George Kennan
Sibirien
George Kennan

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6. Das Leben der auf administrativem Wege Verschickten.

Im vorhergehenden Kapitel habe ich eine Reihe Thatsachen angeführt, um zu kennzeichnen, was in Rußland die »administrative« Verschickung politischer Verbrecher genannt wird; hier will ich versuchen, in getreuer Weise das Leben der politischen Verbrecher an den Orten ihrer »administrativen Verbannung« darzustellen. Die Verschickung »unzuverlässiger« russischer Bürger nach Sibirien ohne Verhör und richterliches Urteil 118 kam erst in der späteren Regierungszeit Alexander II. in Schwang. Wohl erfolgten Verschickungen dieser Art schon früher, aber erst in den Jahren 1878 und 1879, als der Kampf zwischen Polizei und Terroristen am heftigsten war, wurden sie allgemein und dutzendweise wurden Personen nach Sibirien geschickt, die in Verdacht liberaler Gesinnung, oder gar der Sympathie mit den Revolutionären standen. Wurden bei einem jungen Manne verbotene Bücher oder Exemplare der Zeitung »Bote des Volkswillens« gefunden, so gab das genügenden Grund zu einer Verbannung nach Sibirien. Wenn ein Student im enthusiastischen Streben zur Hebung der Volksbildung in einer Vorstadt von Petersburg eine Abendschule für Arbeiter eröffnete, so wurde er auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt. Spürte die Polizei auf, daß einige junge Leute nächtlich zusammen kommen, so wurden sie in die Liste der »Unzuverlässigen« verzeichnet und wiederholte sich diese Zusammenkunft, so traf die Regierung »energische Maßregeln zur Aufrechthaltung der gesellschaftlichen Ordnung« und verschickte die unglücklichen jungen Leute nach Sibirien, die vielleicht nur zusammen kamen, um die Werke Spencers oder Stuart Mills zu lesen und zu besprechen. Daß Freunde und Verwandte bekannter Revolutionäre auf administrativem Wege verschickt wurden, war selbstverständlich; lange vor der Ermordung des Zaren Alexander II. wurden 600 bis 800 junge Leute aus allen Gesellschaftskreisen verhaftet und ohne gerichtliches Urteil, einzig nur auf Befehl des Ministers nach Sibirien verbannt. Vor Ende des Jahres 1880 gab es in Westsibirien kaum einen nennenswerten Ort, wo nicht administrativ Verschickte lebten; ganze Kolonieen befanden sich in Tara, Tjukalinsk, Ischim, Jalutorfsk, Semipalatinsk, Kokchetaw, Akmolinsk, Kurgan, Surgut, Ustj-Kamenogorsk, Omsk, Tomsk und Berezoff.

Damals gab es auch keine gesetzliche Bestimmungen über die Behandlung dieser Leute. Verschickung auf administrativem Wege war eine außerordentliche Maßregel, die ganz von der Willkür der Behörden abhängig war. Auf administrativem 119 Wege konnte jemand auf ein Jahr, auf zehn, für lebenslang verschickt werden, in die dürren Steppen des Irtisch, oder in die eisige Wildnis von Jakutsk. Er konnte als Unmündiger, als Zwangskolonist, als Sträfling behandelt werden – dem Minister des Innern gegenüber besaß er kein gewährleistetes Recht; seine Lage war daher ärger, als jene des gemeinen Verbrechers. Dieser wußte wenigstens, wie lange seine Strafe währt und wofür sie ihm zugesprochen wurde; seine staatsbürgerlichen Rechte waren vom Gesetz bestimmt und dieses gewährte ihm auch einigermaßen Schutz gegen Willkür der Beamten. Der »Administrative« hatte nichts von alledem. Er stand außerhalb des Gesetzes, seine Verbannung durfte von den Behörden nach Gutdünken verlängert werden, er wußte nicht, ob die Lokalbehörden nicht die für ihn geltenden Bestimmungen verändert: er war rechtlos als Bürger und rechtlos als Gefangener. Die einzige Beschränkung der Macht der Lokalbehörden sollten die geheimen Vorschriften des Ministers bilden, die von Zeit zu Zeit erlassen wurden. Allein diese waren zumeist ungenügend und widerspruchsvoll, so daß jeder Beamte doch ganz nach seinem Gutdünken handelte.

In dem einen Orte waren die Verschickten genötigt, täglich auf der Polizei zu erscheinen, ihre Namen in das Verzeichnis zu schreiben und den Isprawnik persönlich Bericht zu erstatten; in dem anderen wieder mußten sie sich eine demütigendste, beständige Aufsicht gefallen lassen, die nicht einmal vor dem Schlafzimmer der Frauen Halt machte. Dieser Isprawnik erlaubte ihnen, durch Unterricht erteilen, oder in der Ausübung ärztlicher Praxis einiges zu verdienen, jener wieder ließ sie ins Gefängnis setzen, weil sie Musikunterricht gaben, oder eine Dosis Chinin verschrieben. Ein Verbannter in Ustj-Kamenogorsk dürfte sich ohne Erlaubnis drei bis vier Meilen weit entfernen, ein anderer dagegen in Ischim wurde in ein UlusEinsame Jakutenhütten. In einem folgenden Kapitel ist ausführlicher davon die Rede. (A. d. Übers.). der Provinz Jakutsk verschickt, weil er – nach dem 120 einige 100 Meter entfernten Wald ging, um Beeren zu pflücken. Überall Unregelmäßigkeiten und Mißverständnisse, die täglich zu unangenehmen Erörterungen zwischen Lokalbehörden und Verbannten führten.

So standen die Dinge bis zum Jahre 1882, wo der Zar gesetzliche Vorschriften für alle Verbannte erließ. Ich will diese Vorschriften in aller Kürze durchgehen und an ausgewählten Beispielen darzulegen versuchen, welchen Einfluß sie auf das Leben der Verbannten in Sibirien auszuüben vermochten.

Diese Vorschriften enthalten 40 Paragraphen und füllen fünf engbedruckte Oktavseiten. Höchst auffällig ist, daß diese Schrift, die sich fast ausschließlich nur auf Personen bezieht, die auf administrativem Wege verschickt werden, nirgends die Worte »Verbannung« oder »Sibirien« enthalten; möglich, daß den Verfasser die Scham davon abhielt. In diesem Schriftstück wird die Verbannung nur durch eine einzige Stelle angedeutet, sie lautet:

»Personen, welchen bestimmte Wohnorte zugewiesen sind, stehen kraft dieser Vorschriften für die Dauer ihres Aufenthalts unter Aufsicht der Polizei« (§ 2).

In diesen farblosen Worten ist nichts enthalten, was besagt, dieser »bestimmte Wohnort«, der da »zugewiesen« wurde, könne auch nahe dem Nordpol liegen, 8000 Kilometer entfernt von Petersburg. Ein harmloser Mensch könnte diese ganze Schrift auswendig lernen, ohne dabei auf den Gedanken zu kommen, sie beziehe sich auf Männer und Frauen, die ohne Rechtsspruch an die Grenze der Mongolei oder in die Nähe des Nordpols in Ulusse verbannt wurden. Der Verfasser stellt dabei die Polizeiaufsicht als Hauptsache hin und das, was er in lieblicher Umschreibung »bestimmte Wohnorte« nennt, tritt in den Hintergrund.

Vielleicht wäre selbst der Russen Moralgefühl erwacht, wenn der Verfasser sein Werk gebührend betitelt hätte: »Vorschriften über die Regulierung des Betragens der Männer und Frauen, die ohne Rechtsspruch vom Minister des Innern nach Sibirien 121 verschickt werden.« Die trockenen Worte, »ohne Rechtsspruch nach Sibirien verschickt«, klingen freilich nicht sehr angenehm, dagegen ist in der Umschreibung, »Personen, welche der gesellschaftlichen Ordnung schädlich sind, können auf administrativem Wege bestimmte Wohnorte zugewiesen werden«, nichts enthalten, was gefühlvolle Gemüter in unangenehme Erregung bringen könnte. Wenn man erfährt, daß ein russischer Bürger, der keines Verbrechens sich schuldig machte, von der Polizei verhaftet und nach einem sibirischen Dorf geschickt werden kann, mit dem Zwange, jahrelang dort bleiben zu müssen, so drängen sich von selbst die Fragen auf: »Wie lebt er dort? Wie hat das Gesetz für seine Bedürfnisse gesorgt? Was ist ihm erlaubt, was verboten? Wie wird er gewöhnlich behandelt?« Auf alle diese Fragen geben auch diese »Vorschriften« Bescheid, und da diese amtlichen Offenbarungen natürlich mehr Gewicht haben, als Aussagen Verbannter, will ich den kurzen Auszug dieser »Verfassung«, wie es die Verbannten mit bitterem Humor oft nennen, fortsetzen:

»Das Maximum der Verbannung unter Polizeiaufsicht wird auf fünf Jahre festgesetzt (§ 3).

Sobald ein Verbannter an seinem Bestimmungsort anlangt, soll er seinen Paß abgeben und dagegen ein Schriftstück erhalten, welches seinen Namen, Rang und früheren Wohnsitz angiebt; auch soll dem Betreffenden mitgeteilt werden, in welchem Orte ihm der Aufenthalt bewilligt wird (§ 5).

Er darf den Bestimmungsort nicht ohne Erlaubnis der Behörde verlassen und muß einen Wohnungswechsel der Polizei 24 Stunden früher bekannt machen (§ 7).

In dringenden Fällen, und wenn seine Aufführung den Beifall der Polizei erlangt, kann ihm gestattet werden, seinen Wohnort auf bestimmte Zeit zu verlassen. Will er jedoch über die Grenzen des Distrikts hinaus, so muß er dazu die Bewilligung des Gouverneurs haben, und zur Überschreitung der Grenzen der Provinz, jene des Ministers des Innern (§ 8).

Ein administrativ Verschickter, dem eine solche Erlaubnis 122 bewilligt wurde, muß mit einem Passe und einer genauen Vorschrift der Route versehen sein. Er darf die Reise nicht unterbrechen, außer er ist durch Krankheit dazu gezwungen, was er sogleich der nächsten Behörde anzeigen muß. Er ist verpflichtet, in jedem Ort den er passiert, der Polizei seine Ankunft zu melden, und wenn sein Betragen verdächtig ist, so kann er zu jeder Zeit und von jeder Stelle nach seinem Wohnorte zurückgeschickt werden (§§ 9–16).

Administrativ Verschickte müssen auf die erste Vorladung hin persönlich bei der Polizei erscheinen; diese ist berechtigt, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht deren Wohnungen zu betreten, hier Haussuchungen und Konfiskationen vorzunehmen (§§ 17–19).

Administrativ Verschickte sollen keine Staats- oder Privatämter bekleiden, sie dürfen nicht ohne besondere Erlaubnis des Ministers Schreiberstellen annehmen, weder Gründer, noch Vorsitzende, noch Mitglieder von Vereinen sein (§§ 20–23).

Administrativ Verschickte dürfen nicht pädagogisch wirken, sie dürfen nicht Schüler oder Lehrlinge in Kunst und Gewerbe unterweisen, nicht öffentliche Vorträge halten oder an Versammlungen wissenschaftlicher Vereine teilnehmen, nicht an Theaterdarstellungen sich beteiligen, wie ihnen überhaupt jedes öffentliche Wirken verboten ist. Sie dürfen nicht Eigentümer oder Angestellte von photographischen und lithographischen Anstalten, Buchdruckereien oder Buchhandlungen sein, überhaupt mit keinem Erzeugnis der Presse handeln; sie dürfen keine Theehäuser oder Grogschenken halten, überhaupt keine geistigen Getränke verkaufen (§ 24).

Administrativ Verschickte dürfen weder in öffentlichen, noch in Privatschulen ohne besondere ministerielle Bewilligung aufgenommen werden. Sie dürfen, sich selbst und ihre nächsten Angehörigen ausgenommen, niemanden bei Gericht vertreten; sie dürfen ohne Erlaubnis des Ministers, weder als Ärzte, noch Geburtshelfer, noch Apotheker, noch Chemiker berufsmäßig wirken (§§ 25–27).

123 Alle hier nicht erwähnten Beschäftigungen sind administrativ Verschickten gestattet; doch kann der Gouverneur der Provinz jede Beschäftigung verbieten, die seiner Einsicht nach die gesellschaftliche Ordnung und die Ruhe stören könnten (§ 28).

Der Minister des Innern ist berechtigt, an administrativ Verschickte gerichtete Briefe und Telegramme zurückzubehalten und sowohl die für sie einlaufenden, wie auch von ihnen abzusendenden, beabsichtigte Briefe unter Polizeiaufsicht zu stellen (§ 29).

Renitenz gegen die in §§ 1 bis 29 gegebenen Vorschriften wird mit Gefängnis von drei Tagen bis einen Monat bestraft (§ 32).

Administrativ Verschickte, die mittellos sind, erhalten für sich und nötigenfalls auch für ihre freiwillig mitgekommene Familie eine Unterstützung, die ihnen jedoch entzogen wird, wenn ihr Betragen von der Behörde nicht gebilligt wird (§§ 33–37).

Administrativ Verschickte werden in Krankheitsfällen in den öffentlichen Krankenhäusern auf Kosten der Regierung aufgenommen. (§ 38).

Administrativ Verschickte, die nicht die Mittel haben, um nach Ablauf ihrer Verbannungszeit in ihre Heimat zurückzukehren, erhalten von der Regierung, gemäß kaiserlichen Befehls vom 10. Januar 1881 eine Unterstützung, falls der Minister des Innern für diese Personen nicht besondere Verfügungen getroffen hat. (§ 40).« – –

So lautet auszugsweise die »Verfassung« der administrativ Verschickten. Die deutsamen und irreführenden Ausdrücke wie »Personen unter Polizeiaufsicht«, »Anweisung eines bestimmten Wohnortes«, »Wohnort«, habe ich überall durch »Administrativ Verschickte«, »Verbannung« und»Verbannungsort« ersetzt, was wahrer und gebührlicher ist.

Wenn ein Verschickter nach wochenlanger, monatelanger Reise von Etappe zu Etappe, endlich an das Ziel gelangt ist, wird er zur Polizei geführt, die ihm seinen »Erlaubnisschein zur Ansiedelung« und ein Exemplar der »Vorschriften« 124 übergiebt. Wohl ist in seinem Scheine nicht angezeigt, daß er ein Verschickter sei, aber wer sollte das nicht wissen, schon darum, weil ihn fast alle unter Bewachung anlangen sahen? Die Hauswirte vermieten an ihn ungern oder überhaupt nicht eine Wohnung, denn sie denken, ein politischer Verbannter muß wohl ein gefährlicher Mensch sein, den fern zu halten, sehr ratsam ist, oder sie wollen die Annehmlichkeit vermeiden, daß die Polizei zu jeder beliebigen Stunde ihr Haus besucht und vielleicht auch durchsucht. Überdies könnte er noch den Auftrag erhalten, den Mieter zu überwachen und dabei jederzeit auskunftshalber zur Polizei citiert werden, mit der er am liebsten gar nichts zu thun hat.

So muß nun der Verschickte von Haus zu Haus wandern, müde und matt, überall mit scheelen Blicken angesehen. Und da begreift er nun, warum die wegen gemeinen Verbrechens Verschickten den »Erlaubnisschein« einen »Wolfspaß« nennen.

Endlich oft mit Beistand gleichartiger Verschickten, findet er doch ein karg ausgestattetes Stübchen; er packt seine Habseligkeiten aus und geht daran, seine Nachbarschaft kennen zu lernen. Die wichtigste Frage für ihn ist: wovon leben? Er hat in Rußland Weib und Kind unversorgt zurückgelassen, in einem Zustand, der ihm bisher nicht wenig Sorgen machte und nun kommt noch die Sorge für seinen eigenen Bedarf dazu. Was nun? Er prüft die »Vorschriften« und findet da, daß der mittellose Verschickte laut § 33 eine »Unterstützung« aus der Staatskasse erhält. Diese Unterstützung beträgt, was er bald erfahren kann, sechs Rubel für einen Monat. Er erkundigt sich weiter und erfährt auch, daß dieser Betrag nicht die Hälfte des Allernötigsten decken kann, er ist daher auf einen Verdienst angewiesen. Er weiß, daß er in einem weltentlegenen sibirischen Dorf seine geistigen Fähigkeiten nicht so verwerten kann, wie in Petersburg oder Moskau, aber er hofft doch irgend eine ausführbare Beschäftigung zu erlangen, zumal er nicht sehr wählerisch sein will. Er hat eine 125 Universitätsbildung, kennt einige Sprachen, ist Arzt, Photograph, Schriftsteller, ein guter Lehrer, tüchtiger Rechner oder Musiker – kurz, er glaubt, daß es ihm selbst hier nicht schwer fallen würde, wenigstens seinen Bedarf zu verdienen. Aber! er prüft die »Vorschriften« weiter und findet, daß ihm unter Androhung einer Gefängnisstrafe verboten ist, zu wirken als: Arzt, Lehrer, Chemiker, Photograph, Bibliothekar, Schreiber u. s. w., daß ihm also fast jede Thätigkeit, die er ausüben könnte, versagt ist. Um als Schreiner oder Schuster, Schmied oder Wagner sein Brot zu verdienen, dazu fehlt ihm die nötige Übung; um Kaufmann zu werden, fehlt ihm jedes Kapital, ja er kann sich nicht einmal als Kutscher verdingen, denn er darf den Ort nicht verlassen. Das Einzige, was ihm übrig bleibt, ist der Ackerbau. Rüben zu bauen, Kartoffeln zu hacken verbieten die »Vorschriften« doch noch nicht; es ist keine Gefahr vorhanden, daß er in diesen Boden die Saat der Revolution streut. Doch, was da Grund und Boden in der Nähe ist, gehört der Gemeinde und ist unter den Bewohnern zum Anbau aufgeteilt; in einer größeren Entfernung wäre wohl geeignetes Feld noch zu finden, allein – er darf ja den Ort nicht verlassen. In dieser trostlosen Lage, verbannt nach Sibirien und durch die »Vorschriften« in allem gehemmt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als vom Gouverneur oder Minister die Gnade zu erbitten, es möge ihm gestattet werden, sein Brot zu verdienen.

Im Jahre 1883 baten die politischen Verschickten von Akmolinsk den Generalgouverneur Kolpakofski, es möge ihnen gewährt werden, Musikunterricht zu erteilen, da sie von der Unterstützung der Regierung nicht leben könnten und ihnen auch sonst kein Beruf offen stände. Diese Bitte war nicht unbescheiden, zumal aus den Tasten des Klaviers nichts staatsgefährliches herauszuschlagen ist. Doch der Herr Generalgouverneur war anderer Ansicht. Er meinte vielleicht, dieser Unterricht könne den Kindern von Akmolinsk ein revolutionäres Gift einträufen, oder wähnte, daß Not und Entbehrung die besten Genossen des politischen Verschickens wären – das 126 Gesuch wurde abschlägig beschieden, mit der Begründung, daß Musikunterricht auch zu den verbotenen Beschäftigungen gehört; sie mögen sich, wenn sie Mangel am Nötigen haben, bei den Kirgisen als Tagelöhner verdingen.

Ungefähr zu gleicher Zeit baten die »Politischen« von Ustj-Kamenogorsk den erwähnten Generalgouverneur, es möge ihnen ein Stück Acker in der Nähe des Verbannungsortes zum Anbau überlassen werden. Sie erklärten sich bereit, den Boden zu verbessern, Pacht zu bezahlen, wenn er etwas trägt und endlich auch nach Verlauf ihrer Verbannungszeit alle vorgenommenen Verbesserungen dem Staate ohne jede Entschädigung zu überlassen. Auch dieses, für den Staat recht günstige Angebot erhielt als Antwort, sie mögen sich bei den Kirgisen verdingen. – Diese Beispiele amtlicher Brutalität wurden mir von einem politischen Verbannten in der Provinz Semipalatinsk mitgeteilt und ich glaube auch, daß sie wahr sind. Wohl habe ich General Kolpakofski nicht persönlich kennen gelernt, habe also daher kein selbst gewonnenes Urteil über seinen Charakter, aber ich lernte den Gouverneur der Provinz Akmolinsk kennen und dieser machte auf mich den Eindruck, als ob er einen derartigen Bescheid seinem Vorgesetzten zur Unterschrift vorlegen könnte. Übrigens habe ich in Ostsibirien Gelegenheit gehabt, noch viel Ärgeres zu beobachten.

Nicht in ganz Sibirien werden die »Vorschriften« so rücksichtslos durchgeführt; die Bewilligung hängt eben ganz von dem Gutdünken der Beamten ab. General Tseklinski, der verstorbene Gouverneur der Provinz Semipalatinsk, behandelte die ihm untergeordneten Verschickten sehr menschlich und nachsichtsvoll; nicht daß er mit ihren Ansichten etwa sympathisiert hätte, sondern weil er ein Gentleman war, ein menschenfreundlicher Beamter. Auch von Herrn Petukoff, der zur Zeit meiner Anwesenheit Gouverneur der Provinz Tomsk war, läßt sich dasselbe zum Lob sagen. Dagegen wurden in der Provinz Tobolsk die administrativ Verschickten stets sehr hart behandelt, nicht selten sogar ganz brutal. Im April 1888 haben 127 neunzehn Verbannte aus der Stadt Surgut (in der Provinz Tobolsk, am rechten Ufer des Ob, mit 1300 Einwohnern) bei dem Minister des Innern gegen das grausame Verfahren des Gouverneurs Troynitzky sich beklagt und erklärt, ihre Lage wäre so unerträglich, daß sie dieselbe nicht länger erdulden könnten, wären die Folgen auch noch so arg.

In welcher zu verzweifelnden Lage diese Verschickten damals sich befinden mochten, bekundet am besten der Umstand, daß einige von ihnen kurz vor der Beendigung ihrer Strafzeit sich befanden; es galt den Schmerz nur eine Weile noch zu verbeißen und sie waren frei. Allein wie alles, hat auch die menschliche Widerstandskraft ihre Grenzen, und dahin waren sie gelangt. Welchen Erfolg ihr Aufschrei hatte, das läßt sich aus der »Sibirischen Zeitung« erkennen, die in aller Kürze mitteilt, daß aus Surgut »neunzehn unverschämte« politische Verbannte »entfernt« wurden, und daß der Gouverneur dem IsprawnikPolizeileiter des Distrikts. von Surgut und dem Polizeileiter von Tobolsk für ihre bei dieser »Entfernung« geleisteten Dienste den »amtlichen Dank« ausdrückt.

Ich habe nicht erfahren, in welchen weltverlassenen Winkel Sibiriens diese neunzehn Unglücklichen verschickt wurden, um die Dreistigkeit zu büßen, das Herz des Ministers des Innern, des Grafen Demetrius Tolstoi rühren zu wollen. Es giebt dort nur wenig »Wohnorte«, die ärger sind als Surgut. Einer davon wäre Berezow am Ob, 3450 Meilen von Petersburg entlegen, der zweite Turukhansk, eine »Stadt« mit zweiunddreißig Häusern und 181 Einwohnern, nahe dem Nordpol, und der dritte wären die berüchtigten Ulus in der Provinz Jakutsk; dahin werden auch gewöhnlich jene geschickt, die mit »unverschämten« Klagen an den Minister sich wenden.

Der administrativ Verschickte, der einem Gouverneur von der Art des letzterwähnten untersteht, wird genötigt, an den Minister sich zu wenden. Geldmittel besitzt er nicht, die 128 wenigen Rubel die er von der Regierung erhält, sind unzureichend, die »Vorschriften« werden so rücksichtslos in Anwendung gebracht, daß es ihm unmöglich ist, etwas zu erwerben. Unter solchen Umständen bittet ein Verschickter, der Arzt ist, Seine Excellenz möge ihm gestatten, in dem Orte, wo er ist und wo kein Arzt sich befindet, seinen Beruf ausüben zu dürfen. Man sollte meinen, daß diese Bitte nicht nur einfach bewilligt wird, daß sie mit Dank angenommen wird, zumal die Zahl der Ärzte im Lande unzureichend ist, was auch ein »geheimer« Bericht meldet, den der Generalgouverneur von Ostsibirien an den Zaren im Jahre 1881 überschickte; eine Abschrift davon befindet sich in meinem Besitze. Allein der Herr Minister ist ganz anderer Ansicht!

Im Jahre 1883 richtete die medizinische Gesellschaft von Twer, eine Stadt in der Nähe Moskaus, eine Denkschrift an den Minister, worin sie im Hinblick auf den Mangel an Ärzten in Sibirien die Aufmerksamkeit Seiner Excellenz auf die große Zahl Ärzte und Studierende der Medizin lenkt, die dort in der Verbannung leben. Und was war die Antwort auf diesen ebenso vernünftigen wie menschlichen Antrag? Die Gesellschaft wurde aufgelöst und zwei ihrer Mitglieder, die als Spitalärzte im Staatsdienst standen, wurden ihres Amtes enthoben. Wenn schon Leute, die die Zulassung der Verschickten zur ärztlichen Praxis beantragen, derart gemaßregelt werden, so läßt sich leicht vorstellen, was aus jenen verbannten Ärzten wird, die ohne Bewilligung ihren Beruf auszuüben wagen.

Im Jahre 1880 lebte in Charkoff ein Student der Heilkunde, Namens Nifont Dolgopoloff. Er hatte an der dortigen Universität sein Studium vollendet und war just im Begriffe, sein letztes Examen zu machen, als einer jener Studentenrummel stattfand, die in Rußland nicht selten sind. Hier gestaltete sich der Tumult ernster als gewöhnlich, so daß die Universitätsbehörde militärischen Beistand forderte; eine Kosakenabteilung trieb die erregte Menge auseinander, wobei sie von 129 ihren kurzen Peitschen den ausgiebigsten Gebrauch machte. Herr Dolgopoloff hatte eigentlich an dem Tumult gar nicht teilgenommen, er befand sich zufällig auf der Straße, als die Kosaken mit ihren Peitschen einhieben und da übermannte ihn die Entrüstung, so daß er einem Civilpolizisten zurief: »Schämt Euch doch! Es ist schändliche Feigheit, auf wehrlose Menschen mit Peitschen einzuhauen!« Der Angerufene meldete dies der Polizei und Dolgopoloff wurde verhaftet, um einige Monate später – natürlich ohne vor einen Richter gestellt zu werden – auf »administrativem Wege« nach Sibirien zu wandern. Im Jahre 1883 wurde er aufgefordert, dem neuen Zaren den Huldigungseid zu leisten und da er es verweigerte, wurde er von seinem zugewiesenen Wohnort Kurgan nach Tjukalinsk verschickt. Der dortige Isprawnik Iljin war höchst brutal und bald kam Dolgopoloff mit ihm in Konflikt, weil jener die »Vorschriften« nicht strenge einhielt. Dem edelsinnigen jungen Mann, der ein recht tüchtiger Arzt war, wurde es oft unmöglich, hilfesuchende Kranke zurückzuweisen. Er strebte nicht danach, eine ärztliche Praxis zu erlangen, er brauchte sie auch nicht als Erwerbsquelle, er konnte es nur nicht überwinden, einem Bauer, der im Fieberstand zu ihm kam, oder mit einem Augenstaar behaftet war, seinen Beistand zu versagen. Es kam zur Kenntnis des Isprawniks, der nun den jungen Arzt vor sich kommen ließ und ihn barschen Tones auf Paragraph 27 der »Vorschriften« aufmerksam machte. Er verbot ihm, den Bauern irgendwelchen ärztlichen Beistand zu leisten, sei es auch unentgeltlich, und drohte ihm bei künftiger Außerachtlassung des Verbotes mit Gefängnisstrafe. Doktor Dolgopoloff that was er mußte, er leistete Gehorsam, aber seine Beziehungen zu dem Isprawnik blieben feindlich wie zuvor. Nun geschah es im Herbst 1883, daß der Sohn des reichen und angesehenen Bürgermeisters von Tjukalinsk, des Herrn Balakhin, bei der Erprobung seiner Waffe zufällig seine Mutter anschoß. Die Entfernung der Kugel machte eine schwierige Operation nötig, die der städtische 130 Arzt, ein nervöser schüchterner Herr, Namens Hull, nicht vorzunehmen wagte. Er riet, Doktor Dolgopoloff zu berufen, der ein sehr geschickter Chirurg wäre. Herr Balakhin eilte zu dem jungen Arzt und bat ihn um Beistand.

»Ich darf nicht,« sprach dieser.

»Aber es gilt ein Menschenleben!« rief der Bürgermeister aus.

»Ich darf nicht. Meine Beziehungen zum Isprawnik sind recht schlecht, ich habe wegen unerlaubten ärztlichen Praktizierens einmal schon Unannehmlichkeiten gehabt und er hat mir jede Wiederholung mit Strafandrohen verboten.«

»Sie wurden wegen Ihrer menschenliebenden Gesinnung nach Sibirien verbannt und scheuen es nun einer angedrohten Strafe wegen, ein Menschenleben zu retten!« rief nun Balakhin verzweifelt aus.

»Wenn Sie die Sache so auffassen, dann muß ich freilich Ihnen zu Willen sein, geschehe, was da will,« antwortete der junge Arzt und ging mit ihm zur Verwundeten. Die Untersuchung der Wunde zeigte ihm, daß hier keine momentane Gefahr vorhanden sei, er ersuchte daher den Bürgermeister bei dem Gouverneur Lissagorski in Tobolsk telegraphisch anzufragen, ob er gestatte, daß der verbannte Arzt eine Operation vornehme, die der städtische Arzt nicht vornehmen will. Eine Stunde später traf die Antwort ein, daß die Sache nicht zur Kompetenz des Gouverneurs gehöre, daß sich der Bürgermeister an die Sanitätsabteilung des Ministerium des Innern wenden müsse.

»Sie sehen, was Ihren Vorgesetzten ein Menschenleben gilt,« bemerkte nun Herr Doktor Dolgopoloff bitter. Dann nahm er die Operation vor, unterband eine verletzte Ader und die Frau war außer jeder Gefahr.

Am nächsten Tag wurde der junge Arzt verhaftet und gefangen gesetzt; dann begann ein langwieriger Prozeß, dessen Akten im Gerichtsarchiv zu Tobolsk folgende Aufschrift haben:

»Unerlaubtes Entfernen einer Kugel aus dem Bein der 131 Frau Balakhin, Ehegenossin des Bürgermeisters von Tjukalinsk, durch den administrativ Verbannten Nifont Dolgopoloff.«

Dieser Vorfall erregte in dem Städtchen großes Aufsehen; täglich erkundigten sich die Einwohner nach seinem Befinden – er erkrankte nämlich bald im Gefängnis am Typhus – und brachten ihm Blumen und Speisen.

Diese sympathische Äußerungen schüchterten den Isprawnik ein, so daß er den Erkrankten in dessen Wohnung überführen ließ, zugleich jedoch erstattete er dem Gouverneur amtlichen Bericht, daß der eines Verbrechens angeklagte administrativ Verbannte Nifont Dolgopoloff einen sehr gefährlichen Einfluß auf die Einwohnerschaft ausübe, die Leute brächten ihm Blumen und Speisen ins Gefängnis, es sei daher zu befürchten, daß sie ihm auch zur Flucht verhelfen. Unter solchen Umständen wäre ihm kaum möglich, die Verantwortlichkeit für den Genannten zu tragen, er müsse daher Seine Excellenz bitten, ihn nach Surgus oder in eine andere Gegend der Provinz zu verschicken, wo die Aufsicht viel leichter wäre. – Daß Herr Doktor Dolgopoloff am Typhus schwer krank darnieder läge, erwähnte er ganz und gar nicht. Der Gouverneur erteilte telegraphischen Befehl, der Gefangene möge sofort auf dem Etappenweg nach Surgut verschickt werden. Der Isprawnik gab diesen Befehl dem kommandierenden Offizier der Etappe bekannt und ersuchte ihn, die Ausführung vorzunehmen. Dieser aber weigerte sich mit der Begründung, es sei ihm streng verboten, erkrankte Verbannte von den Lokalbehörden zu übernehmen. Der Kranke könnte unterwegs sterben und er würde dann dafür zur Verantwortung gezogen werden. Der Isprawnik wollte jedoch Dolgopoloff, den er jetzt noch mehr als früher haßte, sofort aus dem Orte haben, er begab sich daher mit einigen Polizisten und einem Bauernkarren zur Wohnung des Erkrankten, um ihn in dieser Weise, von seinen Leuten eskortiert, zu verschicken. Doktor Dolgopoloff lag im Bette und war so schwach, daß er sich nicht rühren konnte. Seine Frau widersetzte sich diesem barbarischen Transporte und wurde 132 dafür an Händen und Füßen gebunden, und nur mit einem Nachthemd bekleidet, wurde der Kranke auf einem Bettlaken hinausgetragen und auf den Karren gelegt. Und das geschah am 24. Oktober 1883 bei rauher Witterung. Dolgopoloff hätte wahrscheinlich diesen Transport nicht überstanden, würde nicht ein barmherziger Zuschauer seinen Pelzrock ausgezogen haben, um den Kranken damit zu bedecken. In diesem Zustand wurde er nach dem 200 Kilometer entfernten Städtchen Ischim geführt, wo sich damals elf politische Verschickte befanden, darunter auch der bekannte russische Novellist Machet. Einige von ihnen kannten Doktor Dolgopoloff persönlich, alle aber kannten seine Erlebnisse. Als sie sahen, in welchem Zustand er sich befand, begaben sie sich zum Isprawnik ihrer Stadt und erklärten, sie würden mit allen Mitteln den Weitertransport zu verhindern versuchen. Sie ließen ihn ferner durch den städtischen Arzt untersuchen und veranlaßten den Isprawnik, daß er amtlich den Thatbestand aufnehme; dann fragten sie bei dem Gouverneur Lissogorski in Tobolsk an, ob er dem Isprawnik von Tjukalinsk die Vollmacht gab, in dieser Jahreszeit einen Schwerkranken, nur mit einem Nachthemd bekleidet, auf einem Bauernkarren zu transportieren. Von dem Sachverhalt verständigt, telegraphierte nun der Gouverneur an den Isprawnik von Ischim, der junge Arzt möge dort im Spital verpflegt werden; auch den Befehl der Verschickung nach Surgut hob er auf.

In Ischim erzählten sich die Leute, der Gouverneur hätte die gute Gelegenheit benutzt, um dem Isprawnik von Tjukalinsk 500 Rubel abzupressen, als Belohnung, daß er ihn nicht für die Gesetzesübertretung bestrafe. Ich weiß nicht, was daran Wahres ist, aber ich weiß, daß allgemein als Thatsache galt, der Herr Gouverneur verkaufe die Amtsstellen an die Meistbietenden und zwar in der Form, daß sie sich von ihm das Geld im Kartenspiel abgewinnen lassen mußten. – Während meiner Anwesenheit in Sibirien waren zehn Isprawniks in Strafuntersuchung. Diese Untersuchungen zogen 133 sich ins Unendliche, aus Gründen, die sie selbst und ihre Vorgesetzten am besten wissen. Ich zweifele gar nicht, daß sie alle noch heute in Amt und Stelle sind.

Doktor Dolgopoloff blieb bis zu seiner Genesung im Krankenhaus zu Ischim, dann wurde er nach einem anderen Bestimmungsorte verschickt. Später kam er nach der Provinz Semipalatinsk, wo seine Lage um vieles besser war und wo er, wie ich zuletzt erfuhr, mit anthropologischen Forschungen über die Kirgisen sich beschäftigteEine genaue Schilderung der Behandlung des Dr. Dolgopoloff seitens des Isprawniks von Tjukalinsk veröffentlichte die in Tomsk erscheinende »Sibirische Zeitung«, woher es auch die Wochenausgabe der Londoner »Times« vom 11. Januar 1884 entnahm. Die Censur gestattete jedoch dem russischen Blatte nicht die Bemerkung, daß es sich hier um einen politischen Verschickten handle. Die Sache wurde daher weniger beachtet, als sie es verdient hätte. Manches jedoch, was diesen Vorfall betrifft, ist hier zum erstenmal veröffentlicht..

Ich habe diesen Vorfall in so ausführlicher Weise mitgeteilt, weil er nicht nur kennzeichnend ist für die Art, in der »unzuverlässige« Leute in Rußland behandelt werden, sondern auch, weil es erklärlich macht, warum die erwähnten Verbannten von Surgut eine Beschwerde an den Minister des Innern zu richten wagten. Hier wurde nämlich einer von ihnen, Namens Leo Iwanoff, durch Grausamkeit und Gleichgültigkeit der Beamten, wörtlich zu nehmen, gemordet und zwei andere wurden durch die Marter körperlich ganz gebrochen, sie selbst bezeichneten sich als die »Verfluchten«. Da sie später ob ihrer »Unverschämtheit« nach einer noch ärgeren Gegend verschickt wurden, so sind sie jetzt wahrscheinlich nicht mehr am Leben und damit auch aller Leiden ledig.

Wenn der administrativ Verschickte es dahin gebracht hat von der Sorge um die kümmerliche Existenz endlich frei zu sein, so fühlt er erst die Demütigung der Polizeiaufsicht und der Briefkontrolle. Die Polizisten, die ihn bewachen, sind oft gemeine Leute mit einer verbrecherischen Vergangenheit. Manche dieser Polizeileiter und noch mehr dieser Polizeisekretäre sind 134 Strolche, die wegen gemeiner Verbrechen nach Sibirien verbannt wurden und nach Verlauf ihrer, in Zwangsarbeit verbrachten Strafzeit unter anderem Namen Polizeidienst nehmen. Die Anfangsbuchstaben der Namen von ungefähr zwanzig solcher Sträflinge in Polizeiuniform und deren Wohnorte wurden von den liberalen sibirischen Zeitungen veröffentlicht. Solchem Gesindel ist in manchen Gegenden Sibiriens Ehre, Gesundheit und Leben vieler intelligenter Verschickter beiderlei Geschlechts anvertraut, es ist daher nicht zu verwundern, daß diese oft beschimpft und in brutaler Weise behandelt werden. Ich kenne persönlich manchen Polizeibeamten in Sibirien, z. B. den Polizeileiter von Minusinsk – denen ich im Dunkel der Nacht nicht gerne begegnen möchte, ohne den Revolver bei mir zu haben. Sogar in der verhältnismäßig gut verwalteten Stadt Tomsk hat die Geschichte der Polizei die rohsten und schändlichsten Gewaltthaten aufzuweisen. Verhaftungen und Einkerkerungen Unschuldiger, Bestechungen, Verleitungen zum Meineid, Anwendung der Tortur, totprügeln schwangerer Frauen und noch manches andere.

Die amtliche »Provinzzeitung von Tomsk« teilte mit, daß dem letzternannten Gouverneur dieser Provinz, während seiner ersten Besichtigung der Gefängnisse, dreihundert Beschwerden über unrechtmäßige Verhaftungen übergeben wurden; zweihundert davon erwiesen sich als begründet, so daß die Betreffenden freigegeben wurden. So groß ist die Macht des Isprawniks und anderer Polizeileiter in Sibirien, daß bei den Bauern zur Redensart wurde: »Im Himmel Gott, in Okhotsk Koch!« Wie viele »Koch« – sie mögen auch anders heißen – in Sibirien sich befinden, das weiß nebst Gott auch der Bauer und der politische Verschickte. Wie jene die Aufsicht ausüben, das ergiebt sich natürlich sehr verschieden, aber welche Form diese Aufsicht annehmen kann, das lehrt uns der Auszug aus dem Briefe eines administrativ Verschickten, der im »Juristischen Boten,« dem Organ der juristischen Gesellschaft zu Moskau, veröffentlicht wurde. Es heißt da: 135

»Unsere Überwachung geschieht in der rücksichtslosesten Art. Jeder der Polizisten sucht den andern an Wachsamkeit zu übertreffen. Wiederholt am Tage treten sie bei uns ein, um zu sehen, ob wir anwesend sind und ob sich niemand bei uns befinde. Sie schreiten immer vor unseren Häusern auf und ab, schauen durch die Fenster und horchen an den Thüren. Sie lauern nachts in der Nähe unserer Wohnungen und zwingen unsere Hauswirte und Nachbarn, unser ganzes Thun und Treiben zu beobachten und ihnen dann zu berichten.«

Eine junge Dame, die nach Tunka, einem Dörfchen an der mongolischen Grenze, verschickt wurde, erzählte mir, es wäre nichts Seltenes, daß sie bei der Rückkehr von einem Spaziergang oder Besuch, auf ihrem Bette schlafend einen Polizisten fände. Die Furcht vor Schimpf und noch viel Ärgerem hat die meisten weiblichen Verschickten genötigt, mit ihren männlichen Leidensgenossen in einem Hause zu wohnen. Anders ist es auch nicht möglich! Unter den politischen Verschickten befinden sich wehrlose Mädchen im Alter von 16 bis 20 Jahren, junge Frauen, deren Männer in einem anderen Teil Sibiriens sich befinden oder in den Bergwerken Zwangsarbeit verrichten müssen. Es ist ihnen unmöglich, ganz abgesondert zu wohnen, unter Verhältnissen, wo der erstbeste Strolch im Polizeirock zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht ihr Zimmer betreten darf. Fast noch mehr als durch diese Aufsicht, werden die Verschickten durch die Überwachung ihres Briefwechsels verbittert und zur Verzweiflung getrieben. Er kann keinen Brief absenden, ohne ihn erst dem Isprawnik zur Billigung vorgelegt zu haben. Dieser kann die Briefe an die Adressaten befördern, vernichten oder dem Minister des Innern übersenden. Er erhält die für Verschickte eingelangten Briefe, öffnet sie, liest sie, streicht was ihm bedenklich scheint fort, um sie endlich zu einer beliebigen Zeit auszufolgen. Will er einen Verschickten, der ihm im allgemeinen mißfällt, oder der sich »unverschämt« benommen hat, bestrafen, so behält er die Briefe zurück und läßt ihn monatelang ohne 136 Nachricht von Weib und Kind, die er vielleicht unversorgt in Rußland zurückgelassen hat.

Der Isprawnik von Tara, Provinz Tobolsk, pflegte die für die Verschickten angelangten Briefe seinen Bekannten im Klub vorzulesen und mit ihnen sich zu beratschlagen, welche Stellen er unleserlich machen soll. Mancher Verschickte hörte etwas von seinen Briefen zum erstenmal auf der Straße, von Leuten, den sie der Isprawnik gezeigt hatte. Was wohl solch armer Verschickter empfinden mußte, wenn er erfuhr, daß die Worte der Liebe, des Trostes, die sein teures Weib unter Seufzern und Thränen niederschrieb, nun vom Isprawnik im Kreise seiner Zechgesellen veröffentlicht wurden!

Erfährt der Verschickte durch die Gunst des Zufalls, daß für ihn ein Brief angelangt sei, so will das immer noch nicht bedeuten, daß er diesen Brief auch erhält. Nachdem der Gewaltige den Brief seinen Freunden vorgelesen, kommt ihm zuweilen der Argwohn, es stecke irgendwelche Geheimschrift dazwischen und das Beste sei, den Brief doch nicht auszufolgen. Ich sah Briefe, welche die Verbannten erhielten, die von den mißtrauischen Beamten der Hitze ausgesetzt oder mit Chemikalien behandelt wurden, weil sie glaubten, es wären dabei Nachrichten mit »sympathischer Tinte« niedergeschrieben.

Oft wird der Verschickte auch zur Polizei berufen und eines scharfen Verhörs unterzogen über den Inhalt eines Briefes, den er bisher noch nicht zu Gesicht bekommen.

Was dem politischen Verschickten auch noch zum Hauptübel wird, das ist die unbestimmbare Lage, in die er durch die »Vorschriften« versetzt wurde. Er ist weder ein vom Gesetz geschützter Bürger, noch ein Verbrecher, dem die bürgerlichen Rechte entzogen sind; er hat alle Verpflichtungen des Bürgers, genießt aber dabei nicht einmal jenen Schutz, der den Verbrechern gewährt wird, er ist, kurz gesagt, jeder Willkür preisgegeben.

Ein administrativ Verschickter übersandte nachfolgende Denkschrift im Jahre 1881 dem russischen Senate, als dem höchsten 137 Gerichtshof. Es werden darin die Zustände der Verschickten in Sibirien erörtert. Zweifellos glaubte der Schreiber keinen Augenblick, daß sich damit seine Lage verbessere, er mochte im Gegenteil sehr gut gewußt haben, daß er diese »Unverschämtheit« büßen werde. Er sollte damals dem neuen Zaren den Huldigungseid leisten und er gab dafür seinen Gefühlen in dieser satirisch angehauchten Denkschrift freien Lauf. Ich kenne den Betreffenden nicht persönlich, ich halte es auch für unnötig zu erklären, in welcher Weise ich zu dieser Schrift gekommen bin. Aber für ihre und des darauf erfolgten Bescheides Echtheit kann ich mich verbürgen.

»Kurgan, Provinz Tobolsk, Westsibirien, 31. März 1881.

An den Senat des Russischen Reiches!

Am 28. März 1881 erhielt ich, ein administrativ Verschickter, die Aufforderung von der Polizeibehörde der Stadt Kurgan, im Polizeiamt zu erscheinen, um dem gegenwärtig regierenden Zaren von Rußland, Alexander Alexandrowitsch, den Huldigungseid zu leisten. Diese Aufforderung scheint mir mit dem kaiserlichen Manifest vom 1. März 1881 im Widerspruch zu sein, woselbst als Grund für den von den Bauern geforderten Huldigungseid bemerkt ist, daß die Bauern zufolge Aufhebung der Leibeigenschaft freie Bürger geworden und daher den für diese geltenden Gesetzen unterworfen waren. Ich respektiere diese Worte vollkommen und halte nicht nur diese Folgerung, sondern auch alle logischen Schlüsse, die sich daraus ergeben, für richtig. Und eine dieser ist auch, daß wenn die russischen Bauern, oder andere Russen, nicht freie Bürger wären und nicht den Reichsgesetzen unterworfen wären, sie die Aufforderung zum Huldigungseid auch nicht erhalten hätten, denn das kaiserliche Manifest vom 1. März fordert diesen Eid nur von Bürgern, die den Staatsgesetzen unterworfen sind. Ich frage mich: »Was bin ich? Ein freier Bürger?« – Mein Vater zählte zu dem Erbadel des Reiches und meine Mutter war seine gesetzliche Gattin; es gebührt mir daher nach russischem Gesetz der Rang meines Vaters und damit 138 auch die Rechte eines freien Russen. Diesem verbürgt das Gesetz als wichtigstes Recht die persönliche Freiheit, so lange er keines Verbrechens schuldig befunden wird, ferner auch den Schutz für seine Familie und sein Eigentum. Und trotzdem bin ich der Freiheit beraubt, mein Familienleben zerstört, mein Eigentum ist von der dritten AbteilungDie dritte Abteilung der Kanzlei des Zaren war früher die kaiserliche Polizei. Jene wurde aufgelöst und diese untersteht jetzt dem Minister des Innern. eingezogen worden und jede Beschäftigung, der ich fähig wäre, ist mir verboten. Ich darf nicht das Gebiet der Stadt Kurgan überschreiten, ich bin 4800 Kilometer von meiner Familie entfernt und darf ihr keinen Brief senden, der nicht früher von Fremden durchgelesen und gebilligt wird. Diese Thatsachen beweisen, daß ich weder Edelmann, noch freier Bürger bin.

Sind mir wirklich alle bürgerlichen Rechte entzogen worden und bin ich wirklich als Strafkolonist nach Sibirien verschickt worden? Wenn ich die für Strafkolonisten gültigen Gesetze durchlese, so erkenne ich, daß diese Bestimmungen auch für meine Lage passend sind, ein Einziges ausgenommen: ein Strafkolonist hat die Hoffnung, allmählich einen Teil der ihm entzogenen Rechte wieder zurück zu gewinnen; er kann das Recht erhalten, sich innerhalb der Grenzen seiner Provinz oder auch ganz Sibiriens zu bewegen; ich dagegen kann dies nicht erhoffen, ich bin für unbestimmte Zeit nach Kurgan verbannt. Es ist also klar, daß ich kein Strafkolonist bin, ich bin es auch nicht, da ich von keinem Gerichtshof verurteilt wurde. Was aber bin ich denn? Wenn ich weder ein freier Russe, noch ein verurteilter Verbrecher bin, so muß ich wohl vom russischen Rechte ausgeschlossen sein? Dann bin ich zweifellos ein Fremder? Nein, ich bin auch das nicht! Denn als freier Fremder hätte ich das Recht, Rußland zu verlassen und ich würde sicherlich in jedem Staate als rechtschaffener, treuer Bürger gelten. Mir aber ist dieses Recht verwehrt, ich muß daher ein Kriegsgefangener sein! Wo aber ist mein 139 Vaterland? Zu welcher Nation gehöre ich und in welchem Kriege wurde ich gefangen genommen? Auf all' diese Fragen finde ich keine Antwort. Das Geschick eines Kriegsgefangenen ist unerträglich und ich mußte es schon fünf Jahre ertragen.

Ich will den Russischen Senat ehrfurchtsvoll bitten, mich als russischen Unterthan anerkennen zu wollen, mich für einen freien Russen zu erklären, der auf des Rechtes Schutz Anspruch hat. Im Besitz dieses Schutzes will ich gern auch die daraus entspringenden Pflichten auf mich nehmen. Wenn jedoch der Russische Senat mich als russischen Unterthan nicht anerkennen will, dann sollte ich doch Rußland verlassen dürfen, um mir anderwärts die Heimat zu suchen!

Ich glaube, der Huldigungseid lege nicht nur Verpflichtungen auf, sondern er bedinge auch gewisse Rechte. Die Forderung des Eides bedeutet folglich auch die Zuerkennung dieser Rechte. Ist es nicht so? Ich erwarte eine Antwort. Wenn der Russische Senat, der höchste Gerichtshof Rußlands, mir beweist, daß ich im Irrtum bin, daß ich die Pflichten eines freien Russen habe, jedoch nicht die Rechte, dann muß ich mich fügen als Kriegsgefangener.

Wasilli Sidoratski.«    

»Bescheid.

Nach Kenntnisnahme dieses Gesuches verfügt der Senat am 4. Juni 1881, wie folgt:

In Anbetracht dessen, daß dieses Gesuch nicht den höchsten Titel führtDas will sagen: daß es nicht an den Zaren gerichtet ist. und nicht der Band X, Teil II, § 205 der Gesetzsammlung vom Jahre 1876 vorgeschriebenen Form genügt, wird dieses Gesuch unberücksichtigt zurückgewiesen. Ein Ukas, der diesen Beschluß anordnet, wird der Provinzialverwaltung von Tobolsk zugestellt.

Obersekretär N. Brud . . . .
(Der Rest des Namens ist unleserlich).
Untersekretär Baron Buckschweden.«
       

140 Ich habe nicht erfahren, welche Folgen Herrn Sidoratski daraus erwuchsen, ich weiß überhaupt nicht, ob er noch unter den Lebenden weilt; ich hoffe jedoch, daß er diesseits oder jenseits des Grabes endlich eine Heimat gefunden hat.

 


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