Harry Graf Kessler
Notizen über Mexico
Harry Graf Kessler

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III

Teotihuacan, 12. November 1896.

Mit dem Frühzuge nach San Juan Teotihuacan. Die Morgennebel waren über den Seen noch nicht zerstäubt und lagen dicht auf den Wiesen; vor den Lehmhütten der Dörfer spielten die kleinen Indianerkinder; an den weißen Bahnstationen gingen die buntgekleideten Marktweiber mit vollen Körben auf dem Kopfe am Zuge entlang, und über den Halmen der Maisfelder stieg, wie der Fudschijama auf einem Holzschnitt von Hokusai, der Kegel des Popocatepetl schlank und unbewölkt am Himmel auf.

Das Ruinenfeld von Teotihuacan liegt in dem großen reichbebauten Tal, das sich vom Texcoco-See östlich bis zu den blauen Bergzügen von Veracruz und Puebla erstreckt. Es ist das mexicanische Giseh. – Zuerst hält es schwer, sich im Wirrwarr von Pyramiden und Schuttkegeln, die die Ebene bedecken, zurechtzufinden; aber allmählich erkennt man den Plan des Ganzen als den einer einzigen Tempelanlage, die an Ausdehnung zu den gewaltigsten gehört, deren Spuren sich auf Erden erhalten haben: in der Mitte eine große Pyramide, noch heute über zweihundert Fuß hoch und fast achthundert Fuß im Geviert; zu beiden Seiten, nach Norden und Süden, zwei weniger hohe, die durch eine breite Feststraße verbunden sind; an diesem heiligen Wege in regelmäßigen Abständen zahlreiche kleine Kegel, die ihn auch dort begleiten, wo er in weiten Bogen an seinen Endpunkten die zwei niedrigeren Pyramiden umkreist und zu Festplätzen sich weitet; und an allen drei Pyramiden die Überreste von Treppenanlagen, die schnurgerade und steil zu den auf der obersten Terrasse errichteten Tempeln emporführten; auch diese Treppenfluchten breit und von gewaltigem Maße der Stufen. In allem gibt sich das Bestreben kund, die Stimmung durch massige Schwere und feierliche Langsamkeit zu beeinflussen, auf das Gefühl durch das Gewicht zu wirken, das das Bauwerk zur Schau trug, und durch die Zeit, die der sich Nahende gebrauchte, um vom Eingang des geweihten Bezirks zur Weihestätte selbst zu gelangen; ein Bestreben, das nicht den Mexicanern oder Tolteken eigen, sondern allen früheren Stadien religiöser Kultur gemein und auf Eigenschaften berechnet ist, die, wie es scheint, zu den ältesten des menschlichen Geistes gehören. Die Größe der Masse und die Länge der Zeit müssen zu den Vorstellungen gehören, die sich am ersten und allgemeinsten mit stark subjektiven Gefühlen verbunden haben und vermöge deren man daher am frühsten durch die Sinne zum Herzen dringen konnte; es sind die Zeichen, durch die überall, wo Reste alter Kultur erhalten sind, in Ägypten und Indien, in Assyrien und Siam ebenso wie hier in der Vorzeit Priester und Könige zum Volke sprachen.

Die Überlieferung berichtet, daß die Tempelstadt von Teotihuacan den Lichtgottheiten, der Sonne, den Sternen und dem Monde, heilig gewesen sei. Das Bild, das das Heiligtum ursprünglich bot, ist mit Hilfe der Schilderungen der Konquistadoren und der in vielem dieser Anlage so merkwürdig gleichenden japanischen Tempelbauten nicht schwer zu ergänzen: die breite, feierliche Feststraße, auf beiden Seiten von kleinen Tempeln oder Totendenkmälern begleitet und im Schatten uralter Bäume von geweihter Stätte zu geweihter Stätte führend; nach beiden Seiten der Blick auf die in breiten Absätzen machtvoll emporstrebenden Massen der Tempelfundamente, an denen von Stufe zu Stufe die Priesterprozessionen aus dem Schatten der Haine ins heilige Licht emporstiegen; und oben der grausig wilde Opferritus: das dem aufgeschnittenen Leibe entrissene und noch zuckend der Sonne und den lichtstrahlenden Gletschern ringsum geweihte Menschenherz. Das Bild sehen wir; aber die Gefühle, die damals die Brust des versammelten Volkes und des Opferpriesters, der den heiligen Mord vollzog, bewegten, sind auf ewig dahin: selbst die Phantasie vermag nichts mehr zur Erweckung dieses toten Stückes Menschheitsseele. Nur eins ist sicher, daß hier etwas Gewaltiges gestorben ist, etwas, das sich zu unserer Kultur und zu unseren Seelen, aus denen die große, als heilig empfundene Grausamkeit geschwunden ist, so verhält wie die Flammenwelt, die die Berge und Vulkane ringsum geboren hat, zu der Nützlichkeitswelt, deren Felder und Pflanzungen heute das Tal bedecken.

Wie überall, wo gewaltige, noch nicht wissenschaftlich sterilisierte Überreste alter Kultur vorhanden sind, blüht auch auf diesen Ruinen üppig das bunte Kraut der Legenden und Hypothesen: angefangen von den düsteren Sagen des ringsum wohnenden braunen Volks, das die Riesentrümmer als die Wohnungen geheimnisvoller und mächtiger Geister fürchtet, und fortwuchernd bis zu den hypothetischen Gebilden der in der Hauptstadt zahlreichen Halbgelehrten, deren Seele sich um irgendeine zur fixen Idee versteinerte Theorie wie zu einer psychologischen Neubildung kristallisiert hat, und die wie um ihr Leben sich streiten um sogenannte ›wissenschaftliche Fragen‹: nämlich ob die Riten und Religionen von Teotihuacan mit denen des ›ägyptischen Hermes‹ identisch sind oder ob die älteste mexicanische Kultur ein Überrest der vor zehn Jahrtausenden in den Ozean versunkenen des Landes Atlantis sei. Der Hauptvertreter der ›hermetischen‹ Theorie, der sich langsam verhungern läßt, um das Geld zu gewissen geheimgehaltenen Ausgrabungen zu sparen, glaubt, vielleicht mit Recht, daß sein ›atlantischer‹ Gegner ihm nach dem Leben trachtet. Der Charme des mexicanischen Altertums besteht zum Teil in dieser ersten, psychologischen Flora auf dem Neuentdeckten. Es gibt uns das Schauspiel eines ähnlich phantastischen Lebens und einer ähnlichen Fluidität und traumartigen Unbestimmtheit der Formen, wie es Hellas und Rom dem Mittelalter boten; der ›Zauberer Virgil‹ ist hier noch aktuell.

Abends, in Mexico, spielte auf der Plaza Mayor die Militärmusik, meistens Potpourris aus Bellini und Donizetti: ein dichtes Publikum drängte sich auf dem großen Platz, rauchte Zigaretten, spielte Ball oder promenierte langsam durcheinander in der Runde herum. Die Frauen trugen Fächer und Mamillen, die Männer Ohrringe, spitze, breitkrempige Hüte und scharlachrote oder mauerfarbene Banditenmäntel. Es war bei der Zirkusmusik im elektrischen Licht vor der großen Kulisse des Domes wie ein Monsterchor aus ›Zampa‹.

Besteigung des Popocatepetl 14./15. November 1896.

Um acht Uhr früh nach Amecameca abgefahren, von wo aus der Vulkan am leichtesten zu besteigen ist. Der Sekundärbahnzug hält an jeder Station zwischen fünf und fünfundzwanzig Minuten; während dieser Zeit gehen die Reisenden im Schatten Korso; an den Coupéfenstern wird geflirtet; ganze Familien kommen vom Lande herein, um durchreisende Bekannte zu besuchen; und im Innern der Wagen, die nach Art der D-Züge ineinandergehen, bieten Hökerinnen Milch und Knoblauchkuchen feil. An jeder Haltestelle genießt man dasselbe Schauspiel und denselben Geruch. Unter diesen Umständen haben wir uns auf der zweistündigen Fahrt von Mexico nach Amecameca um eine Stunde verspätet. In Amecameca dagegen ging alles unverhofft schnell, dank den Briefen, die mir der General O., dem der Popocatepetl gehört, an seine Beamten mitgegeben hatte. Nach zwei Stunden, gegen ein Uhr, ritten wir durch das andere Ende des kleinen, von klaren Gebirgsbächen durchströmten Ortes gletscherbereit hinaus, im ganzen fünf Mann; ich, zwei Führer, ein Pferdehalter und ein Mestize, der sich aus nicht zu erforschenden Gründen, vielleicht als Koch, angeschlossen hat. Die beiden Führer und der Pferdehalter sind Vollblutindianer.

Der Weg steigt zuerst zwischen Kulturen leise an; rechts und links sind Korn- und Weizenfelder, die sich in großen Teppichstücken zwischen den bewaldeten Gebirgshängen ausstrecken; oben lagern heute auf den Bergen Nebelmassen, die die Schneespitzen verhüllen; die Gegend gleicht bis auf die braunen Feldarbeiter und die Kaktushecken dem Tal von Innsbruck.

Nach anderthalb Stunden hört die Straße auf. Steil geht es durch trockene Flußläufe und Felsenschluchten aufwärts. Unter uns senkt sich allmählich das Tal. Von Zeit zu Zeit begegnen uns noch Züge von Packtieren, dahinter die Treiber barfuß in Poncho und Spitzhut. Der Wald fängt an, nordisch zu werden; die Kiefer verdrängt die anderen Bäume, und am Boden wachsen deutsche Waldblumen.

Als wir etwa elftausend Fuß hoch sind, bricht die Dunkelheit herein. Hier beginnen die Grasmatten; Kühe, großgehörnte Prachttiere, weiden da jahraus, jahrein im Freien. Von unserem Zuge aufgescheucht, sprengen sie im Mondlicht wie großes Wild in Rudeln davon. Und jetzt schimmern über uns plötzlich durch Wolkenrisse Schneehänge.

Dreizehntausend Fuß hoch in einem Gebirgstal liegt der Rancho des Generals O., in dem wir übernachten sollen, drei dicht aneinandergelehnte Bretterhütten, die plötzlich inmitten einer Wüstenei von umgehauenen und halb verkohlten Kiefernstämmen im Helldunkel vor uns auftauchen. In der einen sind Reste eines Stalles und einer Krippe. In der anderen dicht daneben sollen wir schlafen. Mitten im Räume, im niedrigen, kreisrunden Herd, wird auf dem Erdboden mit feuchtem, knatterndem Reisig Feuer angelegt. Die Decke läuft spitz zu und empfängt nur unten an den Seiten den Feuerschein; in der Mitte steigt sie in die Dunkelheit auf. An der vom Berge geschützten Wand des Raumes liegt noch eine alte, verfilzte Streu. Der Rauch zieht, so gut er kann, durch die offene Tür oder durch undichte Stellen der Decke ab. Um das Feuer hocken schweigend meine vier Rothäute. Es ist Biwakstimmung, aber unter welchen Gestalten!

Bald nach dem Abendbrot wird die Streu mit Mänteln belegt; die Indianer wickeln sich in ihre Zarapes und schlafen ein. Allmählich verlischt das Feuer, und nur ein Mondstrahl, der durch eine Öffnung im Dache dringt, erhellt schwach noch den Herd und eine in ihren Mantel gehüllt dahingestreckte regelmäßig atmende Gestalt. Mich aber verfolgt im halben Wachen wie ein Fiebertraum von Stunde zu Stunde das Geräusch der jenseits der Bretterwand kauenden und mit ihren Halftern an die Krippen schlagenden Pferde . . .

Endlich gegen zwei Uhr wird zum Abmarsch aufgestanden. Die Nacht ist vollkommen still und klar. Der Himmel senkt sich sternenfunkelnd in die Ebene hinab. Der Vulkan ragt dunkel und riesenhaft in seine Klarheit hinauf; die Aschenwände unten verschwimmen in Finsternis; oben aber leuchten Eisfelder im tropischen Glanz der Nacht wie weiße, von Sternen beschienene Wolkenstreifen. Der Weg führt über Gras und Bimssteingeröll aufwärts durch Nadelwald. Eine leichte Brise bewegt die Kiefernwipfel vor den Sternen auf und ab. Dann werden die Stämme lichter und hören ganz auf. Heide und Bimssteinfelder wechseln ab. Kleine, nicht zusammenhängende Schneestücke gehen allmählich in ein großes Schneefeld über. Wir steigen in kurzen Zickzacklinien schnell aufwärts; bald erscheint der Wald schon weit unten wie eine tiefschwarze lichtlose Fläche, die das grauere Dunkel der Heide finster begrenzt. Über uns wächst allmählich der Berg an Masse; jetzt sind sein dunkler Umriß und das Himmelsgewölbe ringsum die ganze Landschaft. Je höher wir kommen, um so breiter wird die finstere Form, und um so weiter auch entfaltet sich des Himmels Pracht; neue Sternbilder steigen aus der Tiefe auf, und die alten stehen am Himmelsabgrund uns gegenüber wie an einer schwarzen Wand. Wir sind am Fuß des Vulkankegels selbst angelangt; der Abhang wird steil, fünfundvierzig Grad; große Basaltblöcke lagern im Schnee, die, von oben herabgerollt, hier, wo der Fallwinkel flacher wird, liegen geblieben sind. Höher hinauf ragen Aschengrate aus dem Schnee empor. Schwefeldampf quillt aus den Klüften herauf und schwebt niedrig über dem Boden fort. Es ist gegen sechs Uhr. Nur einzelne Sterne glitzern noch. In der Dämmerung fangen entfernte Bergketten an, sich am Himmel unter uns abzuzeichnen; über ihnen lagern im Osten vor der wachsenden Helligkeit schwarze Wolkenstreifen; und unten wird das Wolkenmeer sichtbar, das, wie im Sturme durcheinandergepeitscht, die Täler füllt und die Vorgebirge umfließt. Wir sind sechzehntausendfünfhundert Fuß hoch; noch dreihundert Meter unter dem Kraterrande. Die Luft ist kalt und klar und dünn. Man hört den Schlag des eigenen Herzens ganz scharf in der großen Stille. Und jetzt will die Sonne aufgehen. Das Weltenweihefest beginnt. In den Tälern regt sichs, und vom Nebelmeer lösen sich Wolkenzüge und schweben an Abgründen aufwärts; Dunstschleier schwinden von nahen Bergen, und darunter erscheinen die Matten schon nebelhaft grün; Strahlen brechen aus den östlichen Tiefen weißflimmernd hervor und stehen am Himmel wie Unterpfande des kommenden Lichts: Himmel und Erde sind künftige Farbe, schweigendes Werden. Da leuchtet das Eis am Kraterrand auf; und im selben Augenblick rollt das Licht wie ein Mantel an den Hängen des Berges herunter; am Erdenrande erscheint der Sonnenball. Die See, der er entsteigt, schwebt wie ferner Rauch bläulich durchsichtig in der schimmernden Rundung des Horizontes. Der Himmel erfüllt ganz das Auge wie auf dem Meer und der Ebene; nur größer als dort; flammender, runder. Von allen Seiten umgibt er uns hier; umstrahlt und kupferglühend im Morgenrot; die Sonne umkreist uns, und unter uns liegt das Erdenrund im Himmelsblau wie ein zweites Gestirn.

Von diesem Augenblick ab wandelt sich mir, was ich erlebe, in eine Art von Traum. Mechanisch schleppen sich meine Glieder noch über Schnee und Eisstufen aufwärts bis an den Kraterrand; der Wille aber versinkt allmählich in traumartige Schwäche; und den ganzen Körper erfüllt ein Gefühl, das einer langsam sich verdichtenden Umwölkung der Sinne gleicht. Zugleich beginnen an Stelle der Bilder der Außenwelt die inneren Körpervorgänge sich immer deutlicher der Wahrnehmung aufzudrängen; das Herz, der Pulsschlag, das eigene Licht des Auges, das vor der Retina flimmert. Ich erinnere mich jetzt deutlich des Gebirges, das, von diesen Höhen gesehen, wie eine wellige Ebene unter uns ausgebreitet lag; ich sehe den Krater mit seinen riesenhaft aufgetürmten roten Basaltwänden und empfinde noch das Alptraumartige des Augenblicks, da wir zur Talfahrt auf einer als Bockschlitten dienenden Matte in die fast senkrecht unter uns liegenden weißen Nebelmassen absausten; aber die Erinnerungen sind nicht wie die, die man an wachend Erlebtes hat, sondern wie die, die ein deutlicher Traum hinterläßt. Die Abkehr der Sinne von der Außenwelt kann nur Schein sein; denn sonst würden diese Bilder, die damals nicht empfunden wurden, auch nicht im Gedächtnis haften. Aber die Aufmerksamkeit hört in diesen Höhen offenbar auf, sich den äußeren Dingen zuzuwenden; und so versinken deren Eindrücke anscheinend spurlos, wie Regentropfen in stille Gewässer. Es wäre von Interesse, die körperlichen Zustände, vor allem die des Gehirns, genau zu kennen, die diesen Veränderungen des Seelenlebens in großen Höhen entsprechen; zum Beispiel, zu wissen, ob die Veränderung der Herztätigkeit Ursache oder, wie die scheinbare Verdunkelung der Sinne, Folge der Willensschwäche ist; die Untersuchung würde einiges Licht auf die so ähnlichen visionären Zustände werfen, bei denen wahrscheinlich bloß noch eine Umdeutung der inneren Vorgänge durch die Phantasie zu den auch die Höhenkrankheit begleitenden Symptomen hinzutritt, und manche Erscheinungen des künstlerischen und dekadenten Schaffens erhellen.

Heute nachmittag haben wir in kaum drei Stunden im Laufschritt, meistens zu Fuß, die Pferde vor uns hertreibend, den Abstieg von zweitausend Metern vom Rancho bis nach Amecameca zurückgelegt. Auf dieser halsbrecherischen Tour über harten Boden, durch Gebirgsbäche und Schluchten abwärts, ist keins von den kleinen struppigen Tieren auch nur gestrauchelt.

Oaxaca, 17. November 1896.

Die Bahnstrecke hierher durch die Kordilleren gleicht an Wildheit den Gotthardpässen; schäumende Gewässer und Bergschluchten, in die durch Bananen und Dattelpalmen Schnee und blauviolette Gebirgsspitzen herabscheinen.

Man muß auf den Bahnhöfen die Begrüßungs- und Abschiedsszenen beobachten; die Männer umarmen sich wie bei uns Monarchen; der einfache Handdruck ist nicht sinnenfällig genug. Was wir theatralisch nennen, weil wir es nur im Rampenlicht oder vor Reportern brauchen, muß hier schon im täglichen Verkehr und am hellen Tag angewendet werden. Der Südländer schauspielert nicht; er gebraucht nur die einem weniger scharfen Wahrnehmungsvermögen adäquaten Zeichen.

Oaxaca – die Stadt, nach deren milder Höhenklarheit sich Nietzsche in kranken Tagen sehnte – habe ich nur im Mondenschein gesehen; und da nur den großen Platz, auf dem zwischen einem Musiktempel und der Barockkathedrale eine braune Menschheit lustwandelte. Keine Laternen; nur der Vollmond auf dem Dom, der abseits vom Platze theatralisch einsam auf einer weiten, mit Steinfliesen belegten Terrasse steht. Die Musik spielte ohne Lichter, verborgen in einem Orangenhain; und wenn sie schwieg, hörte man unter den Bäumen das Plätschern unsichtbarer Brunnen und das leise Schürfen von bloßen Füßen auf dem Kies . . . So muß Italien vor dem Risorgimento gewesen sein; Pisa oder Perugia in den fünfziger Jahren.

Mitla, 18./19. November 1896.

Von Oaxaca nach Mitla fährt man im Maultierwagen. Die erste Strecke bis Tlacolula ist ein Teil der großen Handelsstraße, die von der Hauptstadt nach Acapulco an den Stillen Ozean hinunterführt. Früher war die Straße wegen der Frequenz des Verkehrs und der Zerrissenheit des Gebirges, durch das sie hinabsteigt, eine der unsichersten von Mexico. Die Ley Fuga und der gegenwärtige Präsident haben das geändert. Diaz beförderte zu Anfang seiner Regierung eine Anzahl von angesehenen Brigantenhauptleuten dieser Provinz zu Obersten der regulären Armee und schickte sie dann mit ihren Regimentern gegen ihre früheren Kameraden. Da die neuen Kommandeure alle Schlupfwinkel kannten, mußten die Briganten ihr Handwerk lassen. Die, die nicht zu Offizieren ernannt oder leyfugiert worden waren, verarmten; und jetzt trifft man sie an den Bahnhöfen der Hauptstadt, kärglich ihr Brot als halbgeduldete Taschendiebe verdienend.

Hinter Tlacolula verödet die Gegend. Über rauhen Steingrund gelangt man nach zwei Stunden zu einer schroff emporsteigenden, von zyklopischen Mauerringen gekrönten Felsenkuppe. Es ist die Akropolis von Mitla. Dahinter liegt das Totental.

Mictlan, das Haus des Todes, oder Liobäa, die Wohnungen des Friedens, nannten es die Alten. Von drei Seiten umschließen es kahle Basaltwände; von der vierten führt der paßartige Eingang an der Akropolis vorüber ins Tal hinein. Zur Zeit der Zapotekenherrschaft bedeckten die Ebene von Ende zu Ende Paläste und Tempel des Todes; hier wurden die Fürsten und Vornehmen des Reichs bestattet; und die Felsenfeste schützte ihre Gebeine. Von den Azteken als letztes und festestes Bollwerk des Zapotekenreiches erobert, ging die heilige Stadt in Flammen auf. Und dann plünderten, was übrig geblieben war, die Spanier.

Heute noch stehen die Trümmer von drei Tempelpyramiden und von vier der großen Totenpaläste. Niedrig, massig, weit auf Terrassen hingelagert, steigen die erhaltenen Paläste am nordöstlichen Abhang des Tales auf. Ein Wildbach, der tief in das steinige Tal einschneidet, trennt sie vom Dorf, das heute Mitla heißt. Bei allen vieren ist der Grundriß gleich; jedesmal liegen um drei Höfe je vier lange, schmale, fensterlose Säle, unter denen sich unterirdisch wieder Hallen und Gewölbe als Ruhestätten hinziehen. Die Steine, aus denen die oberirdischen Tore und Türen aufgetürmt sind, haben an Größe nur an indischen oder ägyptischen Bauten ihresgleichen; aber die Porphyrsäulen, die die Decken stützen, die Architravblöcke, die auf den Monolithen lasten, die Türschwellen, die wie Felsen jetzt aus dem Erdboden aufragen, alle sind sie, wie die Schnittflächen der Steine erkennen lassen, mit den einfachen steinernen Werkzeugen der Steinzeit bearbeitet. – Wie im Kontrast zu diesen Blöcken umkleidet dann innen und außen die Gebäude die zierlichste, feingemeißelte und kolorierte Ornamentik. Bis etwa einen Meter über den Boden waren die Mauern und Wände mit mennigrotem poliertem Stuck verkleidet; die Überreste haften noch hier und dort glatt und glänzend am Steine. Darüber ziehen sich bis zur Decke übereinander drei friesartige Streifen bizarrer, eckiger Zickzackmuster hin, die aus kleinen, sorgfältig in die Hausteinblöcke gefügten Sandsteinstückchen zusammengesetzt sind und erhaben aus der Wand herausstehen. Der Grund des Mosaiks war dunkelrot gefärbt, die erhabenen Steinchen braun oder gelb. Die Wände glichen orientalischen Teppichen. Im Innern waren zwischen den großen Mosaikmustern an einzelnen Stellen noch bandartig schmale Streifen glatten Stucks angebracht, über die die Reste einer aus feinen weißen und gelben Linien bestehenden Bilderschrift hinlaufen. – In diesen überirdischen Sälen wohnten die Priester des Totenkultes und in gewissen Monaten der König und die Großen des Reiches.

Wohl nie sind die Wohnungen des Todes so nah mit denen von Lebenden, noch das Leben und die Existenz selbst eines Volkes so eng mit den Gebeinen seiner Toten verbunden gewesen wie hier in Mitla, das das Gräberfeld und zugleich das Heiligtum und die Festung einer Rasse gewesen ist. Es ist, als hätten erst die Toten und die Lebenden zusammen hier die Volksgenossenschaft ausgemacht; und zum Vergleich drängt sich der Gräberkultus und die Shinto-Religion der Mongolen und Japaner auf.

Die Empfindungen, die bei diesem Kultus das Volk hatte, möchte man aus den Bauten und der Landschaft, in die sie hineingesetzt sind, erschließen. Aus diesen öden Basaltwänden, vor deren Kahlheit die dunkle Farbenpracht der Totenpaläste glühte, scheint eine düstere Volksphantasie, das Bedürfnis nach tragischen tieferschütternden Eindrücken und ein triebhaftes Empfinden für das Ernste und Furchtbare in der Natur zu reden. Und vielleicht haben in der Tat diese oder ähnliche Gefühle ebensosehr wie der Wunsch, das Heiligste, die Gebeine der Vorfahren, am sichersten Ort, im entlegensten Tal zu bergen, die Wahl gerade dieses unter allen Hochtälern des Landes bestimmt; unser scheinbar durch Zufälle entstandenes Landschaftsempfinden wäre demjenigen dieser Rasse konform gewesen, die von uns durch alles geschieden ist, was Menschen und Völker trennen kann.

Hier zeigt sich im einzelnen, was auch im großen angesichts der altamerikanischen Kultur am tiefsten bewegt: die geheimnisvollen Verwandtschaften zwischen diesen Resten und denen der alten europäisch-asiatischen Kultur und die innere Notwendigkeit aller menschlichen Entwicklung, die dadurch bezeugt wird, daß hier ganz unabhängig von der andern europäischen Zivilisation, nur um drei bis vier Jahrtausende verspätet, eine menschliche Kultur ihren Lauf begonnen hatte, die auf demselben Wege war, der in der Alten Welt von Chaldäa und Ägypten zu Goethe und Kant geführt hat. Man könnte glauben, daß, wenn die Alte Welt in den Ozean versunken wäre, hier in Mittelamerika nicht nur Gelehrte, sondern auch Religionsstifter, Philosophen und Künstler mit denselben oder mit ganz ähnlichen Gedanken entstanden wären wie die, in denen wir jetzt den Wert der Menschheit sehen. Das Nichtsein aller europäisch-asiatischen Helden und Völker hätte die Geschichte der Menschheit vielleicht nur um fünf Jahrtausende verspätet. Die amerikanische Kultur eröffnet ähnliche Ausblicke und stellt ähnliche Dilemmen, wie wenn auf einem fremden Stern Menschen und eine menschliche Kultur entdeckt würden.

Das Dorf jenseits des Wildbachs heißt offiziell San Pablo de Mitla, und der Name, mexicanischer Stamm und christlicher Firnis, bezeichnet sehr gut die Kultur seiner Bewohner, die die Nachkommen der Palasterbauer sein sollen. Neben den Ruinen der Bauten die Ruinen der Rasse. Der Ackerbürger, bei dem ich mich einquartiert habe, ist Mestize und als solcher eine Ausnahme an Wohlhabenheit; er besitzt ein schönes Stück Land und ein hübsches Haus, das nach spanisch-mexicanischer Art sich einstöckig und fensterlos um einen inneren Arkadenhof zieht, auf dem Orangenbäume mit reifen Früchten und große Rosenstöcke wirr durcheinanderwuchern. – Die anderen, die Indianer, sind ein armes, schmutziges Pack. Ihre Höfe liegen, von hohen Agavenhecken umgeben, dicht nebeneinander an schmalen Wegen, auf denen sich halbnackte Kinder mit mageren Hunden und Schweinen tummeln. Die Hütten sind aus Lehm oder geflochtenen Bambusmatten. Der Indianer baut auf seinem Felde nur gerade so viel, wie er für sich und seine Familie zum Unterhalt braucht: ein wenig Korn und einige Magueypflanzen zur Pulquegewinnung. Mehr als diesen engsten Familienbedarf an Naturalien produziert er nicht. Der Lehrer, der hergesetzt ist, um den Kindern außer Lesen und Schreiben nach dem Regierungsprogramm Geographie, Naturwissenschaften und ›die Anfangsgründe der Geometrie‹ beizubringen, sagt, daß es schwer hält, die Schüler zu bewegen, Spanisch zu lernen. Die Mädchen werden seit einiger Zeit nicht mehr unterrichtet, weil die Männer fanden, daß die Frauen durch das Lernen zu unabhängig wurden. Der Priester mag auch dahinterstecken; die Kirche ist die einzige Einrichtung, an deren Macht der gewöhnliche Mexicaner nicht zweifelt. – Im Grunde genommen ist der indianische Bauer nicht faul, sondern genügsam. Er fühlt sich offenbar in seinem Zustande ziemlich wohl; denn er läßt sich in seiner Ärmlichkeit nicht einen gewissen Luxus entgehen; die Frauen tragen am Halse und an den Ohren Schmuck, Glasperlen und Silbersachen. Die Matten sind fein geflochten; die Muster und Farben der Ponchos und Zarapes oft auffallend künstlerisch; das Kochgeschirr und Tongerät gefällig geformt und bunt glasiert; dieses alles durch die Hausindustrie der Frauen bestritten, die in Mitla zum Beispiel Zarapes weben. Wer leidet, denkt nicht an solches. Dieses stumpfe Genügen eines alten Herrenvolkes in Schmutz und Armut und kleinlichem Tand ist noch tragischer als die Verwüstung und Verödung, die die Stadt betroffen haben.

*

Jetzt ist es Nacht geworden; und während die Hunde anfangen im Dorfe zu bellen, stehen die Paläste im Mondlicht weiß inmitten gigantischer Schatten; dahinter leuchten die blanken Basaltwände der Schlucht wie Stahl.

Puebla, 20./21. November 1896.

Puebla inmitten seiner Schneeberge, mit seinen flachen Dächern und seinem halb maurischen Aussehen, hat den Duft des alten spanisch-mexicanischen Koloniallebens in ähnlicher Weise bewahrt wie Florenz den der Frührenaissance. Die Fassaden der Häuser sind rosa oder blaßblau gestrichen und oft mit Mustern aus bunten Majolikakacheln eingelegt; die Mauern fast fensterlos oder die Fenster schwer vergittert. Die Straßenfluchten laufen zwischen verschlossenen Mauerreihen wie im Orient geheimnisvoll hin. Wo die Haustür offensteht, zeigen sich Binnenhöfe, in denen im Schatten von Myrten und Brotbäumen der Hausbrunnen rieselt.

Den Mittelpunkt der Stadt bildet nach spanisch-katholischer Sitte der Dom, der wie fertig von der Inquisition aus Spanien importiert scheint; die Fassade ist schwer und einfach; der Innenraum majestätisch groß, und weiß, grau und golden dekoriert. Ein mächtiges vergoldetes Eisengitter vor dem Chor vertieft den Eindruck massiver Pracht. Aber trotz seines Reichtums scheint der Raum eher kahl als überladen; die schwere Glanzentfaltung erweckt infolge ihrer Eintönigkeit bloß das Gefühl tiefer und düsterer Melancholie; die Fülle von Gold gehört zu diesem Eindruck; der Reichtum löst sich in Stimmung auf. Die Kathedrale ist ein würdiges Denkmal des Reiches Philipps des Zweiten.

Die offizielle Kunst hat aber die sozusagen einheimische, die koloniale, nicht verhindert, gerade die Werke zu schaffen, Bauten und Waren, die den eigentlichen Zauber von Puebla ausmachen. An ihnen tritt die eigentümliche Bedeutung zutage, die der kolonialen Kultur unter allen Arten der Gesittung zukommt. Vermöge gerade der Entfernung vom Kulturzentrum kann in Kolonien, ähnlich wie in der Provinz, aber noch freier, manches, was sich im intensiven Kampf ums Dasein im Mutterlande nicht zu erhalten vermag, nachblühen und daher hier erst zu Ende blühen. Setzlinge alter, daheim zu früh entwurzelter Kunst erleben jenseits der Meere einen an Wunderfarben reichen Herbst. Die Kultur ist dort ewig gestrig und daher ewig altmodisch; aber deshalb reich an allem, was altmodisch zur Welt gekommene Dinge an reizender Inkonsequenz und bezaubernder Schwäche besitzen.

In Puebla ist es nicht nur wie sonst in Mexico die Gotik, die sich, mit dem Barock verquickt, auslebt, sondern auch das maurisch-spanische Töpferhandwerk, das seine späteste und reizendste Blüte treibt. Dieselben Töpfer, die die Kachelmuster an den Hausfronten als letzte Nachahmungen der maurischen Azulejos anfertigten, haben in Töpfe und Hausgerät Farben gebrannt, die gewiß alt und verschossen zutag gekommen sind; in vergilbendes Weiß lachsfarbene Rosen und seladongrüne Tulpenblätter, und mit Kanariengelb Verbindungen von Puce und verwaschenem Blau; Rokokokunst mit der Gabe, altmodisch zu bleiben, statt historisch zu werden; am stilwirrsten an der Talaveraware, die in allen Halbtönen von Blau und Blaßblau japanische Motive mit maurisch-europäischen vermischt und so den Kreis zwischen dem Orient und Okzident, zwischen Japan und Marokko schließt. Damals, da noch die Lack- und Porzellanwaren Chinas und Zipangus zugleich mit dem Silber und Smaragd von Peru auf spanischen Galeonen von Veracruz über den Ozean fuhren, war Mexico die Brücke zwischen Ostasien und Europa.

Wo sich diese Töpferkunst mit dem barock-gotischen mexicanischen Kirchenstil verbindet, entstehen Bauten, die an altväterischer Originalität nirgends ihresgleichen haben. Die Perle unter ihnen ist die Kirche von San Franzisco. Sie liegt fast außerhalb der Stadt, jenseits des Atoyac-Baches inmitten von hohen Bäumen. Die Fassade ist aus roten Ziegeln und bis auf ein reiches steinernes Barockportal ungegliedert. Aber in vier Reihen übereinander sind in diese Backsteinwand Teppiche aus bunten Kacheln eingelassen, zwischen denen horizontale Majolikastreifen als Verbindung hinlaufen. Der Grund der Majoliken ist weiß; die Ornamente darauf blau, gelb und grün. Auf den Teppich-Vierecken sind kolossale Delfter Vasen abgebildet, aus denen stilisierte Blumenstöcke wie Kandelaber emporwachsen, um dann arabeskenartig mit ihren Zweigen die Fläche zu überranken; auf den Streifen Tiere: Hasen, Katzen und Papageien, auf jeder Kachel je ein Geschöpf. – Die glanzlose Backsteinfläche, von der sich die Kacheln abheben, erhöht die Farbenwirkung des Majolikas und hält sie zugleich durch ihr Mattrot wie der Grundton einen Akkord zusammen. Die Glasur hat durch das Alter alles Grelle und Blitzende des Porzellans verloren; sie ist reif geworden und erglänzt jetzt tief und weich im grünen Schatten der alten, die Kirche kühlenden Bäume. Nichts kann einen Begriff von der altmodischen Frische des Bildes geben.

Zur Zeit ist hier der Präsident zum Besuch, um Denkmäler zu enthüllen. Die Stadt, die er persönlich vor dreißig Jahren von den Franzosen zurückerobert hat, läßt sich seinen Empfang fünfzigtausend Taler kosten. Die Hauptstraßen verschwinden unter Bannern und Blumengirlanden. Den ganzen Tag über gibt es Glockengeläute, Militärfanfaren und Truppenbewegungen. Nachmittags war großes Pelotospiel. Ich saß in der Loge neben der des Präsidenten und habe ihn beobachten können. Er ist ein schöner Mestize mit kurzgeschnittenen grauen Haaren und soldatisch gebräuntem Gesicht. Beim Grüßen und Händedrücken hat er die Bewegungen eines Gentleman. Trotz seines militärischen Ranges trug er Zivil; sehr gut gemachtes; wahrscheinlich aus London importiert, wie seine Manieren. Energie und Ley-Fuga-Reminiszenzen geben seiner Eleganz die richtige Stimmung. Unter den ihn umgebenden europäischen Diplomaten fiel er entschieden auf, wegen seines vornehmen Äußeren.

Heute abend ist alles illuminiert. Die Straßen, die sonst hier in ihrer Verlassenheit, nur von Öllaternen und vom Monde erhellt, in den Sternenhimmel und die Unendlichkeit hinaufreichen, schließt heute ein rötlich erleuchteter Qualm, ein Gemisch von Staub und Feuerwerksrauch, wie die einer Großstadt über den Köpfen ab. Die venezianische Nacht mit der wimmelnden Menge von hellen Mantillen und roten Ponchos unter den Lampiongirlanden gleicht dem Ballettakt einer Ausstattungsoper. An einigen Orten haben sich mitten auf dem Fahrwege Freiluft-Bäckereien niedergelassen, die roten Pfeffer-Pfannkuchen und Knoblauch-Auflauf braten; und die Krämer überbieten einander an wohlgelittenem Enthusiasmus. Über einem Laden steht in Flammenschrift: ›Bienvenido sea al Iris de la Paz‹: ›Willkommen dem Regenbogen des Friedens!‹ Der ›Regenbogen‹ ist Diaz.

Hauptpalast von Labná (Yucatán)

Veracruz, 25. November 1896.

Den Tag über nach Veracruz hinuntergefahren. Der Höhenunterschied, den die Bahn überwindet, beträgt etwa achttausend Fuß.

Das Auffallendste bei diesem Abstieg ist der Wechsel in der Pflanzenpsychologie. Oben sichern die ungünstigen Entwicklungsbedingungen jeder Pflanze genügenden Raum; die Kiefern, Kakteen und Magueysträucher richten daher ihre ganze Kraft auf die Bekämpfung und Ausnutzung der rauhen Natur. Unten gelangen infolge der Fülle von Licht, Wärme und Nahrung mehr Keime zur Reife, als Wesen Platz haben; hier entstehen Pflanzen, die nur durch Vernichtung von anderen Pflanzen sich und ihre Art erhalten können: die tropischen Waldblumen, die Orchideen und die blühenden Lianen; Wesen, die ihre Wurzeln wie Krallen in die Äste schlagen und deren Blüten die gesprenkelte Schönheit des Panthers und Tigers haben, Raubblumen; und zugleich Satyrblumen, deren Lüsternheit in den gigantisch vorgestreckten Pistillen, in den wollüstig geöffneten, üppigen Kelchen und im betäubenden, brünstigen Duft wie ein aphrodisischer Zauber den Wald umschwebt.

So beim Abstieg ist die Landschaft grandioser als im Hochtal selbst; die Ebene, die fern in bläulichen Dunst verschwimmt, liegt abends wie ein großes, stilles Meer zu Füßen der wilden Gebirgswelt.

Veracruz, 23/24. November 1896.

Über Veracruz ist kaum ein Wort zu verlieren; Straßen, Tiere, Menschen und Neger sind gleichmäßig schmutzig. Ihre gelbgraue Staubkruste ist nicht weniger eintönig als der fade Verwesungsgeruch, der wie ein allgegenwärtiger fauler Odem die Stadt erfüllt. Die gesetzlich geschützten städtischen Aasgeier, denen das Monopol der Straßenreinigung gesichert ist, haben sich überfressen und besorgen ihr Geschäft schlecht oder gar nicht. Sonst ist nur noch der Profit bemerkenswert, den der Verkauf von Grabdenkmälern den Galanteriewarengeschäften bringt; jetzt sieht man in den Schaufenstern nur noch Restbestände; die neuen Muster werden zur Gelben-Fieber-Saison im Sommer aus Italien eingeführt und ›gehen‹ dann besser als die laufenden Artikel, wie Reisetaschen oder Krawatten. Den Kommentar zu diesem Geschäft bieten die armen großen Fieberaugen der Kinder und Frauen, die man abends auf dem Platz bei der Musik sieht, zur Stunde, wenn die Seebrise weht.

Auf See, 24. November 1896.

Mittags haben wir die Anker gelichtet. Der Tag ist stürmisch und warm; tropischer Herbst. Schwärme von fliegenden Fischen umschwirren wie blaue Libellen das Schiff. Wolken ziehen von Norden her. Die See gleicht im Sturmesdunkel geschmolzenem Amethyst; die Wellen rollen vor dem schwülen Winde langsam nach Süden.


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