Josef Kastein
Süsskind von Trimberg
Josef Kastein

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Fünftes Kapitel

Heimkehr des Werkes

Geh heim, Süsskind von Trimberg!

Die Geschichte deines Volkes schwingt sich in grossen Kurven durch die Welt, und immer stehen auf den Höhen und in den Tiefen Schicksale eines Einzelnen, die wie verhüllte Lichter in der Nacht etwas besagen wollen. Sähest du vom richtigen Orte her diese Lichter hinter einander aufgereiht, du würdest mit deinem Dichterherzen entdecken, dass sie zusammen eine brennende Kette sind, eine Gloriole von Bemühung und Leid um die Stirne unserer Jahrhunderte. Aber wie schaust du denn in das Gefüge unserer Zeiten hinein? Wie einer, der allzulange Nacht nicht mehr verträgt, hast du den Blick immer in die Horizonte gerichtet und wartest auf das Wunder des Sonnenaufganges. Und wenn irgendwo der Kamm eines Berges im fahlen Morgen hell wird, sind alle Senkungen schon für dich ausgelöscht. Zwischen dir und dem fernen Berg ist nicht mehr der Weg, den deine Geschlechter durchwandert haben. So stark ist dein Wille zum Licht, dass dir nur die Wahl bleibt zwischen morgen und dem Anfang aller Tage. Gestern und ehegestern, der Raum unserer Wirklichkeit und unseres Gewordenseins, sind nicht mehr für dich da.

Aber bist du nicht Spross eines Volkes, das so angefüllt ist mit Erinnerungen wie kaum eines sonst? Wessen erinnert ihr Schaffenden euch 172 eigentlich, wenn ihr an euer Judesein denkt? Ihr erinnert immer nur den fernen ersten Anfang. Ihr geht mit euren Blicken immer gleich zurück bis zum Akt der Schöpfung; und wenn es euch treibt, Last und Freude der Gestaltung auf eure Schultern zu nehmen, so möchtet ihr, dass jenes Anfangswort ›Es werde!‹ mit aller Selbstverständlichkeit in euer Werk eingehe; eben weil ihr doch Juden seid und weil man euch dieses Erbe des Anfangs doch nicht verweigern kann. Aber ihr vergesst, dass mit dem Wort ›Es werde‹ nur dem Seienden der Ausbruch in der Wirklichkeit eröffnet wurde. Dass aus dem Seienden ein Wirkender werde, verlangt, dass man den Akt der Schöpfung immer erneut nachahme; ihn immer wiederhole; sich selber immer wieder darin einsetze und so auch sich selber wiederhole; sodass man immer wieder selbst der Mensch ›vom Anfang‹ her ist. Wer das nicht vergisst, bleibt auch der Wirklichkeiten eingedenk, durch die das Schöpferwort bis zu seinem Ziele schreitet: deiner, meiner, unserer Wirklichkeiten aus der schöpferischen Sucht unserer Jahrhunderte.

Wer Erbe sein will, Süsskind, lebt mit den Ahnen. Nichts von dem, was dein Besitz ist und was du folglich sagen kannst, ist dir von ungefähr zuteil geworden. Es hat zuvor in der Esse der Zeiten gelegen. Ahnung eines ersten Anfangs, Hoffnung einer endgültigen Zukunft, das Reine 173 aus der Glut und das Unreine aus der Schlacke sind da zusammengehämmert worden. Du kommst aus jenem Schmelztiegel, darin die Schicksale deiner Ahnen sich läutern wollten. Du trägst das, auch wenn du es nicht tragen willst. Es ist nicht Art des Schicksals, dass es behutsam an die Türe pocht und fragt: lässt du mich ein? Es hockt eines Tages neben dir, dieses dein Schicksal, dieses dein Erbe. Dann magst du ihm ins Gesicht schauen und dich in ihm wiedererkennen; oder du magst den Blick zur Seite wenden und sagen: ich weiss nicht; ich erinnere nicht.

Du weisst aber doch, Süsskind. Du erinnerst dich doch. Ich will nicht von jenen Augenblicken sprechen, in denen dich plötzlich eine Erinnerung aufscheucht, ein sonderbares Aufmerken, das nichts ist als ein ungeformter Ruf deines Blutes; einer jener Anrufe, auf die mancher ein ganzes Leben verbringt, sie zu unterdrücken. Ich will auch nicht von jener Bewusstheit sprechen, in der du dich jeweils, abwehrend gegen eine angreifende Welt, zu deinem Volke bekannt hast; denn in diesem Bekennen war sehr viel Verrat an deinen Brüdern von rechts und links, vom Osten und vom Westen. Ich will auch nicht davon sprechen, dass dein Wort und dein Tun im Instinkt und in der Erinnerung weit unbeirrbarer sind als dein Wille; denn was nützt der Wille, dieser oder jener zu sein, wenn doch der Rhythmus unserer 174 Ahnenschaft im Wort und im Tun so durchschwingt, dass man am Ende doch immer nur man selber ist. Ich will um deswillen nicht davon sprechen, weil man alles das leugnen kann; das unbewusste Auftönen der Blutstimme und das bewusste Bekennen zum Volke und das ungewollte So-Sein der Art. Alles das kannst du verleugnen, kannst es morgen in Abrede stellen und nicht mehr wollen, dass es wahr sei.

Aber du weisst doch und du erinnerst dich doch, weil dafür gesorgt ist, dass du es tust. Wer dich sehr liebt und wer dich sehr hasst: der sagt es dir eines Tages. Es werden nie jene aussterben, die dich rufen; und nie jene, die dir fluchen. Noch aus dem zerrissenen und zerfaserten Bestand deines Volkes wird einer vor dir stehen bleiben und dich mit dem Wort Jude anrufen; und noch aus der Sattheit und Sicherheit der anderen Völker wird einer vor dir stehen bleiben und dich mit dem Wort Jude verscheuchen. So trägt das gleiche Wort immer die Liebe und den Hass; und muss es tragen, weil hinter ihm eine Welt von Berufung und Sonderung steht. Beide werden dich niemals loslassen können, der Liebende nicht und der Hassende nicht; jener nicht, weil der Mythos von der Ewigkeit seines Volkes ihm gebietet, noch nach dem letzten Versprengten seiner Art zu suchen; dieser nicht, weil die mystische Furcht ihn zwingt, den immer 175 Gegenwärtigen und den immer vom tiefsten Grunde her Gesonderten zu bekämpfen.

So gerufen und so gemieden werden, kann segnendes Schicksal sein, wenn man beides bejaht. Vor dieser Liebe und vor diesem Hass muss man sich gleichermassen rechtfertigen; denn beide stellen an dich einen Anspruch. Die Liebe verlangt, dass du ihr mit der Hingabe des Eigenen dankst. Der Hass verlangt, dass du ihn durch die Bewährung im Eigenen vernichtest. Da in deinem Schicksal als Jude beide zuhause sind, musst du beiden eine Stätte bereiten: um jene zu erfüllen und diesen aufzulösen. Dem Hass kannst du die Waffe nur aus der Hand schlagen, wenn du die Rüstung der Liebe trägst, die deine Vergangenheiten für dich geschmiedet haben.

Ich weiss, Süsskind; es sind viele von uns müde geworden, solche Rüstung zu tragen. Sie ist eine tagtägliche Erinnerung, und sie mögen nicht mehr erinnern und nicht mehr erinnert werden. Denn diese Erinnerung bedeutet: immer um irgend etwas kämpfen müssen; immer zu etwas Besonderem verpflichtet sein; sich immer Dingen zu versagen, die im Gebäude unserer Gedanken nicht Platz haben; nie unbeschwert und unverpflichtet leben können; nie achtlos sein dürfen; nie zu dem Glauben berechtigt sein, die Welt ordne sich von selber und es sei genug, sie zu empfangen und zu geniessen. Woher nimmt einer 176 die breiten Schultern, das immer mit Bewusstsein zu tragen, ohne daran müde und krumm zu werden? Es gibt so viel verlockendes im Leben, das weniger Gewicht hat und den Innenraum der Seele leichter und gefälliger ausfüllt. Es sind viele müde Menschen unter den deinigen, Süsskind. Als spürten sie, wie die langen Generationen vor ihnen nach Ruhe gehungert haben, wollen sie, die Enkel, sich Ruhe erkaufen in einer Welt, die sie für frei halten.

Aber sie kommen weder zur Ruhe noch zur Freiheit. Denn gibt das Ruhe, wenn einer aus der Kette der Ahnen tritt und, wenn er wahrhaft Vergangenheit sucht, sie doch ohne Lüge nicht anders finden kann als eben dort? Und wie gibt das Ruhe, wenn einer garkeine Vergangenheit mehr haben will? Er wird sie doch eines Tages suchen müssen. Ob einer Grosses oder Kleines schafft: er muss einen Halt haben, einen Ausgangspunkt, ein Woher. Er wird es suchen müssen in der Erfahrung, im Wissen, in der Technik oder der Seele der Anderen. Vor die, die in der Kette fremder Ahnen stehen, muss er als Bittender und Werbender hintreten, dass man ihn empfängt, ihn aufnimmt, ihm einen Ankergrund gibt, sein Heute und sein Morgen mit dem Gewicht des Ehegestern unterbaut. Man kann es ihm gewähren oder verweigern. Fordern kann er es nicht. Er gibt sein eigenes Schicksal von sich, 177 das er bis dahin in der Freiheit seiner selbst bestimmen durfte. Er wird der Empfangende eines Schicksals, das mit ihm, aber auch gegen ihn sein kann nach der Gesetzmässigkeit derer, die es ihm verleihen.

Wenn das ausgesprochen wird, Süsskind, so soll damit nur derer gedacht sein, die aus wirklicher Bewegtheit das eigene Schicksal gegen das nichteigene eintauschen. Es sind nicht diejenigen gemeint, denen Art und Vergangenheit nur eine Münze ist, die sie im Schacher und Wucher ihres Daseins dort einzahlen, wo man sich ein Stück Lebensfrass dafür eintauschen und einhandeln kann. Die grossen und die kleinen Verräter, die es um deswillen sind, weil sie nicht wissen, was Ehrfurcht ist: die gibt es überall und für sie braucht niemand seine Stimme zu erheben. Den Anderen aber gilt es zu sagen, dass ihr Schicksal nicht frei ist von Schuld. Ihre Schuld ist nicht, dass sie müde wurden. Ihre Schuld ist, dass sie vergessen haben. Sie haben zweifach vergessen: ihre eigene Historie und die Historie der Anderen. Das bedeutet: sie haben die Augen geschlossen vor der Gesetzmässigkeit von hüben und drüben. Sie haben nicht nur vergessen, was ihnen geschehen ist. Sie haben auch vergessen, warum es ihnen geschehen ist.

Verstehe mich recht, Süsskind: Es geht hier nicht um das Nachtragen. Würden wir der Welt 178 nachtragen, was sie am Juden verbrochen hat, wir müssten im Übermass von Anklage und Zorn und Racheverlangen ersticken. Aber es ist nicht unser Amt, den Hass zu verewigen. Mögen die Völker sich damit nähren, die zur Liebe zu schwach sind. Es geht hier um anderes: um die Erkenntnis, dass unsere Welt immer wieder zerstört wird, wenn sie der Welt der anderen Völker ausgeliefert wird. Fremdes in seinen Mauern zu ertragen, verlangt Freiheit des Geistes und Sicherheit des eigenen Besitzes. Dir ist weder das eine noch das andere begegnet, und du hast nicht einmal ein Recht, darüber zu klagen. Ging es jenen anderen schlecht, so schlugen sie dich aus der Erregung. Ging es ihnen gut, so duldeten sie dich, bis sie dich aus der Achtlosigkeit schlugen. Sie schlugen immer nach dem Fremden. Sie tun es noch und können nicht anders. Denn das Fremde ist immer der Feind des Verängsteten, der Gesonderte immer die Unruhe der Herde, der immer wieder Auferstehende der grosse Schrecken des Mörders, der immer Geschlagene das böse Gewissen dessen, der schlug.

Aber entscheidend ist nicht, dass man geschlagen hat; dass man Himmel und Hölle zu Zeugen gerufen hat, dieses Schlagen zu rechtfertigen. Sondern nur das ist entscheidend, dass man uns immer wieder den Raum der schöpferischen Entfaltung verkürzt hat; dass man uns gezwungen 179 hat, Kraft zu vergeuden für die Abwehr eines gläubigen Barbarentums; dass wir jeden Vorstoss unserer dynamischen Kraft bezahlen mussten mit dem Rückschlag, der uns jeweils gerade noch die Kraft liess, das nackte Dasein zu erhalten. Mag letztlich auch die Not uns immer wieder zum Segen geworden sein, zum Anlass neuer Kraftentfaltung: es ist dennoch Unwiderbringliches, Einmaliges, Schöpferisches zertreten worden; Gedanken, Bemühungen, Dichtungen, Gläubigkeiten, die vom Atem Gottes schon angehaucht waren. Immer warf man uns zurück in die Tongrube, in der wir die Urmaterie unserer Werke kneteten. Aber die Form, das Geschaffene, die vollendete Gestalt zerrieb sich und zerbrach immer von neuem am Widerstand des Raumes, der nicht der unsere war und den wir nicht bestimmen durften.

Fremder Raum ist fremdes Schicksal, Süsskind von Trimberg. Die eigentliche Geschichte unseres Volkes beginnt mit diesem Suchen nach einem eigenen Raum für das eigene Schicksal. Im Anfang steht Kanaan als verheissenes Land. Und mitten in diesem Beginn steht schon biblische Mahnung, nicht zu vergessen. ›Gedenke dessen, was dir Amalek getan hat auf dem Wege, als du aus Ägypten zogst‹. Achte auf diese Bestimmung des Ortes und der Zeit, Süsskind, dann geht dir der Sinn auf. Auch andere Völkerschaften haben sich widersetzt, und doch ist nirgends gesagt, 180 dass man ihrer Feindschaft gedenken soll. Aber Amalek sollen wir nicht vergessen, denn es schlug nach dir, als du aus Ägypten zogst; als du dir eben die Freiheit vom Sklaventum der Pharaonen durch die Unterordnung unter die Idee deines Gottes errungen hattest; eine Sekunde vor dem Eintritt in das Land der Verheissung und Erfüllung; gerade damals, als du daran gingst, einem grossen Gedanken deiner Seele die schöpferische Wirklichkeit zu geben.

Das ist es, was du nicht vergessen sollst, und was vergessen zu haben Schuld ist. Nicht nur, dass jedes Volk seinen eigenen Raum mit natürlicher Ichsucht für sich begehrt. Es gibt darüber hinaus auch Völker, die niemals fähig sind, ihren Raum mit Anderen zu teilen. Zuweilen mag es schöpferisch sein, neben ihnen und mit ihnen zu leben, weil ihr Wille zum eigenen Raum noch in der Ausschliesslichkeit und Selbstsüchtigkeit Anregungen vermitteln kann, nützliche Widerstände, aufhellende Vergleiche. Aber sich aus Gründen der Opportunität darüber täuschen, wie sie dich eines Tages aus den Bedingungen ihres Raumes notwendig angreifen müssen; aber nicht mehr sehen wollen, wie oft die Geschichte unseres Volkes uns diese Lehre schon erteilt hat: und dennoch hingehen, sich ausliefern und auf die Selbständigkeit des Schicksals verzichten; das ist nicht Schuld Amaleks. Das ist deine Schuld. 181

Es ist auch Schuld gegen dich selbst, gegen die schöpferische Kraft in dir. Not mag die Kräfte steigern. Aber Not ist kein schöpferisches Motiv. Wo ein Schicksal sich in zu viele Abhängigkeiten des Fremden und des Anderen begibt, wird auch das produktive Vermögen darin einbezogen. Schöpfertum widerstreitet keiner Bindung, aber jeder Unfreiheit. Wird der Mensch in der Schwebe und Unsicherheit gehalten, so kann seine schöpferische Leistung nicht grösser werden als er selbst; es sei denn, Gott habe ihn zum Genie gestempelt, an das nichts Ungewisses mehr heranreicht. Aber nicht damit haben wir zu rechnen. Die ganz grossen Gestalten und Gestalter sind aufgespart für die Gebärde der Gnade, mit der Gott das Genie unter die Völker wirft und nicht nach Würde und Würdigkeit fragt. Mit uns und um uns leben aber die Tausende eines redlichen und ernsthaften Bemühens, die gutwilligen Werkleute, Menschen wie du. Und es ist zu besorgen, dass ihr Menschentum nicht grösser, sondern kleiner wird, wenn man ihnen immer eines Tages den Grund zerschlagen kann, auf dem sie stehen. Es sind untüchtige Träumer, die da meinen, man könne Grosses schaffen, auch wenn man als Schaffender gedemütigt wird. Aber es ist eine Demütigung, die nichts mit Demut zu schaffen hat, und die Summe der kleinen Demütigungen macht endlich auch den schöpferischen Geist 182 klein und wertlos, vermindert endlich auch die einzelne Leistung und ihr Gewicht. Und nur der Schmock, der zwischen den Kulturen schreibt, kommt hier auf seine Rechnung.

Ich wage nicht zu behaupten, Süsskind, dass in dieser Unsicherheit und Abhängigkeit grosse Leistungen des Juden nicht möglich seien. Sie sind möglich und sie geschehen täglich aus der Kraftfülle unseres Volkes allen Widerständen zum Trotz. Aber kommt es wirklich immer auf den objektiven Wert einer Leistung an? Sitzen wir wirklich wie ein Demiurgos gelassen an den Rändern der Welt und sehen gleichmütig unsere Geschöpfe in das Getriebe des Lebens entschreiten? Steht nicht hinter jeder Leistung der Mensch selber mit allem, was in ihm Mensch ist? Ist er mit seinem Geschöpf nicht durch tausend Fasern verbunden, die von seinem Herzen ausgehen? Möchte nicht jeder seinen Kindern eine Heimat in der Welt bereiten, zu der hin er gesagt und geformt hat? Mag auch das Werk für sich bestehen bleiben und dereinst für seinen Schöpfer zeugen: aber sein Leben wird entwertet, sein Dasein als produktiver Mensch vernichtet, der Schöpfungsakt selber wird beleidigt.

Ist es nicht das grösste Leid des Schaffenden, Süsskind, wenn sein Werk heimatlos wird? Und wer bestimmt heute darüber, was das Werk eines Juden wert sei und wo es seinen Wohnsitz 183 nehmen darf? Nicht mehr er selbst. Er hat keinen Raum mehr, in den hinein er mit Gültigkeit und mit Vertrauen sprechen darf; keinen selbstverständlichen Raum, sondern immer nur den, der ihm von Fall zu Fall gewährt wird. Und noch in diesen geliehenen Räumen kann irgend einer aufstehen und im Namen irgend einer Idee und irgend eines Symbols sein unerbetenes Urteil abgeben und ein Werk bespeien, das unendlich grösser ist als er selber. Aber nicht einmal darauf kommt es an, ob diese Leistung gross ist oder klein, sondern darauf, dass es deine Leistung ist, weil es deine Verantwortung ist vor dem schöpferischen Genius deines Volkes. Mit dieser Leistung gehst du, ein Hausierer des Geistes, von Tor zu Tor und von Gasse zu Gasse, und du musst sie ausrufen, bis einer sich findet, der sie nehmen will; oder bis man sie dir aus der Hand schlägt und dich samt deinem Werke heimatlos macht.

Geh heimwärts, Süsskind von Trimberg!

Du hast keinen Anspruch darauf, Mitwirkender an der Kultur eines Raumes zu sein, dessen Gefüge nicht du selber zu bestimmen hast. Du hast nur einen Anspruch darauf, Mitschaffender an der Gestaltung der Welt zu sein. Es berechtigt dich zu nichts, dass du anderen Völkern Werke und Leistungen zuträgst, selbst wenn sie für die anderen von Nutzen waren und wenn sie sich 184 ihrer zum eigenen Fortschritt bedienen. Solange der andere die Welt nicht nach den gleichen Massen gestalten will, wie du von innen her gezwungen bist sie zu gestalten, so lange hast du nichts von ihm zu fordern. Du kannst, was du nach dorthin getan hast, für dich selber als Tat buchen. Der andere muss es nicht gelten lassen. Vielleicht schreckt es dich nicht ab, dass man dich zusammen mit deiner Leistung beiseite wirft, und du magst glauben, dass seelische Energien doch nicht verloren gehen, selbst wenn andere sie in den Staub ihrer Ideen treten. Ich glaube mit dir, dass einmal Geschaffenes seinen Bestand hat. Aber ich weiss auch, dass man Quellen so lange verschütten kann, bis sie, statt Felder fruchtbar zu machen, einen Sumpf voll giftiger Miasmen bilden. Oder glaubst du, dass ein Volk viertausend Jahre lebt, nur um sich eines Tages als Splitter wegzuwerfen und zu verschenken? Mag sein, dass wir einmal untergehen. Dann aber in der Erfüllung und Vollendung; nicht unter dem Fusstritt des Berserkers.

Nicht das wird von dir verlangt, dass du eine andere Welt so verachtest, wie sie dich verachtet. Du darfst es nicht einmal. Es ist dir nicht erlaubt, was wirkliche Schöpfung ist, darum zu mindern, weil es Schöpfung der Anderen ist. Du hast die Pflicht, die Funken des Göttlichen von überall zu sammeln, wo sie sich finden. Aber du 185 kannst deine Welt den Anderen nur zutragen aus der Fülle des Eigenen; und du kannst das Wertvolle aus anderen Welten dir nur zueignen aus gleicher Fülle. Nur in solcher Freiheit des Eigenen kannst du den grossen Ausgleich anbahnen. Das Eigene einzutauschen gegen Fremdes ist dir verwehrt; und nicht einmal die Liebe kann das rechtfertigen.

Wenn das Vergessen deine Schuld ist, so ist die Liebe deine Tragik. Du begegnest auf deinen Wanderungen ja immer wieder Ländern, die du liebst; Ländern, in denen dein Martyrium geschrieben steht und in die du doch eines Tages hundert Keime deiner Seele gesenkt hast: Liebe zur Landschaft, zum Klima, zur Sprache, zur Atmosphäre des Lebens, das sich dort abspielt. Je stärker man dich gehasst hat, mit desto stärkerem Instinkt hast du im Hassenden die gequälte und verängstete Kreatur verspürt. In dem Augenblick, da man dich nicht mehr so stark bedrängte, wurdest du ein Werbender.

Wir wollen hier ehrlich scheiden zwischen denen, die so wie du mit dem Herzen geworben haben und jenen, für die jedes Land nur der Raum ihres Wohlergehens ist. Diesen passiv Hinnehmenden bleibt zwar immer noch der Anspruch aus dem formalen Recht und vor dem Forum selbst primitiver Menschlichkeit. Aber den anderen, wirklich Werbenden – ich fürchte, Süsskind, dass es 186 die Mehrheit sei, – denen steht ein innerer Anspruch über alles Mass zu. Aber dieser Anspruch ist nirgends zu präsentieren. Ihm steht keine Pflicht zur Erfüllung gegenüber. Er rechtfertigt dich weder vor den Anderen noch vor deinem Volke. Er gibt dir nicht mehr als das Recht, das, was du liebst, dem Eigenen hinzuzufügen. Sonst gibt er dir nur noch das Recht, daran zu zerbrechen oder dich selber auszulöschen. Aber was ist mehr wert: die Liebe zu einem Lande und zu einer Kultur oder die Sorge darum, dass Menschliches nicht verkrümmt und verkrüppelt werde? Was ist mehr wert: geduldet zu sein als Werbender oder im Zurückweichen sich rein zu halten von Hass und Lüge? Was gilt höher: Fremde oder Heimat?

Geh heim, Süsskind von Trimberg!

Und bist du zur Heimkehr noch nicht stark genug, so geh weiter. Dein Volk und deine Väter haben sich schon von grössern Gütern trennen müssen als von einer ungern gewährten Heimat. Heimat ist nur da, wo du Vertrauen haben kannst. Da, wo du bist und wo du Schaffender sein willst, ist dieses Vertrauen gestört und es muss gestört bleiben. Vielleicht streichelt man dich morgen wieder, aus schlechtem Gewissen oder aus Zweckmässigkeit. Aber dann denk an Amalek und lass es nicht zu, dass die Lehren deiner Geschichte so lange verachtet bleiben, bis alles 187 Aufrechte aus dir verschwunden ist. Es ist wahr: du bist kein Heros im Erdulden und kein Übergewaltiger im Schaffen. Aber du bist Mensch, dem man die Stimme raubt, mit der er sein Schöpferisches sagen will. Und es ist genug jetzt: genug des Diebstahls an unserem Geiste; genug der Heimatlosigkeit unseres Tuns; genug an Hass und genug an Unwahrhaftigkeit; genug des seelischen Mordes an dir und den Deinigen.

Komm, Süsskind. Wir wollen dem jüdischen Werke wieder die Ehre geben, die man ihm geraubt hat. Ein neuer Wille ist aufgewacht, die eigene Welt von den Tiefen her zu bauen. Ein grosses Heimweh nach dem schöpferischen Dasein brennt unter uns. Wir stehen wieder gebeugt unter dem grossen Anruf, der unser ist: »Es werde!«

Heimwärts, Süsskind von Trimberg!

 


 


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