Eduard von Keyserling
Schwüle Tage
Eduard von Keyserling

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Auf der Heimfahrt kutschte er selbst. Ich wunderte mich darüber, daß er den Blessen heute durchließ, daß er nicht zog und alles dem Braunen überließ. Gesprochen wurde anfangs nichts. Ich dachte daran, daß Gerda mich geküßt hatte. So etwas kann man lange Zeit immer wieder denken. Eine gute Einrichtung für einen, der gezwungen war, so freudlos zu leben wie ich.

Plötzlich wandte sich mein Vater zu mir. Er lächelte ein gütiges, sehr jugendliches Lächeln, wie damals, als er im Garten Ellita den Handschuh aufhob. »Na«, sagte er, »dir ist wohl auch ein bißchen trüb zumute?« Ich wunderte mich über das »auch«. Er lachte: »Ja, das verstehn sie alle famos, hinter sich so – so 'ne Leere zu lassen – ha – ha. Das haben sie so an sich.« Er knallte mit der Peitsche. »Da bleibt nun nichts anderes übrig, als sich fleißig an die Studien zu machen.« Der Anfang der Betrachtung war hübsch gewesen und hatte mich gerührt. Schade, daß der Schluß so trivial war!

Faul und mißmutig ging ich einige Tage umher. Ich war traurig, aber ohne sentimentalen Genuß. Wenn ich daran dachte, daß dort, wo die Mädchen – die anderen waren, das Leben bunt und ereignisvoll weiterging und ich das alles versäumte, dann bekam ich Wutanfälle und schlug mit dem Spazierstock den Georginen die dicken roten Köpfe ab. Meinen Vater sah ich wenig. Zu den Mahlzeiten war er oft abwesend oder aß in seinem Zimmer. Wenn wir uns begegneten, sah er mich fremd und zerstreut an und fragte höflich: »Nun – wie geht es?« Auch er begann uninteressant zu werden.

In einer Nacht hörte ich wieder Margusch unten im Park singen. Ich konnte nicht schlafen. Eine quälende Unruhe warf mich im Bette hin und her. So in der finstern Stille nahm alles, was ich erlebt hatte, und alles, was kommen sollte, eine wunderliche, feindselige Bedeutung an. Das Leben schien mir dann ein gefährliches, riskiertes Unternehmen, das wenig Freude bereitet und doch schmerzhaft auf Freuden warten läßt.

Die Nacht atmete schwül durch das geöffnete Fenster herein. Das Rai-rai-rah klang aus der Dunkelheit eintönig und beruhigt herüber, beruhigt, als wiederholte es beständig: »Es kommt ja doch nichts mehr.«

Es wurde mir unerträglich, dem zuzuhören. Ich kleidete mich an und stieg zum Fenster hinaus, um dem Gesange nachzugehn.

Die Nacht war schwarz. Einige welke Blätter raschelten schon auf dem Wege. Wenn ich auf die grüne Kapsel einer Roßkastanie trat, gab es einen leisen Knall. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir. Ich horchte, schlug mich zur Seite, drückte mich fest an einen Baumstamm. Der rote Punkt einer brennenden Zigarre näherte sich. Eine dunkle Gestalt ging an mir vorüber. Mein Vater war es. Er blieb stehn, führte die Zigarre an die Lippen. Im roten Schein sah ich einen Augenblick die gerade Nase. Ich hörte ihn leise etwas sagen. Als er weiter ging, klang das eifrige Gemurmel noch zu mir herüber. Ich wartete eine Weile. Am liebsten wäre ich umgekehrt. Dieser einsame Mann, der der Nacht seine Geheimnisse erzählte, erschien mir gespenstisch. Es mußte furchtbar sein, jetzt von ihm angeredet zu werden. Aber zu Hause in meinem Zimmer war ich allein. Das konnte ich jetzt nicht. Dort unten am Teich, bei dem großen, warmen Mädchen würde es sicherer und heimlicher sein. Ich schlich weiter.

Margusch hockte an ihrem gewohnten Platz. Als ich mich zu ihr setzte, sagte sie: »Ach! wieder der Jungherr!« »Ja, Margusch. Du singst wieder?«

Sie seufzte. »Man muß schon«, meinte sie. »Ist deiner wieder fort?« fragte ich.

»Alle sind fort«, erwiderte sie mit ihrer tiefen, klagenden Stimme.

»Sieh, Margusch, deshalb müssen wir zusammen sein.« »Ja, Jungherr, kommen Sie, was kann man machen?« Und wir drückten uns eng aneinander.

Ein später Mond stieg über den Parkbäumen auf. Mit ihm erhob sich ein Wind, der die Wolken zerriß und sie in dunkeln, runden Schollen über den Himmel und den Mond hin trieb. Es war ein Gehn und Kommen von Licht und Schatten über dem Lande. Das Schilf und die Zweige rauschten leidenschaftlich auf. Ein Enterich erwachte im Röhricht und schalt laut und böse in die Nacht hinein.

»Muß man nach Hause gehn«, beschloß Margusch und blinzelte zum Monde auf.

»Schon?« »Ja, wenn sie alle hier unruhig werden«, meinte sie.

»Weißt du, daß er auch hier unten ist?« flüsterte ich. Margusch nickte: »Ja, ja – er is immer hier bei Nacht. Gehn Sie bei der großen Linde vorüber. Da geht er nicht. Ich komm' nach. Zusammen können wir nicht gehn.«

Nachdenklich schritt ich den Teich entlang. Das starke Wehen um mich her, das bewegte Licht taten mir wohl. Es war mir, als hätte mein Blut etwas von dem sichern, festen Takte von Marguschs Blute angenommen. Ich glaubte zu spüren, wie es warm und stätig durch meine Adern floß, eine stille und sichere Quelle des Lebens.

Als ich scharf um die Ecke in die Lindenallee einbog, stutzte ich, denn ich stand dicht vor jemandem, der unten auf den Wurzeln der großen Linde saß. Es war dort so finster, daß ich nichts deutlich unterscheiden konnte, dennoch wußte ich sofort, es sei mein Vater. Ich trat ein wenig zurück und blieb stehn. Ich wartete, daß er mich anrede. Die Gestalt lehnte mit dem Rücken gegen den Baumstamm, etwas zur Seite geneigt. Der Kopf war gesenkt. Schlief er? Nein, ich fühlte es in der Dunkelheit, wie er mich ansah. Ich mußte etwas sagen.

»Ich bin ein bißchen spazieren gegangen,« begann ich beklommen: »Es war so schwül drinnen.« Er antwortete nicht. »Ist dir vielleicht nicht wohl?« fuhr ich zaghaft fort: »Kann – ich für dich – etwas...«

Die Wolken waren am Monde vorübergezogen, etwas Licht sickerte durch die Zweige, fiel auf den gebeugten Kopf des Sitzenden, beleuchtete den Schnurrbart, die dunkle Linie der Lippen, die ein wenig schief verzogen, verhalten lächelten.

Macht er einen Scherz? Muß ich höflich mitlachen? – dachte ich. »Weil es so heiß war« – sagte ich stockend. Die Dunkelheit breitete sich wieder über die schweigende Gestalt. Ich lehnte mich gegen einen Baum. Die Knie zitterten mir. Ich muß zu ihm gehn, sagte ich mir, allein ich vermochte es nicht. In der leicht in sich zusammengefallenen Gestalt war etwas Fremdes, etwas Namenloses. Verlassen durfte ich ihn nicht, aber hier zu stehn war entsetzlich. Margusch bog um die Ecke. Als sie dort jemand stehn sah, zögerte sie. »Margusch«, rief ich, »Margusch – sieh – er – er – spricht nicht, ich weiß nicht...«

»Er schläft«, meinte sie. »Ach nein – ich – ich weiß nicht, ob er schläft.«

Margusch trat an ihn heran: »Gnädiger Herr« – hörte ich sie sagen, dann faßte sie ihn an, richtete ihn auf, lehnte ihn mit dem Rücken an den Baumstamm mit fester, respektloser Hand, wie man eine Sache aufrichtet. Etwas Blankes rollte über das Moos und klirrte auf einen Stein. Es war die kleine goldene Spritze.

»Er ist tot«, sagte Margusch. Sie trat wieder zu mir, seufzte und meinte: »Ach Gottchen! der arme Herr, der hat nu auch nich' mehr gewollt!«

Ich schwieg. Tot – ja, das war es, das hier so fremd bei mir gestanden hatte.

»Leute muß man rufen«, fuhr Margusch fort. »So 'n Unglück. Sie wollen wohl nich' allein bei ihm bleiben?«

»Doch!« stieß ich hervor: »Ich – ich bleibe. Geh nur!« Margusch ging. Gierig lauschte ich auf die Schritte, die sich entfernten, erst als sie verklungen waren, wurde ich mir bewußt, mit dem Toten allein zu sein. Das fahle Gesicht mit der hohen Stirn, die im Mondlicht matt glänzte, lächelte noch immer sein verhaltenes, schiefes Lächeln, die Augen waren geschlossen, die langen Wimpern legten dunkle Schattenränder um die Lider. Aber wenn der Mond sich verfinsterte, schien es mir, als bewegten sich die Umrisse der Gestalt, ich fühlte wieder, daß er mich ansah. Ein unerträglich gespanntes Warten und Aufhorchen wachte in mir; wie einem Feinde gegenüber. Ich glitt an dem Baumstamm, an dem ich lehnte, nieder, hockte auf der Erde und bedeckte mein Gesicht mit den Händen. Das, was mir dort gegenübersaß, hatte nichts mit dem, den ich kannte, zu tun; es war etwas Tückisches, Drohendes, etwas, das das Grauen, welches über ihm lag, gegen mich ausnutzte und darüber lachte. Ich weiß nicht, wie lange wir uns so gegenübersaßen, endlich hörte ich Stimmen. Leute mit Laternen kamen. Ich richtete mich auf, gab Befehle, war ruhig und gefaßt.

Ihn hatten sie drüben im Saal aufgebahrt. Die Zimmerflucht war voll hellen Morgensonnenscheines und feiertäglich still. Ich saß schon geraume Weile allein im Wohnzimmer und schaute zu, wie die Blätterschatten über das Parkett flirrten. Nebenan hörte ich zuweilen die Dienstboten flüstern. Sie vermieden es, durch das Zimmer zu gehn, in dem ich mich befand, und war es nicht zu vermeiden, dann gingen sie auf den Fußspitzen und wandten den Kopf rücksichtsvoll von mir ab. Sie wollten mich in meinem Schmerz nicht stören.

Dieser Schmerz, über den wachte ich die ganze Zeit. Er enttäuschte mich. Ich hatte seltsame, furchtbare Dinge erlebt, ich hatte also einen großen Schmerz. Ich glaubte, das müsse etwas Starkes sein, das uns niederwirft, uns mit schönen, klagenden Worten füllt, mit heißen, leidenschaftlichen Gefühlen. Gab es nicht Fälle, daß Leute, die so Furchtbares erlebten, nie mehr lachen konnten? Nun saß ich da und dachte an kleine, alltägliche Dinge. Wenn die Gedanken zu dem zurückkehrten, was sich ereignet hatte, dann war es wie ein körperliches Unbehagen, mich fror. Alles in mir schreckte vor den Bildern, die kamen, zurück, sträubte sich gegen sie. Wozu? All das war nicht mein Leben. Ich brauchte das nicht zu erleben. Ich kann das fortschieben. Das gehört nicht zu mir. Und wieder führten die Gedanken mich zu den Vorgängen des Lebens zurück, zu der bevorstehenden Ankunft der Meinigen, zu dem Begräbnis und den Leuten, die kommen würden, den Pferden, die an die Wagen gespannt werden sollten, dem schwarzen Krepp, der aus der Stadt geholt wurde und den Konrad um meinen Ärmel nähen mußte. Ich wußte wohl, ich sollte zum Toten hinübergehn, das wurde von mir erwartet. Allein ich schob es hinaus. Es war hier in der sonnigen Stille so behaglich, so tröstend, hinauszuhorchen auf die heimatlichen, landwirtschaftlichen Geräusche, auf das Summen des Gartens. Ich wunderte mich darüber, daß ich nicht weinte. Wenn ein Vater stirbt, dann weint man, nicht wahr? Aber ich konnte nicht.

Der alte Hirte kam, um mir sein Beileid auszusprechen. Er faltete die Hände, sagte etwas von vaterloser Waise. Das rührte mich. Dann meinte er, nun würde ich wohl ihr neuer Herr sein, das freute mich, es machte mir das Herz ein wenig warm. Aber ich winkte traurig mit der Hand ab.

Der Pastor kam. Sein rotes Gesicht unter dem milchweißen Haar war bekümmert und verwirrt. Er klopfte mir auf die Schulter, sprach von harter Schickung, die Gott über meine jungen Jahre verhängt habe, und von Seinen unergründlichen Ratschlüssen: »Der Verstorbene war ein edler Mann«, schloß er. »Wir irren alle. Die ewige Barmherzigkeit ist über unser aller Verständnis groß.«

Nach ihm erschien der Doktor. Seine zu laute Stimme ging mir auf die Nerven. Er schüttelte mir bedeutungsvoll die Hand: »Ein großes Unglück«, meinte er, »dieses Morphium, das läßt einen nicht los. Mit dem Herzen des Seligen war es nicht ganz in Ordnung. Ein Unglück geschieht bald.« Er sprach unsicher und eilig, als wünschte er bald fortzukommen. »Also er weiß es auch« – dachte ich – »und wir machen uns etwas vor. Aber das würde der Selige loben. Das würde er tenue nennen.«

Als sie alle fort waren, beschloß ich, zu dem Toten hinüberzugehn. Es mußte sein. Ich hatte das Gefühl, als läge er dort nebenan und warte. Ich war noch nie mit einem Toten zusammengewesen, denn das – gestern nacht, war kein Erlebnis, es war ein böser Traum. Als ich in das Zimmer trat, wo er aufgebahrt lag, war meine erste Empfindung: »O! das ist nicht schrecklich!«

Konrad war da. Er hatte noch an dem Anzug seines Herrn geordnet. Jetzt trat er zur Seite und stand andächtig mit gefalteten Händen da. Ich faltete auch die Hände, beugte den Kopf und stand wie im Gebete da. Als ich glaubte, dieses habe lange genug gedauert, richtete ich mich auf. Da lag der Tote, schmal und schwarz, in seinem Gesellschaftsanzuge, mitten unter Blumen. Das Gesicht war wachsgelb, die Züge messerscharf, sehr hochmütig und ruhig. Die feine, bläuliche Linie der Lippen war immer noch ein wenig schief verzogen, wie in einem verhaltenen Lächeln. Eine kühle Feierlichkeit lag über dem Ganzen. Und rund um die stille, schwarze Gestalt die bunten Farben der Spätsommerblumen; Georginenkränze wie aus weinrotem Samt, Gladiolen wie Bündel roter Flammen, große Spätrosen und Tuberosen, eine Fülle von Tuberosen, die das Gemach mit ihrem schweren, schwülen Dufte erfüllten. Konrad schaute mich von der Seite an. Ob er sich darüber wunderte, daß ich nicht weinte? Ich legte die Hand vor das Gesicht. Da ging er leise hinaus.

Nein, ich weinte nicht. Aber ich war erstaunt, daß der Tote so wenig schrecklich war, daß er ein festliches und friedliches Ansehn hatte. Ich konnte mich hinsetzen und ihn aufmerksam, fast neugierig betrachten, die schwere, kühle Ruhe, die ihn umgab, auf mich wirken lassen. Wie überlegen er dalag; geheimnisvoll wie im Leben, mit seinem verhaltenen, hochmütigen Lächeln: »Man muß wissen, wenn das Haus fertig ist« – klang es in mir. Jetzt verstand ich ihn. Das hat er gewollt. Aber Widerspruch und Widerwille gegen diese Lehre regte sich in mir, wie damals, als er die Lehren des alten Türken vorbrachte oder über gute Manieren sprach. O nein, das nicht! Nicht für mich! Alles, was in mir nach Leben dürstete, empörte sich gegen die geheimnisvolle Ruhe. Es war mir, als wollte der Tote mit seinem stillen Lächeln mich und das Leben ins Unrecht setzen. Er hatte das gewollt, aber ich – ich wollte das nicht, noch lange nicht. Ich brauchte nicht zu sterben, ich lehnte den Tod leidenschaftlich ab. Leiden, unglücklich sein – alles – nur nicht so kalt und schweigend daliegen! Ich erhob mich und verließ eilig das Zimmer, ohne mich umzuschauen.

Der Sonnenschein dünkte mich hier nebenan wärmer und gelber als dort drinnen. Ich ging an das Fenster, beugte mich weit hinaus, atmete den heißen, süßen Duft des Gartens ein. Große Trauermäntel und Admirale flatterten über dem Resedebeet, träge, als seien ihre Flügel schwer von Farbe. Fern am Horizont pflügte ein Bauer auf dem Hügel, ein zierliches, schwarzes Figürchen gegen den leuchtendblauen Himmel. Töne und Stimmen kamen herüber. Drüben hinter den Johannesbeerbüschen lachte jemand. Das Leben war wieder heiter und freundlich an der Arbeit; es umfing mich warm und weich und löste in mir alles, was mich drückte. Jetzt tat der stille, feierliche Mann dort nebenan mir leid, der all das nicht mehr haben sollte, der ausgeschlossen war. Ich mußte weinen.

Edse, der kleine Hilfsdiener, ging unten am Fenster vorüber. Er blickte scheu zu mir auf. Es war gut, daß er mich weinen sah, denn ein Sohn, der nicht um seinen Vater weinen kann, ist häßlich.


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