und Rumänien: alle drei verkörpern die innerlich befestigte Grenze Europas gegenüber dem Osten. Polen ist virulenter katholisch und okzidental als irgendein Land, weil es dank seinem Slawentum seine Unterschiedlichkeit vom Russengeist besonders spürt. Rumänien betont krampfhaft seine Zugehörigkeit zur lateinischen Welt (das nächste Kapitel wird zeigen, daß es sich in Wahrheit um die griechisch-byzantinische handelt), weil der Südrusse nicht nur dicht neben ihm, sondern auch in seiner Seele sitzt. Der baltische Nationalismus und Protestantismus hat die gleichen Wurzeln. Aber im Unterschied vom Rumänen und vom Polen fühlt sich der Balte, gegenüber dem Russen, nicht wesentlich als Feind; er ist nach Osten zu nicht nur abgeschlossen, sondern auch offen. In ihm lebt der Russe auch als Verwandter. Vom Standpunkt Europas ist er geradezu der Russe westeuropäischer Abart, wofür er ja allgemein vor Weltkriegsausbruch auch galt. Das aber bedeutet: in ihm lebt, trotz seines Westländertums, die weite russische Natur, die starke russische Spannung, nur eben in Form traditioneller Kultiviertheit. So mag der Balte früher als manche andere den ökumenischen Typus aus sich heraus gestalten, den ökumenischen Typus ostwestlicher Varietät. Und speziell für Deutschland kann er das denkbar wichtigste Polarisationszentrum abgeben: er vor allem kann Deutschland dazu helfen, da er geistig zum deutschen Kulturkreis gehört, die traditionell-deutsche Engigkeit zu sprengen; die in der weiten neuentstehenden Welt nun einmal Provinzialismus ist.

Ich habe weit vorausgeschaut. Nun fliegt mein Geist zur Stätte meines Ursprungs zurück; zum Familienfriedhof von Rayküll. Wie zufällig ward er gegründet: bei einem Spaziergang durch sumpfigen Wald mit seinen Kindern stieß mein Großvater auf einen riesigen erratischen Block und sagte wie aus innerer Eingebung: Hier wollen wir alle einmal begraben werden. Mein Vater, ein Melancholiker, frühen Sterbens gewärtig, dichtete aufs gleiche Wäldchen hin:

Ich weiß es wohl, nur gar zu bald
Werd' ich zugrunde gehen.
Am fernen Nord, im Tannenwald,
Dort wird mein Grabstein stehen.

Seiner steht noch da, wahrscheinlich schon bemoost, von wucherndem Gehölz bedeckt. Meiner wird nicht mehr dort stehen. Ohne Bitternis gedenke ich des. Meine Erinnerung kann mir niemand rauben. Meines Ursprungs bin ich mir auch so bewußt. Meiner Heimat fühle ich mich nach wie vor gehörig, soweit ein Gast auf Erden solches fühlen kann. Denn eben weil ich Balte bin, nicht Reichsdeutscher, zwei Welten innerlich angehörig, ein Grenzbewohner im Sinn des Raumes wie der Zeit, Wiking und Steppenmensch, Träger ältester Tradition und fernster Zukunft zugleich, bin ich zu dem befähigt, was ich leisten kann. Mag dies die junge Baltengeneration meditieren. Die Vorkriegszeit ist endgültig um. Eine neue Ära beginnt. Neue Aufgaben stellen sich, weiter, weitester Art. Auf den Einzelnen kommt mehr denn jemals früher alles an. Der bedeutende Einzelne kann nun dort am ehesten entstehen und den Ansporn zum Werke finden, wo die Landschaft den Geist der Weite gebiert und die Enge der örtlichen Verhältnisse ihm doch die Möglichkeit versagt, sich auszuleben. Hier lag schon der seelische Ursprung des Wikings.


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