Eduard von Keyserling
Schwüle Tage
Eduard von Keyserling

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Went hatte mit dem Schaukeln aufgehört und ließ die Schaukel ausschwingen. Er lehnte sich leicht gegen eine der Stangen, präsentierte seine gute Gestalt sehr vorteilhaft. Mir war er zuwider, wie er so dastand und sich von Gerdas Augen anstrahlen ließ.

»Statt zu schaukeln, solltest du zu den anderen gehen«, rief ich zu ihm hinauf: »Ellita fragt nach dir.«

Er sprang ab: »Ellita schickt dich? Ist sie unzufrieden?« fragte er.

»Natürlich«, log ich.

»So – so: Na, dann, Kinder, geh ich voraus.« Ich fand, er sah aus wie ein ängstlicher Schuljunge. Eilig lief er dem Hause zu. Ich lachte schadenfroh.

»Er hat Angst vor ihr«, bemerkte ich.

»Er! Was fällt dir ein!« Gerda wandte sich böse von mir ab und setzte sich auf die Bank. Dann versank sie in Gedanken.

»Was habt ihr beide soviel miteinander zu besprechen?« fragte ich gereizt.

»Von Ellita sprechen wir natürlich, immer von ihr«, erwiderte Gerda noch immer sinnend. »Went hat mir viel zu denken gegeben.«

»Er sollte lieber selbst für sich denken!« Ich war so böse, daß ich ein Ahornblatt mit den Zähnen zerreißen mußte.

Gerda schaute auf. Wirklicher Kummer lag auf ihrem Gesichte, etwas Erstauntes und Hilfesuchendes. Die Augen wurden feucht: »Warum sprichst du so? du weißt doch nicht«...

»Was hat er dich traurig zu machen«, murmelte ich kleinlaut. Die Liebe schnürte mir die Kehle zusammen. Am liebsten hätte auch ich geweint, wenn das angängig gewesen wäre. Gerda begann zu sprechend, schnell und klagend. Es war nicht für mich, das sie sprach, sie mußte es heraussagen: »Warum muß Ellita so schlecht gegen ihn sein? Er liebt sie doch. Und nun kann sie ja fort von hier, hinaus. Das will sie doch. Er tut ihr nur Gutes. Aber sie war immer so, ich weiß, jetzt wird sie nicht mehr einsam sein und arm.«

»Arm?«

»Ja, Ellita sagt, wir sind arm.«

»Aber es ist doch alles so fein hier bei euch?« wandte ich ein.

»Ach!« meinte Gerda: »das ist nur wegen der Mama, weil sie bei Hof war und eine beauté, da muß sie das haben.«

»Ach ja, das war damals, als sie sich so schrecklich tief dekoltierte, wie auf dem Bilde im Saal«, bestätigte ich.

»Sei nicht dumm«, fuhr Gerda mich an: »Gewiß sind wir arm und müssen immer hier sitzen. Und wenn alles verschneit ist und keiner zu uns kommt und in den Zimmern die Öfen heizen und Kerzen gespart werden, dann geht Ellita durch die Zimmer, immer auf und ab wie ein Eisbär, und spricht mit keinem und sieht Mama und mich böse an. Oder sie geht in ihr Zimmer und tanzt stundenlang allein Bolero, in der Nacht weint sie. Ich hör' es nebenan. Sie tut mir leid, aber es ist auch zum Fürchten. Aber jetzt hat sie ja alles. Warum ist sie nicht froh? Warum quält sie Went? Warum weint sie nachts? Warum tanzt sie noch allein Bolero?« jetzt hingen Tränen an Gerdas Wimpern, runde Tröpfchen, die in der Sonne blank wurden: »Ja – etwas Trauriges geht jetzt immer zwischen uns herum. Ich weiß nicht, was es ist.«

Ich wußte auf alldas nichts zu sagen. Ich griff daher nach Gerdas Hand und begann sie zu küssen. Aber sie entzog sie mir: »Bill, sei nicht lächerlich. Komm, schaukle mich lieber.«

Sie setzte sich auf die Schaukel, bog den Kopf zurück, schaute mit verzückten Augen empor, ganz regungslos, nur die Füßchen in den weißen Schuhen bewegten sich nervös und ruhelos. Während ich die Schaukel hin und her warf, hing ich meinen trüben Gedanken nach: Natürlich war Gerda in diesen Went verliebt. Sie weinte um ihn, jetzt dachte sie an ihn und erlebte aufregende, traurige Dinge mit ihm, und ich war ein gleichgültiger Schuljunge, der arbeiten sollte und nicht mitzählte. Das kränkte mich so, daß ich nicht mehr schaukeln mochte.

»Warum schaukelst du nicht?« fragte Gerda aus ihrem Traum heraus.

»Weil ich nicht will«, erwiderte ich: »Weil«, ich suchte nach etwas Grausamem, das ich sagen könnte: »Weil ich nichts davon habe, dich zu schaukeln, damit du besser an deinen Went denken kannst.«

»Meinen Went?« Gerda errötete wie immer, wenn sie böse war, ein warmes Zentifolienrosa, das bis zu den blanken Stricheln der Haarwurzeln hinaufstieg.

»Gewiß, ihr seid alle in diesen Affen verliebt.« Es tat mir zwar leid, daß ich das sagte, aber gesagt werden mußte es.

Schweigend stieg Gerda von der Schaukel, zog ihre Schärpe zurecht, dann, sich zum Gehen wendend, bemerkte sie mit einer Stimme, die überlegen, erwachsen klang, die Gerda weit von mir fortrückte: »Weiß du, Bill, bei dem allein in Fernow Sitzen hast du recht schlechte Manieren bekommen. Es tut mir leid, daß ich mit dir gesprochen habe.«

»Bitte«, sagte ich trotzig.

Gerda ging. Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen. Also die einzige Freude, die ich diesen Sommer hatte, war mir auch verdorben. Nicht einmal mich ruhig zu verlieben hatte ich das Recht. Die anderen liebten und wurden geliebt, sie hatten ihre Geheimnisse und ihre Tragödien; ich hatte nur die verschimmelten Bücher. Denn, wenn Gerda sagte, ich hätte schlechte Manieren, so war das nicht einmal etwas, das man Schmerz nennen kann. Na, sie sollten sehen. Ich würde mir schon etwas ausdenken!

Während des Mittagessens versuchte ich mein Elend niederzutrinken. Das brachte wieder ein wenig Festlichkeit in mein Blut. Ich fand die lange Tafel lustig. Wenn ich an den großen Rosensträußen vorüber auf die Mädchengesichter sah, erschienen sie mir sehr weiß mit unruhigem Glanz in den Augen und zu roten Lippen. Alles zitterte vor meinen Augen. Ich mußte lachen und wußte nicht worüber. Ich saß zwischen den beiden Marsows. Die fetten, weißen Schultern streiften meinen Rockärmel. Ich glaubte die Wärme der runden Mädchenkörper zu spüren. Sie kicherten viel über das, was ich ihnen sagte.

Mein Vater hielt eine Rede. Während er dastand, die Tuberose im Knopfloch, das Sektglas in der Hand und ein wenig lächelte, wenn die andern über seine Witze lachten, versuchte ich an die Gestalt dort im Arbeitszimmer zu denken. Aber es schien, als hätten diese beiden Gestalten nichts miteinander zu tun.

Er sprach von Vorfahren, und von der Ehe, daß sie ein beständiges Friedenschließen sei. Darüber wurde gelacht. Dann wurde es ernst. Aber – hieß es – sie ist auch ein Postament, ein Altar – »unsere Ehen«, auf dem die Frau – »unsere Frauen« geschützt und heilig steht. Denn unsere Frauen sind die Blüte unserer adeligen Kultur, sie sind Repräsentantinnen und Wahrerinnen von allem Guten und Edlen, das wir durch Jahrhunderte hindurch uns erkämpft. Das »unser« wurde mit einer weiten Handbewegung begleitet, welche die ganze Gesellschaft zusammenzuschließen und sehr hoch über die anderen, die nicht wir waren, empor zu heben schien. Alle hörten andächtig zu. Die alte Exzellenz nickte mit dem Köpfchen. Der alte Marsow lehnte sich in seinen Stuhl zurück, machte einen spitzen Mund und versuchte sehr würdig auszusehen. Ich fühlte selbst einen angenehmen Hochmutskitzel. Es war doch gut zu hören, daß man seine eigene Kultur hatte. Es wurde Hoch gerufen und man stieß mit den Gläsern an. Der Schluß der Mahlzeit war für mich ein wenig verschwommen. Ich war froh, als es zu Ende war und ich auf die Veranda hinausgehen durfte.

Ich setzte mich in den Mondschein, wie unter eine Dusche. Angenehme Gedanken gingen mir durch den Kopf.

Gerda erschien auf der Veranda. Sogleich war ich bei ihr. Ich faßte das Ende ihrer Schärpe: »O, Bill, du bist es. Warum bist du hier allein?« fragte sie.

»Ich bin hier allein«, begann ich: »weil ich verzweifelt darüber bin, daß wir uns gezankt haben. Wollen wir uns versöhnen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe.«

Sie trat ein wenig zurück, als wäre sie ängstlich: »Pfui, Bill«, rief sie, »du hast zuviel getrunken. Schäm dich.«

Dann war sie fort. Was sollte ich tun. Sie fürchtete sich vor mir. Sie sagte pfui zu mir. Nun war alles aus. Nun hatte ich meinen großen Schmerz. Ich setzte mich auf die Bank, schlug die Hände vor das Gesicht, saß da – wie – wie er – dort im Arbeitszimmer. Weinen konnte ich nicht. Es war mehr Grimm gegen die da drinnen, was mir das Herz warm machte. Ich stieg auf die Bank und schaute durch das Fenster in den Saal.

Da saßen sie alle beieinander. Wie sie die Lippen bewegten, ohne daß ich ihre Worte hörte, wie sie den Mund aufsperrten, ohne daß ein Ton zu mir drang, das sah gespenstisch aus. Die Tante in ihrem weißen Spitzenburnus lag in der Sofaecke wie eine abgespielte Puppe, die man neu bekleidet hat. Der alte Marsow streckte sich in einem Sessel aus, sehr rot im Gesicht. Die Exzellenz saß zwischen den Marsowschen Mädchen und schnüffelte mit der spitzen Nase wie eine Maus, die Zucker wittert. Und plötzlich machten sie alle andächtige, süße Gesichter, denn im Nebenzimmer sah ich Went am Klavier stehen. Er sang: »Sei mir gegrüßt – sei mir geküßt –« die Augen zur Decke emporgeschlagen, wiegte er sich sachte hin und her, und sein Tenor goß den Zucker nur so in Strömen aus. Wie unverschämt diese süße Stimme war! Wie sie den Raum füllte, die Leute kitzelte, daß sie die Gesichter verzogen, die Mädchen auf die feuchten, halbgeöffneten Lippen zu küssen schien. Mir war sie zuwider. Währenddessen kamen, wie Bilder einer Laterna magica, zwei Gestalten vor meinem Fenster aufeinander zu. Ellita, aufrecht und weiß, den Kopf ein wenig zurückgebogen, die Lippen fest geschlossen. O! die ließ sich nicht von der schmachtenden Stimme küssen! Ellita hatte eine Art zu gehen, die ihr Kleid ganz gehorsam ihrer Gestalt machte. Es schien mir immer, als müßte der weiße Musselin warm von ihrem Körper sein. Von der anderen Seite kam mein Vater. Sie standen sich gegenüber. Er sagte etwas, lächelte, strich mit der Hand über den Schnurrbart. Sie aber lachte nicht, ihr Gesicht wurde streng, böse – sie schaute meinem Vater gerade in das Gesicht wie jemand, der kämpfen will, der nach einer Stelle sucht, auf die eine Wunde gehört. Ich fühlte es ordentlich, wie ihr Körper sich spannte und streckte. Mein Vater machte eine leichte Handbewegung, sein Ausdruck jedoch veränderte sich, er biß sich auf die Unterlippe, seine Augen blickten scharf, erregt, gierig in Ellitas Augen, grell von der Lampe beleuchtet sah ich, wie sie flimmerten, wie sie sich in Ellitas Gesicht festsogen. Sie beugte langsam den Kopf, schlug die Augen nieder, schloß sie. Sie wurde sehr bleich und stand da demütig, als wäre alle Kraft von ihr genommen. Ich konnte das nicht mit ansehen. An alledem war etwas, das mich seltsam verwirrte. Ich trat von dem Fenster zurück. Meine Gedanken irrten erregt um etwas herum, das ich doch nicht zu denken wagte. Gibt es so etwas? Er und sie? Er und sie? So etwas also kann man erleben – so unheimlich ist das Leben?... Da sitzen sie alle ruhig und Went girrt sein »Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt« – und mitten drin steht etwas Wildes – etwas Unbegreifliches.

Jetzt rauschte eine Schleppe. Ellita kam durch die offene Glastüre die Stufen herab. »Ellita«, mußte ich sagen.

»Du, Bill?« fragte sie: »Bist du hier allein? Komm, gehen wir hinunter.«

Sie legte wieder ihren Arm um meine Schulter und wir gingen die Lindenallee hinab. Ellita sprach leise und mit fliegendem Atem: »Warum gehst du von den anderen fort? Bist du traurig? Hat dir jemand etwas getan? Sag? Ist Gerda schlecht mit dir gewesen? Du liebst doch Gerda, nicht? Ja, lieb sie nur; es ist ja gleich, was geschieht! Das kann dir keiner verbieten. Gerda wird wieder gut werden, das arme Kind.«

Die leise, klagende Stimme rührte mich, erfüllte mich mit Mitleid mit mir selber. Die Tränen rollten mir über die Wangen.

»Weinst du, kleiner Bill?« fragte Ellita. Es war so dunkel in der Allee, daß sie nicht sehen konnte. Mit ihrer kühlen Hand fuhr sie leicht über mein feuchtes Gesicht: »Ja, du weinst. Das schadet nichts. Weine nur. Hier sieht er uns nicht. Hier brauchen wir nicht tenue zu haben.«

Schweigend gingen wie einige Schritte weiter. Hie und da huschte ein wenig Mondlicht durch die Zweige über Ellitas Haar, über das weiße Kleid, ließ den Ring an ihrem Finger, das kleine Diamantschwert an ihrer Brust aufleuchten, und dann wieder die weiche Finsternis voll Duft und Flüstern. Am Ende der Allee stand die alte Steingrotte, eine halbverfallene kleine Halle, die der Mond mit den sich sachte regenden Blätterschatten der Ulme füllte.

»Hast du mich Bolero tanzen sehen?« fragte Ellita plötzlich. »Komm, ich tanze dir vor.«

Ich setzte mich auf die Steinbank in der Grotte, und Ellita, mitten unter dem Blätterschatten, tanzte lautlos auf ihren weißen Schuhen, an denen die Schnallen im Mondschein aufblitzten. Sie warf die Arme empor, bog den Kopf, als hielte sie Trauben in die Höhe, und die halbgeöffneten Lippen dürsteten nach ihnen. Oder sie warf einen unsichtbaren Mantel stolz um die Schultern oder pflückte unsichtbare Blumen; alles mit dem weichen, rhythmischen Biegen des Körpers, den die Musselinschleppe wie eine weiße Nebelwelle mit ganz leisem Rauschen umfloß. Schweigend und eifrig tanzte sie. Ich hörte, wie sie schneller atmete. Das war geisterhaft, unwirklich. Alle Aufregung verstummte in mir. Es war mir, als sei ich weit fort, an einem Orte, den ich aus irgend einem Traume kannte, jetzt blieb sie stehen, strich sich das Haar aus der Stirn und lachte: »Sieh so. Das war gut. Jetzt gehen wir wieder zu den anderen. Jetzt haben wir wieder tenue

Während wir dem Hause zugingen, sprach Ellita wieder ruhig und ein wenig gönnerhaft wie sonst. Drinnen im Saal lächelte sie Went an und sagte: »Hast du dich ausgesungen, mein Lieber?« –

Zu Hause, in meinem Zimmer, fühlte ich mich bange und erregt. Das Leben erschien mir traurig und verworren. Schlafen konnte ich nicht. Aufdringliche und aufregende Bilder kamen und quälten mich. Die Nacht war schwül. Regungslos und schwarz standen die Bäume im Garten. In der Ferne donnerte es. Unten im Park sang Margusch wieder ihre ruhige, ein wenig schläfrige Klage. Diese Stimme tat mir wohl. Ich wollte ihr nahe sein, mich von ihr trösten lassen, die Augen schließen und nichts denken als: rai – rai – rah.


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