George Kennan
Sibirien
George Kennan

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8. Politische Verschickte und gemeine Verbrecher zu Tomsk.

»Wie ist es Ihnen möglich geworden in die Gefängnisse und Etappenhäuser Sibiriens zu gelangen? In welcher Weise vermochten Sie mit den politischen Verschickten bekannt zu werden? Und wieso bekamen Sie Einsicht in die vielen amtlichen Schriftstücke? Sollte wirklich Ihre Absicht den Lokalbehörden unbekannt geblieben sein? das läßt sich doch billig bezweifeln. Aber wenn sie es wußten, warum wurden Ihre Nachspürungen nicht verhindert, oder wenigstens doch zu verhindern gesucht?«

Diese und ähnliche Fragen sind seit meiner Rückkehr aus Sibirien oft an mich gestellt worden. Ich kann darauf keine ganz genügende Antwort geben, da mir unbekannt blieb, welche Weisungen die Lokalbehörden uns betreffend erhalten haben und mit welchen Blicken die Polizei Sibiriens unser Thun betrachtete. Allein ich vermag die von uns befolgte Taktik zu erklären, die Maßregeln darzulegen, die wir befolgen mußten, um nicht in Verdacht zu kommen, die Ursachen zu erklären, die die sibirischen Bauern bestimmen konnten, uns nicht freundlich entgegen zu treten.

165 Erstens glaube ich, daß die höheren Behörden, die ich in Petersburg um Erlaubnis bat, die Gefängnisse zu besichtigen und das Verbannungssystem prüfen zu dürfen, folgendermaßen räsonniert haben mögen:

»Es ist nicht gut möglich und es ist endlich auch nicht klug, Fremde von Sibirien vollständig fern zu halten, denn die andern Völker werden das Streben nicht aufgeben, die Art und Weise unserer Verschickungen kennen zu lernen. Verweigern wir unbedingt den Zutritt nach Sibirien, so werden sie sagen, es geschähe, weil wir jede Beobachtung zu scheuen haben. Mister Kennan kommt mit der günstigsten Meinung von uns her, er hat in einem Vortrag in der amerikanischen geographischen Gesellschaft uns und unser Verschickungssystem verteidigt und sich als Feind der Nihilisten gezeigt; er will daher wahrscheinlich in Sibirien Thatsachen auffinden, die seinen Äußerungen als Beweismittel dienen können. Wir können daher voraussetzen, daß er die Verhältnisse nicht mißgünstig betrachten wird und wenn schon jemand nach Sibirien gehen muß, so ist es das beste, er gehe dahin und besichtige die Gefängnisse.Der Sekretär des Ministeriums des Äußern, Herr Wlangalli kannte den erwähnten Vortrag über Sibirien und das Verbannungssystem. Zu dem Räsonnement, das ich eben zum Ausdruck bringe, hätte er endlich auch aus meinen offen und ehrlich vor ihm bekannten Anschauungen gelangen können. Ich versprach, nicht als Verteidiger der russischen Regierung aufzutreten, aber ich erklärte, nichts läge mir ferner, als Sensationsgeschichten schreiben zu wollen. Ich meinte, das Verschickungssystem sei bisher zu sehr im ungünstigen Lichte betrachtet worden und es sei dieses für die ganze gebildete Welt, es sei für die russische Regierung nur von Nutzen, wenn eine gerechte, richtige Darstellung erfolge. Das war damals auch meine ehrliche Meinung. Herr Lansdell hat bereits einen nicht ungünstigen Bericht über unsere Strafverhältnisse veröffentlicht, von Herrn Kennan können wir dasselbe erwarten, zumal er uns recht freundlich gesinnt ist. Die Mitteilungen dieser beiden Herren wird die Neugierde des Westens befriedigen und weiteren Nachspürungen und üblen Beurteilungen ein Ende machen. Wenn ein englischer Geistlicher und ein amerikanischer Journalist erklären, sie hätten die Verhältnisse an Ort und Stelle beobachtet und sie fänden das Verbannungssystem keineswegs so arg wie manche annehmen wollen, so wird das sicherlich den Verdacht der Welt zu vernichten wissen. Wir können daher Mister Kennan und seinem Freunde Mister Frost ruhig nach Sibirien reisen lassen und ihnen auch Empfehlungsbriefe mitgeben. Aber die Erlaubnis, die Gefängnisse in Augenschein zu nehmen, soll ihnen stets nur von der Lokalbehörde bewilligt werden oder auch nicht. Derart können wir, so oft wir es nötig finden, die Erlaubnis heimlich verweigern. Zwar läßt sich befürchten, daß sie mit politischen Verschickten zusammenkommen, aber es läßt sich kaum annehmen, daß diese ihre Meinung in einem für uns ungünstigen Sinne beeinflussen könnten, denn sie bekunden für diese Art Verbrecher die ungünstigste Meinung; und diese läßt sich noch kräftigen indem wir die Herren zuvor mit Katkoff zusammenbringen. Sollte jedoch ihr Verkehr mit den politischen Verschickten eine uns unerwünschte Intimität annehmen, so können wir ja unsere Gegenmaßregeln immer noch treffen.«

Das alles ist freilich nur meine Vermutung, aber diese wird durch gar vieles, was wir in Sibirien erfahren haben, zur Wahrscheinlichkeit. Überall ergab sich, daß es den Lokalbehörden frei stand, uns die Besichtigung der Gefängnisse zu gewähren oder zu versagen, wobei sie sich nur von ihren persönlichen Anschauungen und Eindrücken leiten ließen. Wir mußten daher vor allem trachten, das Vertrauen der Beamten in Sibirien zu gewinnen und betreffs der politischen Verschickten unsere Nachforschungen so behutsam vornehmen, daß dadurch nirgends ein Verdacht wider uns genährt werden konnte. Neunzehntel der Zahl aller Orte, die wir in Sibirien berühren mußten, waren mit Petersburg in Telegraphenverbindung. Entdeckte nun die Polizei, daß wir uns für die politischen Verschickten lebhaft interessieren und daß wir von ihnen Empfehlungen von einer Kolonie zur anderen erhielten, 167 so wäre wahrscheinlich nach Petersburg telegraphisch gemeldet worden: »Kennan und Frost setzen sich überall mit administrativ Verschickten und politischen Verbrechern in Verbindung. Erlaubt das die Regierung?« Eine derartige Anfrage hätte wenigstens eine Verwarnung für uns zur Folge gehabt, eine strengere Überwachung unseres Thuns, was uns nicht wenig hinderlich gewesen wäre.

Unsere ministeriellen Empfehlungen konnten uns wohl vor der Willkür der Lokalbehörden schützen, allein sie waren gegenüber einer von Petersburg aus befohlenen Untersuchung oder Verhaftung völlig wirkungslos. So hing denn fast ein Jahr lang als Damoklesschwert die Gefahr an einem dünnen Telegraphendraht über unseren Häuptern.

Bis zu unserer Ankunft in Ustj-Kamenogorsk verspürten wir keine Belästigung seitens der Polizei und unser Verkehr mit politischen Verschickten wurde von niemandem zu verhindern versucht. Nun aber vermehrten sich unsere Schriftstücke immer mehr und vieles war dabei, was jenen Personen, die sie uns vermittelten, sehr unangenehm hätte werden können, falls diese Schriften von der Polizei bei uns gefunden worden wären. So schien uns denn am Besten, unsere politischen Interessen hinter anderen zu verstecken und uns auch mit den Lokalbehörden in ein gutes Einvernehmen zu versetzen. An jedem Orte war einer meiner ersten Wege den Isprawnik, als den Polizeiobersten, aufzusuchen und ihm, noch ehe er selbst daran denken konnte, nach unserem Thun und Wollen zu spüren, die breitesten Auskünfte zu erteilen. Politische Verbannte, die wir kennen gelernt, gaben uns Winke über den Charakter fast aller Beamten, mit welchen wir in Berührung kommen konnten, dadurch war es uns ermöglicht, unserem Verhalten diesen gegenüber eine ihnen gefällige Form zu geben, was uns im Verkehr nicht geringe Vorteile verschaffte. Um den Beamten unsere Hochachtung erkennen zu geben, besuchten wir sie stets in Gesellschaftsanzug, tranken mit ihnen Schnaps, bis auch wir alles doppelt sahen, 168 schmeichelten ihren Frauen, Mister Frost zeichnete ihre Kinder ab – kurz, in zehn Fällen neunmal gewannen wir in 48 Stunden das Zutrauen und die Freundschaft des Beamtentums des Ortes.

Um uns die untergeordneten Polizisten fern zu halten, genügte, daß wir uns so oft wie möglich in Gesellschaft ihrer Vorgesetzten sehen ließen, und um die Bewohner unsere Absichten nicht merken zu lassen, besuchte ich die Schulen, machte angesichts der Schule Notizen und ersuchte die Lehrer um statistische Daten, während mein Genosse in den Straßen skizzierte und botanisierte, nach Schmetterlingen haschte, oder Postmeistern und Muschiks Vorträge über Geographie, Weltkunde und Astronomie hielt. Das Letztere machte ihm viel Vergnügen und erwies sich auch als nützliches Mittel, die Neugierde der Leute abzulenken. Derart mochten nun die Leute wähnen, unsere Fahrt gelte nur den wissenschaftlichen Forschungen in Sibirien und daß wir uns hauptsächlich mit Unterrichtswesen, Kunst, Botanik, Geographie und Altertumskunde beschäftigen. Nachdem wir mit solchen Mitteln die Aufmerksamkeit der Polizei und der Bewohner abgelenkt hatten, konnten wir uns unbeobachtet bewegen und täglich einige Abendstunden den politischen Verschickten widmen. Sah uns auch jemand das Haus eines dieser Verbannten betreten, so erklärte er sich diesen Besuch vermutlich mit dem Umstande, daß unter diesen Leuten viele Männer der Wissenschaft sind, die uns wohl in dieser ihrer Eigenschaft interessieren mögen. Als wir weiter nach Osten kamen, wo die politischen Verschickten viel strenger bewacht werden, versuchten wir, uns der veränderten Sachlage anzupassen, doch blieb unser Auftreten stets in der gleichen Weise fest und selbstbewußt, und überall strebten wir darnach, die Aufmerksamkeit von unseren Hauptzielen abzulenken und auf ganz nebensächliche Dinge zu verweisen. Unsere Verbindungen mit den politischen Verschickten konnten der Polizei natürlich nirgends ein Geheimnis bleiben, aber deren Ausdehnung und Bedeutung blieb ihr zweifellos unbekannt. 169 Jedenfalls blieben wir von der befürchteten telegraphischen Weisung von Petersburg her verschont, ja selbst eine »Verwarnung« erreichte uns erst in Transbaikal.

Dagegen wurden unsere Absichten in allen Gegenden Sibiriens von rechtschaffenen, intelligenten Beamten gefördert; sie mißbilligten das Verschickungssystem überhaupt oder doch in der angewandten Art, und schienen ganz erfreut zu sein, ausländischen Beobachtern die Nachteile dieser Bestrafung, die Mißbräuche und Grausamkeiten, die dabei stattfinden, darzulegen. Das hatte ich freilich nicht erwartet! Oft war ich ganz erstaunt über die kühne Offenheit, mit der sie sich uns gegenüber aussprachen, sobald sie nur die Gewißheit erlangt hatten, daß sie uns gegenüber keinen besondern Zwang sich aufzulegen brauchten. Ein höherer Beamter der Gefängnisabteilung sprach eines Tages zu mir: »Das Verschickungssystem giebt mir meinen Bedarf, und ich habe da weder über Stellung noch über Einkommen zu klagen; aber gerne wollte ich auf alles verzichten, wenn dieses System abgeschafft würde, das für Sibirien selbst nicht minder unheilvoll ist wie für die Verschickten und das die ganze Fülle des Elends im Gefolge hat. Aber, was ist da zu thun? Äußern wir uns in diesem Sinne gegen unsere Vorgesetzten in Petersburg, so hat das für uns nur strenge Strafen zum Lohn. Ich habe gelernt zum besten handeln und – schweigen.«

Ein anderer Beamter erzählte mir:

»Oft genug habe ich ausführliche Berichte über die Mißbräuche und den Jammer, die in meinem Bezirk vorkamen, abgesandt, aber gar nichts damit erreicht, vielleicht wird es besser, wenn Sie diese Zustände schildern. Das hiesige Gefängnis taugt nicht einmal zum Aufenthalt für Hunde, viel weniger noch für Menschen. Seit Jahren habe ich immer und immer wieder den dringend nötigen Neubau beantragt, jedoch das einzige was ich erreichte, war eine unendliche Schreiberei.«

Derartige Äußerungen hörte ich noch von mindestens zwanzig Civil- und Militärbeamten in bedeutender Stellung, 170 und manche gaben mir sogar als Beweismittel Schriftstücke mit statistischen und anderen Angaben.

Ferner wurden unsere Bemühungen, die Art und Weise der Verschickung Politischer genau kennen zu lernen, von Leuten unterstützt, die Anhänger der liberalen Richtung waren und den Häftlingen eine rege Sympathie widmeten. Wie ausgedehnt diese Zuneigung ist, wird die russische Regierung vermutlich gar nicht ahnen. Eines Abends war ich in einer sibirischen Stadt in einer sozialistischen Versammlung anwesend. Es befanden sich da Mitglieder vom Rat der Stadt, sechs bis acht Offiziere und sämtliche politische Verbannte des Ortes. Alle verkehrten in freundschaftlichster Weise miteinander, die Offiziere verlautbarten die freiheitlichsten Anschauungen und sangen im Chor mit den andern revolutionäre Lieder. Dieser Fall war nicht vereinzelt; fast in jeder Gegend Sibiriens fand ich »Unzuverlässige« dieser Art und selbst in Petersburg – als ich von Sibirien wieder dahin kam – traf ich Beamte, die es heimlich mit den politischen Verschickten hielten und die mir interessante Schriftstücke oder Abschriften übergaben. Das Studium des Verschickungssystems ist daher nicht gar so schwer, als man meinen könnte, besonders wenn es gefördert wird von Beamten, welche der Wahrheit die weiteste Verbreitung wünschen, von Bürgern, die mit den Vorkämpfern der Freiheit heimlich sympathisieren, und endlich auch von den politischen Verbannten selbst, die jenes System aus eigener Erfahrung kennen.

In Tomsk fand meine erste Berührung mit jenen politischen Verbannten statt, die wegen Teilnahme an der sogenannten »Propaganda«, in der Zeit von 1872–1875, zufolge richterlichen Urteils verbannt wurden und wirklich auch Revolutionäre waren. Sie unterscheiden sich von den administrativ Verschickten in Semipalatinsk, Ulbinsk und Ustj-Kamenogorsk höchstens nur durch den Umstand, daß sie länger in der Verbannung waren und größere Erfahrungen besaßen. Einer von ihnen, ein geistvoller Schriftsteller Mitte der Dreißiger, Chudnofski mit Namen, teilte mir mit, daß er als neunzehnjähriger 171 Student zum erstenmal verhaftet wurde und seither fast ununterbrochen unter Polizeiaufsicht, im Gefängnis oder in Verbannung sich befinde. Vier Jahre und drei Monate war er in Einzelhaft der Untersuchung und zwanzig Monate in den Kasematten der Petropawlowskfestung. Als er wider die schlechte Behandlung murrte und die berechtigte Forderung stellte, man möge ihm Schreibmaterial geben, damit er seine Beschwerde an den Minister des Innern richten könne, wurde er an Händen und Füßen gefesselt und endlich sogar in die Zwangsjacke gesteckt. Daraufhin weigerte er sich, Nahrung zu nehmen und es kam dahin, daß der Gefängnisarzt seinen Zustand für gefährlich erklärte. Jetzt erst gab der Kommandant Oberst Bogarodski nach und ließ ihm das Schreibmaterial geben. Aber einen Bescheid auf die eingereichte Beschwerde hat er nie erhalten. Endlich wurde er im Jahre 1878 vor Gericht gestellt, der Anklage, verderbliche Bücher eingeschmuggelt zu haben, schuldig befunden und zu fünf Jahren Zwangsarbeit und Verlust der bürgerlichen Rechte verurteilt. Die lange Untersuchungshaft berücksichtigend, empfahl der Gerichtshof dem Zaren, die Strafe möge in lebenslängliche Verbannung nach Westsibirien umgeändert werden, was auch geschah.

Eine fast fünfjährige Einzelhaft und eine nun schon sieben Jahre währende Verbannung hätte wohl die meisten gebrochen; anders aber Chudnofski, dessen Mut und Willenskraft unversehrt blieben. Alle Hindernisse überwindend, setzte er seine Studien fort, vollendete sie und vermochte sogar in Sibirien sich einen Wirkungskreis zu verschaffen und zu Ansehen zu gelangen. Er verfaßte eine treffliche und sorgfältig gearbeitete Studie über die Entwickelung des Unterrichts in Sibirien; sie erschien im »Offiziellen Jahrbuch« der Provinz Tomsk für das Jahr 1885. Er unternahm, von der »kaiserlichen geographischen Gesellschaft« unterstützt, zwei wissenschaftliche Reisen nach dem Altaigebirge, und er war der fleißigste Mitarbeiter russischer Zeitschriften. Sein Buch »die Provinz Jeniseisk« – eine statistische und volkswirtschaftliche Studie 172 (Tomsk 1885) erhielt den von der Stadt Krasnogorsk für diesen Zweck ausgesetzten Preis. Er machte auf mich den besten Eindruck. Wäre er Bürger eines freien Landes gewesen, so wäre seine Laufbahn wahrscheinlich eine glänzende gewesen und er hätte seinem Vaterlande alle Ehre gemacht. Zu seinem Unglück jedoch war er Russe und sein Schicksal mußte darum sein – Gefangenschaft und Verbannung!

Einer der interessantesten Verschickten war der kurz vor mir angelangte Herr Konstantin Stanjukowitsch, der bereits früher erwähnte Eigentümer und Redakteur der Zeitschrift »Djelo«.Siehe Kapitel 5, Seite 105. Er war ein feiner und scharfer Beobachter der gesellschaftlichen Zustände Rußlands, ein talentvoller Novellist und Verfasser mehrerer beifällig aufgenommener Schauspiele, er war, kurz gesagt, ein energischer, geistig hochbegabter Mann. Auch seine Frau, die ihm mit den Kindern nach Sibirien folgte, schien eine außergewöhnliche Bildung zu besitzen; sie sprach ein vortreffliches Englisch. Das älteste ihrer drei oder vier Kinder war ein hübsches Mädchen im Alter von ungefähr siebzehn Jahren.

Die schönsten Abende in Tomsk verbrachten wir in ihrer kleinen Wohnstube zu, oft bis Mitternacht der Zwiegesänge lauschend, die das Mädchen und Fürst Krapotkin vortrugen. Zuweilen besprachen wir die russischen Verhältnisse oder verglichen die Eindrücke, die London, Paris, Berlin, Newyork und St. Franzisko auf uns gemacht hatten; denn auch Herr und Frau Stanjukowitsch hatten unter anderem die Vereinigten Staaten von Nordamerika bereist. Jetzt versuchte er es mit litterarischen Arbeiten, den Bedarf für sich und die Seinigen herbeizuschaffen; seine Frau unterstützte ihn dabei, indem sie Unterricht in Musik erteilte. Ihre Verbannungszeit war auf drei Jahre festgesetzt und wenn die Regierung diese Frist nicht willkürlich vermehrt hat, mögen sie jetzt, wo diese Zeilen veröffentlicht werden, bereits frei von diesem Zwange sein.

173 Aber von allen Verbannten, die sich damals in Tomsk aufhielten, war mir keiner sympathischer als der russische Schriftsteller Felix Wolkhofski, der im Jahre 1878 für lebenslang nach Sibirien verschickt wurde, weil er, wie die Anklage sagt, »einer Gesellschaft angehörte, die die Absicht hat, jetzt oder später die bestehende Regierungsart zu beseitigen.« Er war damals etwa 38 Jahre alt, ein geistreicher, edler, gebildeter Mann, der gut Englisch sprach – er hat Longfellows Gedichte ins Russische übersetzt und gehörte überhaupt zu den eifrigsten Bewunderern dieses Dichters – und der auch mit der Geschichte Amerikas wohlvertraut war. Und doch war das Leben dieses liebenswürdigsten aller Menschen, die ich je gekannt habe, nichts anderes als eine Entsetzen erregende Tragödie. Die lange Haft in der Petropawlowskfestung hatte sein Haar gebleicht, seinen Körper gebrochen; und wenn die Erregung sein Gesicht nicht belebte, sah tiefernste Schwermut aus seinen braunen Augen. Als ich dann bei meiner Rückkehr von Ostsibirien im Jahre 1886 zum letztenmal von ihm Abschied nahm, umarmte und küßte er mich und sprach dann: »Georg Iwanowitsch, vergiß nicht unser! Ich fühle im Scheiden, als nähmest du ein Stück meines Lebens mit dir!«

Seit meiner Rückkehr nach Amerika habe ich von Wolkhofski nur ein einzigesmal Nachricht erhalten. Er teilte mir in rührendster Weise die Nachricht von dem Selbstmord seiner Gattin mit. Er selbst hatte damals durch die von der Regierung vorgenommene Unterdrückung der liberalen Tomsker »Sibirischen Zeitung« sein Brot verloren und seine Frau – ich sehe vor mir ihre zarte Gestalt mit dem blassen, ernsten Antlitz – machte den Versuch durch Unterricht und Näharbeiten jenen Verdienstabgang nach Möglichkeit wieder heranzubringen. Aber Sorge, Kummer und Überanstrengung haben gar bald ihren zarten Körper gebrochen; krank und verdüstert im Gemüt glaubte sie nun ihrem Mann und den kleinen Kindern eine Last zu sein und machte ihrem Leben durch einen Pistolenschuß ein Ende. Wolkhofski liebte sie innig und 174 ihr Tod war ein harter Schlag für ihn. In seinem Briefe gedachte er der Gedichte James Russell Lowell's, die ich ihm sandte. Er meinte, daß ihm das Gedicht »After the burial« (Nach dem Begräbnis) deutlich erkennen ließ, wie aller Welt gemeinsam das Weh sei; denn der Amerikaner hatte zum Ausdruck des Schmerzes, ob des Verlustes der Gattin dieselben Worte, die er im Tiefinnersten empfunden.

Er schickte mir gleichzeitig ein altes ledernes Zündhölzchenbüchslein, das Fürst Peter Krapotkin seinem verbannten Bruder Alex gegeben und das dieser wieder der Verstorbenen kurz vor ihrem Tode schenkte. Er hoffe, meinte er, diese Kleinigkeit werde einigen Wert für mich haben, weil sie mit dem Leben von vier Verbannten in Verbindung zu bringen ist: der eine ist ein heimatferner Flüchtling, der andere lebt als Verschickter in Tomsk und zwei haben sich der russischen Gerechtigkeit durch Selbstmord entzogen.

Ich wollte diesen Brief meiner Frau vorlesen, doch ich vermochte es nicht. Thränen zwangen meinen Laut nieder, als ich des edlen Mannes gedachte, der körperlich gebrochen mit seinen unmündigen Kindern auch noch diesen Schlag ertragen mußte.

Der Zar kann Männer wie Wolkhofski in tiefe Kasematten sperren, wo sie vorzeitig zu Greisen werden, er kann sie in grauer Sträflingstracht nach dem fernen Sibirien verbannen – aber die Zeit wird kommen, wo deren Namen im Buch der Geschichte mit glänzenderen Lettern verzeichnet sein werden, als sein Name, und wo die Erzählung ihres Lebens und Leidens allen Freiheit und Vaterland liebenden Russen zum Born heldenmütiger Begeisterung wird . . . .Dem Erwähnten gelang es im Jahre 1890 aus Sibirien zu entfliehen. Er wandte sich nach London, wo die »Times« in einem Aufsehen erregenden Aufsatze Kunde seines Schicksals gab. (Anm. d. Übers.)

Hier in Tomsk verspürten wir zum erstenmal jene Nervosität, die der Anblick unabwendbaren Menschenwehs hervorzubringen pflegt. Unsere Reise durch das südwestliche Sibirien und den Altai führte uns abseits der großen Straße der 175 Verschickten; die politischen Verbannten von Semipalatinsk, Ulbinsk und Ustj-Kamenogorsk wurden verhältnismäßig noch gut behandelt; erst in Tomsk hatten wir Gelegenheit, das Leben dieser Beklagenswerten in seinem ganzen Schrecken kennen zu lernen. Schlimmer noch als Kälte, Hunger und Müdigkeit verspürten wir die Erregung, die hier unserer sich bemeisterte und die uns nicht verließ, bis wir die sibirische Grenze hinter uns wußten. Wer konnte auch bei dem Jammer ruhig bleiben, der uns aus den »Bologans« und dem Krankenhaus zu Tomsk entgegenstarrte! Wer könnte, ohne in seinem Innersten erschüttert zu werden, jene Leidensgeschichten anhören, wie wir sie in Tomsk, Krasnogorsk, Irkutsk und Transbaikalien vernommen haben!

Ich gedenke einer blassen, schwächlichen Frau, die nach Ostsibirien verbannt wurde. Sie wollte eines Abends, ich möge ihre Leidensgeschichte anhören, sie wollte es trotz der Qual der Erinnerung, von der ich sie gern befreit gewußt hätte, sie wollte es, damit die Welt durch mich erfahre, was Russen erdulden, ehe sie Terroristen werden. Und schluchzend erzählte sie.

Es war die traurigste Geschichte, die ich je vernommen hatte! . . . Nach solchen Vorfällen – und es geschah gar oft – konnte ich nicht Ruhe, nicht Schlaf finden. Diese Erregungen und dann auch die Mühseligkeiten der Reise brachten es mit sich, daß ich endlich in Transbaikalien schwer erkrankte.

Aber ehe ich noch Tomsk verließ, waren meine früheren Ansichten über Nihilisten und Verschickungen gründlich zerstört.

In Tomsk und auf unserer Fahrt von hier nach Irkutsk bot sich uns zum erstenmale die Gelegenheit, das Leben der Verschickten während ihres Transportes kennen zu lernen. Das ganze Jahr hindurch geht von Tomsk nach Irkutsk jede Woche eine Verbanntentruppe von 300 bis 400 Personen ab und legt die Strecke von etwa 1700 Kilometer in drei Monaten zurück. In Entfernungen von 40 bis 60 Kilometer befinden sich Etappenhäuser mit einer Besatzung von einem 176 Offizier, zwei oder drei Unteroffiziere und gegen 40 Mann Soldaten. Da jedoch die Entfernung von einer Etappe zur andern zu groß ist, um in einem Tag von Gefangenen zurückgelegt zu werden, deren Füße gekettet sind, wurden dazwischen noch Bauten aufgeführt die »Poloetappes«, Halbetappen, benannt sind und den Transporten zum Übernachten dienen.

Die Züge der Verschickten sollten monatlich etwa 500 Werst (550 Kilometer) zurücklegen, wobei an jedem dritten Tag eine Rast von 24 Stunden abgehalten wird. Auf jeder eigentlichen Etappe wechselt die Eskorte. Jeder Gefangene erhält 10 Kopeken für den Tag für den Lebensbedarf; diesen kauft er dann von den Bauern, welche diesen Handel berufsmäßig betreiben. Die Kleidung der Verschickten besteht im Sommer aus einem Hemd, einer grauen Leinwandhose, Fußblättern aus Leinen anstatt Socken, eine Pantoffelart, »Kotteh« genannt, mit Schutzleder an den Knöcheln, um das Wundreiben durch die Fesseln zu verhindern, eine Mütze ohne Schirm, in der Form den Schottischen ähnlich und endlich einen langen, grauen Überrock. Die Kleidung der weiblichen Häftlinge besteht aus den gleichen Stoffen, nur daß hier der Kittel die Hose ersetzt. Frauen und Kinder, die ihre Angehörigen freiwillig nach Sibirien begleiten, haben das Recht, ihre eigenen Kleider tragen zu dürfen und soviel Gepäck mitzunehmen, wie ein gewöhnlicher Fruchtsack zu fassen vermag. Ein Unterschied in der Behandlung politischer und gewöhnlicher Verbrecher äußert sich nur insofern, daß jene, wenn sie dem Adel oder den privilegierten Klassen angehören, um die Hälfte mehr Verpflegegeld bekommen und nicht zu Fuß den Weg zurücklegen, sondern in Telegas gefahren werden. Eine Zeitlang wurden die politischen Verschickten unter Begleitung von Gendarmen mittelst Post nach Sibirien befördert, wobei sie fast ebenso rasch an ihren Bestimmungsorten wie Privatreisende anlangten. Der großen Kosten wegen wurde diese Art aufgegeben und die politischen Verschickten werden nun mit gemeinen Verbrechern 177 befördert. Eine Folge davon ist, daß der Aufenthalt in diesen scheußlichen Etappenhänsern verlängert werden mußte und Kranlheits- und Todesfälle umso häufiger wurden.

Bis zum Jahre 1883 wurden bei der Verschickung die Geschlechter nicht getrennt; dann erst begann man, die unverheirateten männlichen Gefangenen abgesondert zu verschicken. Diese Neuerung hat wohl die Entsittlichung, welche ein viele Monate langes Beisammensein hervorbrachte, gemindert, aber die Zustände sind auch in dieser Beziehung noch arg genug, da in den Familientransporten genug zuchtlose Gesellen vorhanden sind.

Montag morgens, am 24. August, fuhren Frost und ich nach dem Etappengefängnis, um, auf Einladung des Eskorteoffiziers Hauptmann Gudeem hin, den Abmarsch eines Trupps Verschickter beizuwohnen. Es war kühl, windig, doch der wolkenlose Himmel versprach einen warmen sonnigen Tag. Als wir anlangten, waren die Leute noch nicht herausgekommen und da wir vermuteten, Hauptmaun Gudeem werde stark beschäftigt sein, warteten wir draußen vor dem Gefängnisthore. Hier saßen einige Soldaten in ihrer dunkelgrünen Uniform auf einer Holzbank, andere wieder vertrieben sich die Zeit, indem sie mit den Verkäuferinnen von Lebensmitteln, die auf der Erde hockten, schäkerten. Zuweilen vernahm man vom Innern des Gebäudes her das Klirren der Ketten, zuweilen auch wurde das Thor geöffnet, um Häftlinge hineinzulassen, die in Holzgefäßen an über die Schultern gelegten Stangen Wasser herbeischleppten. Wer da eintreten wollte, wurde von den Schildwachen durchsucht, ob er nicht etwa verbotene Gegenstände, hauptsächlich berauschende Getränke, einschmuggeln wolle.

Um acht Uhr fuhren die für den Transport der Kranken und Schwachen bestimmten Telegas vor. Ein Unteroffizier, der draußen saß, erhob sich gähnend und schlich verdrossen in den Gefängnishof. Die Soldaten nahmen Gepäck und Waffen auf. Das lautere und anhaltende Kettengeklirr belehrte uns, daß der Transport sich formiere. Der Gefängnisschmied kam heraus; er trug eine kleine Feldschmiede und anderes 178 Werkzeug, einen Arm voll Ketten, die er gleichgültig zu Boden warf. Die Soldaten schulterten die Gewehre und stellten sich im Halbkreis auf, ein Unteroffizier mit der Namensliste der Verschickten in der Hand, ein zweiter mit einer umgehängten Ledertasche voll Kupfermünzen nahmen bei dem Thor Stellung, und auf das Kommando »gottow!« (fertig!) traten die Häftlinge, einer nach dem andern, heraus, vorerst jene, die zur Zwangsarbeit verurteilt waren. Der Offizier verlas die einzelnen Namen, wobei er flüchtig einen prüfenden Blick auf den Häftling, der sich meldete, warf. Der Schmied, von einem Soldaten unterstützt, untersuchte, ob die Fesseln in gutem Zustande wären, und der Unteroffizier gab aus seiner Ledertasche jedem der Verschickten 20 Kopeken für seinen Lebensbedarf der ersten zwei Tage. Nun stellten sie sich in zwei Reihen auf, damit die Zählung leichter erfolgen könne, nahmen die Mützen ab, damit der Unteroffizier zu prüfen vermochte, ob ihre Köpfe vorschriftsmäßig auf der rechten Hälfte geschoren wären. Dann kamen die Strafkolonisten daran, die in derselben Weise behandelt wurden. Mit der Zunahme der Gefangenen, erweiterten die Soldaten auch den abschließenden Halbkreis, den sie bildeten.

Endlich befand sich der ganze Transport draußen, gegen 400 Personen. Jeder der Gefangenen trug einen grauen Leindwandsack, in welchem sich seine armselige Habe befand, manche hatten auch kupferne Kochkessel am Gürtel hängen, einer trug sogar ein braunes Hündchen auf dem Arme.

Wieder wurden die Häftlinge gezählt, dann die Säcke auf die Telegas gelegt. Ich benutzte die Gelegenheit, um mit einem und dem andern zu plaudern. Zu meinem Erstaunen sprach mich ein Häftling in englischer Sprache an.

»Wer sind Sie?« fragte ich in derselben Sprache.

»Ich bin ein Vagabund,« antwortete er mit ruhigem Ernst.

»Wie heißen Sie?«

»Iwan Weißnichtwie,« war seine Antwort; und nach einer vorsichtigen Umschau, die ihm vergewisserte, daß der 179 Eskorteoffizier es nicht hören könne, fügte er leise dazu: »Mein wirklicher Name ist Johann Andersen, gebürtig aus Riga.«

»Wie kommt's, daß Sie englisch sprechen?«

»Ich bin englischer Abkunft; überdies war ich als Matrose oft in englischen Häfen.«

Das Nahen des Hauptmanns Gudeem machte diesem Gespräch ein Ende.

Die Zahl der »Brodjaks«, der Vagabunden, war bei diesem Transport sehr groß; die meisten waren entlaufene Verbrecher von der Familie »Weißnichtwie«. Man hat sie in Westsibirien eingefangen, oder sie hatten sich im Winter freiwillig gestellt, um nicht zu verhungern.

Hauptmann Gudeem meinte, daß darunter Leute wären, die schon sechsmal entflohen sind.

»Burschen!« rief er der Menge zu, »wie viele von euch gehen jetzt schon zum sechstenmal nach dem Bergwerk?«

»Sehr viele!« gaben mehrere Stimmen zur Antwort.

Ein ergrauter, gefesselter Sträfling trat vor, um zu bekennen, er sei schon viermal aus den Bergwerken entflohen und er kehre jetzt zum fünftenmal wieder zurück. Dieser Mensch hatte also achtmal den mehr als dreitausend Kilometer betragenden Weg zwischen Tomsk und den Bergwerken von Kara zu Fuß zurückgelegt.

»Ich kenne Brodjaks,« erzählte der Hauptmann, »die sechzehnmal über Steppen und durch Wälder entflohen sind und sechzehnmal diesen Weg gefesselt zurückkehrten. Der Himmel weiß, wie sie das fertig bringen konnten ohne zu verhungern!«

Wer da bedenkt, daß eine zweiunddreißigmalige Wanderung durch Ostsibirien einer zweimaligen Umschreitung der Erde beim Äquator gleich kommt, der kann sich ungefähr eine Vorstellung machen von der Energie und Ausdauer dieser Leute, von der Macht jenes Gefühles, das sie nach der Heimat zwingt. Im Jahre 1884 wurden 1360 »Brodjaks« in Westsibirien wieder eingefangen und nach den Bergwerken 180 zurückgeschickt und hundert andere verdarben in den Wäldern vor Hunger oder Kälte. Ein russischer Offizier Namens Orsanoff, der lange Zeit in Ostsibirien diente, erzählt in seiner Schrift, er hätte einmal im Gefängnis von Kaidalowo, zwischen Tschita und Nerschinsk, nicht weniger als zweihundert »Iwan Weißnichtwie« beisammen gefunden.

Einige dieser Ausreißer gaben sich im Gespräch als Männer von Wissen und Bildung zu erkennen. So fragte einer, der, nebenbei bemerkt, unsern photographischen Apparat mit Kennerblick betrachtete, wie die Verurteilten bei uns behandelt werden, ob sie in ihrer Haft etwas verdienen können, damit sie das Gefängnis nicht ganz entblößt verlassen müssen. Ich antwortete ihm, daß in den meisten amerikanischen Gefängnissen den Häftlingen Gelegenheit geboten sei, etwas zu verdienen.

»Bei uns ist das anders,« bemerkte er; »nackt kommen wir dahin und nackt kehren wir von dort zurück und in dieser Zeit werden wir, wenn es den Aufsehern gefällt, durchgepeitscht.«

»O nein! das kommt jetzt nicht mehr vor,« bemerkte der Hauptmann nicht unfreundlich.

»Doch! Es geschieht, Euer Gnaden!« erklärte der Sträfling demütig aber doch bestimmt. »Wer zu krank oder zu schwach ist, seine Arbeit zu verrichten, erhält zwanzig Knutenhiebe.«

Gerne hätte ich ihn noch über manches ausgefragt; ich wurde aber daran verhindert, indem der Hauptmann die Frage an mich richtete, ob ich sehen wollte, wie die Kranken und Schwachen in die Wagen verladen werden.

Die für diesen Zweck bestimmten Telegas waren einspännige Wägelchen ohne Federung und nur mit zwei Sitzen, für den Kutscher und für den Wächter versehen. Sie sahen aus – wie schon früher einmal bemerkt wurde – wie eine der Länge nach durchschnittene Faßhälfte; einen erbärmlicheren Karren mag es wohl nicht mehr geben. In jedem war eine Kleinigkeit Gras aufgestreut, was wohl die Kraft der Stöße mildern sollte, und darauf mußten nun vier Personen Platz finden.

181 »Gefangene mit ärztlichem Zeugnis vortreten!« befahl jetzt der Hauptmann und gegen dreißig durch Alter oder Krankheit ermattete Personen traten vor. Ein Unteroffizier nahm die Zeugnisse entgegen und prüfte sie. Nachdem er alles in Ordnung befunden, durften die Ärmsten die Telegas erklettern.

Einer der Männer mochte trotz seines schlechten Aussehens ein Simulant sein, denn als er den Karren bestieg, sandten ihm die andern ein ganzes Hagelwetter von Schelt- und Fluchwörtern nach. Manche Sträflinge verstehen es meisterlich, Krankheitserscheinungen zu heucheln und zuweilen gelingt es ihnen auch, den erfahrensten Gefängnisarzt zu täuschen.

Manchmal ist die Zahl der Häftlinge, die das Gefängnis von Tomsk zu Fuß nicht verlassen können, eine recht große. Im Jahre 1884 wurden 658 Telegas zum Transport benutzt und da in jedem vier Personen Platz finden, so ergiebt das die Gesamtzahl von 2632; eine leicht erklärliche Folge der Überfüllung. Nachdem alle Kranken und Siechen ihre angewiesenen Plätze eingenommen hatten, nahm der Hauptmann seine Mütze ab, verneigte sich bekreuzend gegen die Gefängniskirche hin und rief dann den Sträflingen zu:

»Vorwärts, Burschen! Glückliche Reise!«

»Rechtsum! Vorwärts! Marsch!« kommandierte der Unteroffizier und kettenklirrend, wie immer, begann der Trupp, umringt von Soldaten, seinen dritthalbtausend Kilometer langen Weg nach den Bergwerken Transbaikaliens. Voran marschierten die Verschickten, hinter diesen fuhren die Telegas mit den Kranken, diesen folgten einige Gepäckwagen mit der Nachhut der Soldaten und den Schluß machte der Tarantas, in dem der Eskorte führende Offizier saß, unser Freund, der Hauptmann Gudeem und unser Wagen. Der Transport legte ungefähr drei Kilometer in einer Stunde zurück. Bald war er in eine dichte Staubwolke gehüllt, die aufgewirbelt wurde von den schleichenden Tritten der Gefesselten. An warmen, trockenen Tagen ist der Staub die ärgste Plage für die Transportierten, 182 besonders für die Kranken, Frauen und Kinder. Ich habe die Spur eines Gefangenentransportes an der Staubwolke, die über ihm schwebte, mehr als anderthalb Kilometer weit verfolgen können.

Ungefähr acht Kilometer von Tomsk entfernt, gelangte der Transport zu einer Kapelle, die von allen Seiten offen war und die in ihrem Innern einen kunstlos aus Holz geschnitzten Christus am Kreuz zeigte. Sowie bei dem Abmarsch in Tomsk, zogen die Mehrzahl der Gefangenen die Mützen auch hier und bekreuzten sich andächtig. Ein russischer Bauer unterläßt dies nur selten, mag er auch Räuber oder Mörder sein.

Als erster Rastplatz wurde eine Stelle gewählt, etwa fünfzehn Kilom. von Tomsk entfernt. Hier hatten sich einige Mädchen und Frauen mit Lebensmitteln und Getränken eingefunden, um sie den Häftlingen zu verkaufen. Bei ihrem Anblick riefen die vordersten der erfahrenen »Brodjaks« wiederholt ein frohes »Priwal« aus. So heißt nämlich die Stelle der Mittagsrast. Dieser Ruf durcheilte den ganzen Zug, bis er auch zu den Telegas gelangte, und alle beeilten sich dahin zu gelangen. Ein Marsch von mehr als 15 Kilometer kann auch einen gesunden, kräftigen Menschen ermüden, um wie viel mehr die von Entbehrungen aller Art entkräfteten, mit Ketten belasteten Gefangenen. Kaum wurde die Rast kommandiert, als auch schon alle auf den Boden sich warfen, dort saßen oder lagen. Nach einer Weile der Erholung, begann der Kauf von Schwarzbrot, Fischen, gesottenen Eiern, Milch und Kwaß, der Nationaltrank der RussenEin leichtes, säuerliches Getränk, ähnlich einer Krautsuppe. (Anm. d. Übers.), und bald war auch alles mit der Mahlzeit beschäftigt.

Mit Erlaubnis des Eskorteoffiziers photographierte mein Freund Frost diese Scene. Gegen zwei Uhr setzte sich der Transport wieder in Bewegung.

Nachmittag ereignete sich nichts Besonderes. Die 183 erfahrenen »Brodjaks« sprachen recht laut, um das Kettengeklirr zu übertönen, und die Neulinge horchten aufmerksam der Rede, zuweilen einige Fragen an die andern richtend. Der erfahrene »Brodjak«, der diesen Weg schon einigemal gemacht hat, kennt nämlich die Straße ganz genau, er kennt Charakter und Temperament aller Eskorteoffiziere zwischen Tomsk und Kara. Die Gefahren, die er in den sibirischen Urwäldern überstanden hat, stärkten seine Energie und sein Selbstvertrauen, die ihm eine gewisse Autorität bei seinen jüngeren Genossen verschaffen. Stolz nennt ein echter »Brodjak« den »Ostronk« (Gefängnis), seinen Vater und die »Tajga« (den Urwald), seine Mutter, und oft ist sein ganzes Leben ausgefüllt mit dem Wandern vom »Vater« zur »Mutter« und wieder zurück. Selten, daß es einem gelingen will aus Sibirien zu entrinnen, selbst wenn es ihm schon gelingen will das Thal des Obs zu erreichen, früher oder später wird er doch aufgegriffen, oder durch Kälte und Hunger gezwungen, freiwillig zurückzukehren. Ein Etappenoffizier sagte einst zu einem »Brodjak« das charakteristische Wort: »Des Zaren Weideland ist groß, du kannst es nicht überschreiten. Wir finden dich, wenn du nicht tot bist!«

Die »Brodjaks« erzählten hauptsächlich von ihren Thaten und Abenteuern in den Bergwerken und Wäldern. Die Anwesenheit der Eskortesoldaten legte ihnen gar keinen Zwang auf.

Von Tomsk bis zur ersten Halbetappe beträgt die Entfernung beiläufig 30 Kilometer. Es dunkelte schon, als die Verschickten von der Ferne die spitzigen Pallisaden erblickten, hinter welchen sie die erste Nacht ihres Marsches zubringen sollten.

Eine sibirische Halbetappe ist ein umzäunter Raum von ungefähr 200 Meter Länge und 25 Meter Breite, worauf zwei oder drei Blockhäuser sich befinden. Das kleinste ist für den Eskorteoffizier bestimmt, ein zweites für die Soldaten und das dritte und größte für die Verschickten. Das Letztere ist gewöhnlich gelb getüncht, wie fast alle Etappenhäuser Sibiriens. Die Einrichtung besteht aus einem gemauerten Ofen 184 und zwei Reihen Pritschen. In dem letzten Bericht des Inspektors der Gefangenentransporte wird gemeldet, daß »alle Etappen und Halbetappen zwischen Tomsk und Atschinsk – wenige ausgenommen – nicht nur zu klein sind, sondern auch baufällig und einer gründlichen Reparatur bedürftig,« eine Äußerung, die ich aus vollster Erfahrung bekräftigen kann. Der Hauptfehler und auch das charakteristische Zeichen aller sibirischen Gefängnisse ist, daß sie zu klein sind. Sie wurden vor 30 bis 50 Jahren erbaut, zu einer Zeit, wo ein Transport selten mehr, als aus 150 Personen bestand und sollen jetzt die dreifache Zahl aufnehmenDer russische Schriftsteller Maximoff erzählt in seinem Buche »Sibirien und die Zwangsarbeit«, daß er in einer dieser Etappen in Westsibirien 512 Personen beisammen fand. Und der bereits erwähnte russische Offizier Orjanoff teilt in seiner Schrift mit, daß in einer Etappe Ostsibiriens, die für 140 Personen bestimmt war, selten weniger als 500 und zuweilen sogar 800 sich befanden.. Die Folge davon ist, wie der Inspektor selbst meldet, »daß bei linder Witterung die Hälfte der Transportiertenzahl unter freiem Himmel, auf bloßer Erde, übernachtet, während sie bei schlechter Witterung alle Zellen, Gänge, ja selbst den Speicher überfüllen. Der Reinlichkeit wird gar keine Aufmerksamkeit gewidmet; fast alle Zellen sind schmutzig, die Fenster können nicht geöffnet werden und trotz der wohlbekannten Überfüllung wird nichts gethan, um auch nur den geringsten Luftwechsel herbeizuführen.«

Als unser Transport nach dem ermüdenden Marsch in der Halbetappe Semiluzhnaja endlich anlangte, mußten sich die Sträflinge erst in Reih' und Glied stellen, um wieder einer genauen Zählung unterzogen zu werden. Als dies geschehen war, wurde das Holzthor geöffnet und 300 mit Ketten belastete Menschen stürzten hinein, stoßend, drängend, kämpfend, um nur früher in die Zelle zu gelangen und sich dort eine Schlafstelle zu sichern. Jeder wußte, daß, wenn es ihm nicht gelingt, einen Platz auf der Pritsche zu gewinnen, er auf dem schmutzigen Boden, auf der Flur oder gar im Hofe 185 übernachten müsse. Manchem wäre es weniger um den günstigen Platz für die eigene Benutzung zu thun, sie erkämpften sich ihn nur um ihn dann für einige Kopeken einem bequemeren Genossen zu verkaufen, der sich keine Schlafstelle zu erstreiten wußte.

Endlich wurde es ruhig und die Häftlinge bereiteten sich das Nachtessen. Wer da reich genug war, kaufte sich von den Soldaten einen Kessel heißes Wasser für zwei Kopeken und bereitete sich einen Thee. Anderen wurde aus der Soldatenküche Suppe gebracht und wer da noch Überreste von seinem Einkauf am Vormittag hatte, der verzehrte sie, auf die Pritsche hingekauert, oder sonstwo hingelehnt. Dieses Nachtessen fällt zuweilen noch viel karger aus, oder muß auch ganz fortbleiben, besonders, wenn die Bauernweiber mit ihren Eßwaren fortbleiben. Sie haben keine Verpflichtung, die Verschickten mit Lebensmitteln zu versehen und die Verbannungsadministration kümmert sich nicht um die Verpflegung; sie begnügt sich, den Häftlingen ein Verpflegungsgeld zu geben und den Bauern, wie auch den Eskortesoldaten zu erlauben, jenen Lebensmittel zu verkaufen. Zur Zeit einer Teuerung ist es den Verbannten unmöglich, mit dem kleinen Betrag, den sie erhalten, auch nur so viel zu kaufen, wie da nötig ist, den Hunger zu stillen. In einem Bezirke Ostsibiriens, wo zu jener Zeit Mißernte war, konnten die Verschickten für die ihnen ausgesetzten zehn Kopeken für den Tag kaum anderthalb Pfund Schwarzbrot erkaufen. Die Etappenoffiziere beklagten sich auch über die Gleichgültigkeit der Regierung gegen die Entbehrungen der Verschickten; sie meinten, es sei ungerecht und grausam, einem Menschen nur anderthalb Pfund Schwarzbrot zu geben und ihn dabei zu zwingen, täglich bei strenger Winterskälte mit Fesseln an den Füßen einen Marsch von 35 Kilometer zu machen. Die bezüglichen Klagen und Vorschläge der Etappenoffiziere wurden, so viel mir bekannt wurde, nicht beachtet, obgleich eine Verordnung der Gefängnis- und Verbannungsabteilung besteht, in welcher die Gouverneure beauftragt wurden, in Zeiten der Teuerung das 186 Verpflegungsgeld der Verschickten zu erhöhen. (Rundschreiben No. 10887 vom 15. Dezember 1880).

Nach dem Abendessen wurden die Häftlinge noch einmal im Hofe aufgerufen, dann wurden an den vier Ecken und bei dem Thore Schildwachen aufgestellt, in jeder Kammer eine Talgkerze angezündet, in den Zellen und Gängen die »Paraschas« aufgestellt, das sind offene Unratskübel aus Holz, und endlich wurden die Häftlinge eingeschlossen.

Mehr als die Hälfte der Zahl der Verschickten lag auf dem schmutzigen Fußboden, ohne Kissen und Decken. Die Luft in diesen Räumen wurde im Verlauf der Nacht über alle Maßen verdorben; davon kann sich nur jener einen Begriff machen, der morgens beim Öffnen der Thüren anwesend war. Ich kann mir's nicht erklären, wie menschliche Geschöpfe unter solchen Umständen bis zu den Goldgruben von Kara gelangen können. Ursprünglich beabsichtigte ich einen befreundeten Etappenoffizier zu ersuchen, er möge mir gestatten, eine Nacht in der Zelle verweilen zu dürfen, aber nachdem ich morgens beim Öffnen die Luft dieses Ortes eingeatmet hatte, da wollte ich diesen Versuch doch nicht mehr wagen.

Der zweite Marschtag der Verschickten, die von Tomsk am 24. August abgegangen waren, glich im ganzen und großen dem vorherigen. Dem kargen, in aller Hast verzehrten Frühstück folgte der Namensaufruf und diesem der Abmarsch. Auch an diesem Tage wurde der Marsch durch den »Priwal« unterbrochen. Nachmittag gelangte der Transport zur ersten Hauptetappe, wo die Eskorte gewechselt wurde und eine vierundzwanzigstündige Rast gehalten werden sollte.

Die Hauptetappe unterscheidet sich von der Halbetappe durch bedeutenderen Umfang und andere Einteilung der Gebäude.

Der Hof ist hier geräumiger, die Zellen etwas größer. Aber die Häuser sind baufällig und werden – was schon wiederholt bemerkt wurde – derart überfüllt, daß nicht die Hälfte des Transportes gebührlich untergebracht werden kann.

Am besten werden die Hauptetappen geschildert von dem 187 Generalgouverneur von Ostsibirien, General Anutschin, in seinem geheimen Bericht an den Zaren im Dezember 1880. Es glückte mir, eine Abschrift dieses Schriftstückes zu erhalten und es heißt da: »Während einer Reise nach Irkutsk besichtigte ich eine große Strafanstalt, worunter auch Stadt- und Etappengefängnisse. Ich bedauere, erklären zu müssen, daß die meisten dieser Bauten in einem schauderhaften Zustand sich befinden, besonders die Letztbezeichneten. Wenige ausgenommen, sind sie baufällig und genügen nicht den geringsten sanitären Anforderungen. Sie sind mit Krankheitskeimen durchsetzt, im Winter kalt und erleichtern die Flucht.«

Ärgeres als hier mit knappen Worten von Etappengefängnissen gesagt wird, habe ich auch nicht behauptet. Wenn diese Baulichkeiten auf den Generalgouverneur einen derartigen Eindruck machten – und es läßt sich voraussetzen, daß sie für seine Inspektion, so weit es möglich war, herausgeputzt wurden – welches mußte dann der Eindruck sein, den sie auf mich machten, der Gelegenheit hatte, sie in ihrem Alltagszustande zu sehen! Ich will jedoch bemerken, daß es auch Ausnahmen giebt, daß sich nicht alle Etappenhäuser zwischen Tomsk und Irkutsk in solch schauderhaftem Zustand befinden. So sah ich z. B. eines im Dorfe Itaskaja bei Marinsk, das sauber und gut erhalten war. Es ist auch möglich, daß ich noch so manches aufgefunden hätte, von welchem dasselbe sich sagen ließe, wenn es mir die Zeit erlaubt haben würde, alle, die sich an dieser Straße befanden, zu besichtigen. Allein im ganzen und großen paßt die Schilderung des Generalgouverneurs vortrefflich.

»Der schauderhafte Zustand« sibirischer Etappengefängnisse scheint mir hauptsächlich eine Folge zu sein der unehrlichen und unfähigen Verwaltung, und der unvermeidlichen Irrtümer eines bureaukratischen Staatssystems. So schlecht diese Etappengefängnisse auch waren – sie kosteten doch sehr viel Geld. Freilich wurde aber die größere Hälfte dieser Beträge zwischen betrügerischen Lieferanten und bestechlichen Beamten geteilt. 188 Ein Inspektor des Gefangenentransports, der die Verhältnisse gründlich kennen mußte, sagte mir, wenn alles Geld, was für diese baufälligen Häuser schon angewiesen wurde, zusammengenommen würde, so könnte man damit, ohne Übertreibung gesprochen, zwischen Tomsk und Irkutsk Etappenhäuser aus massivem Silber aufstellen. In dem erwähnten geheimen Bericht des Generalgouverneurs an den Zaren heißt es auch: »Für Reparaturen dieser Gebäude sind schon große Beträge geopfert worden; erst jüngst wurden 250 000 Rubel für den Bau von Etappenhäusern in Transbaikalien angewiesen. Ich zweifle jedoch, daß unter den bestehenden Verhältnissen ein Resultat erzielt wird. Es läßt sich befürchten, daß die neuen Bauten in Transbaikalien desselben Schicksals teilhaft werden, wie jene in Jeniseisk und Irkutsk.«

Was General Anutschin »befürchtete«, ist geschehen. Sowohl der Inspektor des Gefangenentransports in Ostsibirien, wie auch die Oberbeamten des Gefängniswesens mußten eingestehen, daß die neuen Etappenhäuser völlig »unausreichend« sind.

Die Häftlinge unseres Transports verbrachten Dienstag die Nacht in der Etappe Khaldegewa in derselben Weise, wie die vorhergegangenen in der Halbetappe in Semiluzhnaja. Die Hälfte der Zahl schlief auf dem Boden der Zellen, unter den Pritschen, in den Gängen und atmete dort eine Luft ein, die durch Kohlsäure und den Gestank der unbedeckten »Paraschas« ganz verpestet war.

Mittwoch war der erwähnte Rasttag. Die Häftlinge standen den ganzen Tag müßig im Hofe oder lasen die »Neuesten Nachrichten« in den Zellen. Die Mauern und Pritschen der Zellen sind nämlich mit zahlreichen Inschriften bedeckt, welche die Verschickten eines Transportes für die des nächsten zurücklassen. Es sind Mitteilungen, Grüße an Freunde und Bekannte, Winke und Ratschläge in Chiffren an Brodjaks für eine geplante Flucht, Namen von Verstorbenen, Entflohenen oder Wiederverhafteten, Neuigkeiten aus den Bergwerken und der verschiedenen Etappenhäuser. Die Zellenwände sind eine 189 Art Zeitung der Sträflinge, ihr Inhalt ist von großem Interesse für alle »Reisende auf Staatskosten«. Ein erfahrener Sträfling wird auch vor allem nach seiner Ankunft im Etappenhaus die Zellenwände genau besichtigen, und oft ist ihm auch der Zufall so günstig und zeigt ihm Nachrichten, die für ihn von großer Wichtigkeit sind, die ihm raten, die ihn warnen. Der Direktor der Verbannungs- und Gefängnisabteilung erkannte endlich die Wichtigkeit dieser Mauerinschriften und er gab den Etappenoffizieren Befehl, sie zu vertilgen. Ich zweifle, daß diese Maßregel den von dem Verwalter erhofften Erfolg haben wird. Wie schlau auch die Gefängnisbeamten sein mögen, die Häftlinge sind noch schlauer und wissen sie stets zu überlisten. Ein Sträfling weiß seine Mitteilungen an Stellen anzubringen, wo sie der Beamte nie vermuten würde, die aber ein erfahrener Brodjak leicht auffindet.

Donnerstag kehrte Hauptmann Gudeem mit seinen Soldaten nach Tomsk zurück, da eine andere Eskorte den Transport übernommen hatte. Gerne hätte ich den Zug noch eine Woche begleitet, um das Etappenleben noch gründlicher kennen zu lernen, allein ich hatte in Tomsk gar vieles noch zu thun, und kehrte daher zurück, noch bevor die Eskorte gewechselt wurde.

Das Leben der Verschickten auf dem Marsche währt monatelang in der geschilderten eintönigen Weise. Im Sturm und Sonnenschein, durch Schmutz und Staub marschieren sie langsam gegen Osten, übersetzen Flüsse, ersteigen Berge, oft im strömenden Regen, waten durch Sumpf und Schlamm, nächtigen in einer verpesteten Atmosphäre und nähern sich Tag um Tag immer mehr den – gefürchteten Minen Transbaikaliens.

 


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