George Kennan
Sibirien
George Kennan

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2. Die Ebenen und Gefängnisse in Westsibirien.

Indem wir die Grenze überschritten, kamen wir in einen Teil des russischen Reiches, dessen Größe und Bedeutung gewöhnlich unterschätzt wird. Die Meisten wähnen, Sibirien sei ein arktisches Land, dessen karger Boden den größten Teil des Jahres mit Schnee und Eis bedeckt ist. Man glaubt, die geringe Bevölkerung bestehe hauptsächlich aus Verbannten, denen einige wenige Eingeborene, Soldaten und Beamte noch zuzurechnen wären. Selten nur finden wir ein richtiges Urteil über dieses Land, das gewissermaßen einen selbständigen Erdteil bildet.

Sibirien erstreckt sich von Süden nach Norden, vom Semirjetschinsk bis zum Kap Tscheljuskin vom 40,17 bis zum 77,46 Breitegrad und von Osten nach Westen, vom Uralgebirge bis zur Behringsstraße, vom 90 bis 190 Grad.

Die Vereinigten Staaten Nordamerikas, Alaska und sämtliche Staaten Europas, Rußland ausgenommen, könnten auf dem Flächenraum Sibiriens untergebracht werden und es bliebe dann noch immer ein beträchtlicher leerer Raum.

Ein Land von der Größe von zwölf Million Quadratkilometer weist natürlich große Unterschiede auf im Klima, Topographie und Vegetation. Ein Blick auf die Landkarte lehrt uns, daß ein großer Teil Westsibiriens südlicher liegt als Nizza, Venedig und Mailand, daß die südliche Grenze der Provinz Semirjetschinsk dem Äquator näher ist als Neapel. In einigen Gegenden der Provinz Irkutsk beträgt die Durchschnittstemperatur im Monat Januar 50 Grad Fahrenheit, in Semipalatinsk weist sie im Juli 72 Grad aus: es sind sogar Maximaltemperaturen von hundert Grad im Schatten nicht gar zu selten. Während auf der Halbinsel Taimura der Boden im Sommer nur einige Zoll tief aufthaut und nur spärliches Gesträuch und Moos fortkommen, reift im Westen die Melone, gedeiht hier Tabak und Korn. Von diesem wird die jährliche Ernte auf 18½ Million Hektoliter geschätzt.

31 Der sibirische Winter ist gewöhnlich in allen Teilen sehr streng, der Sommer dagegen sehr heiß. In dem fruchtbaren und gut bebauten Teil Südsibiriens, der sich in Mittelasien der Mongolei entlang ausdehnt, sind viele Städte, deren Durchschnittstemperatur in den Sommermonaten eine höhere ist, als die Londons; Irkutsk hat um fünf Grad mehr als Dublin, Tobolsk um vier Grad mehr als London; Semipalatinsk weist ebensoviel auf wie Boston und der Sommer in Vierni ist genau so warm wie der in Chicago.

Diese milde Witterung ist es auch, die den Reisenden, der im Sommer zum erstenmal nach Sibirien kommt, am meisten überrascht. Wir waren zwar durch unsere Reise stromaufwärts der Kama einigermaßen vorbereitet, nicht desto weniger versetzte uns das, was wir hier beim Eintritt in Sibirien sahen und fühlten, in höchstes Erstaunen. Nichts erinnerte uns in diesem fruchtbaren Landstrich voll Blumen und Blüten an das arktische Gebiet. Wären wir plötzlich hierher versetzt worden – wir hätten nie erraten können, wo wir uns befinden. Ein sonnigblauer Himmel, die Bäume in voller Blütenpracht, auf blumigem Anger schwirrten die Bienen und aus dem dichten Laubwerk klangen der Vögel Stimmen; die Luft durchwürzt von Blütenduft und fröhlich heller Sonnenschein – das alles war, wie es nur an irgend einem begnadeten Ort der gemäßigten Zone in der Junizeit sein konnte.

Zwischen Tscheremischkaja und Sugatskaja kamen wir durch ein fruchtbares, gut bebautes Gebiet. Ein umfangreiches Gehölz war nicht vorhanden, nur hier und da zeigte sich eine Birken- oder Pappelanlage. Oft sahen wir ein Saatgefilde, so weit der Blick nur reichte, beblümte Wiesen, wo Kühe und Schafe grasten; Männer und Frauen in bunten Kleidern waren mit der Feldarbeit beschäftigt und belebten dieses wundervolle Landschaftsbild. Dann wieder kamen wir in einen schattigen Wald, aus dessen Tiefe der Ruf des scheuen Kuckucks scholl; aus weichem Wiesengrund, der von Vergißmeinnicht übersäet war, wo das frohe Zwitschern und Singen der Vogel die Luft 32 füllte. Überall Blumen und Blumen! Die Steppe schien ein weites Blumenmeer zu sein; und um das Bild vom Meer noch ähnlicher zu machen, zeigte sich die mit Vergißmeinnicht reichlich besetzte Flur von fernher, wie eine stille Wasserfläche, in der sich des Himmels Bläue spiegelnd wiedergiebt.

Die Straße zwischen Jekatarinenburg und Tjumen war mit zwei, drei Reihen hoher Silberbirken dicht bepflanzt; ihr verschlungenes Geäst bildete ein Blätterdach, das die heißen Sonnenstrahlen nicht durchließ. Viele Meilen weit fuhren wir durch diese natürliche Arkade, deren Säulen die weißen Baumstämme waren, deren Decke das schön verschlungene Laubwerk bildete. Wie die Überlieferung kündet, wurden diese Baumreihen auf Befehl der Kaiserin Katharina II. gepflanzt und jener Teil der Straße, den sie beschatten, wird auch »die Katharinaallee« genannt. Wollte die Monarchin mit dieser Anlage den Verbannten die Mühseligkeiten des Marsches im Sommer lindern? oder wollte sie auch damit die Einwanderung in dem Lande fördern, für welches sie ein großes Interesse hatte? Immerhin! diese Alleen haben seit einem Jahrhundert ihr Angedenken mit jedem Jahr neu erblühen lassen, vielen Tausenden, die hier vorüberziehen mußten, boten sie Schutz vor den heißen Sommergluten.

Was jedem Amerikaner besonders auffällig sein muß, ist, daß den Bauernhöfen jede Umzäunung fehlt. Die Felder sind wohl regelmäßig eingeteilt, aber man kann da stundenlang fahren, ohne eine Einfriedung zu sehen oder einen Farmhof. Die Zäune fehlen, weil hier das Vieh auf der Gemeindewiese grast, der Mangel an Höfen erklärt sich durch den Umstand, daß der Bauer nicht der Eigentümer des von ihm bebauten Grundstückes ist, daß er daher wenig Ursache hat, sich dabei häuslich niederzulassen. Grund und Boden ist hier fast gänzlich Staatseigentum; die Dorfgemeinden haben wohl das Nutzrecht, aber sie können damit nicht beliebig verfügen und nicht das Geringste davon in ein persönliches Eigentum verwandeln. Ihre ganze Macht besteht nur darin, daß sie von Zeit zu Zeit 33 das Ackerland unter den Gemeindemitgliedern zur Benutzung aufteilen; hat ein Teil dieser Parzellen seine Besitzer gewechselt, so findet eine neue Verteilung statt, wobei auf den bisherigen Pächter keine Rücksicht genommen werden muß und die Opfer, die er bisher dafür brachte, für ihn verloren sind. Ein derartiges System hat zufolge, daß jeder nur so viel Land zum Anbau nimmt, als er unbedingt braucht und demnach weite Strecken unbewohnt bleiben.

Eine andere, sehr auffällige Eigentümlichkeit ist die Armseligkeit und Vernachlässigung der westsibirischen Dörfer, trotzdem das Land reiche, natürliche Hilfsquellen hat. Ein Dorf besteht hier aus zwei Reihen roher, einstöckiger Blockhäuser, deren steile Giebel der Straße zugekehrt sind und die an der Vorderseite weder einen Hof noch eine Thüre haben. Zwischen je zwei Häusern befindet sich ein umzäunter Hof mit Speicher und Scheune; hier ist auch die Hausthüre. Giebel und Verzäunung sind an manchen Stellen mit Schnitzereien verziert, die Fensterläden bunt bemalt. Aber davon abgesehen, ist alles höchst primitiver Art und ein großer Teil der Blockhäuser ist alt und baufällig.

Die breite Straße hat keinen Fußsteig und verwandelt sich bei anhaltendem Regenwetter in ein Kotmeer. Im ganzen Dorf kein Baum, kein Strauch, kein Rasen. Kurzborstige Schweine siehlen sich in den Pfützen oder laufen Futter suchend durch die Straße. Das ganze Dorf zeigt nur Armut und Schmutz. Oft aber täuscht man sich und es verbirgt sich dahinter die Wohlhabenheit. Auf Reinlichkeit und Schönheit scheint der sibirische Bauer allerdings keinen Wert zu legen, auch Gemeinsinn und Unternehmungsgeist mangeln ihm gänzlich. So lange ein Übel einigermaßen noch erträglich ist, fällt es keinem ein, eine Verbesserung zu erstreben. Vieles mag da auch die väterliche Regierungsform, die alles vorschreibt und maßregelt, verschuldet haben. Wie ließe sich auch reger Gemeinsinn und Unternehmungsgeist erwarten, wenn nichts ohne behördliche Genehmigung geschehen darf und die beste Absicht 34 von der Laune eines Polizeibeamten vereitelt werden kann. Alles, was da der Bauer thun kann, ist: gehorsam sein, die Gnade der Vorgesetzten ruhig abwarten und wenn es arg ist, dem lieben Gott danken, daß es nicht noch ärger geworden.

Nur ein einziges Zeichen von Schönheitssinn giebt sich in den westsibirischen Dörfern zu erkennen: Blumen und andere Pflanzen, die die Fenster schmücken. Das ganze Dorf mag keinen Baum, keinen Grashalm zeigen, aber kaum findet sich ein Haus, dessen Fenster nicht blühende Fuchsien, Oleander, Kakteen, Geranien, Theerosen und Nelken aufweisen. Das Haus eines eifrigen Blumenliebhabers kann keinen schöneren Flor aufweisen, als jener ist, der die Hütte manches armen sibirischen Bauern ziert. Eigenartig sind auch die irisierenden Glasscheiben, deren buntes Farbenspiel zuweilen dem des berühmten cyprischen Cesnolagaglases gleichkommt. Diese schillernden Fenster bilden mit dem dunkeln Holz der Häuser einen nicht minder überraschenden Kontrast, als die kahle, pfützige Straße zu dem prächtigen Flor der Häuser.

In der Nähe Tjumens änderte sich das Bild der Landschaft. Die weite Ebene, das fruchtbare, bebaute Land verschwand, dagegen zeigte sich ein sumpfiger Urwald. Die Straße, die bisher in verhältnismäßig gutem Zustand war, bot nun einen zähen Schlammboden, in welchem die Räder unseres schweren Tarantas bis zur Achse einsanken, so daß wir nur langsam vorwärts kamen. Man mochte versucht haben, die Straße fahrbar zu machen, indem man dicke Baumstämme in ihren morastigen Grund versenkte, jedoch vermochten sie den Rädern der vielen schweren Lastwagen nicht lange Widerstand zu leisten und machten jetzt nur die Straße viel holperiger. Das beständige Gerüttel wurde uns unerträglich, wir stiegen ab, um lieber eine Zeitlang zu gehen. Allein die Sonne schien so sengend nieder, und die Stechfliegen, die hier in Menge vorhanden waren, stachen so arg auf uns los, daß wir uns schon nach einem Viertelstündchen mit zerstochenen Gesichtern in den Wagen flüchteten.

35 An der Thorwächterhütte eines der letzten Dörfer vor Tjumen hörten wir den lauten Klang einer Schelle. Als wir anhielten, trat auf uns zu ein Mann mit der Schelle, der einen langen, schwarzen Rock trug, dessen lange, flachsblonde Haare bis auf die Schultern niederhingen und der eine Sammelbüchse um den Hals befestigt trug. Er wies auf das an der Straße aufgestellte, von einem alten Goldrahmen umgebene Bild, das wahrscheinlich einen Kirchenheiligen darstellte. Was diese Schaustellung zu bedeuten habe, konnten wir uns nicht erklären. Unter zahlreichen Verbeugungen und Bekreuzigungen, mit einer Flut von Segenswünschen für uns, bat er uns, die Kirche dieses Heiligen, die vermutlich in der Nähe lag, mit einer frommen Gabe zu unterstützen. Meinen Genossen belustigte dieser Vorgang recht sehr, scherzend fragte er, ob diese Straße dem Heiligen gehöre und ob er sein Zöllner sei. Jener antwortete, der Heilige habe mit der Straße nichts zu schaffen, aber seine Kirche sei arm und alle edlen Herren, die hier vorüberzögen, pflegen sie zu unterstützen und dabei auch des armen Thorwächters nicht zu vergessen. Natürlich wollten wir uns auch als »edle Herren« erweisen; wir gaben ihm einige kleine Münzen mit der Weisung, die Hälfte in die Sammelbüchse zu werfen und den Rest für sich zu behalten. Nachdem wir in dieser Weise Kirche und Schnapsladen, die zwei Hauptsäulen des russischen Gesellschaftsbaues, unseren Tribut entrichtet hatten, setzten wir unsere Reise fort.

Donnerstag am 18. Juni nachmittags, verließen wir den Wald und gelangten auf eine weite Ebene, welcher Riedgras und Butterblümchen eine grüngelbe Färbung gaben. »Dort liegt Tjumen!« rief unser Kutscher mit der Peitsche vorwärts weisend. Wir erblickten nun eine lange Reihe pyramidenförmiger Holzdächer, die zuweilen von den hellen Mauern eines Staatsgebäudes oder von der grünen Kuppel einer Kirche unterbrochen wurde. Wir fuhren vorbei an einem Marmorpilaster, der im Jahre 1868 zur Erinnerung an den Abschied der Bürger vom Großfürsten Wladimir errichtet wurde, an einer 36 Abteilung Soldaten, die im Scheibenschießen sich übte, eine lange Reihe niedriger Schuppen, die von weißen Zeltwagen für Verbannte umgeben waren und schließlich an das in der Vorstadt befindliche berühmte Etappengefängnis.

Es gab in der Stadt einige Hotels; wir benützten die Empfehlung unseres Kutschers und kehrten bei einem Herrn Kovalski ein, der eine Stube zu vermieten hatte. Es war sechs Uhr abends, als wir hier anlangten; wir hatten in zwei Tagen mit elfmal Pferdewechsel ungefähr 330 Kilometer zurückgelegt und hatten über vierzig Stunden schlaflos auf unserem unbequemen Wagensitz verbracht. Meine Glieder waren von dieser Rüttelfahrt ganz steif geworden; wäre jetzt der Kaiser von Rußland erschienen, ich hätte keine Verbeugung zuwege gebracht. Kaum vermocht ich die Treppen des Hauses zu erklimmen; als es jedoch geschehen war und nachdem wir den Hunger gestillt, legten wir uns nieder und schliefen bis zum hellen Morgen.

Tjumen, wo unsere sibirische Reise eigentlich erst begann, wo unsere Untersuchungen des Verbannungssystems erst ihren Anfang nehmen sollte, ist eine Stadt mit 19 000 Einwohnern und liegt, 2740 Kilometer entfernt von Petersburg, am rechten Ufer der Tura, oberhalb deren Mündung in den Tobel; Stadt und Umgebung haben einen sehr bedeutenden Handelsverkehr. Es herrschen bei uns, wie schon erwähnt wurde, recht falsche Begriffe über Sibirien, so daß ich, selbst auf die Gefahr hin langweilig zu sein, einige statistische Daten anführen will: Die Provinz Tobolsk, die der Reisende aus Europa zuerst betritt, erstreckt sich vom nördlichen Eismeer bis zu den sonnenversengten Steppen von Semipalatinsk und Akmolinsk, vom Uralgebirge bis zu den Grenzen der Provinzen Jeniseisk und Tomsk. Ihr Flächenraum beträgt 152 743 979 Hektare mit 10 926 900 Hektare bebautem Boden. Sie besitzt acht Städte, deren Bewohnerzahl zwischen 3000 und 20 000 sich bewegt und eine Gesamtbevölkerung von mehr als 1 200 000 Seelen. Jährlich werden von hier große Mengen von Rohprodukten: Felle, Talg, 37 Borsten, Pelzwerk, Vogelbälge, Flachs und Hanf ausgeführt und mehr als zwei Million Pfund Butter gehen jährlich über Rostoff am Don nach Konstantinopel. Der Viehstand wird auf mehr als 2½ Million Stück geschätzt und die Getreideernte eines einzigen Jahres ergab, nach statistischen Ausweisen, ungefähr zehn Million Hektoliter.

Die Fabrikindustrie dieser Provinz befindet sich erst in ihrer Entwicklung, aber sie beschäftigte damals bereits über sechstausend Personen und brachte Waren im Werte von ungefähr 8½ Million Rubel in den Verkehr; außerdem giebt es viele kleine Werkstätten und eine beträchtliche Hausindustrie, die Leinwand, Teppiche, Fischernetze und noch vieles andere erzeugt. Im Flußgebiet des Ob werden jährlich beiläufig 8 Tausend Tonnen Gewicht Fische gefangen, die 3 Tausend Tonnen Salz zum Einpökeln benötigen. Tjumen, die bedeutendste Stadt der Provinz, liegt, wie erwähnt wurde, an der Tura, auf welcher Dampfschiffe nach dem ganzen Flußgebiet des Ob verkehren. Auf diesem Flusse verkehren 58 Dampfschiffe, die meisten zwischen Tomsk und Tjumen. Die letztgenannte Stadt ist die Transitorstelle für Güter im Werte von 30 bis 40 Million Rubel jährlich. – Sibirien schickt zur Messe nach Nischnii-Nowgorod mit jedem Jahre seine Rohprodukte im Werte von ungefähr 16 Million Rubel und erhält dagegen 300 000 Tonnen Manufakturwaren.

Der nächste Tag lehrte uns, wie wandelbar dieses sibirische Wetter zu sein vermag. Während der Nacht drehte sich der Wind nach Nordost und stürmte nun vom nördlichen Eismeer über die Tundren her. Ein kalter Regen goß nieder und verwandelte die ungepflasterten Straßen zu Pfützen, so daß es fast unmöglich war, die Straßen zu passieren. Mittelst Droschke fuhren wir zur Post und wieder zurück und den Rest der Tageszeit füllten wir mit der Durchsicht und Beantwortung der angelangten Briefe.

Samstag klärte sich das Wetter auf und wir unternahmen einen kleinen Rundgang durch die Stadt. Es war nicht des 38 Weges wert. Die nämlichen schmutzigen, ungepflasterten Straßen, wie wir sie vorher in den Dörfern fanden, nur daß es hier doch einige Bohlenfußsteige gab und daß die Blockhäuser etwas umfangreicher waren. Aber hier wie dort kein Baum, kein Strauch, keine Vorhöfe, keine Frontthüren. Nur die hellen Kirchenmauern mit ihren grünen Kuppeln boten eine Abwechselung.

Ein Herr in Petersburg gab uns ein Empfehlungsschreiben mit an den hiesigen Direktor der Realschule, Herrn Slowtsoff. Samstag Nachmittag, nachdem sich der Sturm gänzlich gelegt hatte, übergaben wir das Schreiben und wurden recht herzlich aufgenommen. Die Schule, der er vorsteht, befindet sich in dem schönsten und größten Gebäude der Stadt; es ist ein massiver zweistöckiger Ziegelbau, den ein reicher Kaufmann mit einem Kostenaufwand von 85 000 Dollars aufführen ließ und der Stadt zum Geschenk machte. Sie ist trefflich eingerichtet, hat eine Abteilung für Mechanik mit einer Dampfmaschine zum Betrieb der Werkzeuge, eine Abteilung für Naturwissenschaften mit den besten und neuesten Apparaten und ein chemisches Laboratorium, das reicher ausgestattet ist, als die meisten, die mir je zu Gesicht kamen, eine Bibliothek, ein Museum, welches u. a. auch ein Herbarium der heimischen wildwachsenden Pflanzen enthält. Es ist, kurz gesagt, eine musterhafte Anstalt, die keinen Vergleich zu scheuen braucht.

Herr Slowtsoff teilte uns die Adresse eines Schotten mit, Herrn Wardroppers, der seit mehr als zwanzig Jahren hier seinen Handel betreibt. Wir setzten voraus, daß ihm ein Besuch aus fernem Westen nicht unangenehm sein werde und täuschten uns auch nicht, denn wir wurden herzlichst aufgenommen und wir fühlten uns im Kreise seiner Familie bald heimisch.

In Tjumen befindet sich das bedeutendste Etappengefängnis Sibiriens und die Oberbehörde für das Verbannungswesen. Alle zur Verbannung oder Zwangsarbeit Verurteilten werden, wenn sie nach Süden oder Osten verschickt werden, in diesem 39 Gefängnis vorübergehend untergebracht und hier werden die auf die Verbannten bezüglichen persönlichen und statistischen Schriftstücke hergestellt. In Erinnerung dessen, daß wir in Perm wegen Besichtigung des Gefängnisses von außen, verhaftet wurden, bezweifelten wir, daß uns hier erlaubt sein werde, das Gefängnis von innen zu besehen; Herr Wardropper war jedoch anderer Ansicht und begleitete uns am Sonntag zu dem Polizeidirektor, Herrn Krassin. Wir überreichten unsere Empfehlungsbriefe von den russischen Ministerien und wurden recht freundlich aufgenommen und zum Frühstück geladen. Im Laufe des Gespräches gab er zu erkennen, daß er durch amtliche und auch private Mitteilungen von dem Zweck unserer Reise bereits verständigt sei und daß er uns dazu gern förderlich sein will. Er befürchtete wohl, daß uns jetzt die Gefängnisse überfüllt und im schlechten sanitären Zustand erscheinen dürften, aber nichts desto weniger gab er uns gleich die Erlaubnis des Besuches und bestimmte dafür den nächsten Tag.

Ein plötzlich eingetretenes Unwohlsein hinderte ihn sein Versprechen zu erfüllen, doch sandte er uns Dienstag einen Empfehlungsbrief an den Gefängnisdirektor und Mittwoch um die zehnte Morgenstunde standen wir in Begleitung des Herrn Wardropper und des Herrn Ignatoff – dieser war früher Mitglied des Gefängnisausschusses – vor dem Thor dieser Anstalt. Ein Ziegelsteinbau mit drei Stockwerken, ungefähr 25 Meter hoch und 15 Meter breit, das Dach mit Blech eingedeckt. Er lag in einem großen Hof, der von einer drei Meter hohen Mauer umfangen war. An jeder Ecke befand sich ein schwarzweißes, vergittertes Schilderhaus, Militärwachposten mit scharfgeladenen Berdangewehren und aufgepflanzten Bajonetten schritten auf und nieder. Rechts am Thor stand ein kleines Häuschen, das als Gefängnisbureau diente und vor demselben ein mit einem Holzdach versehener Pfosten, unter dem eine Glocke hing.

Vor dem Gefängnis saßen einige Mädchen und Frauen, die Brot, kaltes Fleisch, gesottene Eier, Milch und noch andere 40 Lebensmittel den Verbannten zum Kauf anboten. Ursprünglich war das Gefängnis in Tjumen zur Aufnahme von 500 Gefangenen bestimmt, durch Zubauten wurde es für 800 Gefangene erweitert; aber am Tage unserer Anwesenheit befanden sich dort nicht weniger als 1741 Häftlinge. Beim Thor hielt uns die Wache an; wir teilten ihr unser Vorhaben mit, worauf der Soldat durch die viereckige Schießscharte des Thores ein lautes »Star-chi-i-i« rief, ein Ruf, der der diensthabenden Charge galt. Ein mit Säbel und Pistole bewaffneter Unteroffizier kam nun herbei und übernahm den Empfehlungsbrief zur Übergabe an den Direktor.

Bald wurde uns der Eintritt gewährt.

Ungefähr 50 Häftlinge schritten im Hofe auf und nieder oder kauerten gruppenweise auf der Erde. Alle waren ganz in Grau gekleidet: eine schirmlose Mütze, Hemd und Hose aus grober Leinwand, ein Kaftan, wo zwischen den Schultern ein oder zwei viereckige Stückchen schwarzes oder auch gelbes Tuch befestigt waren. Fast alle trugen Ketten an den Füßen, die bei jeder Bewegung klirrten.

Wir kamen nun in eine »Kamera«, Zelle, die sich in einer stockhohen Holzbaracke, links neben dem Thor befand. Vermutlich wurde dieser Bau ausgeführt, um jene aufzunehmen, die im Hauptgebäude nicht mehr Platz fanden. Der Saal war etwa 12 Meter lang, 8 Meter breit und 4 Meter hoch. Die aus Balken bestehenden Wände mochten einst getüncht gewesen sein, jetzt waren sie nur ebenso schmutzig wie der vom Kot geschwärzte Fußboden. Durch drei vergitterte, in den Hof mündende Fenster wurde dieser Raum belichtet. In der Mitte befand sich eine hölzerne Pritsche, 10 Meter lang und 4 Meter breit und ⅔ Meter hoch. Sie dachte sich nach beiden Seiten sanft ab und diente für zwei Reihen zum Schlafen. Diese Pritsche und ein Kübel zur Verrichtung der Notdurft bilden die ganze Einrichtung eines sibirischen Gefängnisses; die Häftlinge erhalten weder Decken noch Kissen, sie ruhen auf der harten Pritsche und bedecken sich so gut es geht mit ihren Röcken. 41 Als wir eintraten, sprangen die Gefangenen plötzlich kettenklirrend auf, zogen die Mützen und stellten sich dicht und schweigend zur Pritsche.

»Wie geht's Jungen?« fragte der Direktor.

»Wir wünschen Euer Gnaden Gesundheit!« lautete die vielstimmige Antwort.

»Das Gefängnis ist schauderhaft überfüllt,« bemerkte uns der Direktor. »Sehen Sie diese Zelle zum Beispiel, sie ist 12 Meter lang, 8 Meter breit und bietet höchstens 40 Menschen Raum. Wie viele haben in der letzten Nacht hier geschlafen?« war die Frage, die er jetzt an die Häftlinge richtete.

»Hundertundsechzig!« antwortete eine Zahl heiserer Stimmen.

»In dieser Zelle sind also viermal so viel untergebracht, als sie eigentlich fassen kann,« sprach er jetzt zu mir gewendet. »Und so ist es bei uns überall.«

Ich hielt Umschau. Nirgends die Spur einer Ventilation; die Luft war auch so verdorben, daß mir das Atmen schwer wurde.

Wir besuchten nacheinander sechs Hofzellen, die alle denselben Zustand zeigten; überall eine drei- bis vierfache Überfüllung und fast überall reichten die Pritschen nicht aus und ein Teil der Häftlinge mußte auf dem schmutzigen Boden schlafen. Als wir eine dieser Zellen betraten, krochen etliche, allem Anscheine nach kranke Personen, unter den Pritschen hervor.

Nach den Baracken im Hof, besichtigten wir das Hauptgebäude, welches die Küche, die Werkstätten, das Krankenzimmer und einige Zellen enthielt, deren Zustand noch schlimmer war, als der, der bereits beschauten.

Herr Ignatoff, der als früheres Mitglied des Gefängnisausschusses diesen Zustand kannte, zog es vor, uns nicht zu begleiten.

Wir schritten weiter. Düstere, schmutzige Korridore, an deren beiden Seiten massive Holzthüren sich befanden; sie führten zu kleinen Zellen, die verhältnismäßig nicht minder 42 überfüllt waren und die auch dieselbe Einrichtung aufwiesen. In einer dieser Zellen sahen wir acht bis zehn Adelige, zweifellos gebildete Leute. Hier nahm auch der Direktor seinen Hut ab. Vermutlich waren es »Politische«, wenigstens wurden hier die aus politischen Gründen Verschickten gewöhnlich untergebracht.

Überall war die Luft im höchsten Grad verdorben, ganz besonders im zweiten Stockwerk. Sie war durchsetzt mit Krankheitskeimen, die von den Ausdünstungen der Kranken und von den übelriechenden Unratskübeln ganz besonders herrührten. Es war mir unmöglich in diesem Raum zu atmen und ich hielt den Atem zurück, bis ich einer Ohnmacht nahe war. Der Direktor bemerkte meinen Zustand.

»Zünden Sie sich eine Cigarette an und nehmen Sie dann in der Apotheke ein Gläschen Wein, das wird Sie wieder aufrichten,« sprach er zu mir. »Sie sind nicht an Gefängnisluft gewöhnt.«

Ich befolgte seinen Rat und wir schritten weiter, um die Werkstätten zu besichtigen.

Diese befanden sich im zweiten Stockwerk. In einer derselben waren drei oder vier Gefangene mit Schuheflicken beschäftigt, in einer andern wurde Tischlerei getrieben, alles ohne zweckmäßiges Werkzeug und verständige Anleitung. Es war mir lächerlich, diese Zellen mit Werkstätten betitelt zu hören. Die Küche war ein finsterer, schmutziger Raum im Erdgeschoß. Hier wurde von halbnackten Männern Brot gebacken und in großen eisernen Kesseln Suppe gekocht. Ich kostete davon aus einem schmutzigen Holznapf, den einer der Köche mit einer Handvoll unsauberen Flachs zuvor für mich zu säubern versuchte; ich fand die Brühe nahrhaft und wohlschmeckend. Das Brot war sauer, aber nicht schlechter als das, was russische Bauern gewöhnlich genießen. Jeder Gefangene erhielt täglich 2½ Pfund Schwarzbrot, sechs Unzen gekochtes Fleisch, 2 bis 3 Unzen Schrotgerste oder Hafer und früh und abends je einen Becher »Kwas«.

Jetzt richtete der Direktor die Frage an uns, ob wir auch die 43 Krankenabteilung besichtigen wollten. Ich meinte, ich wünschte alles zu besichtigen, was überhaupt zu besichtigen sei. Diese Neugierde schien dem Direktor ganz unbegreiflich zu sein, doch führte er uns ohne Weiteres in das dritte Stockwerk, das für die Kranken bestimmt war. Die Krankenstuben waren größer und heller als die Haftzellen, allein ihr Zustand war kaum besser. So wie dort fehlte auch hier jede Ventilation und die Desinfektion schien ganz unbekannt zu sein. Die Atmosphäre war verpestet; ein Gesunder mußte in dieser Luft in etlichen Tagen krank werden, wie sollte da ein Kranker gesunden. In jeder Abteilung befanden sich 12 bis 15 eiserne Bettstellen, die an drei Seiten der Wand standen, den Kopfteil dahin gerichtet; ein Zwischenraum von ungefähr 1½ Meter trennte sie voneinander. Das Bett bestand aus einem Strohsack, einem Kissen und einer grauen, wollenen Decke. Mein Begleiter meinte nachher, er hätte da und dort auch grobe Leintücher erblickt; ich erinnere mich nicht, dergleichen bemerkt zu haben. Auf einem schwarzen am Kopfende befestigten Täfelchen, stand in russischer und lateinischer Schrift die Krankheit und der Tag der Aufnahme verzeichnet. Die häufigsten Krankheiten waren: Skorbut, Typhus, gastrisches Fieber, Bronchitis, Rheumatismus und Syphilis. Die Typhuskranken lagen abgesondert; bei den andern fand man jede Einteilung für unnötig, die Trennung der Geschlechter ausgenommen. Nirgends sah ich schon so abgezehrte, geisterhaft-bleiche Gesichter, wie hier, in den Krankenzellen des Gefangenhauses zu Tjumen. Wie konnte es auch anders sein in diesen ekelhaften, verpesteten Räumen, über deren Eingang die Aufschrift ziemt: »Laßt alle Hoffnung draußen, ihr, die ihr eintretet.«

Wir besichtigten noch die Abteilung für Wöchnerinnen und Typhuskranke, dann schien es mir genug. Ich sehnte mich ins Freie zu gelangen, um endlich aufatmen zu können. Der Direktor führte uns jedoch erst in die Apotheke hinab, wo er uns Wein reichen und mit Karbolwasser besprengen ließ, eine Vorsichtsmaßregel gegen Ansteckungen. Das war nach der verpesteten 44 Luft, die wir erst verlassen hatten, schon eine Erfrischung; aber erst im freien Hofraum sog ich die Luft in vollen Atemzügen ein und hatte das Gefühl, wie es ein Mensch haben mag, der vom Ertrinken gerettet wurde.

»Wieviel Ihrer Kranken sterben jährlich?« fragte ich den Direktor.

»Etwa dreihundert,« war seine Antwort. »Fast jeder Herbst bringt eine Typhusepidemie. Was ließe sich auch Besseres erwarten von derart überfüllten Räumen. Sie rein zu halten ist ganz unmöglich, und welche Luft diese Zellen erfüllt, das haben Sie ja selbst gefühlt. Im Herbst pflegt es noch viel ärger zu sein. Im Sommer läßt sich wenigstens bei günstiger Witterung durch das Öffnen der Fenster die Luft verbessern. Wir selbst leiden unter diesen Verhältnissen nicht minder als die Häftlinge; mein Assistent ist vor kurzem erst von einer Typhuskrankheit genesen, die er sich in der Ausübung seines Dienstes zugezogen hatte und die ihn sechs Wochen ans Krankenbett fesselte. Wiederholt haben schon die Lokalbehörden bei der Regierung um Abhilfe gebeten, allein außer der Errichtung zweier Holzbaracken geschah gar nichts.«

Der Direktor erzählte uns nur Thatsachen, die im Orte jedermann bekannt waren und die er selbst Fremden nicht verschweigen konnte.

Wir begaben uns nun in das Frauengefängnis, das jenseits der Straße lag und mit einem Pfahlzaun umgeben war. Äußerlich glich es den erwähnten Baracken, die Zellen aber waren kleiner, nicht so überfüllt und viel reiner und heller, die Dielen und Pritschen waren blank gescheuert, da und dort konnte man sogar den Luxus eines Fetzen Teppichs bemerken; in einer der Zellen fielen mir einige Töpfe mit Blumen auf. So wie die Männer, müssen auch die Frauen ohne Kissen oder Decken auf den harten Pritschen in Reihen schlafen. Nur wenige trugen auf ihrem Antlitz den Stempel der Gemeinheit; es waren zumeist Bäuerinnen, viele hatten auch ihre Kinder bei sich.

45 Schließlich begaben wir uns in das Gefängnis der verbannten Familien. Es war eine gleichfalls von einem Pfahlzaun umschlossene Baracke, ungefähr 25 Meter lang, die keine Abteilungen hatte und in der sich gegen 300 Personen aufhielten, Männer, Frauen und Kinder. Auch hier war dieselbe Überfüllung und dieselbe verpestete Luft wie drüben. Die Kinder jammerten vor Hunger und Elend, die Erwachsenen sahen ermattet und abgespannt darein. Die Frauen dieser Abteilung waren keine Verbannten, sie folgten freiwillig ihren Männern.

Indes war es Eins geworden und wir folgten der Einladung des Herrn Ignatoff zum Frühstück. Ich wußte, daß unser Wirt vertragsmäßig den Transport der Verbannten mittelst Barke übernommen hatte, ich wußte auch, daß er ein hervorragendes Mitglied des Gefängnisausschusses war, ich fragte ihn daher, ob die Regierung von diesen Zuständen unterrichtet sei. Er antwortete, es wäre von allen den betreffenden Behörden alljährlich nach Petersburg ein wahrheitsgemäßer Bericht erstattet worden; übrigens käme dergleichen nicht vereinzelt vor. Die Erbauung neuer Gefängnisse wäre nicht nur in Sibirien, sondern auch in Rußland nötig, indes fehle es der Regierung an Geld; eine gründliche Verbesserung auf diesem Gebiete würde mindestens 10 Millionen Rubel erfordern. Er gab zu, daß die Zustände ganz entsetzlich seien und sein freiwilliger Rücktritt vom Amte nur erfolgte, weil die Regierung der beantragten Errichtung eines Spitals ihre Zustimmung nicht geben wollte.

Diese Mitteilungen, sowie jene des Direktors wurden mir übrigens von mehreren Seiten bestätigt. Aus dem Bericht der medizinischen Abteilung des Ministeriums des Innern ersah ich, daß im Jahre 1884 von den Häftlingen des Etappengefängnisses in Tjumen nicht weniger als 28,4%, also beinahe ein Drittel, in der Krankenabteilung behandelt wurden. Wenn man in Betracht zieht, daß jährlich 17 bis 19 000 Verbannte zeitweilig sich hier aufhalten, und daß viele, die in 46 ihrer Zelle behandelt werden, in jener Ziffer nicht aufgenommen wurden, dann kann man sich annähernd vorstellen, welche Fülle von Elend hier herrscht.

Um das Verbannungssystem zu begreifen und zu erfahren, welche wichtige Rolle dem Etappengefängnis von Tjumen dabei zufällt, ist es nötig, zu wissen, daß es in Rußland eigentliche Gefängnisse oder Kerker gar nicht giebt. Wer zu einer niederen Strafe als vier Jahr Haft verurteilt wird, der büßt sie in einem der russischen Strafhäuser, da eine kürzere Zeit die Mühe des Verschickens nicht verlohnt. Was aber zu mehr als vier Jahren verurteilt wird, kommt nach Sibirien. So wurden in den Jahren 1823 bis 1887 inbegriffen, 772 979 nach Sibirien gesandt und zwar:

Von 1823 bis 1832 98 725
" 1833 " 1842 86 550
" 1843 " 1852 69 764
" 1853 " 1862   101 238
" 1863 " 1872 146 380
" 1873 " 1877 91 257
Im Jahre 1878 17 790
" " 1879 18 255
" " 1880 17 660
" " 1881 17 183
" " 1882 16 945
" " 1883 19 314
" " 1884 17 824
" " 1885 18 843
" " 1886 17 477
" " 1887 17 774

Zusammen: 772 979

Die Verbannten lassen sich in drei Hauptklassen einteilen, I. Katorzhniki – Sträflinge die zur Zwangsarbeit verurteilt sind, II. Poselentse – Strafkolonisten und III. Sylni – einfach Verbannte. Als vierte Klasse können gerechnet werden die Dobrovolni – Freiwilligen, Frauen, Kinder, die ihre Angehörigen ohne Zwang begleiten. Verbrecher der ersten zwei 47 Klassen werden aller bürgerlichen Rechte verlustig und müssen lebenslänglich in Sibirien bleiben; jene, welcher der dritten Klasse angehören, behalten einige der erwähnten Rechte und können nach Ablauf ihrer Strafzeit in die Heimat zurückkehren. Jene müssen auch mit fünf Pfund schweren Eisenketten an den Füßen und mit zur Hälfte kahl geschorenem Haupte nach ihren Verbannungsorten ziehen, diese jedoch sind von beidem befreit. Zu den Verbannten dritter Klasse gehören: I. Vagabunden, Landstreicher, II. Personen, welche durch richterliches Urteil verbannt werden, III. Personen, welche von dem Vorstand jener Gemeinde verbannt werden, welcher sie zugehören, IV. Personen, welche auf »administrativem Weg verschickt« werden.

Das Verhältnis dieser verschiedenen Klassen für das Jahr 1885, die Zeit meiner sibirischen Reise, giebt nachfolgende Tabelle zu erkennen:

Männer Frauen Zusammen
I. Katorzhniki 1440 111 1551
II. Poselentse 2526 133 2659
III. Symi
a) Vagabunden 1646 73 1719
b) Verbannt d. Richterspr. 172 10 182
c) Verbannt von Ortsbeh. 3535 216 3751
d) Administrativ Verbannte 300 68 368
IV. Dobrovolni (Freiwillige) 2068 3468 5536

Zusammen: 11687 4079 15766

Wie diese Zusammenstellung zeigt, bilden die »Freiwilligen«, Frauen und Kinder, die ihren Gatten oder Vätern in die Verbannung folgen, die zahlreichste Klasse, mehr als ein Drittteil der Gesamtheit. Laut amtlichen Berichten war in den letzten Jahren folgendes Verhältnis vorhanden:

Jahr Verbannte   Frauen u. Kinder   Prozent
1882 16945     5276     31
1883 19314 6311 33
1884 17824 6067 34
1885 18843 5536 28

Zusammen: 72926 23190 31

48 Jene Zusammenstellung zeigt uns ferner, daß von 10 230 Personen, die als Verbrecher nach Sibirien verbannt wurden, nur 4392, also nicht einmal die Hälfte vor dem Gerichtshof standen, dagegen 5838 auf administrativem Weg verschickt wurden, das heißt, auf Befehl des Ministers des Innern. Das Verhältnis dieser beiden Arten Verschickter unterliegt nur geringen Schwankungen. Von 1837 bis einschließlich 1876 wurden 151 585 nach Sibirien verschickt, davon 48,80% zufolge richterlichen Urteils und 51,20% auf administrativem Wege. Im Etappengefängnis von Tjumen waren vom Jahre 1880 bis einschließlich 1886 120 065 Verbannte zeitweilig untergebracht, wovon 64 513 gleich 53,7% gerichtlich verurteilt waren und 55 552 oder 46,3% vom Minister des Innern verschickt. Nach amtlichen Berichten aus den siebziger Jahren waren nur 45,6% der Verbannten von einem Gerichtshof dazu verurteilt.

Jene Zusammenstellung zeigt uns endlich auch, daß mehr als ein Drittteil der unfreiwillig Verbannten von ihren Gemeinden verschickt wurden. In Rußland hat jede Dorfgemeinde das Recht, Angehörige, die ihr zur Last fallen, oder die sich schlecht aufführen, zu verbannen und wenn sie ihr zugehörige entlassene Sträflinge nicht wieder aufnehmen will, so werden diese »auf administrativem Weg« nach Sibirien verschickt. Die aus politischen Gründen Verbannten werden keiner besonderen Klasse zugewiesen, sie sind in jeder zu finden. Ihre Zahl ist nicht so groß, wie man gewöhnlich annimmt, sie dürfte jährlich kaum 150 betragen. Im Jahre 1884 passierten Tjumen 140 »Politische« und vom Beginn 1885 bis zur Zeit meiner Anwesenheit waren im Etappengefängnis nur 60. Diese Zahlen sind jedoch schwer festzustellen, zumal erst in der jüngsten Zeit die amtlichen Berichte eine Sonderung aufweisen. Immerhin glaube ich mit 1% der Gesamtzahl die richtige Schätzung zu treffen.

Der Tag, der unserem Besuche im Etappengefängnis zu Tjumen folgte, bot uns Gelegenheit, einen Zug Verbannte 49 nach Jalutorfsk marschieren zu sehen. Wir hatten nämlich die Absicht, das Gefängnis zu skizzieren und als wir zu diesem Zwecke dort anlangten, erblickten wir vor demselben eine belebte Menge. Es waren ungefähr 100 Frauen und Kinder in bunter Tracht und 250 Männer in grauen Sträflingskleidern; sie waren von einer Abteilung Soldaten umringt. In der Nähe standen 15 bis 20 »Telegas«, einige davon mit Säcken beladen, die armselige Habe dieser Ärmsten; auf anderen wieder saßen Erwachsene und Kinder, die wegen Alter, Krankheit oder Siechtum nicht marschieren konnten. Ich wunderte mich, daß überhaupt einer, der in diesem Gefängnis eine Woche verbrachte, noch gehen konnte. Das ununterbrochene Gemurmel der Menge wurde laut, dazwischen vernahmen wir das Wimmern eines Kindes oder das Geklirr der Ketten. Bei den Telegas stand der zugführende Offizier, ein robuster Mann mit gelblichem Backenbart, blaßblauen Augen und harten Gesichtszügen; er war umringt von Frauen und Kindern, die sich die Gunst der Fahrbewilligung erbitten wollten.

»Lassen Sie doch gütigst meine Kleine fahren!« flehte eine blasse Frau. »Sie ist noch nicht 10 Jahr alt und der Fuß schmerzt sie. Sie kann unmöglich 30 Werst laufen.«

»Was hat sie an dem Fuß?« fragte er ungeduldig, einen flüchtigen Blick auf des Kindes nackte Füße werfend.

»Ich weiß nicht. Es schmerzt sie,« antwortete die Mutter. »Haben Sie Erbarmen.«

»Geht nicht. Es ist kein Platz,« sprach er noch ungeduldiger als vorher. »Es wird nicht so arg sein. Auch sieht sie älter aus.« Und zu dem Kinde gewendet, bemerkte er unfreundlich: »Geh' nur, kannst da besser Blumen pflücken.«

Und damit kehrte er beiden den Rücken, die auch kein Wort mehr zu reden wagten. Um weiteren Bitten zu entgehen, kommandierte er nun: »Bildet Reihen!«

Es wurde stille, nur das Kettengeklirr war noch zu hören. Die Soldaten schulterten die Gewehre, die Gefangenen 50 bekreuzten sich und verneigten sich gegen die Gefängniskapelle.

»Vorwärts marsch!«

Und der Zug setzte sich in Bewegung.

Einige Kosaken in dunkelgrüner Uniform ritten voraus, Männer und Frauen von Soldaten beaufsichtigt, folgten in dichter, ungeordneter Menge, dann kamen die Wagen mit den Kranken und Kindern; hinter diesen wieder einige Kosaken. Den Schluß bildeten etliche Wagen mit dem Gepäck.

Bald war der Zug aus unserem Gesichtskreis verschwunden und wir hörten noch aus weiter Ferne das Klirren der Ketten und die Stimmen der Kosaken.

Dieser Transport bestand zum größeren Teil aus »Poselentse« und ferner auch aus Personen, die von den Gemeinden verschickt wurden. Ihre Bestimmungsorte waren einige Dörfer im Süden der Provinz Tobolsk.

Samstag Nachmittag sahen wir auf dem Landungsplatz die Einschiffung von 700 Personen, die nach Tomsk verschickt wurden. Das Schiff hatte das Aussehen eines gewöhnlichen Seedampfers, nur daß sein Tiefgang geringer war, und daß das Takelwerk fehlte. Es war ungefähr 75 Meter lang und 10 Meter breit; eine Reihe rechtwinklige Luken ließen von oben das Licht in die zweite Kajüte dringen. Auf dem Verdeck befanden sich zwei große Kajüten, wovon die eine zur Aufnahme der Kranken und der Apotheke diente; die andere war für die Offiziere des Schiffes und auch für Verbannte aus der besseren Gesellschaft bestimmt. Beide waren durch ein Dach miteinander verbunden und die Seitenteile bildeten starke Eisengitter. In diesem etwa 25 Meter langen und 10 Meter breiten Käfig, durften die Häftlinge spazieren gehen und frische Luft atmen. Er war überdies noch im Innern durch ein Gitter in zwei ungleiche Hälften geteilt, wovon die kleinere für Frauen und Kinder, die größere für Männer bestimmt, und wurde von den Häftlingen »Der Hühnerstall« genannt. Von hier aus führten 51 Leitern in die Schlafkabinen hinab. Diese waren 10 Meter breit, etwa 2½ Meter hoch und 10 bis 20 Meter lang. Eine war für Frauen und Kinder bestimmt, die andern zwei oder drei für Männer. Überall befanden sich zwei Doppelpritschen, die vier Reihen Schlafende aufnehmen konnten; auch an der Seite des Schiffes waren Pritschen aufgestellt. Das Schiff wurde, ehe es die Leute aufnahm, gründlich gereinigt und desinfiziert, so daß die Luft frisch und rein war. Es lag an einer schwimmenden Landungsbrücke, ähnlich jenen, die wir auf der Wolga zuerst sahen und zu der hier vom hohen Ufer aus eine treppenartige Brücke führte; in einer Entfernung von etlichen Metern stand da je ein Unteroffizier, während die am Ufer stehenden Verbannten, wie gewöhnlich, von Soldaten umringt waren. Oberst Vinokuroff, der Inspektor des Verbanntentransports nach Westsibirien, gestattete uns, die Häftlinge und das Schiff zu photographieren; nachdem dies erfolgte, wurde den Leuten befohlen, an Bord zu gehen. Die Gefangenen schulterten ihre Säcke und schritten damit die steile Brücke hinab; der größte Teil trug die Eisenfesseln, deren Klirren ich während der ganzen einstündigen Einschiffungszeit hörte. Ihre Kleidung war die gleichartige graue Sträflingstracht, aber die Gestalten selbst, die aus allen Gegenden des weiten Zarenreiches stammten, zeigten die größte Abwechselung: hier der Russe, dort der wilde Gebirgsbewohner aus Daghestan oder Cirkassien, den vermutlich die Blutrache hierher brachte; gebräunte Tataren aus der Wolgagegend, Türken von der Krim, ihr roter Fez bildete einen grellen Kontrast zum grauen Sträflingskleid – schlau dreinblickende Juden aus Podolien, wahrscheinlich ertappte Schmuggler. Der Gesichtsausdruck der meisten war recht gutmütig, eher dumm und sinnlich, als roh und bösartig.

Alles war eingeschifft.

Die Schieber der Gitterkäfige wurden geschlossen und mit großen Schlössern versehen, dann gestaltete sich vor unseren Blicken ein buntes Bild, das an einen russischen Jahrmarkt 52 gemahnte. Hier reichte ein halbwüchsiges Mädchen den Käufern gesottene Eier durch das Gitter, dort wieder ließ sich einer sein Gefäß mit Milch füllen, die ein altes Weib mittelst eines Rohres von draußen her eingoß. Überall wurde Brot, Salzgurken, getrocknete Fische gekauft. Die Händler hegten Vertrauen zu den Gefangenen, denn sie gaben ihre Waren, bevor sie das Geld erhielten. Die Wache haltenden Soldaten, hübsche, kräftige Burschen, erleichterten oft den Verkehr, indem sie die Lebensmittel oder das Geld vermittelten, zuweilen sogar, wenn z. B. ein Laib Brot durch's Gitter nicht gezwängt werden konnte, die Schieber öffneten.

Indes war ein Pope (russischer Geistlicher) angelangt, dem ein Ministrant Gebetbuch und Meßornat nachtrug. Er zog sich in eine der Kajüten zurück, um jedoch bald wieder im vollen Ornat und mit dampfendem Weihrauchfaß zu erscheinen. Er begab sich zuerst in die Frauenabteilung, wo er mit einförmiger Stimme ein Gebet herableierte, die Frauen beteten fromm und bekreuzten sich, knieten nieder, die Häupter zu Boden neigend.

Weniger Interesse fand jedoch der Geistliche in der Abteilung für Männer, wohin er sich sodann begab. Wohl nahm alles die Mützen ab, aber nur wenige beteten mit und der Handel fand keine Unterbrechung.

Der Pope kleidete sich nun um, wünschte dem Kapitän glückliche Fahrt und ging wieder nach der Stadt zurück.

Herr Frost und ich, wir wandelten dann vor der Landungsbrücke auf und nieder und betrachteten die Physiognomieen der Häftlinge. Die meisten waren viel heiterer, als nach dem Ernst ihrer Lage zu erwarten war. Sie scherzten, lachten und plauderten recht laut. Als sie bemerkten, daß mein Genosse einige der charakteristischsten Gestalten in sein Skizzenbuch zeichnete, brachten sie lachend und scherzend jene ihrer Kameraden in den Vordergrund, die sie für diesen Zweck am geeignetsten hielten; sie trieben dabei allerlei Unsinn – kurz, sie gebärdeten sich wie Schuljungen, die fröhlich eine Ferienfahrt unternehmen. 53 Als es dunkelte, kam ein Dampfer herbei. Kommandoworte ertönten, die Taue wurden gelöst und langsam begann das große schwimmende Gefängnis seine Fahrt nach Tomsk. Die Häftlinge drängten sich ans Gitter, um noch einen Blick auf Tjumen zu werfen.

 


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