Josef Kastein
Süsskind von Trimberg
Josef Kastein

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Drittes Kapitel

Minne und Martyrium

Auf die Anspannung von Jahrhunderten der Kirchenzucht hat die mittelalterliche Welt zwei oppositionelle Antworten gegeben; die Bildung von Sekten und die Entstehung weltlicher Dichtung. Jene war ein Versuch, die Religion sowohl aus ihren kirchlichen Bindungen wie auch aus der Primitivität der Reaktionen zu erlösen. Diese war ein Versuch, durch eine lyrische Konzeption sich der Weltlichkeit und der Lebenshaltung in ihr zu bemächtigen. Beides scheiterte im Ergebnis: die kirchliche Opposition auf dem Umwege über den Protestantismus; die weltliche nach einer täuschenden Blüte durch den unzulänglichen élan vital, aus dem sie geboren wurde.

Wir haben es hier, wo wir uns der Welt des Süsskind von Trimberg nähern, mit der dichterischen Antwort der Zeit zu tun. Hinter dieser Dichtung stand als der tragende soziale Untergrund die Entstehung des Ritterstandes und als das tragende seelische Motiv der Versuch, die Störung des bisherigen Daseins durch eine Vertiefung des Individuellen aufzufangen und fruchtbar zu machen.

Das gesellschaftliche Gesicht des deutschen Mittelalters von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts wird durch die Bildung eines neuen militärischen Adels, der Ritterschaft, bestimmt. Hier lag die meiste, zur Welt hin 76 gerichtete Aktivität versammelt, und hier musste folglich auf den Anstoss einer neuen Welt am kräftigsten geantwortet werden. Hier lag auch aus den Möglichkeiten der Lebensführung der Anspruch auf eine vermehrte Kultur der Lebenshaltung bereit. Der Ausgangspunkt des kulturellen Bemühens kann natürlich nur in den Standeseigenschaften des Rittertums selbst gefunden werden, in dem, was man als sein ursprünglich-primitives Gesellschafts-Ideal bezeichnen kann: das Reckenhafte, Kriegerische, Heldische, das auf das Tun und das Waffenhandwerk gerichtete, das im Gefühl und Affekt Masslose und Ungehemmte. Das waren Eigenschaften, die nur so lange Selbstzweck sein konnten, als ein vergleichender Massstab fehlte. Sie mussten in dem Augenblick ungenügend werden, in dem andere Welten mit anderen inneren Möglichkeiten sich öffneten. Sie verschwanden dadurch nicht etwa, aber sie verbanden sich mit den ihnen erreichbaren geistigen Begriffen von Humanität und Religion und Liebe. Ein solcher Prozess der Verschmelzung des Masslosen mit dem Massgebietenden hätte an sich äusserst produktiv sein können, denn letztlich ist jedes Urteil und damit jede fortschreitende Erkenntnis ein Akt des Ausgleichs. Aber Idealismus allein genügt nicht, um das Grobe fein zu machen und die Beschränktheit des eigenen Raumes produktiv auszuweiten. Es muss 77 die Möglichkeit hinzutreten, adäquate Formen auszubilden, die das Ergebnis dieses Schmelzprozesses aufnehmen und ihm lebensfähige Gestalt verleihen können. Aber eben diese Möglichkeit fehlte. Sie fehlte von aussen, von der Religion, wie von innen, von der geistigen Bereitschaft her. Die Religion führte immer nur zu einer fanatischen Abgekehrtheit von der Welt, und die innere Bereitschaft immer wieder zu einer wüsten Freude am sinnlichen Gehabe der »Frau Welt«.

Beides lag als Ausdruck der extremen Möglichkeiten der Zeit und ihrer Menschen dicht bei einander. Da, wo der Ausgleich und der mittlere Weg angestrebt wurden, konnte nur eine entlehnte Form dienen. Sie wurde von Frankreich übernommen. So wie man von dort die Sitten der Ritterschaft übernahm, entlehnte man von dort auch die Anschauungen über ihren Wert und Inhalt; und für die Dichtung, die der Zeit den Stempel gibt, den Minnesang, entlehnte man sogar die Technik ihrer Darstellung: die Gesetze des Versbaues und die rhythmische Gliederung. Damit war von vornherein die geringe Lebensdauer dieses Aufschwunges bestimmt. An sich ging das primitive Gedankengut der deutschen Ritterschaft sichtbar einer Entwicklung zu, die man in ihrer Gesamtheit wohl mit dem Begriff der Sittlichkeit decken kann. Die Zeit selbst 78 operierte mit dem Begriff der Tugend. Doch ist es imgrunde eines und dasselbe. Denn hier wird deutlich die Skala der sittlichen Wertbegriffe erweitert, wenn auch immer nur vom Standesbewusstsein aus. Ehre und Treue werden betont. Humanität drückt sich im Begriff der ›Milde‹ aus. Das Wort ›Beständigkeit‹ deckt die Vorstellung dessen, was wir im positiv wertenden Sinne einen Charakter nennen. Aber dieser Ansatz einer Entwicklung begnügt sich damit, eine überlieferte und entlehnte Schablone als Form zu benutzen. Es war aber eine Form, die nur Menschen benutzen durften, deren individuelle Ausprägung schon weit genug gediehen war, um sie zu beherrschen und nach Belieben zu sprengen; nicht aber Menschen, deren geringe individuelle Reife nur der Form verfallen und von ihr keine merkbare Steigerung erfahren konnten.

So kommt das Ergebnis zustande, dass ein Alltag, statt eine neue sittliche Fundierung zu empfangen, nur um die Gelände der Courtoisie und der Galanterie erweitert wird. Die Affekte, mit denen jeder Mensch und jedes Volk lebt und die es wirklich zu bewältigen gilt, erstarren zu typenhaften Gebilden der Konvention. Anstelle eines wirklichen Zieles stellt sich eine Mode ein. Das Kraftvolle im Tun erschlafft zur zarten, weichlichen Gebärde. Gefühl wird Sentiment. Konflikte verlaufen in vorgeschriebenen 79 Bahnen. Der Wille zur Charakterbildung hält sich an fertige Modelle, an Wunschbilder mit nur guten Eigenschaften und ohne schöpferische Problematik. Die religiöse Anschauung bekommt eine ausgesprochen sentimentale Ausbuchtung. Aber die Seele dieser Menschen selbst bleibt unverändert auf ihrem heidnischen Grunde der Kampfplatz der Dämonen und das Schlachtfeld des unaufgelösten christlichen Dualismus. Das machte sie und ihre Lebensreaktionen letztlich gefährlich. Denn für eine zeitlang trugen sie die Tarnkappe der Ästhetik, der Humanität und der Generosität. Das konnte zu dem Glauben verführen, dass man sich ihnen von daher nähern dürfe, von woher Menschen dieses Gebarens eine Begegnung ertragen sollten: vom Menschlichen her.

Da diese Schicht, wie schon gesagt, das gesellschaftliche Gesicht der Zeit wesentlich bestimmte, bestimmte sie auch die literarische Produktion der Zeit und gab die Anweisungen sowohl für den Geschmack wie für die Mode. Hier bewegte sie sich allerdings auf einer Strasse, die nicht sie selbst vorgezeichnet hatte, sondern die in der Spur des schwingenden Pendels lag. Die Kirche, deren Erziehungsziel auf die Erfassung aller Lebensverhältnisse und aller Lebensquellen ging, hatte von vornherein ihre Angriffe gegen denjenigen gerichtet, der berufsmässig das Volk mit 80 Nachrichten und Dichtungen, mit Sagen und Liedern versorgte: den fahrenden Spielmann. Er war der direkte Nachfolger der Gaukler, der joculatores, die mit den Römern in die germanischen Länder gekommen waren. Er trug unverändert die Stoffe des heidnischen Sagentums mit sich und stand damit in feindlichem Gegensatz zur klerikalen Kunst mit ihrem Stoffgebiet des Geistlichen und Biblischen. Da solche Kunst und solche Stoffe aber nicht von sich aus die Oberhand gewinnen konnten, sorgten strenge kirchliche Gesetze für die Unterdrückung und Diffamierung des Fahrenden. Er wurde ehrlos und rechtlos gemacht und von der Kirche ausgeschlossen. Ja, der Klerus liess sich selbst dazu herbei, fahrende Sänger auszuschicken, um den Wettbewerb eindringlicher zu machen. Zu Beginn der Kreuzzüge ist der Spielmann tatsächlich zurückgedrängt. Der Geist von Cluny hat gesiegt und erinnert den Menschen unaufhörlich an Sünde und Hölle und Busse und Askese.

Dann schlägt das Pendel zurück. Da das religiöse Motiv sich im Leben abgenutzt hatte, versagte sich ihm auch die künstlerische Kraft. »Frau Welt« erwies sich auf die Dauer als näher denn Himmel und Hölle. Der Spielmann, der handwerksmässige fahrende Dichter gewinnt wieder Raum. Bei ihm knüpft die Entwicklung der weltlichen Kunst wieder an. Dieser Rückschlag, der ein organischer 81 Vorgang ist und nicht etwa ein Akt bewussten Willens, empfing eine erhebliche Verstärkung durch das reiche Eindringen neuer Stoffe aus allen Gegenden der Welt und aus allen Gebieten der Legende, der Sage, der Novelle und des Schwanks. Zum ersten male wird der Osten in beträchtlicherem Umfange für den Westen aufgeschlossen. Spanische und italienische Juden übermitteln die Schätze des Orients, besonders indischer Stoffe, die den Weg der Übersetzung ins Persische, von da ins Arabische und dann weiter ins Hebräische und Lateinische gemacht hatten. Diese bunte Welt, die in ihrer Märchenhaftigkeit so stark war, dass ihr gegenüber eine nationale Komponente gar nicht aufkommen konnte, strömte in den Kreis der französischen Literatur ein, um von dort in Übersetzungen und Nachbildungen in die deutsche Dichtwelt übernommen zu werden.

Mit solchen neuen Aufgaben hob sich – schon vor der entscheidenden Ausbildung des Rittertums – der Stand der fahrenden Spielleute. Er hob sich auch gesellschaftlich, weil sich ihm jetzt ein anderer Wirkungskreis eröffnete: die Burg des Ritters und des Edlen. Immer häufiger taucht der adlige Dilettant auf. Meist ist er zugleich ein Bohémien. Aber noch als solcher wird seine Tätigkeit als gesellschaftlich ehrenvoll anerkannt. Die Funktion, die er erfüllte, ging 82 gewiss über die reine Vermittlung neuer Stoffe hinaus. Sie befriedigte in der Tat nicht nur ein Bedürfnis der Unterhaltung, sondern auch der erweiterten und vermehrten Anschauung. Doch blieb es meist eine An-Schauung im vollsten Sinne des Wortes. Ihre Art zu dichten und zu sagen bevorzugt die Handlung, das Geschehen, die Gefahr, die sonderbare oder heldische Tat. Probleme und Konflikte spielen dabei eine unbeachtliche Rolle. Die innere Motivierung des Tuns ist immer äusserst gering, sofern sie überhaupt vorhanden ist. Sie beschäftigen mehr die Phantasie als die Seele. An dem allgemeinen grossen Dualismus der Zeit, der in sich natürlich unverändert bestehen bleibt, gehen sie fast ohne Ausnahme achtlos vorüber. Nur ein einziger hat einen wirklich grossen und dichterisch beachtlichen Versuch der Befriedung und Auflösung, dieser Zwiegespaltenheit gemacht: Wolfram von Eschenbach. Er kann als die einzige sittliche Individualität der Zeit angesprochen werden, Wenngleich sein Parzival auch nur eine Übertragung und Nachdichtung des Chrestien de Troyes ist und die Gralssage als solche in ihrem Ursprung rein orientalisch, sah er doch als Erster und Einziger die Schwingungsweite des Pendels zwischen dem rohen, ungeformten Lebensgenuss und dem unschöpferischen Asketentum. Darum kann er als einziger seinem Helden ein 83 Stück wahrhafter Entwicklung mit auf den Weg geben.

Wenn man neben ihm noch Hartmann von Aue und Gottfried von Strassburg als die Grössen des ritterlichen Epos nennt, bleiben weiterhin zwar noch Namen, aber keine Persönlichkeiten mehr zu nennen. Im Ritterepos war eine Note angeschlagen worden, die für das Volk als solches um eine Oktave zu hoch lag. Für die Heldenideale des Rittertums konnte es auf die Länge kein Interesse aufbringen, und um so weniger, je weiter im Verlauf einer sehr schnellen Entwicklung der Ritter selbst sich von solchem Ideal entfernte. Zu den Leistungen der Epigonen war die Beziehung womöglich noch geringer, da ihre Gesänge kaum noch etwas anderes darstellten als modische Dichtung voll konventioneller Glätte und Langerweile.

Das Epos als solches, obgleich es die grosse Modedichtung der Zeit werden konnte, ist nicht geeignet, einer in Unruhe geratenen Welt zum Ventil ihrer Gefühle zu werden. Es kann auch nicht die individuellen Impulse aufnehmen, die, einmal angerührt, mindestens ausschwingen wollen. Das vollzieht sich wirksamer dort, wo nicht der Heldensinn angesprochen wird, sondern das Gefühl sprechen darf: in der lyrischen Dichtung; und in ihr wieder in der vom Gefühl am stärksten bewegten Gattung: im Liebeslied. Dieses 84 Lied hat in der deutschen Dichtung immer seinen bedeutenden Platz gehabt, und es war um so werthafter, je näher es dem Grunde aller Dichtung, dem Volkslied war. Hier kann vom persönlichsten Erlebnis berichtet werden, gleich, ob das sehnsüchtige Herz oder der unverhüllte Eros oder der in das Religiöse abgeleitete Eros der Marienverehrung sich ausdrücken will. Von solcher Fülle der Ausdrucksmöglichkeiten mussten natürlich eine Zeit und eine Gesellschaft Gebrauch machen, die, wie die ritterliche, nach einem erweiterten persönlichen Inhalt ihrer Existenz und einer reicheren Motivierung dieses Inhaltes sucht. So fing sie das Liebeslied auf, versah es mit Form und Konventionsgehalt der französischen Dichtung und machte daraus den Minnesang.

Der deutsche Minnesang steht zu Unrecht im rosigen Lichte eines schwärmerischen und seelenreichen, eines tiefen und reinen Idealismus. Er ist als Kunstform eine zarte Blüte mit geringer Lebenskraft und als Inhalt – bis auf die eine grosse Ausnahme des Walter von der Vogelweide – das Spiegelbild einer Weltanschauung, die weder die Kraft zur Gestaltung hat noch die Kraft, sich wahrhaft umgestalten zu lassen. Sie fesselte und erdrosselte sich selber mit dem Mass, nach dem sie sich sehnte. Vor ihren Augen war die Welt mit den Fahrten der Kreuzzüge gross geworden; aber statt sie in ihrer Weite und 85 schöpferischen Vielfältigkeit zu erfassen, gelangten sie nur zu dem familiären Begriff der »Frau Welt« und liessen es zu, dass ihr lebendiger Gehalt in Allegorien erstickte. Auch die Natur, die lebendige Quelle ihres Glaubens von einst, begab sich ihrer Ursprünglichkeit. Sie hatte sie zwar schon eingebüsst dadurch, dass die christliche Kirche daraus ein Requisit religiöser Betrachtung gemacht hatte. Jetzt erfuhr ihr das nicht minder Bedenkliche, dass sie zum Requisit gesellschaftlicher Anschauungen wurde. Der Rhythmus der Jahreszeiten bedeutet für sich selbst nichts mehr. Die Jahreszeit wird darnach gewertet, wie eine feudale Gesellschaft sich in ihr zum Genuss bewegen kann. Frühjahr und Sommer erfahren Lob und Liebe, weil sie zu Jagd und Tanz das Gelände öffnen. Herbst und Winter erfahren Hass und Klage, weil sie den Lebenshungrigen in die kalten Steinverliesse zurückscheuchen. So liefert man sich der Natur in Freude und Leid aus; in gemässigter Freude und in gemässigtem Leid.

Dieses Drängen nach der Mässigung der Gefühle musste eine besondere Befriedung dort finden, wo schon aus dem Stofflichen her sich eine gewisse Zurückhaltung nötig machte: in der Mariendichtung. Sie bestand natürlich schon lange: sie wurde aber jetzt ein wesentlicher neuer Ausgangspunkt. In dieser Dichtung war von je das 86 Zarte, Anmutige, Reine, Jungfräuliche besungen worden. Aus Triebschichten, die die Zeit selbst noch nicht verstand und daher nicht auflösen konnte, war hier ein Begriff der Minne geboren worden, der zwischen Sinnlichkeit und Geistigem fluktuierte und an den sich auch jedes weltliche Gefühl der Minne anlehnen konnte, ohne viel zu verderben oder viel zu erneuern. Je unverständlicher und beunruhigender ihnen die Liebe entgegentrat, desto mehr wünschten sie eine Konzeption voll leichter, in den Formen des guten Tons verlaufender Gemütsbewegung. Die Liebe, sagte ihnen Gottfried von Strassburg, ist in ihrer Gewalt unwiderstehlich, ein Verhängnis höherer Mächte. Ihre Werke beruhen auf einem Zaubertrunk. Noch Unheimlicheres sagte ihnen Konrad von Würzburg. Er möchte erklären, wie eine Frau noch Sehnsucht empfinden kann nach dem toten Geliebten, und er kann es nur so erklären, dass sie in aller Wirklichkeit vom Fleisch und Blut des Toten gegessen habe. Aber auf alle Fälle ist die Minne eine Untertänigkeit, etwas zu Erduldendes: ein Wunder, dem man ausgeliefert ist.

Immer da, wo eine Zeit über die Liebe zu reflektieren beginnt und wo sie zu solchen erduldenden, passiven Resultaten kommt, wird gleichzeitig das Objekt der Liebe, die Frau, in der Einschätzung umgewertet und ihre Rolle im 87 Zwiegespräch der Liebe geändert. Das ist im deutschen Minnesang in einem Masse der Fall, der alle inneren Widersprüche dieser Kunst aufdeckt und sie letztlich ad absurdum führt. Die Frau, in den Begriffskreis der Courtoisie einbezogen, muss an sich schon ihren natürlichen und naiven Charakter verlieren und die Haltung einer höfischen Dame einnehmen. Auch da, wo sie es nicht tut, weil es ihr einfach nicht gemäss ist, zwingen gesellschaftliche Anschauung und Mode sie in diese Rolle hinein. Man schafft sich künstlich in ihr das Objekt, zu dem hin man das konventionelle Gefühl entladen kann. Daraus ergibt sich eine seltsame Umkehrung der ursprünglichen Beziehungen. Im deutschen Liebeslied ist noch die Frau die Sprechende und Werbende. Im Minnesang ist es der Mann. Sie wird die Herrin, er ist der treue, dienende, verlangende, schmachtende Vasall. Anstelle der schlichten und schönen Klage der Frau nach dem Manne, den sie ersehnt, oder dem Geliebten, der in die Fremde gezogen ist, ertönen die Klagen und Seufzer des Mannes über die spröde, zurückhaltende, abweisende Frau. Zwar wird eine solche diskrete Haltung der Frau durch die Mode der Zeit unbedingt gefordert, aber der Sinn des Werbens und Dichtens ist gleichwohl, erhört zu werden und zum Ziel zu gelangen. Dieser innere Widerspruch wurde aber über dem Behagen an 88 solcher Gemütstrunkenheit garnicht zur Kenntnis genommen, so wenig es störend einwirkte, dass solches Dichten und Werben zumeist verheirateten Frauen galt und damit der glückliche Ausgang der Werbung notwendig ein Ehebruch sein musste. Eine Milderung erfährt dieser Ausgang allerdings dadurch, dass sehr oft – und später überwiegend – mit diesem Werben und Minnen ein bestimmtes Objekt überhaupt nicht gemeint ist. Die Frau, der man von Lenz und Liebe, von Hoffen und Versagen, von Anbetung und Verzweiflung singt, braucht garnicht zu existieren. Man singt so, weil es so Mode ist. Das Gefühl an sich, von jeder zeugenden und anregenden Gegenständlichkeit befreit, wird als genügender Grund zur Dichtung angenommen.

Aus solcher Haltung ergibt es sich als zwangsläufige Folge, dass der konventionelle Ausdruck solcher Liebe zugleich eintönig und reflektierend wird. Es sind immer nur zwei oder drei Töne, die da gegriffen werden. Bis zur Blutleere werden die Motive von Winter und Frühling, von Sinnen und Minnen, von Hoffen und Verzagen, von Werben und Erhören wiederholt. Im Lenz hofft man und im Winter grämt man sich. Jede Gunst der Frau zeugt helle Töne, jede Sprödigkeit die dunklen. Da, wo ein bestimmtes Objekt gemeint ist, kann sich die natürliche Sinnlichkeit des Werbens noch unverhüllt durchsetzen und 89 glaubhaften, weil persönlichen Ausdruck erzeugen. Aber wo das Objekt nicht besteht, steht das Gefühl selbst im Zentrum und muss in dieser Isoliertheit der genussreichen oder selbstquälerischen Betrachtung unterzogen werden, muss es der Analyse und der Reflexion verfallen. Nur hier und da lehnt sich einer dagegen auf, wie Heinrich von Morungen, der seine Lieder nicht von modischer Reflexion, sondern vom Zwang der Leidenschaft empfangen will. Als sein salongemässes Gegenstück steht Reinmar der Alte da, den Uhland zu Recht »Scholastiker der unglücklichen Liebe« genannt hat.

Bei alledem zwang die Mode – und wohl auch die Tatsache, dass zumeist verheiratete Frauen das Ziel der Minne waren – noch zu einer besonderen Zurückhaltung in Bezug auf den Namen und die Person des geliebten Objekts. Man durfte da nur andeuten, hinweisen, versteckt und verspielt umschreiben, und durfte dafür rechtschaffenen Zorn auf den Aufpasser, den »Merker« äussern. Aber solche Heimlichkeit erzeugt Unklarheit und innere Unaufrichtigkeit. Eine weichliche, sentimentale Note beginnt zu klingen, eine gefällige Selbstbetrachtung und eine zuweilen peinliche Art, ein erdichtetes Gefühl mit rhetorischem Schwung zur Schau zu stellen. Dabei musste zugleich das Triebhafte, der naturgemässe Grundton jeder Liebe, verbogen und verdrängt 90 werden. Dieses Gelände war von je durch die kirchliche Zucht suspekt gemacht worden, und von hier wurde die Seele des Christen von je verängstet und mit dem schlechten Gewissen beladen. Während auf der einen Seite, wie beim ›Gregorius‹ des Hartmann von Aue, die Ödipussage ihre Übertragung in die christliche Vorstellung erfährt und mit einer Sühne über jedes Mass hinaus gestraft wird, liefert der Minnesang sich bei aller modischen Verfeinerung doch recht zügellos den Genüssen aus, die ›Frau Welt‹ bot. Dass ein Ritter Weib und Kind daheim hatte und im Dienste für eine andere Frau und Mutter Jahre hindurch auf Abenteuer auszog, war eine Verzerrung der Minne, die dennoch von der Zeit als modegemäss akzeptiert wurde. Es fehlte ihr die Möglichkeit, festzustellen, dass auch hier ein Pendel schwang. Seine Schwingung ging von der religiös gefärbten Liebe zur Jungfrau Maria bis zum Ehebruch. Die Auflösung, die sich am Ende dieser Periode im geistlichen Lehrgedicht darbot, war kümmerlich genug. Sie konnte nur den natürlichen sinnlichen Gehalt des alten Testaments zu langweiliger Moralbetrachtung vermindern und ihn mit den Heilsversprechungen des neuen Testaments konfrontieren.

Abgesehen davon, dass der Minnesang in der Zeit eine Funktion erfüllte und zum gemässen Ausdruck einer seelischen Stimmung wurde, ist 91 sein inhaltlicher Wert weit geringer als sein Formwert. Die Sprache erfuhr in Klang, Rhythmus und Gliederung eine wirkliche Bereicherung. Oft werden Dinge von erstaunlicher Schönheit und Präzision gesagt. Der »Ton«, dieser Zusammenklang von Melodie und Strophenbau, erreichte eine ungewöhnliche Mannigfaltigkeit und Virtuosität. Wenn auch der Versbau und seine rhythmische Gliederung von Frankreich erlernt wurden, und wenn auch im Aufbau der Strophen von bestimmten Grundformen nur selten abgewichen wird, so stellt doch die Rhythmik sich mit ihrer eigenen Kraft dar. Dem entspricht es durchaus, dass der Diebstahl von literarischen Stoffen etwas selbstverständliches war und hier Originalität kaum angestrebt wurde, dass hingegen der Diebstahl von ›Tönen‹, also der Form und Melodie, als schimpflich galt. Doch lag in dieser Wertverschiebung zugleich die Gefahr. Es entsteht auf der Suche nach immer neuen Weisen ein Virtuosentum der Reimverschlingungen, eine verfilzte und verzerrte Form und eine wertlose Spielerei mit der überzüchteten Technik. Aus einer Kunst wird eine Künstlichkeit.

Die Form einer Kunstart zerfällt aber im allgemeinen nicht eher als ihre inhaltliche Dynamik. Form ist ja nur der Ausdrucksgehalt eines Wesenhaften, und sie muss entarten, wenn sie nichts Wesentliches und Gültiges mehr zu sagen hat. 92 Das war in der Epoche des Minnesanges sehr schnell der Fall. Dieses Verweilen in der Zwischenschicht des Gefühls und der Schwärmerei konnte nur von kurzer Dauer sein, denn das Pendel des untergründigen Daseins stand ja nicht still. Ihm wurde nur für eine kurze Weile ein ästhetisch gefärbter Hintergrund gegeben. Die idealen Konzeptionen des Rittertums konnten sich nicht halten. Sie waren ja kein wirklicher Umbruch, sondern nur ein temporärer Ausbruch. Die Reinheit von Sitte und Auffassung war ein Wunschbild, etwas Gezwungenes, Künstliches und Übersteigertes. Von keiner Änderung der Grundhaltung getragen, musste es in dem Augenblick zerfallen, in dem die soziologischen Voraussetzungen sich änderten, das heisst: die Bedeutung des Ritterstandes sich verminderte. Die grossen Geschlechter erdrücken den niederen Adel. Bürgertum und Bauerntum kommen auf und streben nach einer Stabilisierung der Zustände. Der Ritter verarmt und wird zum Strassenräuber. Es ist ein schneller und allgemeiner Zusammenbruch dieser Treibhauswelt. Nichts hat sich erfüllt, was man sich von ihr versprach. Die strenge Zucht entartet wieder zu ausgesprochener Sittenlosigkeit. Der »milde« Geber wird knauserig und entlohnt den Sänger nicht mehr. Zwar hatte der Sänger dem Ritter vermittelt, was er wünschte: eine Welt des Märchens, des Heldentums, der 93 Phantasie und der eleganten Form. Aber alles das war schwächer als die Wirklichkeit, schwächer als die äussere und die innere Wirklichkeit. »Frau Welt« hatte nicht gegeben, um was man sie anging. So nahm man wieder von ihr, was sie seit je, auch ohne seelisches Streben und auch ohne Schwärmerei und Minnesang gegeben hatte: die derbere Kost.

Die Minnedichtung selbst wiederholt getreulich diesen Ablauf zum Verfall hin. Sie wird zur Verzerrung und zur Karrikatur. Ein Ulrich von Lichtenstein demonstriert das mit den Tollheiten, die er für eine Frau begeht. Gefällig preist er die fünf Freudenquellen des wahren Mannes; eine schöne Frau, gutes Essen, schöne Rosse, ein kostbares Gewand und eine reiche Helmzierde. Zu dieser Materialisierung tritt eine, wenn auch farbige, Vulgarisierung. Der subtile Minnesang erholt sich in den Dörfern an handfesterem Tun und realerer Erfüllung. Die handwerksmässigen fahrenden Dichter, die Gumpelmänner, kommen wieder zur Geltung und drängen von den Dörfern an die Höfe. Man redet zwar noch von Minne, aber es hört sich schal und leer an. Ein Rest von Sentimentalität schwingt noch in das 14. Jahrhundert hinüber. Aber was nicht vom Volkslied aufgefangen und so wieder produktiv gemacht wird, begibt sich in das Lehrgedicht und stirbt dort an der eigenen Plattheit und der 94 Dürre seiner Tugendlehre. Nur der gedankenhafte Spruch, der ebenfalls gesungen wurde, die lehrhafte Wendung der ritterlichen Poesie, behauptet sich noch. Er macht sich selbständig mit seinem Stoffgehalt der Lebensweisheit und der klugen Betrachtung des Vernünftig-Praktischen und Unromantischen. Er enthält genugsam moralische Elemente, um eines Tages den Übergang zum Lehrgedicht bilden zu können, wie es Hugo von Trimberg, Schulmeister bei Bamberg, in seinem »Renner« versucht. Von dort her ist es dann nur noch ein Schritt zum rein geistigen Lehrgedicht, zum Passional und zur Predigt. Damit ist das Pendel wieder am anderen Pol angelangt. ›Frau Welt‹ nimmt wieder auf der Kirchenbank Platz. Auf die festlichen Versammlungen der Sänger und Dichter am Hofe des freigebigen Landgrafen Hermann von Thüringen folgt die Zeit seiner Schwiegertochter, der heiligen Elisabeth.

Aus dieser Welt, die das Erleben in eine entlehnte und konventionelle Form hineinträgt, um es darin scheitern zu lassen, ragt nur eine einzige Gestalt von wirklicher Grösse und von umfassendem dichterischem Format auf: Walter von der Vogelweide. Er steht jenseits der Konvention. Für ihn ist die Welt gross; aber er füllt sie leidenschaftlich aus. Er ist der einzige, der sich wirklich Gedanken macht und ihnen eine starke Form gibt. Er ist ein begnadeter 95 Dichter. An ihm werden zwar nicht die Wirklichkeiten, aber die Möglichkeiten des Deutschen jener Zeit sichtbar, so wie in der deutschen Kultur immer wieder isolierte Erscheinungen auftreten, die in der Vereinsamung des Genies die kleine Grenze des Nationalen sprengen und der Kultur oberhalb der Schlagbäume eine Stätte bereiten. Zu ihnen gehört Goethe.

So lebt diese Welt in aller Harmlosigkeit und Unbefangenheit weiter. Sie tut es so, als sei nichts geschehen, als hätte sie bei den Erschütterungen, denen sie ausgesetzt war, nicht ein Gebirge von Schuld auf sich geladen; als hätte sie nicht von ihrem Gott her zu fürchten, dass er ihr das Barbarentum ihrer Seele einmal heimzahlen werde. Was war auch Grosses für sie geschehen? Sie hatten ein Erlebnis gehabt, das sie erregte. Sie hatten dabei Zehntausende von Juden sterben lassen. Dann war ihre Erregung abgeklungen. Dass so viele Opfer des Sinnlosen auf der Strecke blieben, hatte gegenüber den eigenen Belangen garkeine Bedeutung. Ja, hätte man ihnen ihr Barbarentum vorgestellt, sie hätten es nicht verstanden; sie hätten sogar eine ethische Begründung dafür gefunden. Darum konnte es über das Geschehene keine produktive Auseinandersetzung zwischen dem Juden und dem Deutschen geben; und es wird sie nie geben.

Und doch war Wesentliches geschehen. Ein Teil 96 der Bevölkerung, in der Zahl gering, aber den Anderen an religiöser Potenz und an kulturellen Möglichkeiten durchaus überlegen, war durch Roheit, Achtlosigkeit und Dummheit bis an den letzten Rand der physischen, geistigen und moralischen Existenz geworfen worden. Auch hier war, wie beim Deutschen, im gleichen Zeitraum eine Welt gestört, ja fast zerstört worden, und auch hier musste eine Reaktion einsetzen. Aber hier konnte die Störung nicht auf einem ästhetischen Gelände aufgefangen werden und damit in eine gewisse Bereicherung ausklingen. Hier musste – aus der Unterschiedlichkeit der Störung und der Reaktionsfähigkeit – eine neue Position bezogen werden, die ihrem Wesen nach eine Verarmung darstellte. Die Dinge, die dem Juden hier geschehen waren, stellten sein erstes grosses Massenmartyrium in Mitteleuropa dar. Da die Ereignisse von aussen kamen, wurde eine neue Orientierung zur Aussenwelt nötig. Da sie ihr Dasein auf wesentlich religiöser Grundlage führten, musste ihr Lebensproblem mit religiöser Motivierung neu formuliert werden, und zwar nach innen und nach aussen.

Die Neuorientierung zur Umwelt konnte nach allem, was schon berichtet ist, nur negativ, ablehnend und abgrenzend werden. Sie geschah wesentlich aus dem Medium und mit den Äusserungen des Affektes. Der Jude hat die Vorgänge 97 dieser Zeiten nicht verstanden. Er konnte den Zusammenhang zwischen heiligem Symbol und Mord nicht herstellen. Er begriff auch die innere Motivierung der Anklagen wegen Ritualmord und Hostienschändung nicht. Schon eher begriff er die nackte Feindschaft, die irgendwo gefundene Leichen in die Nähe jüdischer Häuser transportierte, um einen Schuldgrund zu schaffen. Aber da er immer auf der Suche nach einem Motiv war, musste sein Verständnis im Ganzen hier versagen. Darum begann er zu fluchen und zu verwünschen; im Grunde genommen zu Unrecht; denn was diese Menschen taten, war ihnen gemäss. Aber da es moralische Gesichtspunkte gibt, die das Gemässe nicht gelten lassen können, und da der Jude diese Moral in unvorstellbarem Masse verzerrt sah, verzichtete er auf abwägendes Urteil und flüchtete sich in den Affekt. Waren das Kreuzfahrer, die da gewütet hatten? Nein, es waren »Vagabunden und Steppenwölfe«. War dieses heilige Haus da eine Kirche? Es war ein »Götzentempel«. Das Sakrament der Taufe, in das hinein der Jude geprügelt wurde, bedeutete für sie, dass einer »in Abwässer getaucht« oder »im Schmutzbecken verunreinigt« worden sei. Jesus, in dessen Namen so etwas geschah, hiess – in Anlehnung an einen alten jüdischen Sagenkreis – der gekreuzigte Bastard. Die Chronik, die der Jude jener Tage getreulich notiert, 98 ist geschüttelt von Zorn und Verachtung. Zitieren wir ein kurzes Beispiel aus dem Bericht über die versuchte Zwangstaufe jüdischer Frauen zu Mainz: »man schleppte diese lauteren Seelen in den Hof des Götzentempels und redete auf sie ein, dass sie sich in dem Abwasser baden liessen. Als sie nun bis an das Haus der Schande gekommen waren, weigerten sie sich, über die Schwelle dieses Götzenobdachs zu treten. So wurden sie denn gewaltsam hineingestossen. Aber auch dann noch wichen sie vor den Götzenbildern zurück und weigerten sich, den üblen Geruch der widerwärtigen Häute einzuatmen. Als die Landstreicher sich überzeugt hatten, dass die Frauen ihren Unrat verabscheuten, fielen sie über sie her und schlugen mit Beilen und Hämmern so lange auf sie ein, bis sie tot waren.«

Dem Juden ist es, wie jedem Menschen, möglich, sich im Affekt zu äussern. Aber es ist ihm, im Gegensatz zu anderen Völkern, nicht möglich, aus dem Affekt zu leben. So ist auch hier der Affekt nur eine Zuckung ihrer Seele und nicht ihre eigentliche Reaktion. Der Jude reagiert nicht mechanisch. Seine Reaktion ist wirkliche Antwort, Ergebnis eines Denkprozesses, einer Kette von Erwägungen, alles auf dem Untergrund seines Glaubens, der ihm die entscheidenden Begriffe selbst da vermittelt, wo er nicht mehr darum weiss. Gewiss kommt jetzt viel Trotz und 99 Verachtung in ihre Haltung zur Umwelt, so etwa, wenn sie das Verbot aufstellen, Mimikry zu treiben und sich bei Angriffen von aussen zu tarnen; »Bei einem Bandenüberfall (das bedeutet: von Kreuzfahrern) ist es unzulässig, durch Aufstellen von Zeichen ihrer Religion in den Häusern oder durch Aufnähen dieser Zeichen auf das Gewand sowie durch den Besuch ihrer Tempel den Schein zu erwecken, als gehöre man nicht zum Judentum.« Aber das Gewicht der Reaktion liegt selbstverständlich innen; dort, wo sie im Ablauf des Geschehens die Tragik ihrer Geschichte spüren; dort, wo die seelische Haltung sie zu Erniedrigten und Beleidigten macht.

Es ist eine besondere, dem Juden eigene Bewusstseinsform, dass er sein Schicksal weder momentan noch unverbunden lebt, dass er von frühesten Anfängen an in seinem Dasein eine Kontinuität und im Geschehen folglich echte Historie sieht. Diese Fähigkeit, die heute ein solches Mass der Verkümmerung erreicht hat, dass sie entweder nur völlig untergehen oder völlig neugeboren werden kann, führte dazu, dass die Frage nach dem Sinn des Schicksals an den Obwalter ihrer Historie, an Gott selbst gerichtet wurde. Sie suchten nicht, wie die Deutschen, mit heidnischer Verängstigung die Horizonte ab, wo sie wohl eine verantwortliche Ursache ihres Schicksals 100 finden könnten. Sie fragten Gott, warum er seine Verheissungen nicht erfülle, warum er sich der Christen bediene, um sie und ihren Glauben zu demütigen. Sie sahen nicht recht ein, wo im Konkreten ihre Schuld liegen könnte. Aber aus der Art, in der sie Gottes Gerechtigkeit beurteilten, blieb nichts anderes, als wenigstens zu einem allgemeinen Schuldgefühl zu kommen, (einem Schuldgefühl – versteht sich – ihrem Gotte und nicht etwa dieser Umwelt gegenüber.) Aber darin, dass man es nicht präzisieren konnte, lag eine Gefahr. Ein so generell empfundenes Schuldgefühl muss bedrücken, muss Raum für Zweifel und geheime Anklagen gegen Gott offen lassen und muss endlich in einer Umgebung, die voll aus dem Glauben an Dämonen und böse Geister lebte, selbst in die Gelände des Aberglaubens abirren. Gewiss stand dem Juden alle Zeit der grosse Gedanke der ›Busse‹ zur Verfügung, jener Begriff, der im Hebräischen mit dem Worte ›Umkehr‹ identisch ist. Für solche Umkehr war aber nur der äussere Weg gegeben und überliefert, während sie den inneren Weg immer von neuem aus der Fülle des Menschlichen und des Gläubigen herausgraben mussten.

Der äussere Weg, der sich darbot, war die Verengung und Verschärfung der religiösen Lebensführung. Die Wegweiser dafür fanden sich im Talmud. Ihr alltägliches Leben war an sich schon 101 eine Fülle des kompliziertesten Rituals, überladen mit Einzelheiten, die weit über ihren biblischen Ursprung hinausgingen und auf dem Wege der Interpretation weiter wucherten, sodass der klare ›Zaun um die Tora‹ zu einer verfilzten Hecke wurde. Doch erfüllte diese Uniformierung der Lebenshaltung die Funktion einer nationalen Disziplin, die auf andere Weise nicht herzustellen war und ohne deren Bindungen die Gemeinschaft zerbrochen wäre. Aber die geistige Haltung, die dem zugrunde lag, reichte nur bis zu dieser Erhaltung, nicht bis zu ihrer konstruktiven Ausweitung. Der Talmud war für sie nicht nur Gesetzeskodex, sondern auch geistige Atmosphäre. In dem Masse, in dem sie sich von der Welt absonderten, schlossen sie sich auch von ihren geistigen Bewegungen ab. Von dem grossen Schwung, der in der gleichen Zeit die Problematik der spanischen Judenheit belebte, liessen sie nichts zu sich ein. Philosophie und weltliches Wissen lagen ausserhalb ihrer Interessen. Für den schöpferischen Rationalismus eines Maimonides hatten sie kein Verständnis. Ihr Geist, der gleichwohl immer auf der Suche nach Beschäftigung war, durchging statt dessen die theoretischen Möglichkeiten des talmudischen Stoffes mit einer bohrenden Beharrlichkeit, mit einer Kasuistik von feinster Geschliffenheit, mit einer Überspitzung der intellektuellen Tätigkeit, bis 102 diese übernüchterne und zugleich trunkene Welt des virtuosen Gehirns den realen und also störenden Einfluss der Welt ausgeschaltet hatte. Ein ausgedehntes Netz von Schulen sorgte dafür, dass vor allem der Nachwuchs nicht nur erzieherisch erfasst, sondern auch mit diesem Geist des Selbstzweckes in innige Berührung kam.

Solche intellektuelle Akrobatik konnte aber nur das Gehirn befriedigen, nicht das Herz, die Seele. Der Talmud antwortet auf die Frage nach dem Was und dem Wie; nicht aber auf die Frage nach dem Warum. Er kann zur Not das Woher erläutern, nicht aber das Wohin. Er vermittelt eine geistige Betätigung, die ein Entlaufen ist. Die Seele aber braucht den umgekehrten Weg: den in die Enge der Geborgenheit. Sie suchte ihn und sie fand ihn. Nach dem Enthusiasmus der Selbstopferung, nach dieser übermenschlichen Anstrengung und Selbstverleugnung liess sie sich ermüdet zurückfallen in die Dunkelheit des Mystizismus und die Familiarität der Moral, der Zucht und der Sitte. Sie stellte damit, ohne es zu wollen und zu wissen, den auflösenden Gegensatz her zu der Welt des Rabbinismus. Gewiss: sie taten emsig und besorgt alles, was das deutsche Rabbinentum ihnen an Vorschriften produzierte (in den Tossafoth, den Zusätzen zur Gemara); aber sie hatten doch Geister unter sich, die sie lehrten, dass dieses traditionelle Tun 103 nicht Anfang und Ende sei. Sie wussten und erfuhren: nicht das Tun entscheidet, sondern die Gesinnung, das von innen her motivierte Verhalten. Man dient Gott nicht nur mit der Gebetsformel, sondern auch mit der guten Absicht; und versteht einer nicht den Text des hebräischen Gebets, so betet er besser in der Sprache seines Alltags. Wissen ist gut, aber Charakter ist besser. Nicht Gottesdienst von aussen her ist wichtig, sondern die Hingabe, das ganz grosse Vertrauen, das unablässige Arbeiten an sich; das unaufhörliche Bemühen, nicht nur aus sich selber, sondern auch aus dem Nächsten eine sittliche Persönlichkeit zu machen. Hier, unter den Trauernden und Bedrückten, unter den zu Unrecht Verfolgten und Verletzten taucht aus der schöpferischen Tiefe ihrer Art der Begriff der Nächstenliebe wieder auf, mit einem Glanz, der durch das Dunkel der Umgebung noch vervielfältigt wird. Hier wird von Milde gegen die Geschöpfe gesprochen. Hier wird davor gewarnt, auch nur den Knecht oder die Magd zu beschämen. Hier wird um Schonung und Mitleid sogar für das Tier gebeten. Hier, unter dieser seelischen Belastung und in dieser Umwelt wird der Satz geboren: ›Die Wurzel von allem ist das Herz.‹

Zu solcher Schlichtheit der seelischen Grundhaltung tritt eine Fülle von schlichten Anweisungen der Moral. Sie hatten an sich ja genug davon in 104 den ethischen Ideen ihrer heiligen Schriften. Aber die kleine Wirklichkeit zeitigte allzuviele kleine Tatbestände, als dass man ohne besondere Anweisungen dafür daran hätte vorübergehen dürfen. Die ganze Welt stand gegen sie in Feindschaft und bemühte sich innig, jede Handlung des Einzelnen als Charakterzug des ganzen Volkes darzustellen und damit das Recht auf Verachtung zu unterbauen. Mit gelassener Ruhe antwortet jetzt der Jude darauf und schärft ihnen besonders sauberes und gemessenes Verhalten gegen den Mitmenschen und gegen die Umwelt ein. Das geschah damals noch aus der sicheren Fülle und dem ungetrübten Bewusstsein um die eigenen sittlichen Werte; noch nicht, wie heute, aus der Motivierung, jeden Anstoss in der Umwelt zu vermeiden. Es geschah, weil ihre Reaktionen zwar schon bedrängt, aber noch unverkümmert waren.

Freilich: sie hatten keine Möglichkeit, mit solchen Erkenntnissen in die Welt ausserhalb ihrer Gasse zu gehen und sie dort zur Verwirklichung auszubreiten. Sie konnten nur an sich selber arbeiten und versuchen, allen Druck und alles erlittene Ungemach durch die Wertsteigerung des Menschlichen auszugleichen und aufzuheben. Aber dabei war doch eine so grosse Summe von Belastungen mitzuschleppen, dass ihre Situation wohl autonom werden konnte, und doch gefesselt 105 bleiben musste. Jede Autonomie, die des Geistes wie die der Lebenshaltung, wird immer ein gefährdetes Gewächs bleiben, wenn zu der Freiheit der Konzeption nicht die Freiheit des Lebensraumes tritt, in dem sie gestaltet werden kann. Das Judentum ist aus Gesetzen des Himmels an die Erde gebunden. Nur hier kann sein Ideengebäude Wirklichkeit werden. In der Hinnahme und der Auflösung der Lebensverhältnisse bewährt sich oder versagt sich die Dynamik des Judentums. Darum ist jede äussere Unfreiheit eine Verminderung, die zwar paralysiert werden kann, aber doch die Schranke gegen die produktive Freiheit aufrichten muss. Druck, Not und Unfreiheit erzeugen zwar im jüdischen Organismus die Kräfte des Widerstandes, aber sie lagern auch Schlacken ab. Und das war in diesem Zeitraume reichlich der Fall. Schon die Gedrücktheit der seelischen Situation macht das verständlich. Das Schuldgefühl, das nirgends präzise zu verankern ist, tastet nach überall hin. Überall liegen Möglichkeiten des Verschuldens; überall liegen daher auch selbständige Ursachen des Verschuldens; und wenn sie nicht selbst zu verantworten sind, so sind sie doch selbständig zu fürchten. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass der Jude einen Schritt von den grossen jüdischen Gedanken der Selbstbestimmung und der Selbstverantwortung zurücktritt und sich auf 106 die Ebene seiner Umwelt begibt, dahin, wo am Rande des Daseins eine Fülle von bösen Mächten, Dämonen, unreinen Geistern, heidnischen Gewalten steht. Dieser Hereinbruch des Aberglaubens, der für die Zeit an sich als selbstverständlich keiner Erwähnung bedürfte, muss hier im jüdischen Raum als eine verhängnisvolle Reaktion entschieden betont werden. Die Glaubenswelt des Juden wird verinnerlicht, aber verdunkelt. So viel ist ihm geschehen, dass die Annahme eines menschlichen Gegners nicht ausreicht, das zu erklären. Spuk und Gespenster müssen da schon mitgewirkt haben. Denen ist nur beizukommen durch Ausweichen oder durch Beschwörung und Besprechung. Vor denen muss man täglich auf der Hut sein. Das empfindet nicht nur die Masse; das lehren auch die Rabbinen. Die Furcht vor der Wirklichkeit wird überlastet durch die Furcht vor dem Unwirklichen. Sie geraten unter den Druck einer doppelten Panik. Hebt die Art ihrer intellektuellen Betätigung sie weit über die geistige Beweglichkeit der Umwelt hinaus, so werden sie doch durch diesen Verfall des reinen religiösen Raumes ihr wieder angenähert. Sie begeben sich selber damit in eine sonderbare Zwiespältigkeit. Sie wissen, dass sie frei zwischen Gut und Böse zu wählen haben; aber sie glauben, dass böse Geister ihnen nachts auflauern. Sie wissen, dass Gott alles schickt, das Zuträgliche 107 wie das Unzuträgliche; aber sie greifen doch zu den kleinen Mitteln und Praktiken der Zauberheilung und der Dämonenaustreibung. Sie kommen zu einer neuen Konzeption der Nächstenliebe; aber sie beten zu Gott, dass er sie an ihren Bedrückern rächen soll.

Während sich ihr Gehirn schärft, verdunkelt sich ihre Seele. Während die Umwelt nach aussen drängt mit heftig zuckenden Reflexen, flüchten sie nach innen mit verhaltenen und zusammengepressten Gebärden. Die Welt wird expansiv; sie werden restriktiv. Die Welt trägt ihre Unruhe mit entlehnten Stoffen durch entlehnte Formen; sie drängen vermehrte eigene Stoffe in verengerte eigene Formen. Die Welt sucht sich in der Konvention zu befriedigen; sie liefern sich der Tradition vermehrt aus. Die Welt singt von Minne; sie singen vom Martyrium. Die Welt wird sentimental; sie werden tragisch. Die Welt gleitet wieder in die Unbefangenheit des Triebhaften hinein; sie gehen mit engen Schritten durch immer schärfere Zucht. Die Welt wird wieder roh und lässt den ästhetischen Mantel fallen; sie treiben das Bedürfnis nach Verfeinerung und vermehrter Sauberkeit so weit, dass sie es untersagen, Kinder aus der gemeinsamen Schüssel essen zu lassen, denn das Kind könnte die Schüssel verunreinigen und damit den Erwachsenen Ekel verursachen. Sie vertiefen sich in eine 108 Moral, deren letzte Wirkungsmöglichkeit nur dadurch entstehen kann, dass man sie in offener Welt betätigt; und sie grenzen sich seelisch, geistig und räumlich von einer Welt ab, deren Symbole alleine schon für sie der lebendige Schrecken sind.

Wer löst diese Situation des inkongruenten Verhaltens auf? Niemand. Es waren ja nicht einmal Menschen da, die die Situation richtig erkannten. Nur eine verlorene und isolierte Stimme klingt von Frankreich herüber, die des Abälard in seinem ›Gespräch zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen‹. Er wirft ein Wort in die Wagschale, vor dessen Gewicht noch die Gegenwart sich scheut: Duldsamkeit. Für solches Wort gab es keinen Widerhall. Hier standen zwei Welten neben einander, die sich nicht befruchteten, zwischen denen ein Kontakt nur durch ihre Reaktionen bestand. Da, wo beide Welten zu sprechen begannen, sich zu bekennen, sich auszudrücken: in ihren Literaturen, in den geistigen Niederschlägen ihres Seins und Sich-Bewegens – da nahmen sie von einander nicht einmal Notiz. Und hier scheint jede Möglichkeit eines Verstellens schon durch die Art und Gattung ihres Dichtens von vornherein aufgehoben.

Dichtete der Jude jener Zeit überhaupt? Lässt die bedrängte Seele das noch zu? Gerade die Bedrängtheit fordert die Dichtung heraus. 109 Dichtung verarbeitet aber in jedem Menschen und in jedem Volke nur den Überschuss des innern Gutes, nur das, was nicht von den alltäglichen Reaktionen aufgesogen und verzehrt wird: den Überschuss an Lebensgefühl oder an Genussfreude oder an Leid und Kummer oder an religiöser Erregung. Damit ist gesagt, wo der Jude der Zeit dichtet: dort, wo er das Übermass seines Erduldens mit seinem Gotte bespricht: in der Synagoge. Und es ist damit weiter gesagt, wie er dichtet: in den ungefügen Tönen des Leids, der Anklage, der Empörung und Verbitterung, der Hoffnung und der Unterwerfung. Da wird kein Liebeslied und kein Festlied geboren. Da glänzt kein Sommer und kein Winter. Da entsteht nur die Elegie, eingefügt in die Gebetfolge; eingefügt auch in den historischen Zusammenhang ihres Daseins. Denn diese Elegien, Kinnot genannt, werden vorzugsweise in die Liturgie des grossen nationalen Trauertages, des 9. Ab, eingefügt. Wenn um die Zerstörung des Heiligtums geklagt wird, wird auch um die immer erneute Zerstörung ihres Daseins und ihrer Hoffnungen in der Verbannung geklagt. Damit verwischen Dichtung und Chronik ihre Grenzen. Es wird sachlich das Leid notiert und leidenschaftlich der Grund erfragt. Da wird nach dem Messias gerufen, nach der Strafe für das Sodom vor ihren Toren, und doch zugleich in müder 110 Verbitterung Gott apostrophiert; »Wieviel hast du, o Herr, für diejenigen übrig, die treu auf deinen Wegen wandeln und die sich auf dem Altar deiner Ehre opfern . . .«

So entsteht Dichtung, die nicht Poesie ist; Form, die kein Mass hat. Ja, es wird sogar Anweisung gegeben, nicht jene Gebete zu verwenden, die die grossen spanisch-jüdischen Dichter mit ihren beherrschten Versmassen geschrieben haben. Denn diese Maasse sind nach nichtjüdischem Muster gebildet. Aber um zu klagen und zu schreien braucht man kein entlehntes Versmaass. Das eigene Erleben gibt schon ein genügendes Maass. Es ist unelegant, weil es so ausgebeult ist von Zuckungen. Es gibt ohnmächtige Schreie, die jedes Metrum sprengen; so, wenn einer aufstöhnt: ›Zerfleischt haben uns ehemals Löwe und Bär, es würgte unsere Kinder der wütende Tiger, es biss uns heimtückisch die zischende Schlange; nun aber zerfetzt uns das Schwein, das uns mit seiner Last erdrückt . . . Fragt alle, die auf der Erde wandeln: hat je ein Volk solches zu erleiden gehabt . . ?‹

So also, während in der abschliessenden Gestaltung dieser Welt das Klagelied geboren wird, geht einer von ihnen, ihrem Wurzelgrund erwachsen, als sei nichts geschehen, als ständen Welten nicht unvereinbar gegen einander, als könne man das Hüben und Drüben ohne Mühe 111 vertauschen – geht da dieser Süsskind von Trimberg hin, ein fahrender Sänger, um an den Höfen des deutschen Rittertums seine Verse zu singen, Verse nach der Mode und nach den Maassen jener Welt. Wie vermag er das? Aus welcher Tiefe oder aus welcher Untiefe der Seele?

 


 


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