Eduard von Keyserling
Schwüle Tage
Eduard von Keyserling

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Während ich am Ufer auf einem Baumstumpf saß und zuschaute, wie die Jungen die Fische zählten, merkte ich, daß ich anfing traurig zu werden. Wie die Nacht sich langsam erhellte, wie sie anfing grau und durchsichtig zu werden und die Gegenstände farblos und nüchtern dastanden, das war mir unendlich zuwider. »Jetzt noch was«, sagte ich mit Anstrengung. »So?« meinte Edse und gähnte. »Gähne nicht«, befahl ich: »dazu bin ich nicht herausgekommen. Zu Mädchen gehen wir.« Die Jungen schauten sich schläfrig an. Ich hätte sie schlagen mögen.

»Na, dann gehen wir zum Weißen Krug. Die Marrie und die Liese schlafen im Heu«, beschloß Edse gleichmütig.

Wir schritten quer durch den Wald, schlichen gebückt durch das Unterholz, das seine Tropfen auf uns niederregnete, die Farnwedel schlugen naß um unsere Beine. Das war heimlich, das gab wieder Stimmung. Jetzt noch durch einen Kartoffelacker, dann lag der Weiße Krug vor uns auf der Höhe an der Landstraße. Sehr still schlief er in dem grauen Lichte des heraufdämmernden Morgens, selbst grau und schäbig. An dem Gartenzaun entlang kriechend, gelangten wir zum Stall: »Rauf«, sagte Edse und wies auf die Leiter, die zum Futterboden hinaufführte.

Oben war es finster und warm. Das Heu duftete stark. Überall knisterte es seidig: »No«, sagte Edse wieder. Vor mir lagen zwei dunkle Gestalten. Also die Mädchen. Ich setzte mich auf das Heu am Boden. Das Blut sang mir in den Ohren. Die Augen gewöhnten sich an die Dämmerung. Die Jungen raschelten im Heu und flüsterten. Jetzt mußte ich etwas tun. Ich streckte die Hand aus und ergriff einen heißen Mädchenarm. Das Mädchen richtete sich schnell auf, griff nach meiner Hand, befühlte langsam jeden Finger. Dann kicherte sie, ich hörte, wie sie dem anderen Mädchen zuflüsterte: »Du, Liese, der Jungherr.« Nun hockten beide Mädchen vor mir, große, erhitzte Gesichter von weißblonden Haaren umflattert, die nackten Arme um die Knie geschlungen. Sie sahen mich mit runden, wasserblauen Augen an und lachten, daß die Zähne in der Dämmerung glänzten. »Was der für Hände hat!« sagte Marrie. Nun griff auch Liese nach meiner Hand, befühlte sie, betrachtete sie, wie eine Ware und legte sie dann vorsichtig auf mein Knie zurück. »Sei nicht dumm, komm«, sagte ich mit heiserer Stimme. Aber sie entzog sich mir: »Es is Zeit runter zu gehn«, meinte sie.

Raschelnd, wie die Wiesel, schlüpften die Mädchen durch das Heu und glitten die Leiter hinunter.

»Es ist zu hell, da sind die Biester unruhig«, behauptete Edse.

»Sie haben den Jungherrn an den Händen erkannt«, meinte Peter und gähnte wieder sein lautes Ho-ho: »Muß man auch runter.«

Unten im kleinen Gatten standen die Mädchen zwischen den Kohlbeeten. Sie traten von einem Fuß auf den anderen, denn die nackten Füße froren in dem taufeuchten Kraut. Die Arme kreuzten sie über den großen, runden Brüsten und sahen mich ernst und neugierig an.

»Stehn, wie so'n Vieh«, äußerte Edse. Da ging Marrie zu einem umgestürzten Schiebkarren, wischte mit ihrem Rock den Tau fort und sagte: »So, hier kann der Jungherr sitzen.«

Ich thronte auf dem Schiebkarren. Peter hatte angefangen, mit Liese zu ringen. Sie fielen zu Boden und wälzten sich auf dem nassen Grase. »Er ist nicht schläfrig«, bemerkte Marrie zu Edse und deutete auf mich, wie man von einem Kinde in seiner Gegenwart zu einem Dritten spricht. Dann brach sie einige Stengel Rittersporn und Majoran ab. »Da«, sagte sie, »damit Sie auch was haben.« Als ich meine Hand auf ihre Brust legen wollte, trat sie zurück und lächelte mütterlich.

Peter und Liese hatten sich durch den Garten gejagt und waren hinter dem Holzschuppen verschwunden. Marrie wandte sich jetzt ruhig ab und ging, die Füße hoch über die Kohlpflanzen hebend, ihnen nach. Dann war auch Edse fort. Hinter dem Schuppen kicherten sie. Es wurde schon ganz hell, solch eine nüchterne, strahlenlose Helligkeit, die müde macht. Über mir sangen die Lerchen in einem weißen Himmel unerträglich schrill und gläsern. Ich fühlte mich sehr elend und allein mitten unter den Kohlpflanzen. Ein großer Zorn stieg schmerzhaft in mir auf, aber ein Zorn, wie wir ihn als Kind empfinden, wenn wir am liebsten die Hände vor das Gesicht schlagen und weinen. Ich stand auf und schlich mich durch den aufdämmernden Morgen heim.

Vetter Went war in Warnow angekommen. Von der kleinen Wiese im Gerstenfelde aus sah ich ihn, Ellita und meinen Vater wie eine Vision von bunten Figürchen fern am Waldessaum entlang reiten. Ich war so gut wie vergessen, an mich dachte niemand. Dann kam Went eines Tages zum Frühstück herübergeritten. Ich liebte ihn nicht sonderlich. Er war von oben herab mit mir und nannte mich Kleiner. Dennoch war es angenehm, ihn anzusehen. Die scharfen, ruhigen Züge hatten etwas Festliches. Dazu das krause, blonde Haar, der ganz goldene Schnurrbart. Es mußte etwas wert sein, mit dieser Figur und diesem Gesichte am Morgen aufzustehn, sie den ganzen Tag über mit sich herumzutragen, nachts damit schlafen zu gehn. Mit dieser Figur und diesem Gesicht konnte keiner sich ganz gehn lassen.

»Also durchgefallen?« sagte er mir: »Na, so beginnen wir alle unsere Karriere.«

Während des Essens sprach er mit meinem Vater über militärische Sachen. Mein Vater war heute besonders ironisch. Er widersprach Went beständig, setzte ihn mit kurzen Warums und Wiesos in Verlegenheit und lachte unangenehm. Wents: »Nein, bitte sehr, lieber Onkel« klang immer gereizter und hilfloser!

Später ging ich mit Went die Gartenallee hinab. Wir schwiegen. Went köpfte mit seiner Reitgerte die roten Floxblüten.

»Er hat was gegen mich«, murmelte er endlich.

»Ja, natürlich«, erwiderte ich: »gegen mich auch. So ist er immer.«

»Gegen dich?« Went lachte: »Ja so, wegen des Nachlernens.«

Das ärgerte mich: »Dir kann es gleich sein, aber ich bin in seiner Macht. Hier eingesperrt zu werden wie ein Kanarienvogel, ist lächerlich. Er ist ja gewiß ein feiner, patenter Herr, aber er denkt nur an sich. Die anderen liebt er nicht, wenn – wenn es nicht zufällig Damen sind.«

Went schaute überrascht auf: »Na, Kleiner, du machst dir keine Illusionen über deinen Erzeuger. Du hast übrigens unrecht. Hier ist es hübsch.«

Ich zuckte die Achseln. »Ach, so 'ne süße Watte.«

»Süße Watte? Wo hast du das her?« bemerkte Went.

Nach einigen Tagen sagte mein Vater mir beim Frühstück: »Wir fahren heute nach Warnow. Deine Cousine Ellita hat sich mit Went verlobt. Heute ist Verlobungsdiner.«

Ich brachte nur ein: »Ach wirklich« hervor.

Mein Vater beugte sich über seinen Teller und murmelte: »Wieder ist das Filet hart – Ja« fügte er dann hinzu: »Ein freudiges Ereignis. Ich freue mich.«

Er sah heute müde aus, aber das stand ihm gut. Er bekam dadurch einen fein unheimlichen Römerkopf. Behaglich war es nicht, ihm gegenüberzusitzen, aber nicht alltäglich. Es war etwas an ihm, das neugierig machte.

Daran dachte ich, als ich im Wohnzimmer mich auf dem Divan ausstreckte. Die grünen Vorhänge waren vor der Mittagssonne zurückgezogen. Die Fliegen kreisten summend um den Kronleuchter. Die Blumen welkten in den Vasen. Draußen kochte der Garten in der Mittagsglut. Ich hörte es ordentlich durch die Vorhänge hindurch, wie das leise Singen des Teekessels. Ich schloß die Augen. Heute war wenigstens etwas Angenehmes vor. Ich dachte an Gerda, ließ das schöne Liebesgefühl mir sanft das Herz kitzeln. Dann standen die beiden Krugsmädchen deutlich vor mir – in den graublauen Kohlpflanzen, die Haare voller Halme und gleich darauf war es wieder Ellita, sie legte ihren warmen, königlichen Arm um meine Schultern und duftete nach Heliotrop. Ach ja, alle diese Mädchen, diese lieben Mädchen! Die Welt ist voll von ihnen! Das ließ mich tief und wohlig aufatmen.

Ich fuhr aus dem Halbschlummer auf. Es mußte Zeit sein, sich anzukleiden. Die tiefe Ruhe im Hause war mir verdächtig. Daß die Fahrt nur nicht in Vergessenheit gerät! Ich beeilte mich mit dem Ankleiden, lief in den Stall, um Kaspar anzutreiben. Ich war froh, als der Wagen vor der Tür hielt. Konrad stand auf der Treppe und sah nach der Uhr.

»Kommt er?« fragte ich.

»Fertig is er«, meinte Konrad.

So warteten wir. Die Pferde wurden unruhig. Kaspar gähnte.

»Er hat's vergessen«, bemerkte ich.

Konrad zuckte die Achseln: »Gemeldet hab ich. Noch 'n mal geh ich nich.«

»Dann geh ich«, beschloß ich.

Ich lief zu dem Arbeitszimmer meines Vaters, öffnete zaghaft die Türe und blieb regungslos stehen. Dort geschah etwas Unerklärliches. Mein Vater, in seinem Gesellschaftsanzuge, saß am Schreibtisch auf dem großen Sessel. Er stützte die Ellbogen auf die Knie, barg das Gesicht in die Hände, wunderlich in sich zusammengekrümmt, und weinte. Ich sah es deutlich, – er weinte; die Schultern wurden sachte geschüttelt, die Stirn zuckte, das Haar war ein wenig in Unordnung geraten, der Saphir an dem Finger der über das Gesicht gespreizten Hand leuchtete in einem Sonnenstrahl, der sich durch den Vorhang stahl. Angst erfaßte mich, eine Angst, wie wir sie im Traum empfinden, wenn das Unmögliche vor uns steht. Ich zog mich zurück und schloß leise die Türe. Vor der Türe stand ich still. Ich fühlte, wie meine Mundwinkel sich verzogen, als müßte auch ich weinen.

»Er kommt schon«, meldete ich draußen.

»Wie sehen Sie denn aus, Jungherr?« fragte Konrad.

»Ich sehe aus, wie ich will«, antwortete ich hochmütig.

Ich setzte mich auf die Treppenstufen und sann dem Bilde nach, das ich eben gesehen hatte. Hier lag wieder alles unverändert alltäglich im gelben Sonnenschein vor mir und dort drinnen saß die in sich zusammengekrümmte Gestalt mit den tragisch über das Gesicht gespreizten Händen. Etwas Unbegreifliches war in der Verschwiegenheit der Mittagsstunde entstanden.

Dann kam mein Vater, in seinen weißen Staubmantel gehüllt, das Gesicht ein wenig gerötet vom Waschen: »Du schimpfst wohl schon«, sagte er lustig. Auf der Fahrt unterhielt er mich liebenswürdig. Er sprach ernsthaft mit mir über Familienangelegenheiten. Er freute sich über die gute Partie, die Ellita machte. Für eine starke Natur wie Ellita war es ungesund, Jahr für Jahr in der ländlichen Einsamkeit zu sitzen und sich in den kleinen Verhältnissen abzumühen. Solche Frauen müssen mitten in der großen Welt auf hohen, kühlen Postamenten stehen, sonst wird ihr Gemütsleben krank.

In Warnow saß die Tante in großer Toilette unter ihren Gästen auf der Veranda; neben ihr der alte Hofmarschall von Telfen, das Haar kohlschwarz gefärbt und unerträglich stark parfümiert. Die Mädchen trugen weiße Kleider und Rosen im Gürtel, die Herren hatten sich Tuberosen in das Knopfloch gesteckt. Die Ranken des wilden Weines streuten zitternde Schatten über all die Farben, machten mit ihrem grünlichen Grau die Gesichter blasser, die Augen dunkler. Der alte Marsow hatte eine weißseidene Weste über seinen runden Bauch gezogen und sprach sehr laut schlecht von den Ministern. Dazwischen erzählte die klagende Stimme der Tante dem Hofmarschall von einer Gräfin Bethusi-Huk, die vor langen Jahren in Karlsbad freundlich zu ihr gewesen war. Ellita saß abseits. Sie streichelte nachdenklich die Federn ihres Fächers und machte ihr schönes, mißmutiges Gesicht: »Ihr alle hättet auch fortbleiben können«, stand darauf zu lesen.

»Wo ist der Bräutigam?« fragte mein Vater.

Er sei mit Gerda unten im Garten, hieß es.

»Der hat mit einer Schwester nicht genug«, dröhnte die Stimme des alten Marsow. Niemand lachte über diese Taktlosigkeit.

»Bill, willst du nicht hinuntergehen, sie rufen«, sagte Ellita.

Ich fand die beiden unten bei der Hängeschaukel. Went stand auf der Schaukel und schaukelte sich. Er flog sehr hoch, fast bis in die Zweige der Ulme hinauf. Tadellos fein sah er aus. Sehr schlank in seine blaue Uniform geknöpft, der Kopf in der Sonne wie mit Gold bedeckt. Gerda schaute zu ihm auf, die Lippen halb geöffnet, die Augen rund und wie in einen erregenden Traum verloren. Die Hand legte sie auf die Brust in einer Bewegung, die ich an ihr nicht kannte, ganz fest die rechte Brust zusammendrückend. Sie bemerkte es nicht, daß ich neben ihr stand, und die Eifersucht machte mich ganz elend.

»Tag, Gerda«, sagte ich heiser.

Sie schreckte zusammen und sah mich mit dem unzufriedenen Blick eines Menschen an, der im Schlafe gestört wird. Das hatten beide Warnower Mädchen, sie konnten plötzlich aussehen wie schöne, böse Knaben.

»Ach du, Bill!« sagte sie. Freundlich klang das nicht.

»Ihr schaukelt hier?« fragte ich, um etwas zu sagen.

»Ja – sieh ihn«, erwiderte Gerda, schaute empor und wieder legte sich das Traumlächeln über ihr Gesicht.


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