George Kennan
Sibirien
George Kennan

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Anhang.


»Geschwärzt.«

Wenig Leute außerhalb Rußlands wissen in welchem Umfange der Ausdruck der Meinungen und die Mitteilungen des Wissenswerten in diesem großen Reiche von der Regierungscensur der Presse gehindert wird. Manche Amerikaner mögen wohl wissen, daß eine solche Censur existiere, daß sie den Fortschritt intellektueller Thätigkeit im allgemeinen, den politischer und revolutionärer im besonderen hemme. Aber nur wenige hatten Gelegenheit die ganze Ausdehnung ihrer Macht zum Bösen zu sehen oder zu erfahren. Die russische Censur wirkt nicht nur als Knebel um die Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zu verhindern, sondern auch als Binde, um die Augen des russischen Volkes zu blenden, damit es nicht die eigentliche Beschaffenheit seiner Lage erkennt. Ich übertreibe nicht wenn ich behaupte, daß ein Engländer, der in London lebt und aufmerksam die Telegramme und Korrespondenzen aus Rußland in den »News«, »Times«, »Standard« liest, daß dieser eine klarere und genauere Kenntnis aller wichtigen Thatsachen und Erscheinungen der russischen Angelegenheiten hat, als sie ein Bürger von St. Petersburg durch das eifrigste Studieren aller Zeitungen des russischen Reiches gewinnen könnte. Die Gründe dieser außergewöhnlichen und sonderbaren Erscheinung, kann man aus einem dicken Bande erfahren, der von dem russischen Ministerium des Innern veröffentlicht wurde und als »Preßgesetze« bekannt ist. Wie diese Gesetze wirken, um nicht nur jede Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zu verhindern, sondern selbst deren Erwähnung, das sei durch einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung hier dargestellt.

Im Monat Juni 1886 versammelte sich in der alten 62 Tartarenstadt Kasan eine Quasivertretung russischer Bürger; von den Liberalen wurde sie halb scherzhaft das »Seuchen-Parlament« genannt. Sie bestand aus Delegierten der »Semstwos« (Lokalversammlungen) aller an der Wolga liegenden Provinzen und kam zusammen um die Viehseuche zu erörtern und Maßregeln zu ergreifen, die zum Schutz dagegen nötig sind. Ich war damals zufällig in Kasan und am Morgen des Tages an dem dieses »Parlament« eröffnet werden sollte, befand ich mich in meiner Stube und plauderte mit dem Redakteur einer dortigen Lokalzeitung und mit einem Professor der Universität zu Kasan von russischen Angelegenheiten.

»Ich glaube,« sprach der Redakteur, »ich sollte nach der Redaktion zurückkehren und einen Artikel schreiben, worin vorgeschlagen wird, daß, da die Deligierten von allen Semstwos an der Wolga hier sich versammelt haben, um die Viehseuche zu besprechen, eine günstige Gelegenheit sich bietet auch andere Angelegenheiten zu erörtern, die für die betreffenden Provinzen von Bedeutung sind.«

»Wissen Sie aber was dann geschehen würde?« fragte der Professor.

»Was?« meinte der Redakteur lachend.

»Ihre Zeitung und das »Seuchen-Parlament« würden unterdrückt werden ehe vierundzwanzig Stunden vergehen.«

»Sie wollen doch nicht sagen, daß es einer Zeitung nicht erlaubt sein sollte einen derartigen Vorschlag in bester Absicht zu machen?« bemerkte ich.

»Gewiß meine ich das,« antwortete der Professor. »Zufällig erfuhr ich, daß der Gouverneur vom Minister des Innern den striktesten Auftrag erhalten hat, dem »Parlament« keine Erörterung zu gestatten, die die Grenze der einzigen vorliegenden Frage überschreitet; daß er ihm ferner täglich eine genaue Mitteilung der Verhandlung telegraphiere. Herr A. (der Redakteur) mag seinen Vorschlag noch so vorsichtig und sorgsam abfassen, ich kann Ihnen doch versichern, daß ihn der Censor unterdrücken wird.«

63 »Ich will es trotzdem thun,« sprach der Redakteur und zu mir gewendet, fuhr er fort: »Wenn Sie zwischen elf und zwölf nachts nach der Redaktion kommen wollen, können Sie das Resultat erfahren.«

Zur bestimmten Zeit fand ich mich in der Redaktion der »Tageszeitung« ein, setzte mich neben den Schreibtisch des Herrn A. und erwartete das Einlangen des ausgeschickten Censurbogens. Gegen Mitternacht wurde ein Glöckchen in der Nebenstube laut und darauf stürzte ein Junge herein mit dem Ruf »C–e–n–s–o–r!«; dabei legte er auf einen der Tische ein Bündel Korrekturbogen. Herr A. nahm sie in die Hand, blickte sie rasch durch; dann übergab er mir ohne weitere Bemerkung einen Bogen, der den erwähnten Artikel enthielt, betitelt: »Die Delegierten-Versammlung der Semstwos der Wolgagegend.« Der Inhalt schien mir ganz unverfänglich, selbst vom Standpunkt des beschränktesten und konservativsten Bureaukraten. In den Schlußzeilen hatte jedoch Herr A. mit sanften, vorsichtig schüchternen Worten den Vorschlag gemacht, daß es vielleicht nicht übel wäre, wenn die Delegierten der Semstwos bei dieser Gelegenheit einige andere Angelegenheiten erörtern würden, die für die Bewohner der Wolgagegend nicht minder wichtig wären, wie die der Viehseuche. Durch die Zeilen hatte der Censor einige dicke Striche mit roter Tinte gemacht und am Rande das einzige Worte hingekritzelt: »Verboten.« Die Voraussagung des Professors hatte sich erfüllt. Es war der »Tageszeitung« nicht einmal gestattet zu bemerken, es wäre vielleicht gut, wenn die Delegierten der Semstwos eine oder die andere Angelegenheit, die nicht mit der Viehseuche im direkten Zusammenhang steht, zum öffentlichen Besten in Betracht zu ziehen. Die Regierung hatte keinen Einwand zu machen, galt es Maßregeln zu beraten, die das Wohl des Viehs betreffen; aber ein Vorschlag, daß die Delegierten ihre Aufmerksamkeit der Not, den Leiden unterdrückter Menschen zuwendeten, war ein rebellischer Angriff auf die geheiligten Vorrechte der Krone. Die Viehplage könnte 64 beseitigt werden, doch die »Bureaukraten-Plage« war dem Ermessen des »Gottgesalbten« anheimgestellt, durfte daher nicht erörtert werden, ebensowenig wie gewisse andere Fragen.

Meine Erfahrungen und mein Wirken als Zeitungsmensch, flößt mir natürlich mehr als ein gewöhnliches Interesse für die praktische Thätigkeit des russischen Systems der Preßcensur ein, und nach meiner Rückkehr von Sibirien nach dem europäischen Rußland widmete ich alle meine entbehrliche Zeit dem Studium dieses Gegenstandes. Ich sprach davon mit allen Herausgebern und Redakteuren, deren Bekanntschaft ich machte. Ich besuchte die Redaktionen und horchte auf jeder Bemerkung des Redaktionsstabes über die Anmerkungen, Abstriche und Verbote des Censors. Und ich legte mir eine umfangreiche Sammlung solcher Censurbogen an, um dieses Unterdrückungssystem illustrieren zu können, um zu zeigen wie eng die Grenzen sind, zwischen welchen russischen Redakteuren und Reportern erlaubt ist, ihre Meinung auszudrücken, oder ihre Thätigkeit und ihren Unternehmungsgeist zu entfalten.

In der Redaktion eines russischen Tageblattes langt zwischen elf und zwölf Uhr nachts der letzte Korrekturbogen vom Censor ein. Die ganze Nacht bleibt die Redaktion versammelt, des Rufs: »C–e–n–s–o–r!« gewärtig; dann überblickt einer der Redakteure die Fehlgriffe und verkündet seinen Genossen die Veränderungen die der amtliche Hüter der öffentlichen Moral vorzunehmen für nötig fand, liest den Inhalt oder die Titel der Aufsätze vor, die ganz verboten wurden. Eine rasche Beratung folgt nun über das was nun zu geschehen habe. Wenn wesentliche Bestandteile eines Aufsatzes vom Censor gestrichen wurden, so muß der Nachtredakteur zusehen, ob er nicht durch eine geschickte Operation das Ganze so gestalten kann, daß es Leben und Gleichmaß zu haben scheint, oder ob es nicht derart verstümmelt ist, daß nichts anderes übrig bleibt als es im Papierkorb zu begraben. Hat der Censor unwesentliche Änderungen oder Modifikation nur vorgeschlagen, so muß der Nachtredakteur sie gar wohl beachten 65 und jeden Artikel dem betreffenden Verfasser zustellen, damit er die nötigen Verbesserungen vornehme. Eine beträchtliche Menge Text, der schon unterbreitet und genehmigt wurde, bleibt im Satz stehen um damit die Spalten zu füllen, wenn im letzten Augenblick der Censor Hauptartikel mit »muß fortbleiben« bezeichnet oder mit: »verderblich in seiner Tendenz.« Wenn die verbesserten Censurbogen wieder geprüft worden sind und der Censor heimkehrt, dann ist das Tagewerk des Redakteurs und Reporters vollbracht. Moskau mag bis auf den Boden niederbrennen, der Zar mag ermordet werden – wenn sich einmal der Censor zu Bett begeben hat, kann keine Zeile neuen Inhalts in die Zeitungsspalten gelangen.

Wer da nicht mit dem Gebahren der russischen Censur vertraut ist, mag vielleicht annehmen, daß Streichungen en gros selten wären, daß der Censor gewöhnlich seine Macht mit vernünftiger Mäßigkeit und mit Billigkeit ausübte. Das ist ganz und gar nicht der Fall. Ich habe Abzüge russischer Zeitungen, wo in einzelnen Nummern acht bis vierzehn Aufsätze oder wesentliche Artikel gestrichen worden sind, ganz zu schweigen von den vorgeschriebenen Änderungen und Modifikationen im Ausdrucke. Am 9. Mai 1881 erhielt Herr Adrianoff, Redakteur und Herausgeber der Zeitung »Sibirische Zeitung« vom Censor in Tomsk einen Censurbogen zurück, auf dem mehr als die Hälfte des für die nächste Nummer bestimmten Lesestoffes gänzlich oder teilweise durchstrichen war. Ärgerlich und erbittert beschloß er die Nummer zu drucken, ohne einen »genehmigten« Text dafür einzuschieben. Mit anderen Worten: er beschloß die Stellen, die der Censor beanstandet hatte ganz einfach leer zu lassen, möge sich das Publikum einen Schluß daraus ziehen. Er that es und die »Sibirische Zeitung« die in den Morgenstunden des 10. Mai 1881 erschien, war sicherlich die sonderbarste Zeitung die einem Abonnenten je zur Hand gekommen ist. An der einen Stelle war ein leerer Raum von einer Spalte, dem die Überreste eines verstümmelten Aufsatzes folgten. An einer anderen Stelle 66 erschien ein unverständlicher Abschnitt ohne Anfang und Ende. Darunter wieder zwei oder drei Aufschriften, die nur die Aufmerksamkeit auf das Fehlende erweckten; und auf einer andern Seite wieder verblieb nur ein kleines Druckinselchen in einem kleinen See von leeren Papier. Das Erscheinen der »Zeitung« an diesem Morgen erregte natürlich allgemeines Aufsehen. Die Nachfrage nach ihr war ungeheuer groß. Jedermann verstand was diese leeren Räume sagen wollten und jedermann wollte eine Nummer haben. Indes zog dies gar bald die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich und rasch wurde ein Befehl erteilt, die ganze Auflage zu konfiszieren und zu vernichten. So gründlich wurde nach den Nummern dieser Zeitung geforscht, daß kaum eine übrig blieb. Herr Adrianoff selbst vermochte mir vier Jahre später keine zu zeigen, oder zu sagen wo sich eine befände. Er konnte jedoch mir ein Blatt der nächsten Nummer geben, bei der der Censor ihm mit charakteristischer Einfalt und Unbeständigkeit erlaubte folgende »Anmerkung für die Abonnenten« zu veröffentlichen:

»Der Redakteur der »Sibirischen Zeitung« erachtet es als seine Pflicht, den Abonnenten anzuzeigen, daß Nummer 11 dieses Blattes ihnen aus folgenden Gründen nicht zugeschickt werden konnte: Der Redakteur ließ einige Stellen frei, da er aus dem Preßgesetz nicht das Geringste ersah, was das Verbot aussprach, die vom Censor gestrichenen Stellen leer zu lassen. Auf ein Telegramm jedoch, das der Redakteur in dieser Angelegenheit an den Minister des Innern sandte, erhielt er folgende Antwort vom Hofmeister P. P. Wrasemski, leitender Direktor der Preßangelegenheiten: Leere Stellen auf den Seiten einer Zeitung umfassen einen Protest gegen die vorhergegangene Censur und können nicht erlaubt werden.«

Eine Nummer der »Sibirischen Zeitung«, die diese merkwürdige»Anmerkung« enthält – Nr. 12 vom 17. Mai 1881 – befindet sich in meinem Besitz. Seit dieser Zeit ist diese Zeitung schon zweimal suspendiert worden wegen »Äußerung 67 einer verderblichen Tendenz« und wurde endlich ganz unterdrückt unter dem Vorwande, daß sie »Unzuverlässigen« (Neblagonadesni) Beschäftigung böte und weil sie eine Trauernotiz anläßlich des Todes des politischen Verbrechers Sabalujeff veröffentlichte. Die »verderbliche Tendenz« dieser Zeitung, wie sie aus den in meinem Besitz befindlichen zahlreichen Censurbogen zu ersehen ist, »äußerte« sich in der patriotischen Handlungsweise, daß sie die Aufmerksamkeit des russischen Publikums auf die Betrügereien, Schwindeleien, Erpressungen und Grausamkeiten der sibirischen Beamten hinlenkte. Der frühere Redakteur, Herr Adrianoff, ist ein Mann vom höchsten und reinsten Charakter. Seit der Unterdrückung seiner Zeitung beschäftigt er sich im Auftrage der westsibirischen Abteilung der kaiserlichen geographischen Gesellschaft mit archäologischen Forschungen. Archäologie, mit ihren Beziehungen auf eine längstentschwundene Zeit, ist einer der Zweige menschlichen Wissens, über den der Censor kein direktes Richteramt ausübt, der nicht seiner Aufsicht unterworfen ist. Wenn nicht Herr Adrianoff das Malheur haben sollte, irgendeine Ziegelinschrift oder hieroglyphische Felsschrift zu entdecken, aus denen sich der vollständige Beweis ergiebt, daß irgendwo und irgendwann ein Volk gelebt habe, das nicht von einem Zaren beherrscht wurde und nicht von einem Preßcensor geregelt – dann dürfte er vielleicht seine Forschungen unbelästigt weitertreiben können.

Einem amerikanischen Zeitungsmenschen muß es völlig albern erscheinen, erst die ganze Auflage eines Blattes zu konfiszieren und zu verbrennen, weil die Stellen der vom Censor gestrichenen Aufsätze leer geblieben sind, und dann wieder dem Herausgeber zu gestatten, in der nächsten Nummer des Blattes in der Form einer Anmerkung für den Abonnenten, alle Umstände dieses Vorfalls zu erklären. Doch die Wege der russischen Beamten sind unergründlich. Übrigens ist mir in der Geschichte russischer Preßcensur mehr als nur dieser bemerkenswerte Versuch bekannt, dem Druck der 68 Regierung zu entgehen und dabei doch die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Ungerechtigkeit des russischen Kneblungsgesetzes hinzulenken.

Anfangs des Jahres 1886 wurden in ganz Rußland Vorbereitungen getroffen, um den fünfundzwanzigjährigen Gedenktag der Aufhebung der Leibeigenschaft in angenehmer Weise zu feiern. Vierteljahrhundert-Feierlichkeiten sind in Rußland nichts Seltenes und niemand außerhalb der Amtskreise hätte auch nur einen Augenblick daran gedacht, daß die Regierung die Feier eines der denkwürdigsten Ereignisse der neueren russischen Geschichte verhindern wollte. Infolge der reaktionären Politik jedoch, die die Regierung Alexanders III. kennzeichnet, sandte Graf Dimitri Tolstoi, der damals Minister des Innern war, an alle Verwaltungsbehörden den Befehl, wonach die öffentliche Feier des 19. Februars im ganzen Reiche verboten sei; ferner wies er die Preßcensoren an, alle Zeitungen zu verständigen, daß an diesem Tage redaktionelle Hinweise auf die Aufhebung der Leibeigenschaft oder sonst darauf sich beziehende Erörterungen strengstens verboten wären. Als Resultat dieses Befehles erschienen am 19. Februar 1886 sämtliche Zeitungen des Reiches in der Haltung geknebelter und geprügelter Sklaven. Nicht eine einzige der gewöhnlich erscheinenden Zeitungen gab eine Andeutung von der Wichtigkeit dieses Tages, von dem großen Befreiungsgesetz, das ihn berühmt gemacht hat.

Indes alle Zeitungen des Reiches erschienen an diesem Tage nicht. Die »Russische Zeitung« in Moskau entschloß sich, da es ihr unmöglich gemacht wurde ihre Gedanken über das große Erinnerungsfest laut werden zu lassen, den Tag in der einzig möglichen Weise zu feiern: indem sie da überhaupt nicht erschien. Das Wort mochte ihr verboten werden, aber die Regierung sollte sie nicht zwingen können mit dem Knebel im Munde hervorzutreten. Wäre der Minister des Innern von diesem Entschlusse früher verständigt worden, so hätte er wahrscheinlich Mittel und Wege gefunden um das Erscheinen 69 dieser Zeitung auch an diesem Tage zu erzwingen, doch er erfuhr es nicht früher und in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 1886 standen die Pressen dieser großen Moskauer Zeitung still. Als am folgenden Morgen die Leute fragten was da bei der »Russischen Zeitung« los sei, flüsterte einer dem andern zu: »Sie feiert mit Stillschweigen das fünfundzwanzigste Jahresfest der Aufhebung der Leibeigenschaft.«

Aus diesen Illustrationen russischer Preßcensur-Verhältnisse kann sich der Leser eine zutreffende Vorstellung machen, in welcher summarischen Weise die Regierung des Zaren die russischen Blätter abfertigt, wenn sie eine »verderbliche Tendenz äußern.« Indes waren die russischen Blätter nicht die einzigen Zeitungen, die im Reiche gelesen wurden. Zeitungen und Zeitschriften, die in London, Paris, Berlin und Newyork erschienen, kamen beständig nach Rußland und führten in ihren dichtgeschlossenen Spalten die Saat der Unzufriedenheit und der »Zersetzung« mit sich. Wie konnte man die Unterthanen des Zaren vor diesem »verderblichen« Einfluß der fremden Litteratur schützen? Der russische Censor, allmächtig wie er auch auf seinem Gebiete sein mag, konnte nicht mit roter Tinte die Censurbogen der Londoner »Times« durchstreichen, noch vermochte er »The Century Magazine« zu unterdrücken, weil es eine Reihe Aufsätze über das Verbannungssystem gebracht hat. Und doch mußte in irgend einer Weise das russische Volk davor geschützt werden, den verwerflichen Teil solcher Zeitschriften zu Gesicht zu bekommen. War diese Schwierigkeit gestellt, wußte die russische Regierung mit charakteristischer Entschiedenheit und Kraft zu handeln. Sie erklärte den Besitz verbotener Schriften für ein sträfliches Verbrechen und dann – als ob das nicht genug wäre – verletzte sie die Verschwiegenheit ihrer eignen Post, legte in Beschlag, öffnete, prüfte den Inhalt jeder fremden Zeitschrift, die ins Reich kam und stellte ein Heer von Censoren auf, die jeden Artikel ausschneiden oder »schwärzen« müssen, der die russische Regierungsmethode ungünstig 70 kritisiert. Und jeder derartige Aufsatz hat in den Augen eines solchen Censors eine »verderbliche« Tendenz.

Zu den »Verderblichen« zählten natürlich auch die Aufsätze über Sibirien, die im »Century Magazine« erschienen sind. Einige Monate vor Erscheinen dieser Artikelreihe, sandte ich die Nummern dieser Zeitschrift einem Freunde nach Westsibirien, in der Hoffnung, daß sich bei dem Censor der Glaube festigen werde, der Inhalt dieser Zeitschrift sei durchaus zuverlässig, »vertrauenswert«. Ich meinte, der Censor werde sich damit begnügen, drei, vier Nummern zu überblicken und da er hier nichts »Verderbliches« fände, seine Aufmerksamkeit für künftig davon abwenden, so daß zwei oder drei Aufsätze der Artikelreihe über das Verbannungswesen unbemerkt blieben. Bald jedoch sollte ich erkennen, daß ein russischer Grenzcensor durch die Prüfung von drei oder vier harmlosen Nummern einer fremden Zeitschrift nicht in Sicherheit zu lullen wäre. Schon der erste Artikel über russische Verhältnisse wurde teils ausgeschnitten, teils geschwärzt und nicht eine einzige Nummer dieser Reihe Aufsätze entging diesem Schicksale.

Im Sommer des Jahres 1888 bereiste ein Amerikaner, Herr Holl, Rußland und erhielt von der Post eine Nummer des »Century Magazine« zugestellt, wo nicht nur der Artikel über Sibirien ausgeschnitten war, sondern auch fast alle Blätter, die Anzeigen enthielten. Neugierig zu erfahren warum die Anzeigen dieser Zeitschrift als unzulässig erachtet wurden, wandte er sich an das Polizeiamt der Stadt in der er sich damals zufällig befand und fragte um die Ursache. Er meinte, er sei nicht besonders überrascht die Aufsätze über Rußland entfernt zu sehen, doch er könne nicht begreifen warum dies auch mit den Inseraten geschehen sei. Er fügte dann dazu – als gelinden amerikanischen Scherz – das komme vielleicht daher, weil manche der Inserate die Vorzüge der amerikanischen Seifen anpreisen. Die Beobachtungen, die er während seiner Reise durch das Reich gemacht habe, legen ihm freilich den Schluß nahe, daß Seife zu den verbotenen Artikeln 71 gehöre; in diesem Falle finde er es allerdings ganz natürlich, daß der Censor alle Inserate für Seife aus den einlangenden fremdländischen Zeitschriften entferne. Der Polizeibeamte, ungewohnt der amerikanischen Art des Scherzens fühlte sich von dieser unschuldigen Stichelei beleidigt und Herr Holl hatte Mühe ihn zu begütigen. Nachdem dies gelungen war, gab er dem amerikanischen Reisenden mit strenger, strafender Miene die Auskunft, die Inserate des »Century Magazine« wären ausgeschnitten worden, weil sie irreligiöse Bücher ankündigen. Von welchem schroffen Standpunkt verknöcherter Orthodoxie das Urteil über die Ankündigungen dieser Zeitschrift ausging, weiß ich nicht. Aber als Angehöriger einer Kirche, die unwissende, abergläubische Bauern veranlaßt, ihre Kleider auf ein »wunderwirkendes« Bild oder Bildnis zu hängen und diese Art von Fetischdienst Religion nennt, war er zweifellos im Recht die im »Century Magazine« angekündigten Bücher als irreligiös zu bezeichnen.

Seit dem Aufenthalt des Herrn Holl in Rußland, ist jede Nummer dieser Zeitschrift, die ich nach Rußland an Freunde sandte, von dem Censor mehr oder minder verstümmelt worden. Meine eigenen Aufsätze sind immer herausgeschnitten oder geschwärzt worden; und manches Kapitel aus »Das Leben Lincols« erlitt dasselbe Schicksal.

Die Entfernung beanstandeter Aufsätze auswärtiger Zeitschriften erfolgt in Rußland auf zweierlei Arten. Sind die Artikel umfangreich, so werden die betreffenden Blätter ausgeschnitten, sind sie kurz, so werden sie mittelst einer Walze geschwärzt, die ungefähr die Breite einer gewöhnlichen Zeitungsspalte hat. Sie ist auch derart durchfurcht, daß die auf das Papier aufgetragene Farbe ein dichtes Netzwerk von weißen Linien und schwarzen Flecken bildet. Das eigenartige, gekörnte Aussehen einer derart behandelten Druckseite, veranlaßte den russischen Leser eine besondere Bezeichnung dafür zu erfinden: »gekaviart« lautet sie. Wer auch nur einmal den dunkeln, salzigen russischen Kaviar auf einer Scheibe 72 Butterbrot aufgestrichen gesehen hat, der muß diesen bildlichen Vergleich als sehr glücklich gewählt betrachten. Aus dem Hauptwort wurde das Zeitwort gebildet, und jeder Russe weiß heute, daß »kaviaren« so viel bedeutet wie eine als unzulässig erachtete Druckstelle mit der Walze des Censors zu »schwärzen«.

Die Geringfügigkeit dieser eigenartigen russischen Methode, Unwissenheit zu erzwingen, muß einen Amerikaner ebenso staunen lassen, wie die kaltblütige Frechheit und Unverschämtheit mit der es geschieht. Sie erfüllt nicht ihren Zweck und kann ihn auch nie erfüllen, solange die russische Regierung nicht alle einlangenden Briefe censuriert, solange Bürger von Petersburg oder Moskau dem erstbesten Buchhändler von Berlin, Paris, London schreiben können und ersuchen, ihnen unter Verschluß zu senden, entweder einen einzelnen Aufsatz, der bereits »gekaviart« wurde, oder alle Aufsätze die über Rußland in einer bestimmten Zeitung oder Zeitschrift erscheinen mögen. Trotz aller Mühe, die sich die russischen Censoren gegeben haben, ist es ihnen nicht gelungen die Artikel über Sibirien, die im »Century Magazine« erschienen sind, vom Lande fern zu halten. Nicht nur, daß die »geschwärzten« Aufsätze die Runde in Rußland gemacht haben, sie wurden auch übersetzt und hektographiert und cirkulieren nun von Hand zu Hand durch das ganze Reich. Manche davon sind selbst den politischen Verschickten in den entlegensten Teilen Sibiriens zugekommen. Es thut mir leid sagen zu müssen, daß einige von ihnen dem Empfänger Unheil brachten. So sitzt auch jetzt noch ein junger Russe gefangen, weil diese Aufsätze in seinem Besitze sich vorgefunden haben. Vor einiger Zeit sandte ich zufolge dringenden Ersuchens eine der Nummern an einen jungen Journalisten meiner Bekanntschaft, Namens Iwan Petrowitsch Belokowski, in Central-Rußland. Ich befürchtete, es könnte ihm übel bekommen, doch er bestand darauf, so daß mir nichts anderes übrig blieb, als sie ihm zu senden. Vor wenigen Tagen erhielt ich nun von einem seiner Bekannten folgenden Brief: 73

– – Rußland, 16/28. Dezember 1889.

Geehrter Herr Kennan! Ich benütze die günstige Gelegenheit einige Zeilen an Sie zu richten und Ihnen einige traurige Nachrichten mitzuteilen. Ich weiß nicht, ob Sie es schon erfahren haben, daß es Ihrem Freund Iwan Petrowitsch Belokonski zufolge zweier großer Bilder, die Sie ihm gesandt haben, sehr schlecht geht.Das waren zwei große Ankündigungsbogen mit Illustrationen, die der Herausgeber des »Century Magazine« anfertigen und verteilen ließ, um die Aufmerksamkeit auf die Artikel über Sibirien hinzulenken. Ein Bekannter, dem er diese Bilder gab, wurde verhaftet, und so große Wichtigkeit wurde dem Gegenstand zugemessen, daß Belokonski darüber verhört wurde, und daß von der Polizei in St. Petersburg der Befehl ausging, ihn »mit besonderer Sorgfalt« zu überwachen. Das geschah im Dezember 1888. Am 29. April nächsten Jahres erschien plötzlich um drei Uhr morgens die Polizei im Hause von Belokonski um eine Durchsuchung vorzunehmen. Nichts Verbotenes wurde vorgefunden als Leroy-Beaulieus »l'Empire des Tsars« und drei Ihrer Aufsätze vom »Magazine«. An diesem Tage wurden in – – noch achtzehn verschiedene Hausdurchsuchungen vorgenommen, zu welchem Zwecke weiß bis heute keiner. Am 8. Mai wurde Belokonski nochmals von der Polizei zum Verhör gerufen und wurde dann ins Gefängnis geschickt, wo er sich noch befindet. Es mag Ihnen sonderbar vorkommen, daß ein Mann, der eine Familie zu erhalten hat in dieser Weise verhaftet wird, und bereits nun acht Monate im Gefängnis zubringt. Warum? Wahrscheinlich nur weil er im Besitze Ihrer Aufsätze befunden wurde. Indes wir Russen sind dergleichen so gewöhnt, daß es uns nicht im mindesten überraschen kann; aber betrübt macht es uns. Selbst in der übeln Lage, in der wir uns befinden, glüht unser Herz der Freiheit entgegen – und wieviel Freiheit haben wir? Selbst die Türken sind freier.

Die Familie des Iwan Petrowitsch besteht aus fünf Personen. Sie befindet sich in großer Not, zumal es der Frau Belokonski 74 vom Gouverneur verboten wurde Unterricht zu erteilen und wären es auch nur Privatlektionen. Etwas anderes zu thun, fällt ihr in der kleinen Provinzalstadt äußerst schwer. Sie mögen fragen: »Wovon leben sie denn?« Frau Belokonski that es bisher, indem sie eine kleinere und wohlfeilere Wohnung mietete und ihre Hauseinrichtungsgegenstände verkaufte oder verpfändete. Von dem Erlös hat sie nicht nur sich und ihre Kinder zu unterhalten, sondern auch den gefangenen Gatten. Die Regierung gewährt ihm nur zwei Rubel, dreißig Kopeken monatlich zur Verköstigung. Damit er nun bei Kräften bleibe und nicht halbverhungert zusammenbreche, kauft sie Lebensmittel und trägt sie ins Gefängnis. Glücklicherweise ist sie ein Weib von starkem Charakter. Wäre es anders, so bliebe ihr nichts übrig, als sich hinzulegen und zu sterben.

Gerne wollte ich Ihre letzten Aufsätze lesen, doch ich wage es nicht Sie zu ersuchen mir sie einzuschicken; ich muß es daher auf eine günstigere Zeit verschieben. Mit einem warmen Händedruck und mit den herzlichen Grüßen bin ich

Ihr ergebenster
—   —        

Es ist unnötig diesem Briefe noch etwas beizufügen. Mein Freund Belokonski wird wahrscheinlich auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt werden, weil er im Besitze meiner Aufsätze war und ich bin machtlos ihm zu helfen.

Was erhofft oder erwartet die russische Regierung, indem sie Artikel »schwärzt«, die ganz einfach nur wahrheitsgetreu russische Zustände schildern, indem sie jeden, der im Besitz dieser Aufsätze befunden wird ins Gefängnis wirft?

In einem Werke, das erst unverhoffter Weise von der russischen Censur freigegeben, dann aber konfisziert und verbrannt wurde, erörtert der russische Schriftsteller Prugawin dieselbe Frage und sagt: »Kann eine Idee erwürgt werden? Können Gedanken getötet, begraben oder vernichtet werden? Sind nicht Wahrheit und Liebe, Gerechtigkeit und Freiheit 75 unsterblich? Es ist der fürchterlichste aller Mißgriffe, zu wähnen, Gedanken könnten vertilgt werden. Völker sind zu Grunde gegangen, Männer starben in Kerkern und Ketten, ihre Leiber sind verwest, ihre Gräber verfallen und selbst ihre Namen vergessen worden. Aber ihre Gedanken und Bestrebungen leben. Gewaschen mit dem Blut der Märtyrer erscheinen sie im Traum jedem Manne, in dessen Hirn ein Gedanke funkt, in dessen Brust ein Herz schlägt.«

Als der Censor Prugawins Buch verbrannte, mag er wohl gedacht haben, daß er dessen »verderblichen« Einfluß nun für immer zerstört habe. Doch die »Gedanken und Bestrebungen« des genialen Autors »leben« und seine Worte, mag ihr Ausdruck auch auf Befehl der russischen Regierung verbrannt worden sein, wird ein Echo finden in Hunderttausenden von Herzen in England und Amerika.

Es wird die Zeit kommen, in der der freie Russe, nicht mehr geblendet von der Censur, über diese Blätter der Geschichte seines Vaterlandes blicken wird, die ihn erinnern an die Zeit, wo die öffentliche Meinung geknebelt wurde, der Gedanke erdrosselt und aus der Tiefe seines Herzens wird dann der Wunsch aufsteigen, daß eine so erniedrigende und beschämende Erinnerung werde – »geschwärzt«.

 


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