George Kennan
Sibirien
George Kennan

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7. Das Etappengefängnis von Tomsk.

Die Zeit des schönen Wetters und der fahrbaren Straßen eilte so rasch dahin, daß wir mit Rücksicht auf die lange mühselige Fahrt, die noch vor uns lag, den Aufenthalt in Ustj-Kamenogorsk auf das Nötigste einschränken mußten. Dennoch war das, was wir hier erfahren haben, für den Erfolg unserer Reise von großer Bedeutung, ja er wurde dadurch sogar außer Zweifel gestellt.

Wo befinden sich die politischen Verschickten und in welcher Weise stellen wir unauffällig eine Verbindung mit ihnen her? Diese Frage beschäftigte uns lebhaft, denn wir konnten uns nicht damit begnügen, daß uns der Zufall überall mit einem humanen und entgegenkommenden Beamten zusammenführe. Er war für uns nötig, stets zu wissen, wohin und an wen wir uns wenden müssen. Wir hatten bisher schon eine stattliche Zahl Dörfer passiert, die wir sicherlich nicht unbeachtet gelassen hätten, wäre uns bekannt gewesen, daß sie so manchem interessanten Verschickten zum Aufenthalt dienen. In Ustj-Kamenogorsk wurden uns die nötigen Aufklärungen zu teil, wir erhielten nicht nur so manchen nützlichen Wink, sondern auch Empfehlungsbriefe an Personen, die unsere Zwecke fördern konnten, an Beamte freiheitlicher Gesinnung und endlich auch, was ganz besonders wichtig war, ein Verzeichnis von 700 politischen Verschickten in allen Teilen Sibiriens, mit genauen Angaben über Namen, Alter, Beruf und Aufenthaltsort. Im Besitze dieser wichtigen Mitteilungen, hätten wir nun von der Regierung nur durch Landesverweisung in der Erforschung der wirklichen Zustände verhindert werden können. Nun konnten wir in jedem Orte jene Personen 141 aufsuchen, deren Bekanntschaft uns nötig schien, und brauchten nicht mehr zu fürchten, durch Irrtum in Verlegenheiten zu geraten.

Montag am 10. August speisten wir zum letztenmale mit den politischen Verbannten von Ustj-Kamenogorsk, wiederholten ihnen, da sie es wünschten, unsere Nationallieder »The star spargled banner« und »John Browns body« und fuhren dann um die sechste Abendstunde mit Postpferden in die Richtung von Barnaul und Tomsk. Bis zur Station Pjanojarofskaja zeigte sich der Weg ähnlich dem, welchen wir auf unserer Fahrt von Semipalatinsk nach der Altaistation zurückgelegt hatten. Diese Gegend schien uns sogar noch sonnenverbrannter und unfruchtbarer als die andre. Nur zuweilen, an brühligen Stellen, erblickten wir große Herden dickschwänziger Schafe, behütet von berittenen Kirgisen, deren schwarze Gesichter zum Schutz gegen die heißen Sonnenstrahlen mit aus Roßhaar geflochtenen Masken bedeckt waren, was ihnen ein Aussehen gab, als wären sie aus des Höllenfürstens großer Armee. In der Nähe der Dörfer sahen wir Felder mit Sonnenblumen und halbreifen Wasser- und Muskatmelonen; eine andere Vegetation bot die Steppe nicht, sie wäre auch ohne künstliche Bewässerung nicht möglich gewesen. Die Luft war noch sehr warm; fast in jedem Dorfe sahen wir nackte Kinder im Freien spielen.

Bei Pjanojarofskaja verließen wir die Straße von Semipalatinks und das Thal des Irtisch, wendeten uns gegen Norden, durchschnitten die schmale Wasserscheide zwischen Irtisch und Ob und gelangten dann in die Provinz Tomsk. Ein ausgiebiger Regen hatte die Temperatur angenehm abgekühlt, doch die morastigen Straßen waren unserer Fahrt sehr hinderlich, und die Poststationen, wo es auch nur wenig zu essen gab, waren schmutzig und überfüllt mit Wanzen. Auf der Station Schemanajafskaja und Sauschkina bemühte ich mich vergeblich, in zwei Nächten Schlaf zu finden, ich verbrachte daher die Zeit mit Schreiben, wobei ich in jeder Nacht ein, zwei Dutzend dieses Ungeziefers auf meinem Tische tötete. Die 142 mangelhafte Nahrung, das Gerüttel der Fahrt und die Unmöglichkeit Schlaf zu finden, versetzten uns in einen solchen Zustand der Erschöpfung, daß wir, Freitag Nachmittag am 14. August im Städtchen Barnaul angelangt, nach einer Fahrt von sechsundneunzig Stunden, uns kaum noch aufrecht halten konnten.

Barnaul hat 17 000 Einwohner und bildet den Mittelpunkt des reichen und wichtigen Bergbaudistriktes in Altai. Es besitzt eine verhältnismäßig ungewöhnlich große Zahl Prachtbauten mit Säulenreihen und prunkenden Fassaden, wovon aber das Meiste in Verfall geraten ist. Sie wurden in jener Zeit erbaut, als ein Bergbaubeamter der Krone zu seinem Gehalt von 2000 bis 3000 Rubel noch 100 000 Rubel sich dazu zu stehlen wußte, der – nach glaubwürdigen Mitteilungen – den doppelten Betrag seines Gehaltes der französischen Gouvernante seiner Kinder, oder einem französischen Koch bezahlte, und der seine getragene Wäsche zum Waschen und Plätten nach Paris schickte.

Die Bergwerke in Altai sind fast ausschließlich Privateigentum des Zaren. In dem Zeitraum von 1870 bis 1879 lieferten sie 6984 Pfund Gold, 206 964 Pfund Silber, 9 639 620 Pfund Kupfer und 13 221 396 Pfund Blei. Ein großer Teil des Edelerzes wird in Barnaul geschmolzen.

Mein Freund und Reisegenosse schlenderte mit Skizzenbuch und photographischem Apparat eifrig durch die Stadt, um den Bazar, Steine karrende Bauernweiber und noch so manches aufzunehmen, darunter auch ein wunderliches Gebäude im byzantinisch-griechischen Mischstil, nahe unserem Hotel gelegen. Ursprünglich scheint es als Kirche bestimmt gewesen zu sein, wurde aber später in ein Gefängnis umgewandelt, wahrscheinlich, weil dies mit den Bedürfnissen des Ortes besser in Einklang zu bringen war.

Gern hätte ich ihn bei seinen Streifzügen begleitet, allein ich war in einem Zustand völligster Erschöpfung und ich konnte nicht das schmutzige Hotel verlassen, das mit Wanzen überfüllt war und mußte den langen Tisch in die Mitte des 143 Zimmers schieben und auf ihm mir ein Ruhelager bereiten. Bei der geringsten Bewegung schwankte er und ich fiel zur Erde; es konnte daher von einem ergiebigen Schlaf nicht die Rede sein, ich befand mich, als wir den Ort wieder verließen, in einem ganz erbärmlichen Zustand. Die einzige Annehmlichkeit in Barnaul war, daß ich achtzehn Briefe aus der Heimat erhielt, die ersten Nachrichten von dort, seitdem wir Tjumen verlassen.

Am 18. August, Dienstag Nachmittag, setzten wir unsere Reise nach Tomsk fort. Der Weg bot uns eine schöne, fruchtbare Hügelgegend mit einer überraschend frischen Vegetation, besonders überraschend für jene, die aus den öden Steppen des Irtisch kommen. Unweit der ersten Station passierten wir den Kolliwan, einen kleinen See, der in ganz Rußland berühmt ist, ob seiner reizenden Umgebung; hier ist auch die Sommerfrische der reichen Leute von Barnaul und Tomsk. Über den Ob setzten wir auf einer eigenartigen Fähre, sie bestand aus einer großen, auf zwei offenen Booten liegenden Platte, durch ein Wasserrad in Bewegung gesetzt, das sich an einem Ende befand und von zwei bärtigen MuschicksRussische Bauern. bedient wurde. Sonst bot der Weg – so viel ich mich zu erinnern weiß – nichts Bemerkenswertes. Doch vielleicht schien es mir nur so zufolge meiner Erschöpfung, in der mein Zustand der Bewußtlosigkeit zuweilen recht nahe kam.

Donnerstag, in der vierten Nachmittagsstunde gelangten wir endlich nach Tomsk. In den 51 Tagen, die seit unserer Abfahrt von Tjumen nun verstrichen waren, hatten wir zu Wagen bei 2400 Kilometer zurückgelegt, zwei große Etappengefängnisse besichtigt, die Bekanntschaft mancher politischer Verschickter gemacht und endlich auch den wildromantischsten Teil des Altaigebirges aufgesucht. – Wir fuhren nun ins Hotel, wo uns eine behagliche Stube geboten wurde und nach der Mahlzeit schlüpften wir sehr rasch aus unseren Reisekleidern und 144 streckten zum erstenmal seit zwei Monaten unsere müden Glieder in bequemen Betten aus.

Tomsk, die Hauptstadt der Provinz gleichen Namens, zählt 31 000 Einwohner und liegt teilweise auf einer Anhöhe, teilweise wieder an dem niedrigen Ufer des Tom, in der Nähe von dessen Mündung in den Obfluß. Der Größe und Bedeutung nach ist Tomsk die zweite Stadt Sibiriens; wenn aber Bildung, Wohlstand und Unternehmungsgeist den Maßstab bilden sollen, so dürfte ihm der erste Rang gebühren. Die Stadt besitzt 8000 Häuser, darunter 250 Steinbauten, 33 griechische, eine katholische Kirche, eine Moschee und drei Synagogen. Sie besitzt ferner 26 Schulen, die von 2500 Schülern besucht werden, eine gut angelegte, öffentliche Bibliothek, zwei dreimal wöchentlich erscheinende Zeitungen, die aber ihrer »verderblichen Tendenz« wegen zumeist konfisziert werden. Eine prachtvoll erbaute Universität, die jedoch von der Regierung ihrer Bestimmung nicht zugeführt wird, aus Furcht sie könnte zum Mittelpunkt »verderblicher Tendenzen«, das heißt liberaler Anschauungen werden. Die Straßen sind nicht gepflastert und ungenügend beleuchtet, doch waren sie zur Zeit unserer Anwesenheit reinlich und gut gehalten. Überhaupt machte diese Stadt einen besseren Eindruck auf mich, als so manche russische Provinzstädte gleicher Größe.

Die Provinz Tomsk umfaßt 15 688 englische Geviertmeilen mit acht Städten und 2719 Dörfern und einer Gesamtbevölkerung von 1 100 000 Seelen. Davon sind etwa 900 000 Eingeborene und 200 000 gemeine Verbrecher, die aus dem europäischen Rußland hierher verschickt wurden. Der südliche Teil der Provinz ist recht fruchtbar, gut bewässert und hat ein ziemlich günstiges Klima. Das 3 600 000 Morgen bebaute Feld liefert eine Jahresrente von durchschnittlich 10½ Millionen Hektoliter Getreide, 1¼ Million Hektoliter Kartoffeln und kleinere Quantitäten Hanf, Flachs, Tabak u. s. w. Gegen 2½ Millionen Stück Vieh finden auf den Weideplätzen genügendes Futter. Aus diesen Angaben ist zu ersehen, daß 145 diese Provinz, trotz schlechter Verwaltung, dünner Bevölkerung, trotz des schädigenden Einflusses der hierher verschickten Verbrecher, in einem verhältnismäßig günstigen Zustand sich befindet. Ihre natürlichen Hilfsquellen sind sehr ergiebig, sie brauchte nur eine gute Verwaltung und Freiheit, um sich gehörig zu entfalten. Allein, so lange die despotische Regierung in Petersburg die Presse knebelt, die Universität geschlossen hält, die Entwickelung der Volksschulen hindert, die besten Bücher der Bibliothek verschließt und die Bevölkerung durch vexatorische Maßregeln in jeder Bewegung hindert, sie durch bestechliche Beamte ausbeuten läßt und jährlich mit einer Menge gemeiner Verbrecher diese Provinz überflutet – so lange wird sie auch das sein, was sie jetzt ist: ein vielversprechendes Gebiet, das von einer ebenso lästigen, wie überflüssigen Bevormundung in jeder Entwicklung gehindert ist. Wie ich höre, beabsichtigt jetzt die Regierung eine Eisenbahn zu bauen, um diese Provinz besser ausbeuten zu können. Weit günstiger wär's, der Bevölkerung mehr Freiheit zu gewähren und jene Übelstände zu beseitigen, die bisher jeden Aufschwung unmöglich machten.

Vor allem suchten wir in Tomsk die politischen Verschickten auf und auch einige Offiziere, an die wir Empfehlungsschreiben hatten. Wir vernahmen, daß der Gouverneur der Provinz, Herr Krassofski, abwesend sei und durch den Staatsrat Petukoff vertreten werde. Man schilderte ihn uns als Mann von Intelligenz, Wissen und so ziemlich freisinniger Richtung. Sobald ich vermochte, besuchte ich ihn und wurde freundlichst aufgenommen, wahrscheinlich, weil er – wie ich bald erfuhr – mein Buch »Zeltleben in Sibirien« kannte und mit meinen dort ausgedrückten Anschauungen übereinstimmte. Nach einem halbstündigen Gedankenaustausch, der hauptsächlich um Sibirien sich handelte, fragte er mich, ob er mir irgendwie nützlich sein könne. Ich bemerkte, es wäre mir recht lieb, die Erlaubnis zur Besichtigung des Etappengefängnisses zu erhalten. Eine leichte Verlegenheit, die ich in seinen Mienen zu entdecken glaubte, deutete mir, daß ihm mein Wunsch ebenso 146 unerwartet wie unerwünscht käme. Doch ich erzählte von den beiden Gefängnissen, die ich bisher schon besucht hatte und das schien ihn, ohne daß er nach den Gründen meines Wunsches forschte, zu der Antwort zu bestimmen: »Ich werde Ihnen diese Erlaubnis erteilen und ich werde Sie auch dahin begleiten.«

Und nach einer kurzen Weile der Überlegung fügte er dazu: »Ich fürchte, das hiesige Gefängnis dürfte Ihnen als das schlechteste von allen in Sibirien erscheinen.«

Ich gab der Hoffnung Ausdruck, daß es denn doch nicht so sein werde und meinte, ärger als in Tjumen könne es wohl nicht beschaffen sein. Er zuckte schweigend die Schultern, als wollte er sagen: »Sie wissen noch lange nicht, wie ein sibirisches Gefängnis aussehen kann!« Dann fragte er mich, was auch von einem Gebäude zu erwarten sei, das zweimal so viel Insassen enthält, als seine Bestimmung ist. »Das Etappengefängnis von Tomsk – setzte er die Rede fort – war für 1400 Gefangene bestimmt, jetzt befinden sich weniger als 3000 darin. Von Tjumen gelangen wöchentlich 500 bis 800 Sträflinge an, wodurch unsere Zahl noch vermehrt wird, denn wir sind nicht imstande, wöchentlich mehr als 400 nach Osten zu transportieren. Je mehr der Sommer vorrückt, um so schlimmer wird es bei uns. Die Zellen sind schrecklich überfüllt, es ist ganz unmöglich, sie rein zu halten. Die schlechte Luft bringt eine Menge Krankheiten hervor, das Krankenhaus enthält schon mehr Schwerkranke, als Raum ist.«

»Warum transportieren Sie unter solchen Umständen die Leute nicht rascher nach dem Osten?« war meine Frage. »Warum vergrößern Sie nicht den Transportzug, oder senden zwei Züge wöchentlich?« »Das ist nicht möglich,« antwortete er. »Die Verbannungsverwaltung in Ostsibirien erklärte, nicht mehr übernehmen zu können. Die Gefängnisse sind dort zu klein; auch genügt die Zahl unserer Soldaten nicht, um zweimal wöchentlich einen Transport zu begleiten. Wir haben den Versuch gemacht, aber es ist mißlungen.«

»Kennt die Regierung diese Zustände?«war jetzt meine Frage.

147 »Gewiß!« antwortete er. »Jährlich wird darüber berichtet, auch hab' ich schon in diesem Sommer vier Telegramme dahin gerichtet, wo ich auf die dringende Notwendigkeit der Verbesserung der Gefängnisse hinwies und anfragte, was da geschehen möge.«

»Und was geschah?«

»Gar nichts! – Die Zahl der Häftlinge wird stets zunehmen, bis das Eis die Schiffe hindert hierher zu fahren, dann werden wir dies Gefängnis nach und nach entleeren. Aber bis dahin werden hier Typhus und Fieber wüten und viele der Kranken werden ohne Pflege in den Zellen liegen müssen, weil die Krankenabteilung nicht genug Raum bietet. – Wollen Sie das Gefängnis besuchen, so folgen Sie meinem Rat: frühstücken Sie zuvor ausgiebig und meiden Sie vor allem die Krankenabteilung.«

Ich dankte ihm für seinen Rat, bemerkte, daß ich mich vor der Gefahr der Ansteckung nicht fürchte und fragte, wann es ihm am Geeignetsten scheine, das Gefängnis zu besuchen. Die Zeit wurde festgesetzt und ich verließ ihn dann.

Bei der Heimkehr traf ich zufällig den Bezirkskommandanten, Oberst Jagodkin, der uns in Tomsk recht freundlich aufgenommen hatte und für unsere Reise ein großes Interesse bekundete. Er bemerkte, er wäre in unserem Hotel gewesen, um uns bekannt zu machen, daß morgens ein Transportschiff aus Tjumen angelangt sei. Wenn wir Lust hätten, der Ausschiffung der Verschickten beizuwohnen, so wolle er uns nach der etwa vier Kilometer entfernten Landungsstelle begleiten und uns dort auch mit Oberbeamten der hiesigen Verbannungskanzlei bekannt machen. Mit bestem Danke nahm ich sein Anerbieten an und wenige Minuten später jagte unser Wagen durch die schmutzige Straße dahin. Trotzdem kamen wir zu spät; die Häftlinge waren bereits ausgeschifft worden und standen in zwei dichten Haufen an den Enden einer langen Holzbaracke, die von einem hohen Bretterzaun umgeben war und dadurch einer Schafhürde ähnlich wurde. Hier 148 wurden die Häftlinge identifiziert, gezählt und von dem Eskorteoffizier dem Direktor des Etappengefängnisses übergeben. Die Baracke war in der Mitte durch eine niedrige Barre geteilt, an deren Ende ein abgesonderter, kleiner Raum sich befand, wo die Offiziere während der Übergabe der Verschickten standen. Ungefähr die Hälfte der Leute war schon »übergeben« worden und standen nun abgesondert von jenen, die noch aufgerufen werden sollten. Die Frauen, eine abgesonderte Gruppe bildend, waren der Tracht nach meistens Bäuerinnen und sie schienen mir besorgter und ängstlicher zu sein, als die Männer. Diese waren mit den bereits früher geschilderten Gewändern bekleidet; die Schädel der Verbrecher und Zwangskolonisten waren quer über die Hälfte geschoren, so daß die eine Seite fast kahl, während die andere von langem, struppigen Haar bedeckt war; sie waren auch gefesselt. Ringsum standen Soldaten, gestützt auf ihre Bajonettflinten. In dem erwähnten abgesonderten kleinen Raum standen bei unserer Ankunft die Offiziere, der Gefängnisdirektor, der Arzt und der Direktor der Verbannungskanzlei des Bezirkes, alle in voller Uniform. Oberst Jagodkin stellte uns als amerikanische Reisende vor, die gern die Übergabe des Transportes beiwohnen möchten und wir wurden dann eingeladen, den abgesonderten Raum zu betreten.

Der Offizier, der die Übergabe leitete, entnahm seinem Aktenbündel eine Schrift, die er entfaltete, um die Namen der Häftlinge aufzurufen:

»Nikolai Koltsoff!«

Ein hagerer, blasser Mann mit mattem Blick und trostlosen Mienen trat vor, nahm den Sack auf, der seine geringen Habseligkeiten barg und schritt kettenklirrend auf den Offizier zu. Dieser verglich dessen Äußeres mit der Photographie, die an der »Identifizierungsliste« befestigt war, recht sorgfältig, um die Gewißheit zu haben, daß der Angerufene nicht mit einem anderen Verurteilten den »Namen getauscht« habe. Indes durchstöberte ein Kosak seinen Sack und betrachtete auch 149 den Mann von oben bis unten, um zu erkennen, ob er nichts verkauft habe, ob alle Kleidungsstücke vorhanden seien, die dem Gefangenen in Moskau oder Tjumen übergeben wurden und die in der Liste angeführt waren.

»Alles in Ordnung?« fragte der Offizier.

»Alles!« war die Antwort.

»Vorwärts!«

Und der blasse Mann nahm seine Sachen auf die Schulter und schritt zu den »Übergebenen« hin.

»Die Photographieen sind erst eingeführt worden,« flüsterte mir Oberst Jagodkin zu. »Alle Verbannte haben sie bis jetzt noch nicht. Man hofft damit, dem Namenstausch ein Ende zu machen.«

»Namenstausch?« fragte ich. »Zu welchem Zwecke?«

»Wird einer zu Zwangsarbeit in den Bergwerken verurteilt,« erklärte mir mein Begleiter, »und hat er noch etwas Geld, so wird er immer einen armen Teufel von Zwangsansiedler finden, der Geld für Schnaps oder fürs Spiel braucht und für einen geringen Betrag seinen Namen »verkauft.« Der Offizier der Eskorte kann diesen Schacher nicht hindern, da er unmöglich alle Gesichter im Gedächtnis behalten kann. Gelingt es einem Verbrecher, seinen Namen zu »vertauschen«, so tritt er an die Stelle des Strafkolonisten, während dieser zur Zwangsarbeit in den Bergwerken geht. Hunderte haben sich schon derart ihre Strafe zu verringern gewußt.«

»Hassan Abdamiloff!« rief jetzt der Offizier.

Niemand trat vor.

»Hassan Abdamiloff!« brüllte der Kosak wiederholend.

»Vorwärts, Knirps, das bist du!« riefen einige Verbannte aus und schoben dabei einen beleibten, kleinen, krummbeinigen Tartaren in den Vordergrund. Sein glattes, braunes Gesicht ließ erkennen, er wisse nicht, was das zu bedeuten habe.

»Er kennt nicht Russisch, Euer Gnaden,« erklärte einer aus der Menge respektvoll. »Und er ist auch blöd.«

150 »Bring ihn her!«

Es geschah, Hassan wurde untersucht, doch als damit ein Ende war, nahm er nicht wie andere, seinen Sack auf, um sich den »Übergebenen« anzureihen, sondern begann unter vielen Verbeugungen und mit vielen Gesten tartarisch zu reden, wobei er in Erregung kam.

»Was meinte er?« fragte der Offizier. »Ruft einen Soldaten, der Tartarisch versteht!«

Bald fand sich ein Dolmetscher und Hassan wiederholte seine Rede.

»Er meint, Euer Gnaden, man hätte ihm bei der Gefangennahme seine acht Rubel abgenommen und gesagt, das Geld bekäme er in Sibirien. Er verlangt nun jetzt etwas davon, um sich Thee zu kaufen.«

»Kein Thee!« klagte bekümmert der Tartar wieder.

»Hol ihn der Teufel!« schrie der Offizier ärgerlich. »Glaubt der Dummkopf, daß wir jetzt nichts Wichtigeres zu thun haben! An Ort und Stelle wird er sein Geld bekommen. Marsch!«

Und der arme Tartar wurde zu den Übergebenen geschoben.

»Iwan Ichweißnichtwie, der Rothaarige!« rief der Offizier nun. »Das ist ein Brodjak (Landstreicher),« flüsterte mir der Oberst zu.

Ein sonnenverbrannter, rothaariger Muschick, Ketten an den Füßen, am Gürtel einen Theekessel, trat vor.

»Er ist verhaftet worden,« setzte mein Begleiter erklärend fort, »als er herumvagabundierte und da seine Lebensgeschichte manches aufzuweisen hat, was er aus guten Gründen im Dunkeln lassen will, so giebt er auf alle Fragen nach seinem Namen nur ›Weiß nicht wie‹ zur Antwort. Alle Vagabunden nennen sich Iwan Weißnichtwie und es ist auch ein arges Gesindel. Die Strafe für die Zugehörigkeit zur Familie Weißnichtwie ist in der Regel fünf Jahre Zwangsarbeit in den Bergwerken.«

Dem Schein Iwans Weißnichtwie war keine Photographie beigefügt, seine Identität wurde daher durch die Zahl der 151 fehlenden Zähne und durch eine Narbe über dem rechten Ohr festgestellt.

In dieser Weise wurden noch alle Verschickten geprüft, mit Nummern bezeichnet und dann dem Direktor des Gefängnisses in Tomsk übergeben, und dieser bestätigte ihm den Empfang von 55l Personen, 71 Kinder unter fünfzehn Jahren, die ihren Angehörigen folgten, mitinbegriffen.

Die Offiziere entfernten sich nun, wir blieben jedoch zurück um der ärztlichen Untersuchung der Kranken und Gebrechlichen beizuwohnen und um auch das Schiff zu besichtigen, welches die Verschickten herbrachte.

Der Gefängnisarzt Doktor Orzhesko nahm nun die Stelle des übergebenden Offiziers ein, legte einige medizinische Instrumente auf das Tischchen und nahm die Untersuchung in aller Eile vor. Manche fingierten nur ein Kranksein, andere waren wirklich in recht argem Zustand. Es galt nun festzustellen, wie viel der Häftlinge unfähig waren nach der Stadt zu marschieren, daher auf Telegas dahin transportiert werden mußten.

Der erste, der untersucht wurde, war ein blasser abgezehrter Mann, der über Brustschmerzen und schweren Atem klagte. Der Arzt fühlte seinen Puls, prüfte mit dem Stethoskop seine Lunge und bemerkte dann kurz. »Du kannst gehen.«

Dem Folgenden war ein Fußknöchel heftig geschwollen, der durch den Druck der Fessel den Schmerz noch viel heftiger empfinden mußte. Während der Arzt ihn untersuchte, blickte er ihn mit um Erbarmen flehenden Blicken schweigend an. Als sein Einwand für begründet gefunden wurde und ihm das Recht der Fahrt gewährt war, bekreuzte er sich gottesfürchtig dreimal und seine Lippen bewegten sich lautlos, als murmle er ganz still vor sich hin ein Dankgebet für den Höchsten.

Es mögen ungefähr fünfzig gewesen sein, die auf die Begünstigung der Fahrt Anspruch machen zu können glaubten, oder glauben machen wollten. Einige hatten Fieber, andere 152 quälte der Rheumatismus, wieder andere schienen mit einem vorgeschrittenen Grad der Kerkerschwindsucht behaftet zu sein. Auf mich machten alle den Eindruck, als wären sie krank und bresthaft genug, um die Fahrtbegünstigung genießen zu können. Immerhin mochten aber doch einige Simulanten darunter sich befinden, die der erfahrene Arzt gleich herausfand, obgleich er jedem einzelnen durchschnittlich kaum eine Minute widmete. Dann hieß es gleich: »Marschiert.«

Endlich war die Untersuchung beendet und der Arzt teilte dem Gefängnisdirektor mit, daß fünfundzwanzig der Leute unfähig wären, den Weg nach dem Gefängnis zu Fuß zurückzulegen. Die nötigen Wagen wurden nun herbeigeschafft und die Kranken, die Frauen und die kleinen Kinder hineingesetzt.

»Bildet Reihen!« wurde jetzt als Befehl laut, dem die Gefangenen unter Kettenklirren Folge leisteten. Die Soldaten schulterten die Gewehre und umringten die Truppe. Der Direktor der Verbannungskanzlei bestieg einen Stuhl und rief laut aus:

»Kinderchen! Habt ihr noch etwas zu sagen oder Klagen vorzubringen?«

»Nein, Euer Gnaden!« antwortete es aus schier hundert Kehlen.

»Nun dann – Gott mit euch!«

Die Soldaten öffneten nun die Thüre des eingeschlossenen Raumes, der Unteroffizier rief: »Fertig – marsch!« und unter Kettenklirren zog der Trupp langsam die schmutzige Straße dahin. Jetzt erst bot sich die Gelegenheit, daß der Oberst uns Herrn Papelajeff, dem Direktor der Verbannungskanzlei vorstellte: ein schlanker, hagerer Mann, mit hartem, nicht sehr sympathischem Gesichtsausdruck. Er grüßte uns recht höflich, schien aber von unserer Anwesenheit nur sehr mäßig erfreut zu sein und auch nicht besonders geneigt, uns die Besichtigung des Transportschiffes zu gestatten.

»Was wollen die Herren an Bord?« wandte er sich ziemlich barschen Tones fragend an Oberst Jagodkin. »Es giebt 153 dort gar nichts zu sehen. Außerdem geht es auch nicht recht, denn die Weiber nehmen jetzt die Reinigung vor.«

Der Oberst wußte aber, daß es mir lieb sei, zu sehen, in welchem Zustande das schwimmende Gefängnis vor der Reinigung sich befinde; er stellte uns dem Eskorteoffizier vor und wiederholte unseren Wunsch, hier mit besserem Erfolg. Er mochte nicht einsehen, warum die Freunde des Obersten das Schiff nicht besichtigen sollten, wenn sie just Lust dazu haben, ja er bot uns sogar seine Begleitung an.

Das Schiff dünkte mich, zweifellos jenes zu sein, das wir schon vor zwei Monaten in Tjumen besichtigten. Damals war es jedoch sorgsam gereinigt und gelüftet, nun aber sah es aus, wie ein Menageriekäfig, der von den Bestien jetzt erst geräumt wurde. Es war vielleicht nicht schmutziger, als sich voraussetzen ließ. Der Boden war mit eingetrocknetem Kot und zertretenen Speiseresten bedeckt, die Pritschen schwarz von Schmutz, mit Papierstückchen bestreut. Bei der düsteren Beleuchtung eines trüben Firmamentes schien alles noch viel trüber und trauriger, als es schon war, sprach aus allem die Geschichte unendlichen Menschenelends. Die Luft war mit den von der Ausdünstung herrührenden scharfen atembeklemmenden Gerüchen durchsetzt.

Nach dem Amtsbericht der Verbannten-Transportverwaltung wurden im Jahre 1882 mittelst Schiff 10 245 Sträflinge verschickt. Es erkrankten davon auf den Schiffen 279, wovon 22 dortselbst starben und 80 an verschiedenen Landungsplätzen oder in Tomsk in gefährlichem Zustand übergeben wurden. Und das geschah während Fahrten von durchschnittlich zehntägiger Dauer. Wenn in einer Stadt mit einer Bevölkerung von ungefähr 10 000 Seelen alle zehn Tage die gleiche Zahl Toter und Erkrankter vorhanden wäre, so ergäbe das einen jährlichen Prozentsatz von 99 Kranke und acht Verstorbene. Allein auf den Transportschiffen treten die Erkrankungen häufig noch viel vernichtender auf: von den 724 im Jahre 1879 zwischen Tjumen und Tomsk Erkrankten starben 51; 154 im Jahre 1871 erkrankten von 9416 Verschickten 1140, wo von 111 starben. Bei einem solchen Sterblichkeitsverhältnis wäre ein Dorf mit 4000 Einwohnern in einem einzigen Jahre gänzlich verödet.

Nachfolgende Tabelle läßt die Ziffern der Krankheits- und Todesverhältnisse auf den Transportschiffen von den Jahren 1870 bis 1884 erkennen. Ich habe diese Daten den amtlichen Berichten entnommen und kann für die genaue Wiedergabe einstehen.

Jahr Zahl
der Transportierten
Zahl
der Kranken
Zahl
der Toten
Zahl der krank
Übergebenen
Erwachsene Kinder Erw.   Kind. Erw.   Kind. Erw.   Kind.












1870 7444    1492   ? 85 ?
1871 8202    1214   1140 111 301
1872 7246    1098   486 30 70
1873 7923    1090   673 23 190
1874 8068    1269   574 21 196
1875 7771    1301   579 16 115
1876 8878    1455   492 121 19  119 24 
1877 9065    1499   300 133 35  143 44 
1878 8749    1688   193 151 27  216 38 
1879 8977    1342   570 154 47  182 39 
1880 8844    1425   391 138 23  85 21 
1881 9011    1452   197 22 23  71 23 
1882 8832    1413   202 77 18  62 18 
1883 9506    1543   150 107 38  66 37 
1884 9004    1688   103 113 28  67 55 












127520    20969 2598 3452 1016 25  286 258  1011 872 299 
148489 7066 569 2182

Wie obenstehende Tabelle zeigt, hat sich im Laufe der Zeit der Gesundheitszustand auf den Transportschiffen bedeutend gebessert, die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle erheblich abgenommen. Meistens sind es die Kinder, welche den Entbehrungen und sonstigen Unannehmlichkeiten der Fahrt weniger zu widerstehen vermögen, die vom Tode weggerafft werden. Gern bezeuge ich an dieser Stelle, daß das Inspektorat und die Lokalbehörden das Möglichste thun, um den Verschickten die Fahrt von Tjumen nach Tomsk erträglich zu machen. Die Schiffe werden nach jeder Fahrt gründlich gereinigt und desinfiziert und auch die Verpflegung ist, im Verhältnis zu den geringen dafür bewilligten Mitteln, eine recht gute. Die noch vorkommenden Krankheiten sind größtenteils eine Folge der Überfüllung am Bord und dem können die sibirischen Beamten nicht abhelfen. In jeder Sommerszeit werden ihnen 10 bis 12 Tausend Verbannte geschickt, die sie, so lange noch die Schifffahrt offen ist, nach Osten befördern müssen. Während dieser Zeit können aber die drei vorhandenen Schiffe höchstens nur achtzehn Transportfahrten zurücklegen, es ist daher nicht zu vermeiden, daß regelmäßig 6 bis 8 Hundert Personen auf einmal befördert werden.

Für unseren Besuch des Etappengefängnisses von Tomsk war der 26. August bestimmt. Der Gouverneurstellvertreter Herr Petukoff teilte mir in der letzten Stunde mit, er wäre leider verhindert uns zu begleiten, unsere Gesellschaft bestand daher nur aus Oberst Jagodkin, Direktor Papelajeff, dem Eskorteoffizier, meinem Freund Frost und mir.

156 Es war ein kalter, grauer Tag, wie ihn der Spätsommer in Sibirien so häufig bietet. Bleischwer hingen die Wolken nieder und ein scharfer Nordwind fegte von den Bergen her. Die Luft war feucht und kalt; wir mußten bei der Fahrt nach dem an dem anderen Ende der Stadt gelegenen Gefängnis von unseren Überröcken Gebrauch machen.

Wir langten an. Das Äußere dieses Etappengefängnisses unterschied sich sehr wesentlich von allen andern derartigen Bauten, die wir bisher zu Gesicht bekamen. Anstatt des großen, dreistöckigen Gebäudes mit engen Bogenfenstern, Blechdach und weiß getünchten Mauern, das wir auch hier zu finden wähnten, sahen wir vor uns etwas, das wie ein kleines befestigtes Lager aussah, oder wie ein Präriendörfchen, das zum Schutz gegen die Angriffe der Indianer mit einer hohen Pallisade aus spitzigen Pfählen umgeben ist. Mit Ausnahme der gestreiften Schilderhäuser an den Ecken und der Schildwachen, die mit geschulterten Gewehren langsam auf- und niederschritten, bemerkten wir nichts, das an ein Gefängnis erinnert hätte. Es war ganz einfach ein auf freiem Felde vor der Stadt gelegener, von Pallisaden umfangener Raum von ungefähr drei Morgen, wo ein spitzer Kirchturm und die Dächer von 15 bis 20 Blockhäusern in die Luft ragten. Wären wir aber in Zweifel ob der Bestimmung dieses Ortes gewesen, das Kettengeklirr, das uns zu Ohren drang, als wir vor dem hölzernen Thor standen, hätte uns die Gewißheit gegeben.

Herr Papelajeff ließ uns anmelden und bald darauf erschien der Gefängnisdirektor Herr Iwanenko, ein untersetzter, kräftig gebauter, junger Mann und ließ uns in den Hof eintreten. Hier sahen wir einige stockhohe Blockhäuser ziemlich unregelmäßig um die hölzerne Kirche gruppiert. Fast an allen Thüren dieser Häuser standen Schildwachen und auf den ungepflasterten Wegen oder Zwischenräumen machten Hunderte gefesselter Gefangenen ihren täglichen Spaziergang oder kauerten auf bloßer Erde. Das eigentliche Gefängnis bildeten lange, einstöckige Holzbaracken mit stark vergitterten Fenstern und 157 massiven Holzthüren, die mit eisernen Vorlegschlössern versehen waren. Jedes einzelne Gebäude umfaßte einen »Kazarm«, eine Gefängnisabteilung, die durch einen quer durch die Mitte führenden Gang in zwei Zellen geteilt wurde. Das Etappengefängnis enthielt acht dieser Kazarms und jeder hatte die Bestimmung, 190 Häftlinge aufzunehmen, was etwa 4½ Kubikfuß Lichtraum für die Person ergiebtDer Direktor sagte mir, es wären acht dieser Kazarms vorhanden, der Bericht des Inspektors des Verbanntentransports für das Jahr 1884 giebt deren zehn an. Der Gouverneurstellvertreter Herr Petukoff sagte mir, es sei Raum für 1400 Häftlinge vorhanden, der erwähnte Bericht meldet, er genüge für 1900 Personen. Diese Zahl war auch zur Zeit unserer Anwesenheit vorhanden.. Sie waren alle von gleicher Größe, die ich auf 25 Meter Länge, 14 Meter Breite und über vier Meter Höhe schätzte.

Die erste Zelle, die wir besuchten, enthielt ungefähr 150 Gefangene. Sie war genügend beleuchtet, aber die Luft war von der Ausatmung der Menge ganz verpestet und die Temperatur überstieg die äußere um beiläufig 20 Grad. Zwei Reihen Pritschen zogen sich entlang, aber sie konnten kaum der Hälfte der Zahl der Anwesenden genügen, so daß der größte Teil genötigt war, unter den Pritschen, oder sonstwo auf der bloßen Erde, ohne Kissen, Decken und Bettzeug, zu schlafen. Unseres Besuches wegen war der Fußboden gereinigt worden, doch der Direktor erzählte mir, der Boden wäre, namentlich bei Regenwetter, stets mit Schmutz bedeckt, den die Füße der Gefangenen von draußen hereinschleppten und viele müßten dann in diesen Pfützen ihre Nachtruhe halten.

Viele Häftlinge, im Glauben, wir kämen zur Inspektion von Petersburg, übertraten uneingeschüchtert von der Anwesenheit des Direktors die Vorschriften, indem sie sich bei uns unbefragt über Hitze, Schmutz, schlechte Luft, Überfüllung beklagten, die sie bei Tag in jeder Bewegung, bei Nacht an der Ruhe hinderten. Die Armen thaten mir leid, aber ich konnte 158 ihnen nur sagen, daß es nicht in unserer Macht stünde, etwas für sie zu thun.

Eine Stunde etwa gingen wir von Kazarm zu Kazarm, von Zelle zu Zelle und fanden überall dieselbe Überfüllung, dieselbe atembeklemmende Luft, dieselben Ekel erregenden und mit Krankheitskeimen geschwängerten Düfte, dasselbe Gewiebel der zusammengedrängten, in Grau gekleideten Häftlinge. Herr Papelajeff, der unsere Besichtigung möglichst rasch beendigt zu sehen wünschte, bemerkte nun, daß hier nichts mehr zu sehen wäre, als Küche und Krankenhaus, was wir wohl – wie er glaube – ganz außer Acht lassen werden, zumal in letzterem 70 bis 80 Kranke sich befänden, die am Typhus schwer litten. Der junge Eskorteoffizier, der die Absicht des Obersten Jagodkin uns das Gefängnis genau kennen lernen zu lassen, nach Möglichkeit unterstützen wollte, fragte den Direktor, ob er uns nicht die Familienzellen und die »Bologans« zu zeigen beabsichtige.

»Gewiß,« antwortete der Direktor, »ich will die Herren alles, was sie wünschen, besichtigen lassen.«

Bisher hatte ich von »Bologans« noch nichts gehört. Herr Papelajeff schien, als würde er uns von diesen ebenso gern fern gehalten wissen, wie früher von dem Schiffe.

Die »Bologans« waren drei lange, niedrige Baracken, die aus ungehobeltem Fichtenholz mit ersichtlicher Eile zusammengezimmert waren; die Wände waren mit weißem Baumwollstoff überzogen. Sie waren ausschließlich für Frauen und Kinder bestimmt.

Die erste dieser zeltartigen Baracken, in die wir nun eintreten wollten, war von einem halb mit Unrat gefüllten Graben umgeben, in den Schmutzwasser oder Urin sich ergoß. Fenster waren nicht vorhanden, sie enthielt nur so viel Licht, als der Baumwollenstoff durchließ.

Ein traurigeres Stück menschlichen Elends als das, was sich bei unserem Eintritt den Blicken bot, kann sich keiner vorstellen. Die Baracke war, wörtlich genommen, vollgestopft 159 mit hinfälligen Männern und Weibern, weinenden Kindern, die in jeder möglichen Weise auf den Pritschen lagen oder umherstanden. Durch die Spalten des Daches konnte man den Himmel sehen; die rohen Bretter der Diele wiesen stellenweise Löcher auf, wo der Schmutz und Unrat abgelagert wurde. Die Luft war, besonders durch die Anwesenheit der vielen kleinen Kinder, denen jede körperliche Pflege mangelte, völlig unerträglich; und überdies hingen noch auf den Querbalken nasse Kleidungsstücke, die in den Feldkesseln gewaschen wurden. Die schmalen, kaum 1¼ Meter breiten Gänge waren durch Säcke Bündel, Bettzeug und verschiedenes Hausgerät verrammelt. Und in diesem Chaos von Unordnung und Elend, wo keiner sich bewegen konnte ohne an den andern anzustoßen, sollten Hunderte von Menschen leben und was der Tag brauchte, verrichten. Mir wollte das Herz brechen beim Anblick dieser vielen Weiber und Kinder, die so zu leben gezwungen waren und die dabei keines Verbrechens schuldig gefunden wurden, sondern nur aus Liebe dem Gatten, Vater oder Bruder nach Sibirien folgten. Während wir die Baracke durchschritten, bestürmten uns diese Unglücklichen mit ihren Bitten und Klagen.

»Euer Gnaden!« bemerkte demütig ein schwaches Männchen, »man kann hier nicht schlafen, die Kälte, die vielen Leute und das Kindergeschrei machen den Schlaf unmöglich, vielleicht ließe sich das verbessern?«

»Nein, Brüderchen,« antwortete der Direktor freundlich, »es läßt sich nichts machen. Aber tröst' dich! Du ziehst bald weiter und dann wird dir's auch besser.«

»Geb's Gott!« seufzte das Männchen und blickte traurig sein Weib und sein Töchterchen an, die neben ihm auf der Pritsche saßen.

»Väterchen! Wohlthäter!« rief aus ein bleiches verkümmertes Weib mit einem Kind an der Brust, »lassen Sie mich doch um Gottes Barmherzigkeit willen im Badhaus 160 übernachten. Hier ist bei Nacht so kalt, daß das Würmchen schier erfriert.«

»Geht nicht, Mütterchen, geht nicht!« antwortete der Direktor. »Bist hier besser daran als dort.«

Auch andere Frauen stellten dieselbe Bitte und wurden ebenso zurückgewiesen. Ich fragte den Direktor, der ein gutherziger Mensch zu sein schien, warum er nicht diesen armen Frauen mit ihren Säuglingen gestatte, im Badehaus zu schlafen. Die Nächte wären jetzt schon kühl und die dünnen Leinenwände gewährten nur geringen Schutz.

»Es ist nicht möglich,« antwortete er. »Im Badehaus ist es zu heiß und zu feucht. Ich habe bereits den Versuch gemacht, aber in jeder Nacht starb eines oder zwei der Kleinen und so muß es nun unterbleiben.«

Er mochte recht haben.

Als wir aus dem »Bologan« ins Freie kamen, fanden wir Herrn Papelajeff im Gespräche mit einem der Verschickten, einem hübschen blondbärtigem Manne in den dreißiger Jahren, dessen Angesicht den Widerstand der Verzweiflung ausdrückte und der sehr erregt schien.

»Seit Monaten hab' ich nur ein einziges Hemd bekommen, und das ist nun zerrissen, schmutzig und voll Ungeziefer,« rief der Häftling, den Zorn mühsam unterdrückend aus.

»Wenn du weiter verschickt wirst, sollst du ein anderes bekommen,« antwortete Herr Papelajeff dem Anscheine nach ganz gleichgültig.

»Aber wann wird das sein?« rief der Mann nur viel erregter aus. »Vielleicht in drei Monaten?«

»Auch möglich.« antwortete Papelajeff trocken, aber mit innerem Grimm, da er bemerkte, daß wir des Gespräches Zeugen waren.

»Sie wollen also, daß der Verschickte ein Hemd trage, bis es ihm vom Leibe fällt!« schrie der Verbannte mit dem Mut und dem Zorn der Verzweiflung.

»Schweig!« schrie Papelajeff noch lauter, seine ganze 161 Selbstbeherrschung verlierend. »Wagst du so mit mir zu reden! Ich werde dich durchpeitschen lassen! Wenn du weiter verschickt wirst, bekommst du ein Hemd, nicht früher. Und jetzt – pack dich!«

Die Zornesröte stieg in dem Gesicht des Abgewiesenen auf; seine Brust hob und senkte sich in der mühsam zurückgehaltenen Wut. Aber er bezwang sich und zog sich schweigend in einen der »Bologan« zurück.

»Wie lange bleiben die Weiber und Kinder in dieser Baracke?« fragte ich den Direktor.

»Bis zum 2. Oktober,« antwortete er.

»Und wo werden sie dann untergebracht, falls sie noch nicht weiter ziehen können?« fragte ich wieder.

Er zuckte die Achseln und schwieg.Als ich später wieder hierher kam, vernahm ich, daß Ende Oktober zweihundert Frauen und Kinder in einem für diesen Zweck gemieteten Hause untergebracht wurden, während tausend oder fünfzehnhundert andere Verbannte nach dem Stadtgefängnis und dem Zuchthause überführt wurden. Es geschah infolge des im Etappengefängnis epidemisch aufgetretenen Typhus.

Wir begaben uns in eine der »Familienzellen«, die sich in einem Blockhause befand.

Derselbe Anblick von wüstem Elend wie im »Bologan«! Nur, daß hier hölzerne Wände vorhanden waren und die Luft zwar schlecht, aber doch nicht so rauh wie drüben. Männer, Weiber, Kinder saßen, lagen oder standen umher, nahmen in irgend einer Weise jeden Geviertfuß Raum in Anspruch.

Ich hatte genug des Jammers gesehen und ersuchte nun den Direktor uns die Krankenabteilung zu zeigen. Es war ein zwei Stockwerke hohes Gebäude nächst der Kirche. An der Thüre trafen wir den Gefängnisarzt Doktor Orzhesko, ein kräftig gebauter Mann mit gutmütigem Gesicht. Er war ein Pole.

Das Krankenhaus unterschied sich nicht in besonderer Weise von jenem das wir in Tjumen sahen, nur daß es hier 162 abgesondert war und doch etwas mehr Ordnung zu herrschen schien.

Ursprünglich war es zur Aufnahme von fünfzig Betten bestimmt, die Menge der Kranken erforderte jedoch, daß in demselben Raum die dreifache Zahl aufgestellt wurde und dabei lagen noch immer etwa fünfzig auf Bänken oder auf dem Boden. Bei unserer Anwesenheit befanden sich im Krankenhause 193 Personen, darunter 71 Typhuskranke.

Die Krankenzimmer waren trotz der Überfüllung rein, die Bettwäsche frisch und die Luft doch nicht so schlecht wie in der Krankenabteilung von Tjumen. Die schwarzen Brettchen an den Kopfenden der schmalen Betten gaben zu lesen, daß die Häftlinge hauptsächlich erkrankten an: Typhus, Skorbut, rote Ruhr, Rheumatismus, Blutarmut und Bronchitis. Unter den Pflegerinnen befanden sich Frauen in den zwanziger Jahren mit recht intelligenten Gesichtern. Sie gehörten zweifellos zu den besseren Gesellschaftskreisen, vielleicht waren es Studentinnen der Heilkunde.

Nachdem wir das Krankenhaus, so gut wie es möglich war, besichtigt hatten, dankten wir dem Direktor Iwanenko für die freundliche Bereitwilligkeit und auch für die Offenheit die er uns bekundete und kehrten dann heim.

In dieser Nacht konnte ich lange Zeit nicht einschlafen, und als es endlich doch geschah, träumte ich von überfüllten »Bologans«, von toten Säuglingen in Badehäusern, von gespensterisch bleichen Gesichtern, wie ich sie im Krankenhaus des Etappengefängnisses von Tomsk gesehen.


Um den Leser eine möglichst klare Vorstellung des entsetzlichen Elends zu verschaffen, welches das Verschickungssystem mit sich bringt, ist es nötig, daß ich noch einiges über den Zustand bemerke, in denen sich zwei Monate später das Etappengefängnis von Tomsk befand.

Als ich im Monat Februar aus Ostsibirien zurückkehrte, hatte ich eine ziemlich lange Unterredung mit Doktor Orzhesko. 163 Er erzählte mir, wie nach unserer Abreise der Zustand des Gefängnisses noch viel schlimmer wurde und bemerkte dabei: »Unmöglich können Sie sich vorstellen, wie es bei uns im November war. Wir hatten im Laufe des Jahres 2400 Krankheitsfälle, davon waren 450 zu gleicher Zeit und dabei nur 150 Betten. Dreihundert todkranke Männer und Weiber lagen reihenweise auf der Erde. Ich mußte sie so dicht nebeneinander legen lassen, daß ich nicht zwischen ihnen gehen konnte. Der Kranke konnte nicht ausspucken oder erbrechen, ohne dabei den Nachbar zu beschmutzen. Die Luft war so verdorben, daß ich oft bei meinen Morgenbesuchen ohnmächtig wurde; um sie einigermaßen zu verbessern, mußten wir die Fenster öffnen und da es Winter wurde, konnten wir die Temperatur am Boden, hier, wo die Kranken lagen, nie über fünf oder sechs Grad Reaumur Wärme bringen. Mehr als ein Viertel der Häftlingeanzahl war krank und mehr als 10 Prozent der Erkrankten starben.«Der Bericht des Transportinspektors lehrt, wie die Zahl der Erkrankten im Verhältnis zur Überfüllung sich vergrößerte:

1885 Es erkrankten durch-
schnittlich täglich:
Prozentsatz zur Zahl
der Häftlinge:
Juni 108 5,8    
Juli 170 6,9
August 189 7,1
September 242 9,6
Oktober 356 15,4
November 406 23,2

Die Zahl der Erkrankten vermehrte sich noch im Laufe der kalten Winterszeit, bis sie im Monat März mit 40,7 Prozent den Höhepunkt erreichten. Das heißt also, bis beinahe die Hälfte der Zahl der Häftlinge krank war. (Bericht des Transportinspektors für das Jahr 1885, Seite 30).

»Und wie lange währt schon dieser schauderhafte Zustand?« fragte ich.

»Ich bin bereits fünfzehn Jahre hier,« antwortete er, »und während dieser Zeit ist es so ziemlich gleich geblieben.Der Bericht der medizinischen Abteilung des Ministeriums des Innern berichtet, daß im Jahre 1882 im Etappengefängnis von Tomsk 1268 Personen auf Typhus und 1311 auf Diphtheritis, Masern und Pocken ärztlich behandelt wurden.

»Kennt die Regierung in Petersburg diese Zustände?«

»Jedes Jahr wurde Bericht erstattet. Ich beantragte das hiesige Etappengefängnis niederzubrennen, denn es ist [so] sehr mit Ansteckungsstoff durchsetzt, daß es in keiner Weise mehr benutzt werden sollte. Wir erhielten den Auftrag, Pläne für ein neues Krankenhaus auszuarbeiten und einzusenden, was auch geschah. Sie kamen behufs Abänderung zurück und wir änderten sie ab. Aber es ist alles geblieben wie es war.«

Diese offenen Erklärungen des Gefängnisarztes von Tomsk brauchen keine erläuternden Glossen. Sie genügen, um im Namen der Civilisation und Menschlichkeit die Anklagen gegen das Etappengefängnis von Tomsk zu richten.

 


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