Harry Graf Kessler
Notizen über Mexico
Harry Graf Kessler

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IV

Yucatán

26. November 1896.

Sehr früh ankerten wir heute vor Progreso, drei Seemeilen von Land. In der Ferne glich der Strandsaum einer vom Meer bespülten Sandbank. Nur einige Palmenkronen hoben sich darüber dunkel und klein vom Himmel ab.

Man segelt in Fischerbooten an Land. Nach der Hauptstadt Mérida fährt eine Eisenbahn. Die Gegend, die sie durchschneidet, ist steinig und flach; nirgends ein Hügel und außer in den Küstenlagunen nirgends Wasser. Die Vegetation zieht ihre Feuchtigkeit nur aus den Grundgewässern. Sie sprießt trotzdem, wo sie nicht gewaltsam ausgerottet wird, üppig empor. Ein dichter Urwald reicht stellenweise bis an die Schienen heran. Aber überall weicht sein zügelloses Leben der streng geregelten Uniformität der Aloekulturen; auf den Feldern folgen einander bis ins Endlose parallele Agavenreihen, perspektivisch konvergierend; und am Horizonte ragen hier und dort zwischen Palmen die Schornsteine von Maschinenhäusern auf. Die Plantagenlandschaft ist bereits an die Stelle der tropischen Natur getreten. Der Mensch ist gezwungen, alles Unabhängige, Freie, das ihm nicht dient, zu knechten oder zu zerstören. Er legt damit allmählich der Welt, die ihn hervorgebracht hat, eine teleologische, auf seine Erhaltung gerichtete Bedeutung bei; alles, was ihm nicht dient, geht zugrunde; er selber ist es, der sich, wie früher ideell, so jetzt praktisch zum Zwecke der Schöpfung macht.

Mérida, 26. November 1896.

Die Rasse ist hier von der mexicanischen verschieden; heller, schlanker, schlaffer. C, der Yucateke ist, meint: »Der Mexicaner ist schmutzig, reitet und stiehlt; der Yucateke ist reinlich, reitet nicht und betrügt.«

Der Mittelpunkt der Stadt ist ein gewaltiger und ernster Renaissancedom, dessen Steinmassen fast den Eindruck des Romanischen machen. Er ist schon 1598 fertig geworden, wenig mehr als fünfzig Jahre nach der Eroberung. – Die Spanier verpflanzten gleich zu Anfang mit dem Katholizismus auch ihre religiöse Kunst mit in ihre Kolonien, so eng hing die Kunst bei ihnen mit der Kirche zusammen. England gab seinen Puritanern nichts mit als ihre Moral und die Glaubensartikel. Das kennzeichnet, wie verschieden die Seelenbedürfnisse waren, denen die Religion in Nord- und Südeuropa diente. – Vielleicht ist deshalb in Nordamerika statt der importierten, oft reizenden, aber dekadenten und welken Kunst der spanischen Kolonien langsam Eigenes gewachsen. Im spanischen Amerika sind die einheimischen Keime nie zur Reife gelangt; und doch waren sie vorhanden und sind es noch. Don Ernesto R., dem ich empfohlen bin, bewohnt einen Palast, der den italienischen an solider Bauart und Dimensionen nichts nachgibt; Säulengänge um schattige Höfe, Zimmerfluchten, in denen jedes Zimmer sechs Meter hoch ist, Marmorfußböden und Antikensammlung. Man empfindet dort wie in Italien scharf die kleinbürgerliche Enge unseres nordeuropäischen Lebens. Bei uns scheitert alles an der Notwendigkeit, monatelang zu heizen; im Süden vergrößert das Bedürfnis nach Kühle die Räume. Es hätte hier bei der Prunkliebe und dem Überfluß an Geld und Sklavenmaterial seit dem siebzehnten Jahrhundert eine den tropischen Lebensgewohnheiten angepaßte einheimische Kultur großartigen Schnitts geben können. In Nordamerika werden die Möglichkeiten, die die verbesserten Heizeinrichtungen und der fast tropische Sommer bieten, ausgenutzt. Hier stehen in den riesigen Räumen, die auf Palmenhöfe blicken, Stubenmöbel, die in Österreich fabriziert sind.

Ticul, 27. November 1896.

Auf der Reise nach UxmálSprich Uschmál in Ticul, einem großen Eingeborenendorf, beim Forschungsreisenden Theobert Maler übernachtet. Von der Haustür sieht man jenseits des Marktplatzes eine verlassene Franziskanerabtei, in deren verfallenen Sälen schon ein Laubwald emporwächst. Und nach allen Richtungen strahlen dichte Brotbaumalleen zwischen den Höfen der Eingeborenen in die Felder hinaus. Auf den Wegen stehen heute abend vor jeder Hoftür die Weiber in kleinen weißen Gruppen schwatzend zusammen; bei den nächsten erkennt man die einzelnen Frauen: helle, schlanke Gestalten im Ypil – so heißt ihr Maya-Leinengewand –; die Glieder schimmern durch das dünne Gewebe wie durch ein griechisches Peplon hindurch; das Kopfhaar ist hoch hinaufgesteckt, die Haut blaß. Als Schmuck lieben sie Korallen.

Uxmál, 28. November 1896.

Von Ticul nach Uxmál führt der Weg durch einen von Schlingpflanzen erstickten Urwald. Blühende Lianen breiten sich bis über die Baumkronen weg, dicht verschlungen wie ein buntes Tuch, einige mit hellroten, kleinen Kelchen, andere mit herabhängenden mattlila Glocken, die meisten mit großen, blauen Sternen, alles so dicht verstrickt, daß man nicht mehr einzelne Bäume, Stämme, Äste unterscheidet, sondern nur diese den Weg einengenden Mauern, dieses steigende Meer von wilden Blüten, in dessen Tiefen man zu beiden Seiten wie in Dornröschens Märchenwald hineinsieht. In ihm liegen die Städte und Fürstenhöfe der Mayas begraben.

Eine halbe Stunde vor Uxmál ist noch eine Lichtung und eine öde, fieberverrufene Hazienda; dann steht man vor den ersten Trümmern, einem wilden Wellengeröll von eingestürzten Mauern, Architrav- und Skulpturstücken, Pyramiden und Schutthaufen mitten im blühenden Wald. Meilenweit erstreckt sich nach allen Seiten unter Lianen und Dornen das Trümmerfeld. Erhaltene Gebäude ragen nur an einer Stelle über die Urwaldwipfel empor; auf Terrassen und Steinpyramiden dicht beieinander dreizehn Paläste und Tempel.

Von Maßen geben nur Zahlen einen Begriff. Nach Holmes ist der Hauptpalast dreihundertzwanzig Fuß lang und hat Steinmauern von anderthalb Meter Dicke. Die große Pyramide soll dreihundert Fuß an den Seiten lang und eine kleinere achtzig Fuß hoch sein. Die anderen Gebäude sind in ähnlichem Maßstäbe aufgeführt. Und alle verbinden sie mit diesen Größenverhältnissen in gleicher Weise glatte Eleganz und üppige Ornamentik. Die Außenmauern sind jedesmal in halber Höhe, dort, wo innen das Gewölbe anfängt, durch ein schräg vorladendes Gebälk in eine untere und obere Hälfte geteilt. Die untere ist schmucklos und aus viereckigen Blöcken glatt wie vom Schreiner gefügt. Die obere ladet erkergleich vor und bildet eine breite, das Gebäude umziehende Ornamentfläche. Aus dieser springen noch einzelne Spitzen und Haken horizontal vor und umgeben den Oberbau wie mit einem Kranz von Stacheln. Wahrscheinlich soll diese schwere Ornamentlast die inneren Gewölbe, die aus vier nach dem Prinzip des Kartenhauses gegeneinander gelehnten Betonmassen bestehen, nach außen balancieren, um sie durch Gegengewicht am Einstürzen zu hindern. Die Folge aber ist, daß die Gebäude von unten nach oben nicht schmäler und leichter, sondern massiver und breiter werden und daß die natürlichen Verhältnisse wie in einem Traume auf den Kopf gestellt scheinen.

Nicht minder phantastisch gibt sich die Aufstellung der Bauten, die ebenfalls aus praktischen Bedürfnissen hervorgegangen ist. Sie sind ein jeder für sich auf einen künstlichen Hügel gestellt; die meisten auf mehreren übereinander aufsteigenden Terrassen; die wichtigsten, die Haupttempel, auf Pyramiden, die durch die Anzahl und das stufenartige Schmälerwerden von aufeinander getürmten Terrassen entstehen. In den ältesten Zeiten standen auf den Stufen der Pyramide die Wohnstätten des Stammes, und die ganze Ansiedlung bildete so, statt wie in Asien und Europa durch Wälle geschützt zu sein, selbst eine Festung um das zuhöchst am sichersten Ort liegende Heiligtum. Es ist eins der ersten Bedürfnisse jeder menschlichen Gesellschaft, das sich hier diese unserer Gesittung fremde Form geschaffen hat; so weit reicht zum mindesten die Trennung zwischen den Rassen der europäisch-asiatischen Kulturwelt und denen der amerikanischen zurück. Das ganze architektonische Empfinden ist davon beeinflußt. Aus den verschiedenen Keimen haben sich andere ästhetische Gesetze und architektonische Ideale entwickelt. Von der Stadt mit ihren zahlreichen einander überragenden Pyramidenkolossen würde ein Lageplan keinen Begriff geben. Sie ordnet sich nicht horizontal auf eine Fläche, sondern vertikal in die Höhe. Ihr Charakter liegt in einem Höhenrhythmus. Sie ist eine Versammlung von dicht aneinander gerückten Akropolen, die, von Palästen und Tempeln gekrönt, jetzt aus dem Urwald aufragt.

Und auch im einzelnen empfindet man überall, daß für andere Nerven und Sinne als die unsrigen gearbeitet worden ist, denen andere Assoziationen als den unsrigen möglich waren und die stärkere Erschütterungen und eine eindrucksvollere Sprache verlangten; so sehr, daß es schwerhält, mit unseren Wörtern, die aus anderen Bildern geprägt sind, von dieser Kunst einen Begriff zu geben. Man müßte krassere, blendendere, mystischere Zeichen haben, um den Pomp und den Ernst des allein auf seinen Terrassen stehenden Hauptpalastes wiederzugeben oder die wilde Pracht der Nordpaläste zu schildern, die, zu vieren feierlich Stufe um Stufe emporsteigend, einen Platz umlagern; Riesenschlangen umringen hier im höchsten Relief mit gefiederten Leibern den einen Flügel; einen anderen schmückt, sechsmal hieratisch wie eine liturgische Formel wiederholt, in kolossalem Maßstabe ein einziges Ornament, eine umgekehrte Balkenpyramide, auf die Schlangen- und Menschenköpfe genagelt sind. Ein Riesenmäander krönt eins der Portale, aus dessen erhabener Starrheit phantastische Masken wie Medusenköpfe hervorblicken; und rostrenartig springen an den Palast-Ecken zu mehreren übereinander Elefantenrüssel und Schlangenstachel vor. Am fernsten stehen vielleicht aber aller modernen Kultur gewaltige Fragmente, deren sonderbare Form vermuten läßt, daß in Uxmál die für uns grandios unmögliche Sitte herrschte, als Grabstein der Großen das Emblem des sich ewig selber neuschaffenden Lebens aufzustellen. Und wie diese Pfeiler, so waren wahrscheinlich alle anderen Bildwerke hier Symbole; sie hüllten für das Mayavolk die Gebäude in ein Phantasiegewebe, das die Üppigkeit ihrer Steinformen überbot.

Das Taubenhaus (Casa de las Palomas) von Uxmál (Yucatán)

Die Beschreibung der einzelnen Bauten müßte, wenn sie möglich wäre, wie ein Märchen klingen. Ich möchte hier nur zwei davon andeuten. Im Süden der Stadt liegt ein Palast, von vieren der einzige noch erhaltene. Die Indianer nennen ihn das Taubenhaus. Es ist ein langgestreckter Bau, und durch seine Mitte führt ein Portal in einen großen Hof. Die Gewölbe der Palastkammern sind eingestürzt, und wildes Kraut wurzelt in ihren Wänden. Aber darüber steht noch wie durch ein Wunder der Dachfirst, acht Steindreiecke nebeneinander in einer Reihe mit vielen Fensterchen versehen und dünn und flach wie Theaterkulissen; eine jede Zacke überragt den Palast spitz um dessen doppelte Höhe. Sie waren früher mit hellroter Farbe gestrichen und standen flammenfarben wie Hahnenkämme in den Himmel. – Noch rätselhafter sieht ein anderes Bauwerk aus. Zwischen den Hauptpalästen steigt aus der Ebene schmal und hoch eine Pyramide auf. Eine Treppe führt hinauf, die so steil ist, daß, wer im Aufsteigen zurückblickt, fast senkrecht unter sich den Erdboden sieht. Oben geht ein schmaler, geländerloser Umgang um das kleine Gebäude, das die Pyramide krönt, herum zu einer engen Pforte. Es ist dies, was die Eingeborenen das Haus des Wahrsagers nennen. Die Tür ist kunstvoll verziert und stellt gleichsam den aufgerissenen Rachen eines Schlangenkopfes dar, dessen Riesenaugen den Türsturz bilden. Im Innern sind drei lichtlose Räume. Vor der Schlangentür ladet der oberste Plan der Pyramide wie zu einer Warte viereckig aus, und dieses Viereck bildet das Dach eines zweiten, kleineren Gebäudes, das in halber Höhe in die Pyramide hineingebaut ist. Nur der Haupttempel steigt höher als diese Pyramidenanlage über die Stadt empor; man sieht sie von allen Seiten, und überall macht sie denselben, wahrscheinlich gewollten, unzugänglichen, unheimlich verschlossenen Eindruck. Mit der düster schweren Massivität ihrer Steinterrassen und der dunklen Symbolik ihrer Arabeskenpracht überragt sie wirklich wie eine Orakelstadt den wilden Reichtum der zu ihren Füßen im Walde vergrabenen großen Stadt.

29. November bis 1. Dezember 1896.

Da R. behauptete, daß wir, mit einigen Äxten bewaffnet, von Izamal nach Chichén-Itzá im Volán, der landesüblichen, zwischen zwei Lederriemen hängenden und von Maultieren gezogenen Sänfte, durchkommen könnten, sind wir des Gepäcks wegen gefahren und mitten im Dschungel steckengeblieben. Eingeborene Führer haben uns dann zu Fuß auf Waldwegen über Pisté, den letzten Vorposten der mexicanischen Regierung, nach Chichén gebracht. Des Tags strömte der Regen. Nachts aber flimmerten in den Baumwipfeln die Feuerfliegen auf, und darüber gingen die Sterne. Ich habe die Welt, ich meine das der Seele Fremde, nie mächtiger empfunden als hier gerade in der Dunkelheit. Das Übergewicht der Augen beim Spiegeln des Lebens ist nachts geringer; und nun flutet das Werden in der Überfülle, zu der es sich hier entfaltet, in alle Sinne, in jeder Form der menschlichen Sinnlichkeit zu Millionen von Eindrücken sich gestaltend, vom Surren und Flattern und Duften und Rauschen und Glitzern und Flimmern des Tropenwaldes bis zu den kühlen Berührungen der hier regelmäßig in gewaltigen Strömen hin und her flutenden Erdatmosphäre und zum stechenden Glanz der südlichen Sterne.

Chichén-Itzá, 1./3. Dezember 1896.

Wir genießen hier die Gastfreundschaft des Rancho von Chichén, den ein amerikanischer Gelehrter, Herr T., sich seit zwei Jahren als wissenschaftliches Hauptquartier eingerichtet hat. Das große, weißgetünchte Wohngebäude liegt, von einigen Hütten umgeben, mitten im Walde. Jenseits der Hütten stehen noch die eingestürzte Kapelle und die Wirtschaftsgebäude der früheren Hazienda von Chichén-Itzá, die von feindlichen Indianern mitsamt dem Besitzer verbrannt worden waren. Hier ist die Barbarengrenze. Im Süden, bis nach Honduras hin, haben die Stämme die mexicanische Herrschaft abgeschüttelt. In einiger Entfernung lagern im Walde Kundschafter, die vom Nahen von Sublevados, von Rebellen, wie hier die freien Indianer heißen, durch Signalraketen Nachricht zu geben haben. – Die Kapelle des Rancho ist noch rauchgeschwärzt; die früheren Ökonomiegebäude bedeckt schon der Wald. Man staunt immer wieder, wie reich die Natur hier alles in Leben verwandelt.

Die Ruinen von Chichén-Itzá sind ausgedehnter als die von Uxmál. Von den Pyramidenspitzen sieht man noch am Horizonte Tempel und Trümmerhaufen aus dem Walde emporragen; und nichts kann an melancholischer Größe diesen Blick übertreffen. T. versichert, daß man in einem Umkreis von acht Kilometern rings um den großen Tempel herum keine hundert Meter weit gehen kann, ohne auf Trümmer von Steingebäuden: Säulentrommeln, Inschriftenblöcke oder Skulpturenfragmente, zu treffen. Die Stadt muß danach einen Durchmesser von sechzehn Kilometern und wahrscheinlich mehrere Hunderttausende von Einwohnern gehabt haben. Selbst dann aber ist die Fülle von Tempeln und von Fürsten- und Adelspalästen erstaunlich; denn nur sie wurden aus Stein erbaut. – Jetzt ist alles dichter Wald, und in den Tempelkammern findet man Schlangen- und Pumaspuren. Die Trümmer in der Wüste sind weniger ernst als diese unter Baumwipfeln und hängenden Blüten; denn dort besteht kein Kontrast mit dem Leben.

Es ist in der kurzen Zeit unmöglich, alles zu besuchen, und vieles wäre nur durch tagelanges Fällen von Bäumen und Gestrüpp sichtbar zu machen. Erreichbar sind zwei Paläste, fünf oder sechs gut erhaltene Tempel und einige von den sogenannten Cenotes. Diese Cenotes, die in Yucatán häufiger vorkommen, sind eingefallene Kalksteinhöhlen, in deren Tiefe unterirdische Flüsse ans Licht treten. Andere fließende Gewässer fehlen im Lande; die Bewohner waren von jeher für ihren Wasserbedarf auf die Cenotes und auf Regen angewiesen. So bildeten sich um diese Erdspalte die Städte. Der größte Cenote von Chichén-Itzá liegt in der Nähe des Haupttempels. Er mißt etwa hundert Fuß im Durchmesser. Die Höhlendecke ist kreisrund eingestürzt; in der Tiefe erscheint der Fluß still und schwarz wie ein Brunnen. Ein schmaler Pfad führt hinunter; die Luft unten ist am Tage frischer als oben im Walde und das Wasser kühl und angenehm zum Baden. Über sich sieht man nur ein kleines Stück freien Himmels, von dichten Baumkronen rund begrenzt; zum Waldboden steigen rings um den Wasserspiegel die Felsen gerade empor; an Ecken der Felsenwand klammern sich Fächerpalmen; Lianen und Wurzeln hängen lang von oben herunter. Hier war zu der Maya Zeiten der Mittelpunkt der Stadt. Tempel von Wassergöttern umstanden den Rand; und in großen Dürren wurden ihnen von oben als Opfer Mädchen und Gold in die Tiefe gestürzt.

Das Hauptheiligtum der Stadt war der Schlange, wahrscheinlich dem Sinnbild der schaffenden und zerstörenden Sonnenkraft, geweiht. Es steht auf einer hundert Fuß hohen, in vierzehn Stufen aufsteigenden Terrassenpyramide. Schlangen ringeln sich von oben an den Ecken der Pyramide in großen Bogen von Stufe zu Stufe herunter und bewachen die Aufgänge zähnefletschend. Zwischen ihren gefiederten Leibern führten an den vier Pyramidenseiten Treppen hinauf zu den vier Pforten des Tempels. Die Säulen des Hauptportikus sind Drachen, deren Ringe sich wie Querkannelüren um den Säulenschaft winden. Die vorgestreckten, riesig vergrößerten Stachel bilden die Treppenwangen; der Schweif schlägt sich am Gebälk empor; der Kopf ist groß stilisiert und zeigt Reste von Bemalung: an den Augen blau und im Rachen rot. Von oben bis unten waren der Tempel, die Pyramide und ihr Ungeheuerschmuck farbig. So standen sie grell über der Stadt am tropischen Himmel.

Die beiden Paläste geben an burgartiger Schwere und üppiger Prachtentfaltung denen von Uxmál nichts nach. Ein buddhaartiges Götterbild bewacht inmitten eines Glorienscheins das Ostportal des Hauptpalastes. Über seinen inneren Pforten stehen schöne, klargemeißelte Schriftzeichen. Die kühne, fast japanische Eleganz der Muster an den Palastwänden, der Ernst der aus den Arabesken hervorblickenden Menschenköpfe und der große Stil der Tierornamentik übertreffen sogar, was in Uxmál sich erhalten hat.

Der wirksamste Unterschied gegen dort ist aber, daß die Skulpturen hier infolge ihres Reichtums an Tier- und Menschenformen die Illusion erwecken, wie wenn ihre Sprache für uns lebendiger geblieben sei als die Symbole von Uxmál, die wir nur noch als Ornamente empfinden. An den Türpfosten des Schlangentempels haben die Bauherren sich selbst: die Priester- und Kriegerkaste, darstellen lassen, in flachem Relief, das fein in den grauen Stein gemeißelt ist; die dünne Farbenschicht, die darüber lag, ist meistens abgeblättert: aber hier und dort haben die Lippen sich rot erhalten. Der Schnitt des Gesichts ist edel; die Nase fein geschwungen; die Wangen schmal und das Auge groß und ernst. Alle tragen den Gürtel des Kriegers und den gestickten Mantel des Priesters. Das sandalenartige Schuhwerk war verziert, und vom Stirnreif weht reicher Federschmuck. In der Kammer eines anderen Tempels stellt ein flaches Relief, das sich von einem mit Eisenoxyd leicht geröteten Grunde abhebt, einen Kriegstanz dar. Die Tanzenden halten in der einen Hand einen Bündel Speere und in der anderen den eigentümlich gefiederten Maya-Wurfpfeil; den Kopf schmückt ein phantastisch reicher Federschmuck. Auf fünf Friesreihen übereinander entfaltet sich der heilige Reigen; die Tanzenden schreiten feierlich langsam, schwingen die Leiber hin und her, biegen geschmeidig die schlanken Körper und strecken verehrend starr die Arme. Oben sitzt eine von lockigen Federn umwallte Gestalt, die vielleicht die Gottheit darstellt. – Ganz in der Nähe ist noch der Schauplatz erhalten, auf dem sich diese und ähnliche Handlungen abgespielt haben mögen: ein kolossaler rechteckiger Hof oder Zwinger, auf dessen zehn Meter dicken Umfassungsmauern drei kleine Tempel standen. Der Zwinger diente wahrscheinlich dem Ballspiel und heiligen Wettkämpfen. Ein Steinkreis, durch dessen Öffnung beim Spiel die Bälle geschleudert wurden, steht noch kunstvoll verziert quer aus der einen Längsmauer heraus. – Und doch lehrt Chichén-Itzá, trotz dieser anekdotenhaften Aufklärungen in betreff von Äußerlichkeiten, über das Wesentliche, das innere Leben der Maya-Menschheit, nicht viel mehr als Uxmál. Es sind bloß einige Züge, die hinzukommen und die wie Blitze Perspektiven erleuchten, in die es doch versagt bleibt klar hineinzusehen. In der Cella des einen Tempels haben sich Wandmalereien erhalten, welche auf die Anfänge der Naturbeobachtung bei den Mayakünstlern ein Licht werfen. Die Bilder, die Szenen des Mayalebens behandeln, bedecken wie in einer ägyptischen Mastaba die ganzen Wände. Die Pigmente sind auf eine dünne, schön geglättete Stuckschicht aufgetragen. Die feinen Konturen der Zeichnung scheinen durchweg braun gewesen zu sein, die Farben überhaupt nicht nach der Natur, sondern nach symbolischen Regeln gewählt: gelb, wie ich glaube, als Farbe des Krieges, blau des Friedens, grün der Trauer. Modellierung und Perspektive fehlen. Und auch in den Gesichtern ist eine genaue Beobachtung und Individualisierung nicht einmal versucht; die Figuren haben untereinander die Ähnlichkeit von Hieroglyphenzeichen. Und doch führen sie schon richtig differenzierte Bewegungen aus; hier hat der Künstler scharf gesehen. Wie bei den frühsten griechischen Vasen und wieder bei der Neugeburt der Kunst im Mittelalter in Verona und Chartres, beginnt der Realismus auch hier mit dem richtigen Wiedergeben nicht von Formen oder Farben, sondern von Bewegungen, die den älteren subjektiven, strengen Ornamentalismus allmählich auflösen, indem sie ihn immer mehr mit objektiv beobachtetem Leben erfüllen. – Ein anderes Gemälde läßt Vermutungen zu über die Entstehung der Schrift, deren selbständige Erfindung in Amerika dasselbe eigentümliche Interesse besitzt wie die selbständige Ausbildung der Sprache, des Begriffs, indem auch sie die Notwendigkeit, die alle menschlich-gesellschaftliche Entwicklung beherrscht, durch ein Beispiel belegt. Das Bild zeigt einen Krieger, der aus dem Munde Flammen speit. Offenbar ist diese Darstellung eine ins Sichtbare übersetzte Sprachmetapher. Der Künstler unterschied in der ersten Zeit nicht das Zeichen für den Geist vom Zeichen für das Auge. Mit dem Bewußtwerden des Unterschiedes entsteht die Schrift. – Aber ebenso wie in Uxmál fehlt auch hier die Möglichkeit, über das Allgemeinmenschliche hinaus, welches sozusagen konstruierbar ist, in jenes Individuelle der Seele einzudringen, das bloß durch ein Bekenntnis, eine Mitteilung offenbart werden kann. Wir kommen an alles nur von außen hinan, und so bleibt es im Grunde genommen stumm und tot. Das gibt ein Gefühl, wie wir es Denkmälern der alten europäisch-asiatischen Kultur gegenüber kaum mehr empfinden.

Höhlen von Loltoun, 7. Dezember 1896.

Ich habe mich von T. bestimmen lassen, im großen Walde einen Abstecher nach den Höhlen und unterirdischen Tempeln von Loltoun zu machen. Nach seinen Angaben haben wir heute den Eingang gefunden. Er liegt in einem Dickicht unter Gestrüpp und gestürzten Baumstämmen versteckt. Man steigt über Stufenfolgen und an Baumwurzeln in einen Schacht hinunter, der zu einer meilenlangen Folge von unterirdischen Hallen hinabführt. Breite, grünliche Lichtgarben, die durch die Risse der Decke brechen, erhellen die ersten Räume; mit Fackeln kann man noch stundenlang weiterdringen. Zahlreiche Raubtiere, die nach Sonnenuntergang in den Wald hinaufsteigen, bewohnen, wie die Eingeborenen sagen, die Tiefen der Höhle; auf dem feinen Sand, der den Boden bedeckt, waren Pumaspuren.

Der Höhlenkomplex gehört in seiner Ausschmückung zu den rätselhaftesten Denkmälern der ältesten yucatekischen Kultur. Unbekannte Bildner haben die Stalaktitenspitzen zu Tigerköpfen umgemodelt, in die Wände kolossale Totenschädel gebohrt, niedergestürzte Felsenblöcke zu Tier- und Menschenähnlichkeit geformt und aus Steingeröll durch kühne Meißelschläge Schädelhaufen gemacht. Im Wandel der Sonnenstrahlen, die langsam über das einzelne hingleiten, verschwimmen die Bilder beständig wechselnd ineinander. Nur allmählich erkennt man im Dämmerdunkel flach in den Felsen geritzte Tiger- und Totengerippe und unter Stalaktitenmassen, die sich neu gebildet haben, was vielleicht die verschwindenden Umrisse von Riesengötzen sind. Diese Undeutlichkeit der Linien unter den neuen Kalksteinschichten im fahlen Licht der gewaltigen Hallen erweckt durch die Phantasie eine Art von Angst, die dem Schwindel verwandt ist; auch das Natürliche, nicht von Menschenhand Geformte, die hängenden Felsenmassen der Höhlendecke, die Feuchtigkeit, die in dunklen Flecken aus den Wänden sickert, der grünlichglatte Pflanzenschleim, der stellenweise die Felsen überzieht, werden wie die ringsum verschwimmenden Formen für das Auge zu entsetzlichen Gestalten und zu Symbolen der Zerstörung, der Verwesung und des Todes. Die deutlich gemeißelten indischen Höhlentempel sind weniger eindrucksvoll als dieser Lemurenort, dessen weite Gewölbe nur von Schatten von Formen bevölkert werden. Die Überlieferung sagt nicht, welchen Mysterien dieser Hades gedient hat.

Tabi, 8. Dezember 1896.

Ich habe heute nacht in Tabi, der Hazienda des Don Eulogio D., meine Hängematte anhängen können und bei dieser Gelegenheit eine der größten Plantagen von Yucatán kennengelernt. Einhundertzweiundneunzig Quadratkilometer, die neueste Maschinerie und als Personal zweihundert Arbeiter: einen pro Quadratkilometer. Ein Dutzend Familien spanischer Abstammung besitzt unter solchen Bedingungen, was von Yucatán noch mexicanisch ist, und hält sich die ganze Indianerbevölkerung als Schuldknechte zu Hörigen. – Die Haziendados hintertreiben auf jede Weise die pekuniäre oder geistige Emanzipation ihrer Leute. N. verhindert seine Knechte, lesen und schreiben zu lernen; er nutzt dazu ihren Mangel an Selbstbeherrschung und Ausdauer aus. Wenn einer ihn bittet, lernen zu dürfen, zwingt ihn N., regelmäßig Stunden zu nehmen; er sieht darauf, daß er jeden Tag zum Lehrer geht. Nach einiger Zeit kommen die Leute selbst zu ihm und bitten, vom Zwang dispensiert zu werden. Er will damit gute Erfolge gehabt und die Zahl der Analphabeten stark vermehrt haben. – Der regelmäßigen, ausdauernden Willenstätigkeit sind die heutigen Mayas psychologisch unfähig. Ihr Charakter ist noch stärker als der mexicanische vom Klima beeinflußt. Die Seele des Mannes hier ist die eines zu schnell reif gewordenen Kindes; der Energieverbrauch im Knabenalter übersteigt seit Generationen die Ersatzmöglichkeiten; gleich diese erste Entwicklung erschöpft die Kraft. R. verheiratet auf seiner Hazienda die Jungen spätestens mit sechzehn Jahren; es soll das einzige Mittel sein, Ordnung zu halten. Von Kraftlosigkeit zeugt schon der Gang der Männer; man sieht sie kaum anders als mit gekreuzten Armen, unterwürfig, wie resigniert ihres Weges gehen. Geld ist ihnen gleichgültig, der Reiz des Verdienstes nicht stark genug, um ihre Apathie zu überwinden; durch Bezahlung sind sie zu nichts zu bringen; nur der Priester oder Gewalt und äußerer Zwang sollen wirksam sein; die Haziendados entschuldigen damit ihr Behandlungssystem. – Inwieweit die natürliche Gleichgültigkeit von der alten Erfahrung verstärkt worden ist, daß der spanische Grundherr jeden Verdienst, jedes Ersparte, so oder so, als Raub oder Zins, immer bald wieder an sich bringt, inwieweit also die Haziendados selbst an der Trägheit, unter der sie zu leiden behaupten, schuld sind, ist nicht genau abzumessen; gewiß hat auch diese historische Ursache, und zwar im selben Sinne wie die ältere, klimatische, auf die Bildung des Mayacharakters eingewirkt. – Auch die Sinne scheinen infolge der größeren Willensschwäche stumpfer zu sein als selbst in Mexico, die Reaktionen träger, die Aufmerksamkeit schlaffer. Maler sagt, daß er oft auf Haziendas mitten in der Fassade oder über der Viehtränke große Mayaskulpturen eingemauert gefunden habe, deren Existenz selbst vom Besitzer und von den Knechten bestritten wurde, bis er sie ihnen zeigte. Sie hatten sie nicht nur mißachtet wie ein deutscher Bauer, sondern Tausende von Malen davorgestanden, ohne sie zu sehen.

Infolge ihrer Energielosigkeit sollen die Indianer auch gegen die Herrschaft der Haziendados nicht murren; sie müßten heftiger, durch Ungewohntes gereizt werden, um zu klagen. Aber Yucatán, das vor Ankunft der Spanier wohl mehrere Millionen von Menschen ernährte, ist jetzt eine Waldwildnis mit dreihunderttausend Einwohnern, und die Fiebergefahr steigt in Wechselwirkung mit der Entvölkerung. Trotzdem frißt die Sklavenrasse das Herrengeschlecht allmählich auf; die spanischen Familien vermischen sich immer mehr mit Indianerblut oder sterben an Inzucht und vor allem am Aussatz aus. Man könnte den Moment fast vorausberechnen, wann ohne Kampf auch der Rest von Yucatán in die Hände seiner Urbesitzer zurückfallen müßte. Doch werden die Nordamerikaner wohl vorher eingreifen, wirtschaftlich und vielleicht auch politisch.

Sabaktché-Labná, 8. Dezember 1896.

Von Tabi bis Labná, sechzehn Kilometer weit, führt der Weg, der für Voláns passierbar ist, fast ununterbrochen an Trümmern vorbei. Der Augenschein bestätigt hier, was Molina sagt: daß bei Ankunft der Spanier ganz Yucatán einer einzigen Stadt geglichen habe. Maler allein hat zwischen hier und Guatemala in der Waldwildnis die Trümmer von hundert großen Städten, eine jede mit weiten Terrassenanlagen, Steinpalästen und reichgeschmückten Tempeln, gefunden, und wie zum Hohne laufen streckenweise neben dem erbärmlichen modernen Holzwege die Fragmente der wie ein Damm fest aus Stein aufgeschütteten Mayastraße hin.

Ich bin unterwegs nur zweimal ausgestiegen. – Zuerst bei Mulottseca, wo kaum hundert Schritt vom Wege entfernt, in einem Dornenfelde, ein kleiner Steinpalast steht. Er ist so fein und anmutig gebaut, daß sein Säulenfries trotz seiner Zierlichkeit für den schmalen Unterbau fast zu schwer erscheint. Mit der größten Sorgfalt sind die Bauglieder geglättet und ineinandergefügt, und der Elfenbeinton des Steins gibt weiche und tiefe Schatten. Im Innern sind nur zwei Räume. Der Bau diente, wenn er nicht ein Tempel war, vielleicht als Lustschlößchen oder Sommerhaus eines Mayafürsten.

Nach einer Stunde haben wir noch einmal, bei den Hütten von Sabaktché, gehalten. Hier liegen über einige Quadratkilometer die Trümmer einer größeren Stadt verstreut. Verschiedene Tempel und zwei Paläste stehen noch. Der eine Palast ist zweistöckig und einfach, aber geschmackvoll mit Steinornamenten verziert. Am anderen, weit bedeutenderen, stützen das Gebälk mächtige, zu dreien gekuppelte Halbsäulen. Die Bauten sind so in Vergessenheit geraten, daß es mehr Mühe kostete, ihre Lage von den Indianern zu erfahren als sich durch die Dschungel zu ihnen hindurchzuhauen. Der größere Palast war bisher unbekannt. Ich habe ihn durch Zufall entdeckt, während wir nach zwei angeblich gut erhaltenen Tempeln suchten. Die Tempel dagegen blieben im Walde verborgen.

Labná liegt in einem Talkessel des kleinen Hügelzuges, der Yucatán im Osten durchzieht und der heute noch die meisten Ruinen birgt, weil die spanischen Grundherren hier weniger als in der Ebene mutwillig zerstört haben, um sich Äcker zu schaffen. Die Ruinen sind, da sie an den Hügelabhängen über den Wald emporragen, leicht zu finden. – Ein Tempel, der wie das Taubenhaus in Uxmál von einer viereckigen, gewaltigen Steinkulisse überragt wird, gehört zu den phantasievollsten Bauten Yucatáns, und auch die beiden Paläste geben denen von Uxmál und Sabaktché nichts nach. – Aus dem kleineren Palast machen harmonische Verhältnisse und lieblich-phantastische Ornamentik ein Steinjuwel. Er gleicht an zierlicher Anmut, obgleich er im übrigen größer und reicher ist, dem Schlößchen von Mulottseca. Eine von seinen Türnischen ist noch so frisch in der Farbe, daß man deutlich die Valeurs der Töne erkennen kann: auf grell zinnoberrotem Grunde giftig grüne Palmetten; das Fragment gibt eine Ahnung davon, wie bunt die ganzen Bauten verputzt waren; die Reizstärke der Farben gab der der Ornamente und Symbole nichts nach. –

Hauptpalast von Labná (Yucatán)

Am großen Palast sind die Verhältnisse gedrungener und archaischer, die Tore niedriger und breiter, das Gebälk im Verhältnis zur Höhe schwerer. Die Masken sind so üppig stilisiert, daß sie nur durch ihre imposante Größe und ihre groß-ornamentale, strenge Linienführung davor gerettet werden, kindlich-fratzenhaft zu erscheinen. Die auffallendste steht über einem der Haupttore mitten unter Mäandern und halb zerstörten menschlichen Figuren. Zwischen tellergroßen, viereckigen Augen springt ein Rüssel wie ein Schiffshaken vor; darunter zeigt der lippenlose Mund zwei Reihen viereckiger Zähne und an jedem Mundwinkel zwei hornartige Haken. Die Pupillen der Augen waren blau. Die Zähne standen weiß glasiert hell im roten Rachen. Der ganze Kopf ist an die fünf Fuß hoch, und der Rüssel ragt hieroglyphengeschmückt etwa drei Fuß aus dem Fries vor. Uns Modernen bewegt tiefer eine andere Kolossalmaske, ein schönes Menschenantlitz, das wie erstarrt zwischen den Fängen eines Alligatorrachens gehalten wird. Als längst verdorrtes Symbol welches entschwundenen, welches verlorenen Glaubens blicken diese Augen noch so tragisch hernieder? – Das alles steigt, einem dunklen, unterirdischen Zyklopenwerk gleich, aus den Trümmern der herniedergestürzten oberen Stockwerke auf. Die Vegetation, die darauf lastet, ist so mächtig, daß sie ganze Mauern mitsamt ihrem Gebälk in einem Stück umlegt; ihre durstigen Wurzeln sprengen wie Arme die Decken, um in die Feuchtigkeit der Palastkammern hinabzulangen. Der Schatten des Waldes vertieft den Eindruck des unheimlich Nächtigen, Höhlenartigen. So gleichen die Paläste den Zinnen irgendeines aus dem Erdinnern in phantastischer Pracht aufragenden Nibelheim.

Kabà, 9. Dezember 1896.

Kabà bietet von der obersten Terrasse des großen Tempels aus ein ähnliches Bild wie Chichén-Itzá; in allen Himmelsrichtungen eine unübersehbare Anzahl von Trümmerkomplexen, die wie Inseln aus dem großen Walde aufsteigen; die Ausdehnung der Stadt, die Menge und die Masse der Bauten, der Reichtum der Symbole und Ornamente, welche langsam im steigenden Humus- und Wurzelmeer versinken, sind hier nicht merkbar geringer als dort. Der Ort war wie Uxmál und Labná, wie Sabaktché und Aké, wie Bolontchén und die Dutzende von anderen Städten, die Stephens und Maler entdeckt haben, eine große, reiche, mit prunkvollen und kolossalen Gebäuden geschmückte Hauptstadt. Wenn Kunst, wie es scheint, auf Seiten ihrer Schöpfer wie auf Seiten derer, die sie genießen, eine Summe überschüssiger Kraft repräsentiert, dann muß man staunen, wie auf einem so kleinen Gebiet wie Yucatán so zahlreiche Kulturzentren möglich waren; das heißt, wie der Bruchteil von Arbeit, den diese Menge von Palästen und Tempeln verbraucht hat, immateriellen Bedürfnissen, Luxuswerken, zugewendet werden konnte; nichts gibt einen größeren Begriff von der verschwenderisch schenkenden Fruchtbarkeit der tropischen Natur. Diese Fruchtbarkeit ist hier sozusagen kapitalisiert sichtbar; der Mangel an Export hat sie zu Stein werden lassen: was an Volkskraft durch das mühelose Empfangen von der schenkenden Natur entbehrlich gemacht wurde, ist, statt außer Landes zu gehen, hier geblieben. Also auch hier wie bei uns im Mittelalter war der beschränkte Markt eine Ursache hoher Kultur. Man muß annehmen, daß, wo der Arbeitsertrag größer ist oder schneller steigt als die materiellen Bedürfnisse und auch nach außen hin keinen Ausfluß findet, die Kraft, die sich staut, Luxusbedürfnissen zufließt. Luxusbedürfnisse sind ja nicht wie die materiellen an eine feste Aufnahmefähigkeit gebunden, sondern steigern sich unbegrenzt nach den Arbeitsmengen, die sie beherrschen, und können alle Formen und Stufen der Kunst in Anspruch nehmen, von der Ornamentik der Naturvölker bis zu den Bauten Ägyptens und den gotischen Domen. Während die Exportkultur mit der Mehrkraft des Volkes Exportwaren schafft, das heißt einen Ersatz für Wertpapiere, eine Art von Münze, die den Nachteil hat, viel Arbeit zu kosten und doch zu verfließen, bietet also die Umgrenzung des Marktes den Kraftüberschuß Herrschern, Priestern, geistig oder künstlerisch verwandten Menschenreihen, kurz allen, die Schöpfer sein wollen, als ein mächtiges Werkzeug dar, mit dem sie, wenn ihr Sinn auf Dauerndes geht, über sich selbst hinaus produktiv werden können. So ist es in Yucatán gewesen; seine Fruchtbarkeit wurde statt zu Geld zu Bauten. – Japan könnte, wenn es nötig wäre, beweisen, daß die Produktivität, der Eigenwert eines Volks, mit seinem Geldreichtum, seiner Kaufkraft, nicht identisch ist; denn die Kaufkraft ersetzt und verdrängt dort allmählich, was ich Produktivität genannt habe. Die Arbeitsmengen, die bis vor kurzem Dinge schufen, die Eigenwert besaßen, fabrizieren jetzt Waren, die nur einen Tauschwert haben; die alten, ganz feinen Lack- und Porzellanarbeiter sterben aus, weil die Jungen sich der Herstellung von Strümpfen und Streichhölzern, die ausgeführt werden, zuwenden. Dort steigt also die Kaufkraft des Landes, während seine Produktion an Selbstwerten sinkt; seine Arbeit wird statt zu Genüssen zu Geld. Mit dem Gelde werden sich einzelne vielleicht einen plutokratischen Luxus kaufen, dieser aber, der zum Beispiel auch aus dem Auslande bezogen sein kann, ruht auf einem ganz anderen Grunde als die alte, volkstümliche Luxuskultur, die sich nicht anders als national denken läßt. – Man übersieht, um wieviel die Höherentwicklung der europäischen Kultur durch die Erweiterung der Handels- und Auswanderungswege seit dem Ende des Mittelalters möglicherweise auch verzögert worden ist.

Das bedeutsamste Bauwerk in Kabà ist wegen seiner Fassade der Tempel des Kukulcàn, des Schlangengottes. Er setzt sich aus fünf Doppelheiligtümern zusammen, die in einer Reihe hinter einer einzigen langen Front liegen. Diese Front besteht in ihrer ganzen Länge und von unten bis oben aus nebeneinander und aufeinander gestellten, je drei Fuß hohen Kolossalmasken mit blanken Zähnen, großen viereckigen Augen und vorgestreckten Rüsseln; ein kräftiges Gebälk und die mächtigen Monolithe der Eingangstüren bieten dem Blick einen Maßstab und halten das Ganze so zusammen, daß es trotz seiner Phantastik den Eindruck eines Architekturwerkes, eines großen Gebäudes macht. Die Pupillen, die einem aus den zahllosen Augenhöhlen der Maskenreihen entgegenblicken, die Menge der Lippen, die in regelmäßigen Zwischenräumen mit Schmuck beladen in der Fassade herniederhängen, die Gebisse, die ihre geschlossenen Zähne zeigen, überziehen die ganze Front wie mit einem Riesenmuster aus Augen und blanken Zahnreihen. – Durch die Tür des mittelsten Heiligtums sieht man an der Rückwand, auf den Boden aufgestützt, eine ähnliche Maske wie die der Fassade; ihr Rüssel, der in drei Bogen auf dem Erdboden vorrollt, bildet den Stufengang zu einem zweiten, höher gelegenen Raum, wohl dem Allerheiligsten. Wenn der Pilger auf der Treppe, die die Terrassen des Tempels emporführt, die oberste Stufe erreichte, erschien ihm plötzlich zwischen den übrigen Ungeheuern aus dem schwach erhellten Tempelinnern diese aus dem Boden aufragende Riesenmaske wie ein Phantom; und darüber in der hinteren Kammer, in noch tieferem Dunkel, der Gott.

Wenn ich richtig empfinde, was die Mayakünstler erstrebt haben, dann ist dieser Bau ihr Meisterwerk. Als die Flucht seiner blauen Augen und roten Rachen unter den Bäumen des heiligen Hains im Dämmerlicht riesengroß auf den tragenden Terrassen emporragte, einem Traumgesicht gleichend, da hat sie wie keine andere von ihren Schöpfungen eine Vision verwirklicht, die die Phantasie wie eine Erzählung von Poe oder ein Capriccio von Goya in ihren Bann zwang. Und eben diese Vergewaltigung der Phantasie scheint mir das eigentliche Ziel der Mayakunst gewesen zu sein.

Denn die Paläste und Tempel Yucatáns sind dem Märchen nicht nur äußerlich in ihrer Stimmung ähnlich, sondern auch innerlich verwandt durch den Instinkt, den sie befriedigten. Sie entsprechen dem Drang einer noch kindlichen Menschheit, an wechselvollen Erregungen alle noch frischen Fähigkeiten ihrer Seele zu erproben; auch sie wollen die Phantasie durch Überraschungen und Wunder wecken, Abenteuer sein, die die Sinne erleben, und Symbole, über die der Verstand grübeln kann; nicht abwechselnd grimme und holde wie die des nordischen Märchens; ihnen fehlt der Humor: sondern bizarr unmögliche, durch die statt des Lachens eine düstere Sinnlichkeit wie tropischer Blumenduft zieht. Das Fabulieren erstrebt hier in schwülen, furchtbaren Bildern eine Gewaltsamkeit der Eindrucksmittel, die nur auf das stumpfste Empfinden oder auf einen Kraftüberschuß berechnet sein konnte, der sich in den heftigsten Nervenerschütterungen Luft machen mußte. Man kann nicht zweifelhaft sein, welches von beiden hier der Fall war. Denn wenn die Kunst gebraucht wird, um der Kraft, die den Menschen bis zum Schmerze spannt, einen Ausfluß durch die Sinne zu bahnen, dann bleibt neben dem Genießen auch das Handeln in seinem Recht; als direktere Schwächungsmittel des Körpers und des Willens treten orgiastische Zeremonien, blutige und ermüdende Wettkämpfe, das Aufsuchen ferner Abenteuer und die Selbstmarterung durch Askese neben der Kunst auf; ja, der erschöpfende Kunstgenuß ist dann für jenes erschöpfende Handeln im Grunde genommen nur ein Surrogat. In Yucatán, wo sich trotz genügender Überlieferung nicht einmal die Sage an solches erhalten hat, wo im Gegenteil ein quietistisches, energieloses Volk solche Wirkungsstärke gesucht hat, bleibt nur der Schluß, daß es stumpfe Nerven waren, die dieser Lautheit bedurften; wie denn überhaupt die sogenannte reichere Sinnlichkeit des Südländers bloß eine gesteigerte Reizbedürftigkeit sein könnte.


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