Eduard von Keyserling
Schwüle Tage
Eduard von Keyserling

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Ich stieg aus dem Fenster und ging der Stimme nach. Über der Wiese stand ein schwarzer Wolkenstreifen, in dem es sich golden vom Wetterleuchten regte. Zuweilen schüttelte ein warmer Wind die Kronen der Linden. Am Teich unter den Weiden fand ich Margusch. Das große, blonde Mädchen kauerte auf dem Rasen, hatte die Arme um die Knie geschlungen, wiegte sachte den runden Kopf und sang, eintönig, als säße sie an einer Wiege:

» Näh' ein Hemden auf der Weide,
»Meß es an dem Eichenstamm.
»Ach! mein Liebster, wachse, wachse,
»Wie die Eiche grad und stramm!
        Rai – rai – rah...«

Ich kam leise heran und hockte neben ihr nieder. Sie schreckte ein wenig zusammen, dann sagte sie: »Gottchen, der Jungherr!«

»Ja, Margusch, sing weiter.« Margusch schaute ruhig und müde über den Teich hin und zog die Knie fester an sich. »Ach!« meinte sie: »wozu ist das Singen gut! Warum schlafen Sie nicht, Jungherr?«

»Ich konnte nicht. Ich wollte nicht allein sein. Ich hörte dich singen, da kam ich.«

Margusch seufzte: »Ja, ja, den Herrschaften geht es auch nicht immer gut. Alle haben was. Der Herr gibt nu auch sein Fräulein fort. Was kann man machen.«

»Sein Fräulein«, das klang in dem Munde dieses Mädchens wie eine klare, melancholische Geschichte, eine Geschichte, wie die zwischen Jakob und Margusch »jeder hat was.« Ich drückte mich nah an Margusch heran. Dieser heiße Mädchenkörper schien mir Schutz zu geben vor allem Unheimlichen, das mich quälte. Sie lächelte, legte ihren schweren Arm um mich, wiegte mich langsam hin und her und wiederholte: »Unser Jungherr is traurig, unser Jungherr is traurig.« Dunkle Wolkenfetzen zogen über den Mond. Der Teich wurde schwarz. Die Frösche schwiegen, nur ab und zu ließ einer sich vernehmen, als riefe er jemanden.

Margusch streichelte meinen Arm: »Unser Jungherr is traurig.« Erregt und fiebernd klammerte ich mich an den warmen, ruhenden Mädchenkörper fest. Da gab sie sich mir hin, gutmütig und ein wenig mitleidig.

Es war finster geworden. Ein feiner Regen begann in den Weiden und im Schilf zu flüstern.

»Es regnet«, sagte Margusch, »man muß heimgehen.«

Ich weigerte mich. Nur nicht in das Haus gehen, nur nicht allein sein! So saßen wir eng umschlungen da. Margusch summte leise vor sich hin. Es begann zu dämmern. Enten hoben sich aus dem Teich und flogen mit pfeifendem Flügelschlage dem See zu. Auf der anderen Seite des Teiches ging eine dunkle Gestalt die Allee hinauf dem Hause zu.

»Der gnädige Herr«, flüsterte Margusch. »Der ist oft nachts draußen. Dort unten spaziert er auf und ab. Der kann auch nicht schlafen.«

Um die Mittagsstunde, als der Hof voll grellen Sonnenscheins lag, schlenderte ich langsam dem Stalle zu. Ich war müde, hatte Lust zu nichts, da war es das beste, zuzusehen, wie Kaspar die Pferde putzte, das beruhigt und strengt nicht an. Am Stallteich stand Margusch und wusch einen Eimer.

»Nun, Margusch«, sagte ich und blieb stehen. Sie hob den Kopf und sah mich mit den glasklaren Augen gleichgültig an.

»Heiß is«, bemerkte sie.

»Aber vorige Nacht –« setzte ich leise hinzu.

Sie lächelte matt, seufzte und beuge sich wieder über ihre Arbeit.

Mein Vater kam aus dem Stall, er sah flüchtig zu mir herüber und wandte den Kopf ab.

Später, während des Mittagessens, als Konrad hinausgegangen war, hielt mein Vater sein Portweinglas in der Hand und sagte, eh er trank, das war immer der Augenblick, in dem er unangenehme Dinge vorbrachte: »Sich hier mit den Bauernmädchen einzulassen, ist nicht empfehlenswert.« Ich errötete. Mein Vater trank und fuhr dann fort, indem er an mir vorbei zum Fenster hinaussah: »Abgesehen davon, daß diese Dinge für dich nicht zeitgemäß sind, du sollst nur deine Studien im Auge haben, so finde ich, daß Affären mit diesen Mädchen die Instinkte und Manieren vergröbern.« Eine peinliche Pause entstand. Mein Vater sann vor sich hin, dann sagte er, wie aus seinen Gedanken heraus: »Mein Freund in Konstantinopel sagte gern« – »Natürlich!« dachte ich, »wo ein unangenehmes Beispiel nötig ist, da hat der alte Türke es gegeben!« »Er sagte, er sei nur deshalb der feine Weinkenner geworden, der er ist, weil er wegen des Verbotes seiner Religion in der Jugend sich die Zunge nicht mit schlechten Weinen verdorben habe.«

Ich verstand sehr wohl, was der alte Türke meinte, nur erschien es mir wunderlich, daß mein Vater das zu mir sagte. Es machte mich verlegen. Ob er das merkte? Jedenfalls tat er den Ausspruch, als er die Tafel aufhob: »Du bist jetzt in dem Alter, in dem man mit dir über diese Dinge vernünftig reden kann, hoffe ich.«

Das ließ sich hören.

Ich hatte Erlaubnis erhalten, mit Went auf die Rehpürsch zu gehen. Wir zogen gleich nach Mitternacht in den Wald und saßen bei einem Feuer auf. Der Waldhüter schnarchte unter einem Wacholderbusch. Went hüllte sich in seinen grauen Mantel, lehnte sich an den Stamm einer Tanne und blickte nachdenklich in das Feuer. Ich streckte mich behaglich in das Moos hin. Die Freude auf die Jagd war so stark, daß sie mich all meine Aufregungen vergessen ließ. Um uns herum war es sehr dunkel. Die heimlichen Töne des Waldes gingen unter den großen, stillen Bäumen hin, ein leichtes Knacken, ein vorsichtiges Gehen, ein plötzliches Flügelrauschen. Sehr ferne riefen zwei Käuzchen sich klagend an.

»So ist's doch gut?« fragte ich zu Went hinüber, »im Walde ist alles gleich.«

»Was ist gleich?« fragte Went streng zurück.

Ich hätte gewünscht, Went wäre heiter und kameradschaftlich gewesen, statt tragisch und erhaben zu sein. Gut sah er übrigens aus, wie er in das Feuer starrte.

»Du, Went«, begann ich wieder, »wie ist es eigentlich, wenn man so aussieht wie du, so – daß alle Weiber sich in einen verlieben?«

»Teufel, Kleiner, was du dir für Gedanken machst.« Jetzt lächelte Went, und das wollte ich. »Gehört das auch zu den Examenarbeiten?«

»Das Examen hat hierbei nichts zu tun –« sagte ich gereizt, »man kann auch an die Weiber denken, wenn man nicht das Examen gemacht hat. Alle denken an Weiber.«

»Alle?«

»Ja alle.«

»Dumm genug«, bemerkte Went.

»Das ist so«, fuhr ich fort, »ich habe das früher nicht gewußt, aber jetzt...«

Went schaute mich ironisch an: »Der Aufenthalt hier ist, scheint es, für deine Erziehung bedeutungsvoll.«

Ich errötete, ich hatte damals diese dumme Angewohnheit und sagte heftig: »Denkst du auch schon über meine Erziehung nach. Das fehlt noch!«

»Trinken wir einen Kognak, Alter«, besänftigte mich Went. Er holte seine Flasche hervor und trank zwei Kognaks schnell hintereinander. »So, das ist gut und macht keine Umstände. Da«, meinte er befriedigt und reichte mir die Flasche. Wie gequält er dreinschaute! Er tat mir leid. Während ich mir den Kognak eingoß, tat ich den Ausspruch: »Ja, es ist gut, daß wir uns nicht darüber zu quälen brauchen, ob der Kognak auch von uns ausgetrunken sein will, ob er das liebt. Uns schmeckt er eben.«

Das gefiel Went nicht. Er kehrte mir den Rücken zu und brummte – »Unsinn! Schlafe lieber.«

Ich aber wollte mich unterhalten. »Du – Went, sag, es muß ganz fein sein, Soldat zu sein?«

Das regte ihn auf, er wurde heftig.

»Hol der Teufel das Soldatsein. Sei froh, daß du keiner bist.«

»Warum?«

»Weil, Gott! weil einen das sentimental macht!«

»Sentimental?« fragte ich. »Ich wüßte nicht, daß das für den Krieg nötig ist.«

»Mit dir kann man nicht vernünftig reden«, fuhr mich Went an, »Krieg? Wo ist denn Krieg? Natürlich sentimental«, seine Stimme klang, als zankte er sich mit jemandem. »Mit dem Dienst und den Rekruten und alldem, kommt dann sowas, das nach Sentiment aussieht, so fallen wir jedesmal darauf herein. Man weiß nicht, wie man das anfassen soll. Ihr anderen hier habt Zeit, ihr könnt auf euren Gefühlen sitzen wie die Henne auf ihren Eiern, und werdet ihr so – so –, kein Teufel kann das verstehen.« Nach diesem Ausbruch schloß er die Augen und tat, als schliefe er. Ich schlang meine Arme um meine Knie und starrte in das Feuer.

In letzter Zeit hatte ich wunderliche Dinge erlebt, unheimliche und unverständliche. Wenn ich Went etwas davon sagte, würde er nicht mehr so ruhig daliegen. Seltsam ist es, wie ein Mensch von dem anderen nichts weiß, und doch sitzt und lauert in dem einen Menschen gerade das, was dem anderen Schmerz bereiten kann. Das war eine Erkenntnis, die mir in jener Stunde plötzlich kam und mich ergriff, wie es in den Jahren zu geschehen pflegt. Es ist wie hier im Walde. Ich sitze auf dem kleinen, hellen Fleck. Um mich ist die Nacht ganz schwarz und voll von dem Knistern und Gehen unsichtbarer Wesen. Jeden Augenblick kann aus dem Dunkel etwas hervortreten, etwas Entsetzliches. Warum ist das so? Meiner jungen Seele tat es weh, diese Luft zu atmen, die voll drohender, unverstandener Schmerzen liegt. Ich drückte mich fest an den dicken Tannenstamm, legte die Hand auf seine taufeuchte Rinde. Diese Stillen hatte ich immer gern gehabt. Wenn auf der Treibjagd so eine alte Tanne mit ihren schwerniedergebogenen Zweigen und grauen Bärten dastand und mich vor dem Wild oder das Wild vor mir verbarg, da hatte ich sie als eine der großen Unparteiischen des Waldes empfunden, vornehm und kühl. Daran zu denken, beruhigte mich jetzt. Ich konnte mich darüber freuen, daß mir so tragische und seltsame Gedanken kamen. Ich war doch ein ganzer Kerl. Das vermutete wohl keiner hinter dem kleinen Bill. Wenn Gerda das wüßte, die würde mich dann anders anschauen!

Es dämmerte bereits. Aus den Föhrenwipfeln flogen die Krähen aus und riefen einander ihre heiseren Nachrichten zu. Es war Zeit, aufzubrechen. Ich weckte den Waldhüter, weckte Went. »Nu geht's los«, rief ich ihm zu. »Schon!« sagte Went, gähnte und blickte mißmutig in den aufdämmernden Morgen. Also nicht einmal die Aussicht auf einen Bock konnte ihn aufrichten. Dann stand es schlimm mit ihm!

Köstlich war es, leise und schweigend durch den Wald zu schleichen. An einer kleinen, sumpfigen Waldwiese nahm ich meinen Stand. Das Gras war grau von tauschweren Spinnweben. Eine Wasserratte schlüpfte durch die Halme, sprang mit leisem Geplätscher in die Wasserlöcher, kam mir ganz nahe. Sie hielt mich wohl für einen Baum, und das schmeichelte mir. Dann plötzlich standen zwei Rehe auf der Wiese, eine große Ricke und ein kleiner Bock. Die Ricke äste ruhig und sorgsam, den Kopf niedergebeugt, langsam vorwärtsgehend. Der kleine Bock war zerstreut, hob häufig den Kopf, schüttelte ihn, machte kleine Sprünge. Vom Waldrand kam ein großer alter Bock herangetrabt. Ich sah deutlich sein ärgerliches, verrissenes Gesicht. Er begann sofort den jungen Bock zu jagen. Als dieser auf mich zusetzte, schoß ich. Ich hörte noch den alten Bock bellen. Der Kleine lag da und bewegte schwach die Läufe, wie steife, rote Bleistifte. Ich ging zu ihm, streichelte sein blankpoliertes Gehörn. Die Oberlippe war ein wenig hinaufgezogen. Das gedrungene, kindliche Gesicht sah aus, als lächelte es verschmitzt.

Als Went kam, war er verstimmt. Mein Schuß hatte auf der anderen Wiese seinen Bock verscheucht. Er sagte mir unangenehme Dinge, weil ich nicht den stärkeren Bock geschossen hatte, und wir zankten uns tüchtig auf dem Heimwege. Das verdarb mir die Freude. Mit müden, verdrossenen Augen sahen wir in die Sonne, die mit großem Aufwande von rosa Wolken und rotgoldenem Lichte über dem gelben Brachfelde aufging.

Nun kam eine stille Zeit. Die Leute klagten über zu große Trockenheit und fürchteten für die Wintersaat. Im Garten begannen die Stockrosen und Georginen zu blühen und es roch nach Himbeeren und Pflaumen. Blauer Dunst lag über den Hügeln. Die Gänse wurden auf die Stoppeln getrieben. Davon, daß ich nach Warnow fahren sollte, war nie die Rede. Meinen Vater sah ich nur zu den Mahlzeiten. Sein Gesicht erschien mir grau und müde, er sprach wenig. Fiel sein zerstreuter Blick auf mich, so fragte er wohl: »Nun, wie geht es mit den Studien?« aber die Antwort schien ihn nicht zu interessieren. Seine Gegenwart hatte für mich nicht mehr das Aufregende, das sie gehabt hatte. In diesen Tagen mit dem gleichmäßig blauen Himmel, dem gleichmäßig grellen Sonnenschein, den gleichmäßigen Geräuschen der Landwirtschaft, verlor alles an Interesse und Farbe. Ich hörte, in Warnow würde gepackt, die Möbel seien schon mit weißen Bezügen bedeckt. Nächstens sollte die ganze Familie abreisen. Auch das noch! Margusch sang nicht mehr im Park. Ich sah sie mit Jakob an der Schmiede stehen und lachen. Mir blieben die Bücher. Ich lag auf der Heide und studierte. Das ακτις αελιου der Antigone verschmolz untrennbar mit dem Schnattern der Gänse, dem Dufte der sonnenheißen Wacholderbüsche. Antigone sah wie Ellita aus und die ängstliche Ismene wie Gerda. Ach! nicht einmal zu einem ordentlich verliebten Gefühle brachte ich es in dieser Zeit! Und kam der Abend, schlugen die Stalljungen mit den Milchmädchen sich in die Büsche, klang fern von der Wiese eine Harmonika herüber, dann fieberte all das unverbrauchte Leben in mir und ich fluchte darüber, daß all die hübschen und heimlichen und die furchtbaren und erregenden Dinge nur für die anderen da waren.


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