Josef Kastein
Süsskind von Trimberg
Josef Kastein

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Viertes Kapitel

Brotlose Kunst

Dieser Süsskind von Trimberg hat uns sehr wenig hinterlassen, um daraus die private Sphäre seiner Persönlichkeit aufzubauen. Und das ist gut so. Je mehr so der private Mensch in der Anonymität bleibt, desto mehr kann die Allgemeingültigkeit seines Schicksals ihren Raum einnehmen und in den Vordergrund treten. Um was unsere Neugierde nicht gestillt wird, mag unsere Erkenntnis bereichert werden.

Wäre uns nichts überliefert als sein Name, so wäre damit gleichwohl ein doppeltes mitgeteilt: Ursprung und Wohnort. Ursprung: ein jüdisches Haus irgendwo im Süden Deutschlands. Dieser Name Süsskind, beim Nichtjuden unvorstellbar, ist beim Juden jener Zeit häufig. Süsses Kind: darin ist die ganze, etwas überweiche Zärtlichkeit, die der Jude seinem Kinde gab, als noch in der Enge eigenen Daseins die Familie ein heiliges Zentrum war und Kinder ein Segen. Darum nannte man sie nicht mit tönenden Eigennamen einer Umwelt, sondern so, wie historische Erinnerungen aus der eigenen Geschichte oder wie das zärtliche und oft verzärtelnde Gefühl des Herzens es hemmungslos eingaben. Man wusste ja dabei, dass nur von hier aus dem Kinde ein Hauch der Zärtlichkeit mitgegeben werden konnte. Im Leben selbst lag nichts davon bereit.

Der Wohnort; das Städtchen Trimberg an der fränkischen Saale, nicht weit von Würzburg, nahe 116 der Stadt also, in der das Judenschicksal oft genug gewaltet hatte, um damals noch nicht vergessen zu sein. Damals, das bedeutet: gegen das Ende des 13. Jahrhunderts. Woher uns diese Zeit bekannt ist? Wir können sie nur folgern aus dem Stil und der Sprachform seiner Verse; und ergänzend aus einem Gedicht, das als das vorletzte in der Liederhandschrift verzeichnet steht. Da sagt Süsskind, dass er jetzt wieder zur alten Judentracht zurückkehren wolle. Und während er Hut, Mantel und langen Bart erwähnt, sagt er nichts von einem jüdischen Abzeichen. Er sagt es also zu einer Zeit, als die entsprechenden Beschlüsse des lateranischen Konzils von 1215 offenbar noch nicht durchgeführt waren, und das kann spätestens gegen das Ende des Jahrhunderts gewesen sein. So steht er wenigstens mit ungefährer Sicherheit im zeitlichen Raume. Und das ist wichtig; denn wir erinnern uns, dass dieses Ende des 13. Jahrhunderts eine Zeit niedergehender Kunstform und niedergehender Inhalte war, ein Tiefpunkt des Pendels.

Und sein Beruf? Nun: er schrieb Verse, dichtete die Melodien dazu und zog umher, sie auf den Höfen und Burgen vorzutragen. Das war in jener Zeit durchaus ein Beruf, zuweilen ein ehrenvoller und nicht immer ein sehr einträglicher. Aber wer einen solchen Beruf gerade ergriffen hatte, versuchte jedenfalls, ihn lukrativ zu machen. 117 Man trug seine Lieder und Verse ja nicht in romantisch-idealem Wettstreit vor, sondern gegen Entgelt, das man nicht nur erwartete, sondern auch, falls es ausblieb, forderte. Zuweilen bestand es in Geld, zuweilen in Kleidern, Waffen, Rüstungen oder Rossen. Der ›Milde‹, das heisst: der Freigebige wurde besungen; der Knauserige wurde öffentlich gemahnt, blossgestellt oder gar beschimpft. Selbst ein Walter von der Vogelweide hatte ja, wenn es der materielle Vorteil gerade so mit sich brachte, mit erstaunlicher Unbefangenheit die politische Gesinnung und die Partei gewechselt und ohne Hemmung Gaben gefordert und sich dafür bedankt. Lange genug führte dieser grosse Dichter das Dasein eines Bettlers. Aber es ging anderen nicht besser. Der Karrikaturist des Minnesanges, Tannhäuser, erzählt mit sorgenvoller Miene, dass Herr Mangel, Herr Schaffenichts und Herr Seltenreich seine beständigen Hausgenossen seien. Die Entlohnung wurde mit absinkender Zeit immer schlechter, und Süsskind lebte just in der Zeit, wo es mehr ›unmilde‹ als ›milde‹ Fürsten gab und die Sänger statt prächtiger Gewänder notgedrungen auch getragene Kleider annahmen.

Wenn er also das Versemachen zu seinem Beruf erwählte, zumal in einer Zeit, da er aus der wirtschaftlichen und geistigen Konjunktur her seinen Mann noch schlechter als sonst ernährte, so 118 verrät er damit keineswegs einen gesunden Erwerbssinn. Er bekennt auch offen, dass er bitteren Mangel leidet. Er kennt ähnliche Hausgäste, wie sie der Tannhäuser kennt: den Herrn Biegenot von Darbian und den Herrn Dünnehabe. Daheim sitzen die Kinder, müde vom Weinen und sperren hungrig die Schnäbel auf. Sie haben sich schon lange nicht satt essen können. Die ›Milde‹ der Zeit scheint sich ihm erheblich zu versagen. Darum klagt er_

Ihr Milden; helft mir von dem bösen Pack.
Es trüget mich um Speise und Gewänder.

Hatte er keine andere Möglichkeit, sich und seine Familie zu ernähren und so aus dem Hungerdasein herauszukommen? Es ist vermutet worden, er sei in seinem eigentlichen bürgerlichen Beruf Arzt gewesen. Dafür lassen sich gewiss einige Argumente anführen. In einer seiner Strophen singt er von der Ehre als von einer Latwerge, die aus fünf Pimenten bestehe. Auch sonst wirkt diese Strophe wie von einem Fachmann des Salbenmischens geschrieben. Zu dieser Vermutung, die um deswillen nicht zwingend ist, weil solche allegorisch verwendeten Begriffe durchaus im Sprachschatz der Zeit liegen, kommt aber ergänzend eine Wahrscheinlichkeit. Der Beruf des Fahrenden, mag er vom Adligen oder vom Bürgerlichen ausgeübt werden, wird doch immer von Menschen der christlichen Gesellschaft 119 ausgeübt. Auch ohne bewusste ständische Gliederung stellen sie eine Art Zunft dar, in die ein Fremder nicht ohne weiteres einzudringen vermag. Uns ist ja auch nur dieser eine Fall eines jüdischen Fahrenden bekannt. Dass man ihn als Kuriosum oder wegen seines Seltenheitswertes als Sänger in den Burgen zugelassen habe, dürfte eine Überschätzung des Differenzierungsvermögens sein, über das die Klasse seiner Zuhörer verfügte. Wohl aber kannten diese Zuhörer zwei Kategorien von Juden, mit denen umzugehen sie sich nicht scheuten und an die sie mehr oder minder gewöhnt waren: den jüdischen Geldmann und den jüdischen Arzt. Der jüdische Arzt, dessen ursprüngliche Genialität schon im frühesten Mittelalter in allen Ländern feststeht, konnte auch im deutschen Mittelalter nicht völlig verdrängt werden, obgleich die Kirche alles erdenkliche tat, beim Volke einen Widerstand gegen ihn zu erzeugen. Das hinderte aber selbst Erzbischöfe nicht daran, sich einen jüdischen Leibarzt zu halten.

Dann wäre also Süsskind, mit unseren Begriffen gemessen, immerhin ein ›Akademiker‹ gewesen und damit in einem gewissen Umfange gesellschaftsfähig. Aber mag er Arzt gewesen sein oder nicht: in jedem Falle übte er nicht diesen Beruf aus, sondern eben den eines Fahrenden. Das bedeutet im einen wie im anderen Falle, 120 dass er sich diesem Beruf so verschrieben hatte, dass es daraus für ihn entweder keinen Ausweg oder keinen Rückweg in einen anderen Beruf gab. Das widerspricht der landläufigen Vorstellung vom geschäftlichen Sinn des Juden durchaus. Aber so manche Vorstellung von ihm ist eben nichts als ländläufig und wird auf landläufigen Wegen durch Trägheit und Selbstüberschätzung genährt. Es darf zudem, wenn man den Beruf des Fahrenden betrachtet, nicht übersehen werden, dass er neben allem anderen zugleich Träger einer weit ausgebildeten und komplizierten Tradition war, einer Tradition der Form und der Technik, die gewiss lehrbar und erlernbar war, die aber immerhin gelernt sein wollte und also ihren Teil an Arbeit und vorbereitendem Studium erforderte. Die Schulung des Formalen und des Technischen steht nun bei seinen Versen auf einem sehr beachtlichen Niveau, und mag er lange oder nicht dazu gebraucht haben, sie sich anzueignen, auf jeden Fall hat er sich hineingearbeitet und hineingelebt. Er hat also diesen Beruf gewollt und erstrebt. Und er kann ihn unmöglich des materiellen Vorteils wegen gewollt und erstrebt haben. Es muss schon das mitgewirkt haben, was nötig ist, um aus solchem Beruf nicht ein schlechtes Handwerk zu machen: eine Berufung.

Für manchen anderen Fahrenden mögen ererbte 121 Neigungen, Familientradition, Lust nach ungebundenem Leben oder gar der Zufall entscheidendes Motiv gewesen sein. Alles das kommt für den Juden seiner Zeit nicht in Betracht. Kein leichtes und kein gefälliges Motiv kann es wahrscheinlich machen, dass man aus jener Welt in diese hinüberwechselt, aus einer gebundenen in die andere gebundene. Auch Art und Technik des Berufes können für einen Juden unmöglich Verlockendes gehabt haben; nicht nur, weil die Bedingungen dieses Berufes für einen Juden mehr als exzeptionell waren, sondern auch wegen der ganzen Unsicherheit und Flüchtigkeit und Ungarantiertheit eines solchen Daseins. Waren schon im eigenen jüdischen Bezirk Leben und Existenz unsicher und schwebend, wie sehr waren sie es erst in einem fremden Umkreis und in ihm wieder in einem an sich schon unfundierten Beruf.

So vermag kein äusserer Vorteil und kein äusserer Anreiz zu erklären, dass er sich diesem Beruf verschreibt. Es bleibt nur eine Erklärung: dem Wollen entsprach ein Müssen. Er wollte dichten und singen, weil er dichten und singen musste. Eine Persönlichkeit will sich äussern und sucht sich den Raum ihrer Äusserung. Wir stehen einem produktiven Geschehen gegenüber.

Doch muss, wenn das gesagt wird, sogleich hinzugefügt werden, dass dieses produktive 122 Geschehen keineswegs den spontanen Ausbruch einer Genialität bedeutet. Er war ein Talent; eines unter vielen; nicht mehr. Man muss ihn von dem falschen Gewicht befreien, das ihm durch das Beiwort ›Minnesänger‹ anhaftet. Er war kein Minnesänger und hat nie von Minne gesungen. Der klassische Minnesang, die höfische Liebespoesie, war ja im übrigen auch von den Mitgliedern des ritterlichen Standes so gut wie monopolisiert. Süsskind hingegen gehört ganz in die Kategorie der Spruchdichter. Auf diesem Gebiete hat er, wie man aus den hinterlassenen zwölf Strophen schliessen darf, Tüchtiges und Respektables geleistet. Seine Sprache ist die mittelhochdeutsche Mundart seiner heimatlichen Gegend. Seine formale Tradition ist die der Zeit. Sein Stil ist sauber und wird oft von auffallend schönen Wortbildungen gehoben. Tiergleichnisse, farbige Bilder und harmonische Verteilung des Gewichts der Stoffe machen die Lektüre seiner Verse angenehm. Selbst misswollende Philologen können nicht umhin, ihm das Prädikat ›gut‹ zu erteilen. Was sie ihm nebenher an gelegentlichen Betonungsfehlern vorwerfen, kann sehr wohl auf mangelhafter Überlieferung der Texte beruhen.

Man könnte versucht sein, von einem relativen Wert zu sprechen, der ihm um deswillen beizumessen sei, weil es doch schon eine besondere Leistung darstelle, wenn einer, der aus solcher 123 Entfernung kommt, sich noch so gut unter gutem Durchschnitt behauptet. Aber die Wertung der Leistung ist hier im ganzen von minderem Gewicht, als man auf den ersten Blick annehmen sollte; und die Entfernung glauben manche dadurch überbrücken zu können, dass sie mit Zufriedenheit darauf hinweisen, wie eng der deutsche Jude des Mittelalters mit deutscher Kultur und Sprache verbunden gewesen sei. Aber das ist nicht der Fall. Die geschichtlichen Vorgänge und die geistigen Niederschläge, die wir betrachtet haben, beweisen das genaue Gegenteil. Was dagegen diese isolierte Persönlichkeit des Spruchdichters Süsskind von Trimberg beweist, ist folgendes: entschliesst sich ein Jude schon dazu, seinen eigenen Bezirk zu verlassen und in den einer fremden Kultur zu gehen, so eröffnen sich ihm immer Wege. Die Möglichkeit des Juden, an der Kultur und der Zivilisation der Umwelt teilzunehmen, ist an sich unbeschränkt. Er bringt alte geistige Fähigkeiten mit sich; und er ist nirgends, vor allem nicht im deutschen Mittelalter, Kulturen begegnet, die so gross und erhaben waren, dass seine Fähigkeiten ihnen gegenüber hätten versagen müssen. Der Jude ist Kulturträger kat exochen. Er mag jeweils durch die Ungunst der äusseren Bedingungen scheinbar um Jahrhunderte im Rückstand bleiben. Sobald ihm die Strasse wieder frei gegeben ist, holt er mit 124 wenigen Schritten den angeblichen Vorsprung der Umgebung ein. Allerdings bleibt ihm die eigene Art der Reaktion, und er würde den letzten Rest seines Eigenwesens aufgeben, wenn er nicht aus seinem nationalen und seinem religiösen Herkommen gewissen Dingen und Erscheinungen der Umwelt das Verständnis versagen müsste.

Eigenwesen: das bedeutet die geistige und seelische Substanz in ihrer gegenseitigen Durchdringung, wie sie aus der Kette von Generationen und aus gewollten oder erzwungenen Züchtungen eines Tages entsteht. Das wesentliche dieser Substanz beruht nicht immer auf der Summe seiner Inhalte, sondern auf der Lagerung und Anordnung seiner Inhalte. Denn Seele und Geist sind in ihren Elementen überall die gleichen, und insoweit ist kein Mensch und kein Volk dem anderen gegenüber im Vorteil. Ihre Unterschiedlichkeit drückt sich darin aus, wie die gleichen Gehalte geschichtet sind und welche in der Hebung oder in der Senkung seelischer und geistiger Sprache liegen. Nicht das Thema einer Aussage entscheidet und unterscheidet, sondern der Ton, der innere Klang.

Wie ist es nun mit Süsskinds Eigenwesen bestellt? Ist es so stark, dass es erhalten bleibt, oder so schwach, dass es im Anderen aufgeht? Es ist weder das eine noch das andere. Es ist 125 ein Eigenwesen der schwebenden Mitte, nicht schwach genug, um völlig von der neuen Welt aufgesogen zu werden; nicht stark genug, um das Nur-Eigene zu erhalten und aus der anderen Welt zu befruchten. Es steht in beiden Welten und doch mit Gültigkeit in keiner von ihnen. In der einen steht Süsskind mit dem Herkommen, in der anderen mit seiner Leistung. Dass er sich dennoch in der Leistung von den Menschen der anderen, der nichtjüdischen Welt unterscheidet, legt die Voraussetzungen zur Tragik seines Schicksals.

Man hat ihm vielfach diese Unterscheidbarkeit absprechen wollen. »Wüssten wirs nicht« hat ein deutscher Forscher gesagt, »wir würden den Juden aus seinen Sprüchen nicht herauswittern.« Doch: wer eine Witterung hat, der wittert ihn. Gewiss: Sprache und Form unterscheiden ihn nicht. Wohl klingt hier und da ein Rhythmus an, von dem man sagen könnte, dass er an die Psalmen erinnere. Aber wenn man ihm nachsagt, er habe die biblischen Psalmen nachzubilden versucht, so trägt man eine grössere jüdische Bewusstheit in sein Schaffen, als wirklich darin enthalten ist. Wäre sein Fundus an jüdischem Wissen sehr gross und in ihm selber sehr beherrschend gewesen, so hätte er auch als Schaffender mittleren Grades nicht verhindern können, dass dieses Wissen sich seinen eigenen Ausdruck 126 schafft. Dinge des wahrhaften inneren Besitzes lassen sich nicht verdrängen, ohne dass die Unebenheit sichtbar wird, jene Stelle, wo das Eigene unter Fremdem verdeckt liegt. Das hat mancher Schaffende unter den Juden versucht, weil er um der Angleichung willen der Umwelt nur mit ihrem eigenen Ausdruck begegnen zu dürfen glaubte. Er hörte aber damit auf, ein Schaffender zu sein. Bei Süsskind ist von solcher gewollten Überdeckung nichts zu spüren. Seine Sprüche geben sich selbstverständlich. Sie verraten nichts Hervorspringendes an jüdischem Wissensgut.

Auch wenn wir den Umfang seines weltlichen Wissens betrachten, dieses schwankende Gebiet der Bildung, muss er nicht notwendig ein Jude sein. Dass er, was für einen Juden selbstverständlich ist, lesen und schreiben konnte, während selbst grosse Minnesänger ritterlichen Standes, wie Wolfram von Eschenbach und Ulrich von Lichtenstein es nicht konnten, besagt nichts Entscheidendes. Dass seine Themen als solche nicht jüdischen Gehaltes sind, versteht sich von selbst, wenn man das Publikum bedenkt, aus dem seine Zuhörer kamen. Sollte er etwa den Burggrafen von Henneberg von Debora oder vom Gott Israels vorsingen? Diese Zuhörer, auch die besten unter ihnen, wollten ja nicht Kunst um der Kunst willen hören. Sie wollten, indem sie ein 127 Unterhaltungsbedürfnis befriedigten, zugleich von den Dingen hören, die im Umkreis ihrer Interessen lagen. Das waren nicht nationale Dinge, sondern Probleme des Standes, der allgemeinen Lebenshaltung, der Moral und der Religion. Von wenigen Bemerkungen abgesehen, die sein persönliches Schicksal betreffen, trägt Süsskind auch ebensolche Dinge vor. Aber dabei ist doch ein negatives anzumerken: so wenig er jüdische Themen wählt, so wenig wählt er christliche. Er sagt nichts, was man ausschliesslich in einer deutschen und zugleich christlichen Gesellschaft sagen könnte; nichts, was nur spezifisch für sie bestimmt wäre. Er sagt Dinge, die man überall sagen kann.

Es gibt zwei Kategorien von Dingen, die so gesagt werden können: die ganz neutralen Dinge der Allerweltsweisheit und die Dinge eines so hohen sittlichen Niveaus, dass von ihm sich eine allgemeine Gültigkeit ableitet. Man kann Süsskind von Trimberg nicht vorwerfen, dass er sich in Banalitäten bewege. Ein solches Gebrechen der inneren Plattheit würde sich am ehesten da zeigen, wo die grosse Leidenschaft oder die grosse Schlichtheit den Ton bestimmen müssen: im religiösen Gedicht. Es ist eine einzige religiöse Strophe von Süsskind erhalten geblieben, ein Gebet von stiller, vertrauensvoller Gläubigkeit. Es sei, damit der unmittelbare Eindruck nicht zu 128 sehr gestört und vermindert werde, so übertragen, dass vom Grundtext das Meiste erhalten bleibt:

König Herre, hochgelobter Gott – gross deine Macht.
Du leuchtest mit dem Tage und finsterst mit der Nacht,
davon die Welt viel Freude und Ruhe hat.

König aller Ehren, nie es dir gebricht,
wie den Tag du zierest mit der Sonnen Licht,
und auch der Nacht dein's Mondes Licht wohl staht.

Du zeugst den Himmel samt den Stern',
mag immer deine Schönheit wahr'n.
Du hast zu geben Gabe viel, die nit vergaht.

Dieses Gebet mag an sich überall stehen. Sehen wir aber auf die Zeit, in der es gesagt ist, so muss der Aufmerksame erkennen, dass es in ihr doch nicht jeder sagen konnte. Jene Zeit war gläubig nur in den Bindungen ihrer Dogmen. Ihr Ausdruck war an die Symbole dieser Dogmen gebunden. Gott stand im Hintergrunde des Glaubens, aber nicht im Mittelpunkt der Vorstellungen. Die Gläubigkeit wurde ausgedrückt durch die Hinwendung zu Jesus oder zur Jungfrau Maria oder zu einem der unzähligen Heiligen, oder im Bekenntnis zum Dogma von der Dreieinigkeit. So einfach und unmittelbar zu Gott und seinem Werke hin sprachen sie nicht. So muss man, von der Zeit her betrachtet, diesem Gebet das Prädikat erteilen, es sei nicht christlich genug. 129

Aber was wäre es sonst? Sollte es etwa jüdisch sein? Ein Jude könnte es sehr wohl gesagt haben, damals wie heute wie immer. Nicht nur, weil der dogmatische Gehalt fehlt, sondern auch wegen seiner Unmittelbarkeit der Anrede. Und wir dürfen jetzt erst in die aufkeimende Vermutung das Argument hineinnehmen, dass sich in ihm beziehungsreiche Stellen finden. Da ist zunächst der ›König aller Ehren‹; er ist uns bekannt aus den Versen des 24. Psalms. Sodann finden wir zu den Worten ›Du leuchtest mit dem Tage und finsterst mit der Nacht‹ eine vertraute Parallele in dem Gebet, das der Jude an jedem Abend spricht: u'maawir jom u'mewir lai'la, der den Tag vorüberziehen lässt und die Nacht heraufbringt. Und finden sie noch bedeutsamer im Propheten Jeschajahu: ›Ich bins und keiner sonst / der das Licht bildet / und die Finsternis schafft.‹ Mag solch ein antithetischer Satz im Abendgebet nichts sein als ein Stück religiöser Poesie. Im Propheten ist es mehr. Da ist er Abgrenzung. Da wird der Satz – in Babylon gesagt – als ein Bekenntnis zum Schöpfer des Alls der Umwelt entgegengehalten, in der Tag und Nacht, Licht und Dunkel die beiden polaren und einander feindlichen Grundbegriffe einer Religion sind. Mit dem Gewicht dieser Unterscheidung ist das prophetische Wort in das Bewusstsein des Juden eingegangen und in die liturgische 130 Poesie des Alltags, und von solchem täglichen Gebet her in die schon unbewusste, weil selbstverständliche Vorstellung des einzelnen Juden.

Es soll nicht behauptet werden, dass solche stoffliche Parallele für sich allein entscheidend sei. Die biblischen Stoffe gehörten durchaus zu dem, was jeder gebildete Fahrende kennen musste, und selbst das allgemeine Wissen der Zeit, das – wie jedes primitive Wissen – überwiegend lehrhaft war, stak voll von biblischen Reminiszenzen. Aber immerhin: diese Parallelen fügen zu der allgemeinen Vermutung eine besondere Spur. Man muss ihr weiter nachgehen.

Im gleichen Ton wie dieses Gebet ist noch eine andere Strophe gedichtet, die das Lob der Frau besingt. Wir wollen sie in ihrem ursprünglichen Text hier folgen lassen:

Irs mannes Kron ist daz vil reine wip,
          ie mer in wol eret ir wol werder lip;
          er saelik man, dem diu guote si beschert!

Der mak sunder zwivel mit ir siniu jar
          willeklich vertriben, stille und offenbar
          er sich mit ir sünden und schanden wert.

Mit hoher staete ist si bedaht,
          ir lieht virleschet niht in naht,
          ir hohez lop wol mit der meisten menge vert.

Man spürt sogleich: hier ist im Klang und der Auffassung des Themas etwas gegeben, was sich der gängigen Auffassung der Zeit durchaus nicht fügen will. Was hier zur Frau hin gesagt ist, 131 wählt weder den Umweg über die Anbetung der Jungfrau Maria, noch ist es die minnigliche Verehrung mit ihrer Mischung von Mode und Selbstzweck, noch ist es jene derbe Deutlichkeit, mit der das Thema Frau angepackt wurde, wenn man sich schon die Mühe nahm, sie nicht als Objekt einer dubiösen Minne, sondern als Partnerin eines Gatten zu betrachten. So, wie es hier geschieht, kann man über die Frau als Gattin nur etwas aussagen, wenn ein Raum vorhanden ist, der ihr diese Stellung der Reinheit, der Fürsorge, der Treue und Beständigkeit zuweist. Dieser Raum war, unabhängig von jeder Mode und jeder Konvention, das jüdische Heim, diese kleine Burg in den Fährnissen fremder Umwelt. Hier wird in aller Schlichtheit die jüdische Auffassung von der eschet chajil, dem tapferen Weibe, wiedergegeben. Diese Auffassung unterscheidet sich von der der Umwelt nicht durch das Mass der Liebe, sondern durch das Mass der Sittenreinheit und Achtung. Siegfried und Krimhild haben sich sicher geliebt, und doch schien es niemandem verwunderlich, dass sie darüber klagt, wie ihr Gatte sie zerbläut habe. (Ouch hat er so zerblouwen darumbe minen lip.) Für den Juden war das unvorstellbar. Seine Beziehung zur Gattin war weniger bestimmt durch den Affekt als durch eine alte, in der Familie selbst verankerte Kultur. 132

So kann man auch von dieser Strophe zunächst das negative aussagen, dass sie nicht umweltlich genug sei. Es kommt hinzu, dass hier wieder eine Redewendung auftritt, die mit aller Deutlichkeit dem biblischen Schrifttum entnommen ist: Ihr Licht verlischt nicht in der Nacht. Das ist wörtlich das gleiche, was in den Sprüchen Salomos vom gleichen Objekt, der tugendsamen Gattin, ausgesagt wird: lo jichbe balai'la ne'ira. Das verstärkt die Vermutung, dass hier einer spricht, der aus einem eigenen Kulturkreise kommt. Dass ein anderer Fahrender aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts, Reinmar von Zweter, mit sehr ähnlichem Formgehalt eine Frau besingt, ergibt nicht etwa eine Parallele, die die Selbständigkeit der Süsskindschen Strophe aufhebt, sondern den genauen, bestätigenden Gegensatz; denn diese Frau ist nicht die Gattin des sterblichen Mannes, sondern . . . die Mutter Gottes. Die Ähnlichkeit der Formsprache sagt folglich nur etwas über ihre Domestizierung aus.

Zwei Bezirke wären somit in den Kreis unserer Vermutungen gezogen, der grösste jenseitige und der kleinste diesseitige: der Himmel und das Heim. In beiden vermeinten wir Haltungen und Worte zu verspüren, die dem Geiste eines Juden gemäss sind. Sollte nicht auch das, was dazwischen liegt; die Welt des alltäglichen Gehabes, der soziale Raum, von da aus bestimmt sein? 133 Wenn es wirklich in seinem Gefüge ein Jude sein soll, der hier über soziale Dinge etwas aussagt, so können wir, noch ehe wir seine Aussage kennen, bestimmte Postulate aufstellen, die erfüllt sein müssen, um ihn als Juden zu legitimieren. Es müsste dann in seinen Versen der grosse Gedanke von der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen zu finden sein, die durch die tatsächliche Verschiedenheit der sozialen Positionen nicht aufgehoben wird. Wir müssten erfahren, dass soziale Unterschiede keine Unterschiedlichkeit der Berechtigung ergeben, weder im Inneren noch im Äusseren; dass der Stand eines Menschen ihn zu nichts berechtigt, sondern nur zu vielem verpflichtet; wir müssten auf die viel geschmähte ›nivellierende Tendenz‹ treffen, die in Wahrheit nichts ist als der Ausdruck einer inneren Freiheit.

Wir finden in der Tat solche Strophen bei Süsskind. Sie stellen – in allgemeiner und besonderer Fassung – ein Drittel des ganzen Opus dar. Sie zeigen also die Breite auf, mit der seine Gedankenwelt hier beansprucht ist. Sie deuten zugleich an, wie wichtig es ihm war, gerade diese Dinge zu sagen. Und das ist mehr als verständlich. Er kam ja – wenn er Jude war – aus jener gebundenen Welt, in der neben der Grundhaltung des unbedingten Glaubens das Tun, das Verhalten im Alltäglichen seinen wichtigen und bestimmenden 134 Platz einnahm. Er kam aus der Welt einer praktischen Ethik, die so zwingend war, dass dahinter das freie Spiel der menschlichen Regungen in Affekten und Leidenschaften und sogar in der Unmittelbarkeit der Gefühle zuweilen zurücktrat. Das, was sich in jener Zeit in der Umwelt unter dem Begriff der ›Milde‹ verbarg: das Fehlen einer allgemeinen sozialen Ethik, musste notwendig einen Menschen zum Reden zwingen, der von dieser ›Milde‹ leben musste, der dabei ihr ständiges Versagen sah und dazu noch aus einer Welt kam, wo die Zedaka, die Wohltätgkeit gegen den Armen und Ärmeren, ein religiöses Grundgebot war. Dass zudem in seiner jüdischen Welt die geistige Leistung unbedingte Anerkennung genoss, sei nebenher bemerkt. So muss es uns wahrscheinlich und zugleich vertraut klingen, wenn wir die Strophen lesen:

Der reiche Mann hat Mehl, der Arme dafür Aschen hat.
Daran gedenk der weise Mann; das ist mein Rat.
Sollst auch als Freund den Armen nicht verschmähen,
leicht kommt die Stunde, da man sein bedarf.
Drum sei der Reiche mit dem Armen nicht zu scharf.
Die Kuh kann ohne Gras im Sommer nicht bestehen.
Den Esel hält man wenig wert,
doch ist er willig immer;
wenn seine Dienste man begehrt,
versaget er sie nimmer.
Hätte niemand zur Armut Pflicht,
der Reichen Reichtum wär ein Wicht. 135
Wer soll denn dienen, wenn kein Armer wär?
Bast war von jeher gut, die Säcke zuzubinden.

Es liegt ein wenig bittere Erfahrung in dieser Strophe; aber auch die eigenartige Verkehrung der Rollen, die darin besteht, dass der Reichtum des Reichen nutzlos ist, wenn er ihm nicht dazu dienen kann, einem Armen Gutes zu erweisen. Das ist ganz aus der Tiefe jüdischer Auffassung gesagt und nicht aus der Auffassung jener Zeit und Umwelt. Die ›Milde‹ ziert den Geber. Aber zedaka tazil mimawet, Wohltätigkeit rettet vor dem Tode.

Was hier in der mitgeteilten Strophe zu der ökonomischen Position des Einzelnen hin gesagt ist, wird noch einmal, und fast mit aggressivem Ton, zum Stand des Einzelnen hin gesagt. Hier ist nicht eigentlich der Stand gemeint, der sich aus der beruflichen Tätigkeit eines Menschen ergibt, sondern derjenige, der sich aus Erbschaft und Familie und Kette der Ahnen ergibt. Auch der Jude kennt in seiner Geschichte diesen Unterschied und damit den Vorzug der Familiendeszendenz, diesen Adel. Schon die Notwendigkeit, die Priester und Lewiten rein zu erhalten, zwangen zur Aufstellung von Geschlechtsregistern. Durch sie wurde der Jichuss, die Abfolge der Geschlechter, nachgewiesen und gewertet. Jichuss kann hier als der synonyme Begriff für Adel aufgefasst werden. Aber solcher Adel in seinem 136 wirklichen inneren Gewicht war doch nicht an uraltes Herkommen und an die nichtssagende Tatsache der Geburt allein gebunden. Es gab einen Adel, den jeder sich erwerben konnte, wenn er nur die sittlichen und geistigen Qualitäten besass, die allein eine Vorzugsstellung rechtfertigen. Im Talmud wird gesagt: »Die Krone des Priestertums hat Aaron genommen; Die Krone des Königtums hat David genommen. Die Krone der Tora aber ist immer zu vergeben, und wer will, kann sie sich nehmen.«

Hier wird demnach das adlige Verhalten höher gestellt als der adlige Brief. Nichts anderes spricht Süsskind von Trimberg aus, wenn er denen, von deren Gnade er doch mit seiner ganzen Existenz abhängt, zu sagen wagt:

Wer Edles tut, der soll mir adlig gelten,
mag seinen Adelsbrief auch einen Wisch man schelten,
sieht man doch Rosen spriessen auch am Dorne.
Doch wo sich Adel mit Gemeinem paart,
da wird das Adelskleid ein Fetzen schlechter Art.
Nicht taugts dem Mehl, wenn Spreu sich mischt dem Korne.
Wo Adel adlig sich beträgt,
da glänzt er hell wie Sonnen;
wo aber Missetat er pflegt,
verfälscht er edlen Bronnen.
Wenn einer aus geringem Stand
vom Bösen fernhält seine Hand,
zum Besten stets den Sinn gewandt:
der heisst mir edel,
strömt sein Blut auch nicht aus adeligem Borne.

137 Gewiss war er nicht der einzige seines Standes, der das in seinem Jahrhundert sagte. Es scheint, als hätten gerade die bürgerlichen Fahrenden sich gerne mit diesem Thema beschäftigt. Wir brauchen nicht einmal anzunehmen, dass sie es taten, um den erheblichen Abstand zwischen sich und ihren adligen Zuhörern ein wenig problematisch und damit leichter tragbar zu machen. Wir können glauben, dass es für den Bruder Wernher, den Nachbarn Süsskinds in der Manessischen Liederhandschrift, wirklich ein Teil seines moralischen Bewusstseins war, wenn er sagte: ›man siht, daz nieman edel si, niwan der edellichen tuot,‹ oder wenn Reinmar von Zweter ähnlich sagt: ›nieman ist edel, ern tuo dan edellichen‹. Wir wiesen ja schon darauf hin, dass wir die Grundelemente von Seele und Geist überall als gleichermassen gegeben erachten und die Unterschiedlichkeit sich erst aus ihrer Lagerung und Schichtung ergibt. Es kommt also durchaus nicht darauf an, ob das, was Süsskind gesagt hat, auch ein anderer gesagt hat, sondern wie es bei dem einen und bei dem anderen im Gefüge steht. Zum Unterscheidenden kann sehr wohl das gehören, was auch andere tun und sagen. Ja: es wird meistens gerade darin liegen, und nur in der Sagart und Anwendungsart wird man den Unterschied bemessen können.

Ein solcher Unterschied ist hier feststellbar. 138 Betrachtet man die zeitgenössischen Leistungen derer, die nicht nur ein Konventionelles an Themen herunterhaspeln, sondern darüber hinaus noch eine Spur des Eigenen zu geben haben, so erweist sich, dass bei keinem von ihnen diese Elemente des unmittelbaren Glaubens, des häuslichen Glücks und der besonderen sozialen Betrachtung so in Ton und Umfang im Mittelpunkt des Gesamtwerkes stehen. Auch wenn sie fast Gleiches sagen wie Süsskind, ist dieses Gleiche nicht der Akzent ihrer Leistung, sondern nur ein Bestandteil. Solche Verteilungen des Gewichtes sind nie zufällig. Sie sind notwendiger Ausdruck vom Schaffenden und seiner Art her. Sie fügen demnach zu all unseren äusseren Vermutungen eine entscheidende innere Gewissheit hinzu.

Erkennen wir aber – und wir dürfen es jetzt schon tun – bereits aus dem Stofflichen dieser Strophen, dass hier ein Jude spricht, so ist sein Wort sein Wort, seine Gedanken seine Gedanken: die eines Juden. Und wenn hier – gegen die ständische Schichtung seiner Zeit – die ›nivellierende soziale Tendenz‹ sich ausdrückt, so sagt er das, was ihm gemäss ist. Denn welchen Sinn kann der Jude darin finden, die Welt in soziale Schichten zu zerreissen und etwas als natürlich und gottgegeben anzuerkennen, was nach den Massen menschlicher Erkenntnis und nach seinem ethischen Vermögen nicht notwendig so sein muss? 139

Von der allgemeinen Einstellung zu sozialen Dingen leitet eine andere Strophe hinüber zu einer besonderen sozialen Situation, zu einem Problem, das zwar zur ganzen Welt gehört, das aber doch hier nichts ist als ein Stück jüdischer Geschichte und damit jüdischen Schicksals. Es ist der Wolf, der da klagt, er müsse rauben, da ihm ein ehrlicher Erwerb versagt sei. Scheinbar ist es nur eine Tierfabel, die hier erzählt wird. Aber es ist von je das Wesen der Tierfabel gewesen, dass sie die indirekte Rede der Moral bedeutete. Sie ist die früheste Sublimierung vor allem der sozialen Kritik. So enthüllt sie auch hier sehr schnell die Symbolik und darunter ihren Sinn: die Apologie.

Ein Wolf sehr jämmerlich einst sprach:
Wo soll ich fürder bleiben,
da man mich um mein täglich Brot
tut ächten und vertreiben.
Dazu bin ich doch auf der Welt.
Die Schuld, die ist nicht mein.

So mancher hat ein reich Gemach,
den man sieht Falschheit treiben,
sein Gut vermehren ohne Not
mit Sünden ungerechten.
Der tut viel Schlimmres, als wenn ich
erwisch ein Gänselein.

Ich hab nun mal kein rotes Gold
zu zahlen für die Speise.
Da muss ich, wenn der Hunger grollt, 140
rauben auf meine Weise.
Der Falsche
tut Böseres auf seine Art
und will unschuldig sein.

Es ist ganz deutlich, was hier gemeint ist. Da wehrt sich einer gegen die Einschätzung, die man seinem Tun widerfahren lässt; dagegen, dass er seines Leibes Nahrung wegen geächtet sein soll. Aber es ist nicht seine Schuld. Er muss doch von etwas leben. Er müsste ja anders verhungern. Und was schaut schon wirklich als Ergebnis dabei heraus? Ein Gänselein. Da sind doch wohl die weit gefährlicher und schädlicher, die im behaglichen Besitz wohnen und ohne Not, nur aus dem Streben nach Gewinn, ihr Gut vermehren wollen. Hier wird demnach soziale Moral gepredigt, und wenn man sich in den Zeitverhältnissen umschaut, wo eine entsprechende Situation vorhanden sein könnte, so ist die Übersetzung in die Praxis des Alltags sogleich gegeben: es ist die Abwehr des Vorwurfs, dass der Jude Geld gegen Zinsen weggibt und ein Wucherer heisst, weil die Unsicherheit seiner Position es ihm dringend macht, hohe Zinsen zu nehmen. Also eine Apologie; und zwar eine, die Süsskind nicht für sich selber sagt, denn was hat dieser arme Schlucker von Spruchdichter mit Geldgeschäften zu tun? Es ist vielmehr eine Apologie für das Volk, dem er zugehört. Er sagt damit zugleich 141 Dinge, die ein wenig bedenklich und gefährlich sind. Denn wann wäre seine Umwelt je willens gewesen, das gegen sich gelten zu lassen, was sie selber verschuldet und verursacht hat? Ihr Weltbild brachte es aus seinem heidnischen Bestande so mit sich, dass sie Bedingungen eines Tuns setzten und dann die Folgen angriffen und anklagten. Gegen diese tief innerlich begründete Ungerechtigkeit, diesen immanenten Mangel an Rechtlichkeit wehrt Süsskind sich. Er tut es als Jude, schon weil das in seiner Zeit kein Christ getan hat, und er tut es auf die Gefahr hin, dass die ›Herren‹ es sich nicht gefallen lassen.

Er geht aber noch weiter. Er denunziert die innere Unwahrhaftigkeit der Denunzianten. Er macht sich keine Illusionen über den Wert einer Tugendhaftigkeit, die nur verhinderte Untugend ist. Er hat in diese neue Welt seiner Wirksamkeit schon tief genug hineingesehen, um zu erkennen, wie gering ihre Legitimation zu solchen verächtlichen Vorwürfen ist. Nicht nur, weil sie dem Juden nichts anderes als den Kleinhandel und das Geldgeschäft belassen hat, sondern weil sie selbst auch jeder Zeit bereit ist, ein gleiches zu tun. Im Untergrunde enthüllt er damit zugleich den Neid auf den Erwerb des Juden.

Gar mancher muss bescheiden werden durch die Not,
der unbescheiden wär, zwäng ihn nicht das Gebot
der Übermacht, dass er der Sitten Lehren achtet. 142
So gibts auch manchen, der den Wucherzins nicht scheute
und Gott den Herrn nicht fürchtet noch den Fluch der Leute,
wenns ihm an Geld nicht fehlte, das er auszuleihen trachtet.
Hätt der Esel nur ein Horn,
die Leut er niederstiesse.
Krokodil im freien Zorn
niemand am Leben liesse.
Stünde bei dem Wolf die Wahl,
würde klein der Schafe Zahl.
Es wünscht der Dieb, dass alle Türen offen ständen.
Es wünscht der Schuft, dass man den Biderman verachtet.

Es ist auch hier ein unzulängliches Argument, dass andere Chronisten und Minnesänger ebenfalls den Zinswucher beim Christen bekämpft haben. Sie waren ja nicht nur dazu verpflichtet, weil dem Prinzip nach das kanonische Zinsverbot noch in Geltung war; sie sagen auch etwas, was von der Aussage des Süsskind von Trimberg grundsätzlich unterschieden ist. Ihre Aussage ist ein Urteil; seine Aussage ist eine Apologie. Sie stellen eine theoretische Forderung gegen die Praxis auf; er klagt die Menschen an, die solche Praxis notwendig gemacht haben.

Wir dürfen jetzt, nachdem wir das Meiste seiner Strophen haben vorüberziehen lassen, die erste Summe ziehen, die ein abrundendes Urteil gestattet. Es bestätigt sich, was wir vorweg behauptet haben; dass er Dinge sagt, die man überall 143 sagen kann. So scheint auf den ersten Blick sein Weltbild von dem seiner Art- und Fahrtgenossen nicht unterschieden. Und dennoch steht bei ihm all dieses Allgemeine in einem Gefüge, das es zu einem Besonderen macht; nicht zu einem Besonderen des Wertes, wohl aber zu einem Besonderen der Art. Mag er das gleiche singen wie die anderen: in der Tiefe ist sein Weltbild sein eigenes. Mag er in Form und Ton und selbst im Worte noch ein Deutscher gewesen sein: in seiner inneren Motivierung – also dort, wo die Schicksale entstehen – ist er Jude geblieben. Gott und das Heim, die soziale Welt und das soziale Schicksal stehen in einem geschlossenen Gesamtbild. Es enthält alle Elemente, die diese Persönlichkeit abrunden. Darum auch bleibt diese Persönlichkeit noch unter allem Stoff erkenntlich. Jude bleibt Jude. Was für ein Ehrgeiz läge auch im Gegenteil?

Das leitet zu der Frage über, ob dieser Süsskind von Trimberg etwa den Ehrgeiz hatte, nicht Jude oder gar ein Deutscher zu sein. Ob er etwa das gewesen ist, was wir heute mit einem immer noch sehr unvollkommenen Begriff einen Assimilanten nennen. Assimilation im Sinne der jüdischen Geschichte ist mehr als die Angleichung an fremde Kulturen. Es ist die Vertauschung der Grundelemente im Bewusstsein; Zerstörung des Herkommens zugunsten der Hingabe an 144 andere Welten; die zerstörende Kehrseite des jüdischen Universalismus.

Wir finden bei Süsskind kein bewusstes Bekenntnis dieser Art; vor allem nicht das übersteigerte Bekenntnis, das dem Assimilanten den Grundzug des Charakterlosen verleiht. Andererseits beweist seine Apologie des Juden nichts für sein Judentum, denn auch der Assimilant will sich die unaustilgbare Quelle seines Herkommens nicht ohne Not verunreinigen lassen und wird Verteidiger der Seinen um seiner selbst willen. Wir wollen überhaupt in die Person des Süsskind nicht mehr hineintragen, als man aus dem Werke verspüren kann, wenn man dafür eine Witterung hat. Wenn gesagt wurde, dass hier im Stofflichen ein Gesamtbild der Persönlichkeit abgerundet sei, so muss ja auch in der gleichen Abrundung erkennbar sein, wie sich hier ein Schicksal darstellt und vollendet. Es müsste uns sogar Wunder nehmen, wenn er nicht auch von seinem Schicksal selber spräche. Wenn unsere bisherigen Vermutungen richtig sind, und wenn die Welten, die wir im Anfang von einander abgegrenzt haben, in dieser Abgrenzung wirklich zu Recht bestehen, dann muss es möglich sein, auch sein persönliches Schicksal so von vornherein, so ohne Kenntnis seiner eigenen Aussage darüber zu bestimmen, wie wir seine soziale Einstellung schon im Postulat bestimmen durften. 145

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Welt, in der der Jude, freiwillig und gezwungen, lebte; und die andere Welt, in die Süsskind hineingeht. Dieser Weg von drüben nach hüben führt mindestens über zwei reale Etappen. Auf der einen muss er sich ausbilden und auf der anderen sich betätigen. Vom Talmud zur deutschen Spruchdichtung ist ein langer Weg. Das eine wie das andere will gelernt sein. Lehrbücher für Spruchdichtung gab es nicht. Er musste sich also irgendwo in die Lehre begeben. Ob er einen guten Lehrer hatte, wissen wir nicht. Dass er ein guter Schüler war, beweist er durch seine Strophen. Er musste, nachdem er sein Handwerk gelernt hatte, in die andere Etappe gehen: in die Höfe und Burgen, und musste auch dort so akzeptiert werden, wie er von irgend einem Lehrer angenommen werden musste. Man hat aus diesen beiden Tatsachen blühende Fehlschlüsse gezogen und mit bedeutungsvollem Seitenblick darauf hingewiesen, dass im Würzburgischen kunstfreundliche Herrschaften sassen, die auch den Juden nicht verachteten; dass Süsskind in einer Zeit gewirkt habe, als noch von den grossen Sängern Wolfram von Eschenbach und Walter von der Vogelweide der Toleranzgedanke nachwirkte. Das ist möglich. Vielleicht akzeptierte man ihn im Beginn seiner Tätigkeit auch nur, weil man sich gerade in einer Pause der Humanität befand, 146 oder aus der Gedankenlosigkeit, mit der selbst Barbaren zuweilen gutmütig sein können, oder vielleicht gar, weil man seinen Übertritt zum Christentum erwartete. Das eine wie das andere ist gleichgültig, denn Schicksale wollen von ihren inneren Bedingungen her erfasst werden und nicht von ihren äusseren.

Dieses Schicksal beginnt schon mit dem Wege und mit dem ersten Schritt darauf. Denn wie kommt einer nur zu dem Entschluss, fahrender Sänger zu werden? Wir sagten schon, es müsse ein produktives Geschehen gewesen sein, das ihn trieb. Das bedeutet aber, wenn man die gegebenen Lebensräume von hüben und drüben betrachtet, dass einer entweder die Enge von hüben nicht mehr erträgt oder sich von der Weite von drüben unwiderstehlich angezogen fühlt. Der Begriff der Weite kann natürlich auch etwas sehr relatives bedeuten. Die jüdische Welt war beengt, aber weit. Die andere Welt war weit aber eingeengt; und wenn wir hier die Schwingungsweite des Pendels ins Auge fassen, so sind mindestens ihre extremen Ausschläge dem Juden für immer unzugänglich. Süsskind berührt sie ja auch nicht. Er bleibt immer in der Mitte der Pendelbewegung, im Durchschnitt des Möglichen. Aber es gibt auch eine Weite, die von einem fremden Objekt unabhängig ist: die nichts anderes ist als das Bedürfnis des Menschen nach 147 seiner eigenen Ausweitung. Dieses Bedürfnis trägt immer dann den Keim der Tragik in sich, wenn die Gemeinschaft, der dieser Mensch angehört, sich solche Ausweitung versagen muss. Denn dann kann das Bedürfnis nur befriedigt werden durch das Ausbrechen in eine fremde Welt.

Diese Bedingungen sind hier gegeben. Der Jude versagte sich dieser Ausweitung aus Feindschaft gegen eine feindliche Welt und aus dem Willen zur Selbsterhaltung. Er sparte sich auf die letzte, grosse, allmächtige Ausweitung: für die Zeit seiner eigenen Erfüllung. Der Messianismus war der Trost für seine freiwillige Enge. Aber zuweilen will einer sich dieser kollektiven Selbstbeschränkung nicht unterwerfen und möchte für sich selber diese ferne, unbestimmte Zeit nicht abwarten. Er hat mehr Triebkräfte in sich von der Persönlichkeit her als vom Gemeinschaftsgefühl. Das, was in seinem Volke als dynamischer Untergrund unzerstörbar ist: der Wille zur Gestaltung der Welt, wird bei ihm zum individuellen Heimweh nach der Welt und ihren Freiheiten. Den Gedanken, den sein Volk streng und starr in die Zukunft projizierte, möchte er selber in aller Farbigkeit und Behendigkeit an der Welt und an den Tagen seiner Gegenwart teilnehmen lassen. Und er kann sich nicht immer nach seinem Belieben den Raum aussuchen. Es ist zumeist der Raum, der gerade vor der Türe liegt. 148 Diesen Willen zum Freisein hat Süsskind von Trimberg empfunden und ausgesprochen. Es liegt eine Strophe vor, in der von der Freiheit des Gedankens gesprochen wird. Man hat sie im Übereifer so gewertet, als spräche sie von der Gedankenfreiheit und stelle den Juden Süsskind in die Nähe des Marquis von Posa. Es liegt hier aber nichts anderes vor als ein ungeschickter Ausdruck der Freude am freien Spiel des Gedankens, ein ungelenkes, aber aufrichtiges Bekenntnis zum schöpferischen Denken.

Gedanken niemand kann verwehr'n den Toren noch den Weisen,
darum sind auch Gedanken frei
für jedes Ding auf Erden,
Herz und Sinne sind zum Lehn
Dem Menschen hingegeben.
Gedanken schlüpfen durch den Stein
durchdringen Stahl und Eisen.
Sie kümmerts wenig, ob die Tat auch ausgeführt kann werden,
Obgleich man nie Gedanken sah,
so spürt man doch ihr Leben.
Sie eilen schneller übers Feld
als mit des Auges Blicken,
sie sehnen sich nach Liebesgold
und nach des Traums Entzücken,
Gedanke kann trotz allem Aar
hoch in den Lüften schweben.

Eine solche Haltung ist an sich weder etwas grosses noch etwas überraschendes, selbst nicht beim 149 übermässig gebundenen Juden seiner Zeit. Aber sie wird, aus den Bedingungen von Geschichte und Umwelt, sofort zur Tragik, wenn sie sich realisieren will. Denn wir ersehen aus der Tatsache, dass ein – wenn auch geringes – Opus vorliegt, den Willen, es nicht beim theoretischen Bekenntnis bewenden zu lassen, sondern in eine Gestaltung einzugehen. Es war eine seltsam optimistische Unbefangenheit darin: ›gedank kein achte, wie die hant dis und das gemachet‹. Gestaltung geschieht aber nie im luftleeren Raume. Sie ist immer auf eine Wirklichkeit hin gerichtet. Und sie ist immer darauf angewiesen, empfangen zu werden. Das grösste Kunstwerk des Phidias, wenn es in das Meer geworfen wird und versinkt, hört auf, ein Kunstwerk zu sein. Schöpfungen des Geistes sind nur so lange lebendige Wesen, als Geister da sind, die im Aufnehmen dieses Leben bestätigen und fortsetzen. Im grossen Nichts, über den Wassern, schwebt nur der Geisthauch Gottes. Die Nachahmung das Menschen will vom Menschen aufgenommen sein. Jede Schöpfung wird ein tragisches Tun, wenn die Welt sie verneint; und die Tragik wird um so grösser, je kleiner das Ausmass der Schöpfung ist. Dem grossen Schöpfer steht die ganze Welt offen, und wenn sie sich schliesst, der Himmel. Dem Durchschnitt steht nur die Umwelt offen. Wenn sie sich schliesst, stirbt er an der Isolierung. 150 Das kann das Schicksal jeder Leistung und jeder Gestaltung sein. Aber es gibt eine Verdoppelung dieses Schicksals, die dann eintritt, wenn zwischen dem Sagenden und dem Horchenden nicht nur die Grenze steht, die die Natur zwischen dem produktiven und rezeptiven Menschen aufgerichtet hat; sondern wenn jene Grenze hinzutritt, die aus der Verschiedenheit von Art, Wesen, Glaube und Herkommen aufgerichtet wird. Nicht, dass solche Grenze unüberbrückbar wäre. Sie ist im Gegenteil ihrem inneren Wesen nach dazu da, überbrückt zu werden. Aber eingerissen werden kann sie erst dann, wenn ein gemeinsames Drittes vorhanden ist, in dem die Menschen von hüben und drüben sich begegnen können; und zwar nicht nur in der Abstraktion und in der Idee, sondern in der Wirklichkeit von Tag und Tun, im Kleinen und im Schöpferischen.

Dass die Zeit eines Süsskind davon so weit entfernt ist wie die unsrige, braucht nicht noch gesagt zu werden. Süsskind beweist durch sein Tun, dass er bereit ist, auf diese Grenze zu verzichten. Noch als Schöpfer mittleren Grades ist er ein Phänomen in dieser Bereitschaft; so wie alle Schöpfung ewiges Phänomen ist. Aber wir werden sehr bald aus seinem eigenen Munde erfahren, dass es auch ihm nicht genügen konnte, den Weg des Produktiven zu gehen; dass auch er darum warb, dort aufgenommen und 151 gewertet zu werden, wohin er seine Sprüche sagte.

Denken wir uns ihn da fixiert, wo er die vorbereitenden Schritte des Lernens und der Ausbildung hinter sich gebracht hat und nun vor seinen Hörern steht. Wir wollen dabei noch einmal feststellen, dass ihm das Hineingehen in die andere Welt so gelungen ist, dass er sich in Ton und Form und äusserem Wort nicht von seiner Umgebung unterscheidet; dass er sogar ihre Kleidung trägt, (denn sonst müsste er späterhin nicht besonders erwähnen, dass er nun wieder die Judentracht anlegen wolle). Man musste also diesen Fahrenden, wenn man nicht gerade aus persönlicher Kenntnis wusste, dass er Jude sei, als einen der Vielen betrachten, die da umherzogen und Lieder sangen. Was hatte er dann – einer unter Seinesgleichen – dieser Welt der Herren und Höfe zu bieten? Es war weder etwas sehr Überragendes noch etwas sehr Originelles. Allerweltsweisheit wurde da vorgetragen; und darunter manches, was man ihm nicht gerade zum Lobe angerechnet haben wird. Wenn er von der Ehre singt und sie als Latwerge preist, die man aus fünf Pimenten zusammenstellen müsse: aus Treue und Zucht, aus Mannheit und Milde und Masshalten – so wird ihnen das eingeleuchtet haben, wenngleich sie dem Hinweis auf die ›Milde‹ weiter keine Folge gaben. Darin konnte 152 sie auch nicht das Klagelied umstimmen, das er aus seiner persönlichen Not singt; denn diese Klagen schienen sie gewohnt zu sein. Dass die Gedanken frei seien, wird ihnen ebenfalls nicht unbekannt gewesen sein, und nichts verpflichtete sie, aus diesem Lied zu spüren, dass da einer eigentlich ein Bekenntnis ablegte.

Vielleicht fanden sie schon mehr Gefallen an dem Gebet, wenn es ihnen auch nichts Spezifisches sagen konnte. Sie verstanden auch wohl zwei weitere Strophen, die sich mit der Vergänglichkeit und mit dem Tode beschäftigen. Aus der wieder vordringenden Macht der Kirche und aus den Busspredigten, die ihre Lebensfreude bekämpften, waren es vertraute Töne, wenn Süsskind sang:

Wenn ich bedenke, was ich war und was ich bin
und was ich werden muss,
ist all mein Lust dahin.
Die Tage meines Lebens fliehn geschwinde.
Und ist es nicht ein Jammer und tränenschwere Not,
dass ich von Tag zu Tage
muss fürchten meinen Tod,
der hässliches Gewürm mir bringt zum Ingesinde?
Wie soll ich dabei fröhlich sein,
wenn ich all das betrachte?

Und noch einmal wiederholen sich diese Klänge der Elegie, diese schmerzlichen Untertöne des jüdischen Optimismus, dieses schmerzliche Aufhorchen mitten in einem Leben, das man gestalten möchte: 153

So viel der Mensch am Dasein hab' Genuss:
wenn er bedenket, wie er scheiden muss
am Ende mit dem Tod, mag er wohl trauern sehr . : .

Wie gesagt: seine Hörer werden das verstanden und vielleicht sogar geschätzt haben. Eigentlich befriedigen konnte es sie nicht. Wäre es eine Zeit der starken Religiosität gewesen, so hätten sie hier eine Bestätigung erfahren. Aber wir erinnern uns, dass es die Zeit des Verfalls war, in der durchaus nicht das Religiöse stark war, sondern nur das Kirchliche; nicht die Erhebung der Geister, sondern die Unterdrückung ihrer Lebensäusserungen. In solchen Zeiten des Verfalls ist das ursprüngliche Bedürfnis, dem die Fahrenden wesentlich ihre Existenz verdanken: das nach Unterhaltung und Neuigkeiten, aber weitaus das Stärkere. Zur Unterhaltung können gewiss auch lehrhafte Dinge dienen; weniger schon moralische Erwägungen, insbesondere dann, wenn sie nicht allgemein auf die Welt gerichtet sind, sondern wenn man durch sie recht persönlich und unmittelbar angeredet wird.

Das geschieht aber zu wiederholten malen, apologetisch und aggressiv. Beides war ehrlich; aber beides war sinnlos. Die Apologie, die Verteidigung, setzt immer einen Angeredeten voraus, der den objektiven Willen oder doch das objektive Vermögen habe, die dargebotenen Argumente zu prüfen und sich nach dem Grade ihrer inneren 154 Wahrheit zu ihnen zu bekennen. Daran war aber Süsskinds Umwelt völlig uninteressiert. Sie ist nur in sehr gelegentlichen Zwischenpausen, wenn ihre eigene Gedankenwelt sie ein Stück weiter in die Freiheit und Duldsamkeit hineintrieb, dazu bereit gewesen. Aber da selbst in solchem Fortschritt noch das Pendel ihres Wesens schwang, war es eben immer nur eine Sekunde, in der die Zone des objektiven Verstehens gestreift wurde. In der Sekunde darauf war sie schon wieder verlassen. Darum müssen die Süsskinds, diese gutwilligen Apologeten, immer auf diese seltenen Augenblicke warten, in denen man ihre Verteidigung anhört. Für den überwiegenden Teil der Jahrhunderte reden sie in den Wind und demütigen sich dabei ohne Not. Darum ist Apologie letztenendes immer zwecklos gewesen und ist heute zweckloser denn je. Zur Anerkennung der Wahrheit kann niemand gezwungen werden; zumal, wenn in dieser Wahrheit eine Spitze liegt, die sich gegen ihn kehrt. So ist auch nicht vorstellbar, dass Süsskind mit seiner Apologie auf freudiges Verstehen traf. Er wird auf das Gegenteil gestossen sein, je mehr seine Apologie sich auf das Gebiet der Kritik begab. Wie kann es dieser Mann wagen, einer Welt, die von der seines Herkommens so grundverschieden war, den Spiegel vorzuhalten und ; sie darüber zu belehren, was wahrer Adel sei und wo die wahre Moral liege? Welches Recht 155 hat dieser Jude dazu, sich um die inneren Angelegenheiten dieser Umwelt zu kümmern und ihre moralischen Belange einer Kritik zu unterziehen? Hat man ihn etwa gerufen, um hier Erziehungsarbeit zu leisten? Die Frage nach solcher Legitimation ist von der Umwelt des Juden immer wieder gestellt worden. Man hat sie immer von der Umwelt her beantwortet, und zwar, wie zu verstehen ist, im negativen Sinne. Sie muss einmal vom Juden her beantwortet werden, und sie bekommt eine zweifache Motivierung, je nachdem das Volk sie beantwortet oder einer, der in der Situation eines Süsskind steht.

Vom Volke her gesehen: der Jude lebt in ständigem Bemühen auf das Gesamt der Welt zu. Seiner Judäozentrik bis in das letzte verhaftet, bedrängt er doch zugleich die ganze Welt mit dem universellen Teil seiner Gedanken. Darum kennt er imgrunde genommen weder isolierte Gemeinschaften noch isolierte Erscheinungen. Alle sind sie ihm einem Weltbilde verknüpft, und die Sünde des Einen trübt das Bild nicht nur des Einen und seiner Gemeinschaft, sondern das Bild der ganzen Welt. So wie nach innerstaatlichen Gesetzen keiner das Recht hat, sein eigenes Haus anzuzünden, wenn er damit das Haus des Nachbarn gefährdet, so darf nach der Auffassung des Juden keine Gemeinschaft Zündstoff in ihrem Heim ansammeln, wenn dadurch 156 die anderen Räume der Welt gefährdet werden. Das Recht, hier zu sprechen und anzuprangern, ist von der Erlaubnis der einzelnen Gemeinschaften unabhängig. Es ist nur abhängig von dem Verantwortungsgefühl des Juden für die Geschicke der Welt. Und sein eigener Wert mindert sich in dem Masse, wie er auf dieses Verantwortungsgefühl zugunsten einer Angleichung hier und da Verzicht leistet.

Und von einem Süsskind her gesehen: hier liegt das gleiche Motiv vor; nur ist es auf die Ebene des privaten Schicksals projiziert. Der Jude, der aus geistiger Wachheit und geistigem Begehren in eine andre Welt hinüberwechselt, trägt – ob er will oder nicht, ob er zur Aufgabe seiner selbst bereit ist oder nicht – doch in der Tiefe seines Wesens die ideale Konzeption mit sich, die sein Volk von Welt und Menschentum geschaffen hat. Er will Dinge der Umwelt sagen, und sagt doch letztlich nur seine eigenen. Mit der Möglichkeit, eine Welt überhaupt anzusprechen und sich in ihr zu äussern, äussert sich auch zugleich der geheime Unwille, dass diese Welt dem Idealbild nicht entspricht. Eine verirrte Liebe, die daheim sich nicht mehr wohl fühlte, wird draussen, in der neuen Welt, zur Sucht nach Kritik. Dieses Spötteln und Kritteln und Verwerfen derer, die aus dem Judentum herausgehen und sich anderswo schon gelandet fühlen, ist das 157 tragische Dokument ihrer, Heimatlosigkeit. Aus ihrem irregeleiteten Begehren nach der Wahrheit macht ihre Umwelt eines Tages das Streben nach der Verfälschung. So bleiben diese Menschen samt ihrer Hassliebe im leeren Raum des Unschöpferischen hängen.

So wird es uns denkbar und wahrscheinlich, dass man auch einen Süsskind nicht mit Freuden und Ehren empfing, als er sich zum Kritiker der Umwelt aufwarf. So bleibt, wenn wir alles zusammen nehmen, kaum etwas anderes übrig als die Folge, dass man von ihm genug hat; dass man ihn nicht mehr hören will. Wirklich: er war nicht originell und nicht bedeutend; und er sagte unangenehme Dinge; und man hatte garkeine Verpflichtungen ihm gegenüber. Ob man ihn da nicht eines Tages einfach vor die Türe setzte?

Man hat es getan. Und Süsskind von Trimberg hat seinen Schwanengesang angestimmt.

Da bin ich eines Toren Fahrt
mit meiner Kunst gefahren!
Die Herren geben mir nichts mehr –
Die Höfe will ich fliehen.
ich will mir einen langen Bart
lahn wachsen grieser Haare.
Nach alter Juden Lebensart
will ich jetzt weiter ziehen.
Mein Mantel, der soll wesen lang,
tief unter einem Hute,
Demütiglich soll sein mein Gang, 158
und nie mehr sing ich höfischen Gesang
seit mich die Herren schieden von dem Gute.

Zu dieser Strophe muss vorab eine Erwägung eingeschaltet werden. Es gehört zu den kleinen Komiken philologischer Kritik, dass gerade diese Strophe dem Süsskind von Trimberg abgesprochen worden ist. Es geschah aus dem gleichen mangelnden Einfühlungsvermögen, aus dem der gleiche Gelehrte meinte, es sei der Jude nicht aus seinen Sprüchen zu wittern. Aber gerade diese Strophe ist nach aller psychologischen Wahrscheinlichkeit die echteste. Doch soll uns der philologische Widerstand nicht kümmern, zumal seine Gründe matt sind. Denn woher sonst soll diese Strophe kommen? Vielleicht von einem anderen Juden; aber von einem Juden unter allen Umständen. Höchstes Ergebnis würde sein, dass er nicht Süsskind hiess; und letzte Folgerung dennoch, dass einem jüdischen Sänger dieses widerfahren ist. Aber es ist das Schicksal des Sängers als solches, das uns fesselt und bindet. Geben wir getrost dem Träger dieses Schicksals den Namen Süsskind von Trimberg. Es wird weder dem einen noch dem anderen Unrecht getan. Hat Süsskind die Tragik seines Judeseins nicht so erfahren, wie diese Strophe es sagt, so wird er von den Nachfahren um dieses Geschick bereichert. Hat der andere Jude, dem dieses Schicksal zum Leid gedieh, die anderen Lieder 159 nicht geschrieben und werden sie ihm von uns dennoch zugewiesen, so wird auch er bereichert. Nur das ist wesentlich: ein jüdischer Dichter klagt Schicksal.

Und gerade dieses Schicksal hat man ihm absprechen wollen, sowohl in seiner Besonderheit wie in seinem Gewicht. Man hat gesagt, hier drohe ein fahrender Sänger mit dem Abschied, wie es auch schon andere Sänger getan hätten. Gewiss haben es andere getan, wenn ihnen die ›Milde‹ der Herren nicht genügend Lebensunterhalt verschaffte. Und gewiss ist hier in dieser Strophe die gefährdete Existenz eines der Motive. Aber wie weit ist dieses Gedicht von einer Drohung entfernt! Drohung stellt doch etwas dar, was den anderen bewegen soll, aus eigenem Entschluss den Eintritt der angedrohten Tatsache zu verhindern. Nun ist nichts grotesker als die Vorstellung, Süsskind habe mit diesem Gedicht seine Herren zu grösseren Gaben anspornen wollen, damit sie nur ja nicht seine Heimkehr in das Leben eines Juden duldeten. Man mag die edelste Gesinnung bei ihnen voraussetzen: was ging sie das an, dass ein Jude mit der Heimkehr drohte? Es hätte sie im besten Falle zu einem Achselzucken des Bedauerns verpflichtet; nicht zu mehr. Aber selbst wenn man dem offenbaren Sinn der Strophe Gewalt antun und darin nichts sehen will als eine landläufige Drohung des 160 schlecht entlohnten Fahrenden, so muss dennoch eines auffallen. Wenn etwa ein anderer Fahrender droht, er kehre wieder zur Esse und zum Schmiedehammer zurück, weil er dabei besser seinen Erwerb finde als beim Singen, so ist diese Rückkehr zum alten Berufe immerhin eine materielle Angelegenheit. Aber die Drohung, zum Judentum zurückkehren zu wollen, ist weder eine Verbesserung der ökonomischen Position noch auch ein Berufswechsel; sondern Flucht aus einer Welt in die andere. Die beiden Motive stehen zu einander wie das Materielle zum Ideellen.

Man muss es schon dabei bewenden lassen, hier das vollgültige Schicksal eines Juden zu sehen. Ihm geschah zwar das gleiche wie anderen, und dennoch geschah ihm das Nur-Eigene. Man könnte die Erwägung anstellen, ob man ihn nicht deshalb vor die Türe gesetzt hat, weil er ein Jude war. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass es so war. Es genügt ein Blick auf diese beiden Welten, das zu wissen. Aber wir wollen es dennoch nicht unterstellen. Er selbst durfte das ja auch nicht zugeben, ohne den kaum gewonnenen Grund seines Daseins wieder einzureissen und ohne die tiefste Ursache seiner Niederlage zu enthüllen; und seine Herren würden immer hundert andere Motive gefunden haben, um ihr Verhalten zu rechtfertigen. Wir wollen darum selber die allgemeinsten Motive in den Vordergrund 161 stellen. Wir wollen sogar unterstellen, seine Hörer hätten nicht gewusst, dass er Jude sei. Vielleicht waren sogar die kunstfreudigen Herren von Henneberg schon etwas sparsamer und unmilder geworden. Da brauchten sie ihm gegenüber nicht grosszügiger zu sein als anderen gegenüber. Beachten wir auch, dass die Zeit im Ganzen sich nicht mehr übermässig an geistige Genüsse hielt, dass sie verrohte und wieder stark auf dem Wege war, sich ungehemmt des Lebens zu freuen. Was musste man sich da noch mit innerem Adel und Moral und Sittsamkeit der Hausfrau beschäftigen? Für diese entbehrliche Botschaft gab man nichts mehr zu essen; auch einem Süsskind nicht. Seine Münze war nicht mehr im Kurs. Man warf ihn hinaus, und er durfte hungern. Vielleicht tat man es sogar sehr taktvoll, indem man ihn singen liess und ihn nicht mehr dafür entlohnte.

Aber der Jude kann das nicht verstehen, dass seine Münze einmal ungültig wird. Für ihn ist sie immer noch gültig. Es gibt keine Mode für seine Begriffe von Adel und Sittlichkeit und sozialem Verhalten. Er kennt keine Konjunktur der Gesinnungen. Die lernt er erst kennen, wenn er der eigenen Welt den Rücken kehrt und aus Gründen des Opportunismus andere Welten aufsucht. Aber Süsskind, der aus dem Phänomen einer gestaltenden Sehnsucht die andere Welt 162 aufsuchte, konnte unmöglich begreifen, dass er nur ein Handwerker war, dem man keine Arbeit mehr geben wollte. Er fasste es tiefer und musste es tiefer fassen. Von aussen her gesehen war freilich höchstens das geschehen, dass man einem Menschen durch das Mittel des Boykotts die Ausübung eines Berufs unmöglich machte, dem er sich offenbar bis in das graue Alter hinein gewidmet hatte. Aber für einen Juden, insbesondere für einen produktiven Juden, ist das kein rein ökonomisches Problem, sondern ein menschliches. Er ist immer bereit, seine Tätigkeit mit seinem Wesen zu identifizieren, im Guten wie im Bösen. Süsskind hat es getan und musste es tun. Er übte seinen Beruf als seine Berufung aus. Darum wurde er nicht als fahrender Spruchdichter getroffen, sondern als schaffender Mensch. Und in der Sekunde, in der dieses Menschentum verletzt und beleidigt wird, bricht der Untergrund seines Wesens auf, wird der letzte Wurzelgrund seiner Seele blossgelegt: sein Jude-Sein. Das ist ja das grosse Geheimnis und die grosse bindende Kraft dieses jüdischen Seins, das seine Stimme, imprägniert mit der Not jahrtausendealten Erlebens, immer als Grundton zu schwingen beginnt, wenn der schon längst vereinsamte und losgelöste Mensch der Angleichung in Not gerät. Wenn der Jude von ehegestern leidet, beginnt der Jude vom Sinai in ihm zu weinen. 163 Das erlebt auch ein Süsskind. Dieses Geschick griff an den Kern seines Daseins. Man schlug nach dem Fahrenden und traf den Juden in ihm. Daher das spontane Verlangen, in das alte Leben des Juden wieder einzukehren. Denn da lag die Bruchstelle. Von seinem Judesein aus, von seiner Sonderstellung her ist seine Position als Schaffender zu allererst angreifbar und verwundbar; und daran ging er zugrunde.

Hier schlägt sich einer in aufkeimender Erkenntnis an die Stirne: Du Narr! Was hast du getan? – Dass ihm die Herren nichts geben wollen, ist nur das eine. Das andere und grössere ist, dass er sich plötzlich zum Schweigen verdammt fühlt; er, ein alter Mann schon, dem die grauen Haare wachsen. Stand er vielleicht doch nicht am richtigen Orte? Woher sonst das Heimweh nach dem Leben des Juden? Woher sonst die Bereitschaft, diese täuschende Äusserlichkeit der fremden Kleidung abzulegen und mit den Gewändern der Seinen die Tarnung von gestern aufzuheben? ›Demueteklich sol sin min gang‹; das ist der grosse Verzicht. Hier wird eine Ambition abgeschlossen. Hier wird einem Ersehnten das Ende bereitet. Hier bescheidet sich einer und geht traurig zu seinem Ausgang zurück. Und da wird eine grosse Diskrepanz aufgedeckt: die Umwelt verursacht –auch ohne Verschulden – Schicksal an dem, der ihr mit geheimen Motiven begegnet; 164 mit Motiven, die sie nicht erkennen kann. Sie durfte wohl zu Recht annehmen, dass sie keinem Fahrenden das Herz brach, wenn sie ihn nicht mehr bezahlte. Dass es bei Süsskind anders sei, konnte sie weder ahnen noch berücksichtigen.

Aber seine geheimen Motive sind so gross und so umfassend, dass sie mit seinem Leben und mit seinem Schicksal identisch sind. Er trägt seine ganze Welt in sein Tun hinein. Es sieht so aus, als sei es nur eine Welt der Betrachtung, also eine kleine Welt: Gott, Adel des Menschen, Moral des Handelns, Glück des Heims, Angst vor dem Tode; darüber hinaus ein wenig Persönliches: die eigene Not und die soziale Not im Schicksal seines Volkes. Dann endlich ein Stück privater Tragik. Aber ist das klein? Das ist doch eine ganze abgerundete Welt. Aber ihre Schwere ist, dass sie keine Wurzeln mehr hat. Sie steht nicht hüben und nicht drüben. Zwar will er sich so unbefangen geben wie jeder seines Standes. Darum singt er wie sie ohne Scham und Hemmung von seiner Armut, ohne das Gefühl dafür zu haben, dass vielleicht gerade seine Art ihm diese Armut verschuldet. Zuweilen muss er auch zurückblicken auf den Ausgang und sein Volk verteidigen. Also hat er es nicht verlassen? Gewiss nicht; aber er ist dennoch nicht bei ihm, sondern bei den Anderen. Er möchte also hüben stehen und doch das Drüben nicht verleugnen. 165 Dieses Schicksal kann nur ein Jude erleben. Sein Leben in der Fremde der Welten ist nun einmal aus historischer und religiöser Motivierung her ein provisorisches. Es kann darin zuweilen vom Sozialen her dort gemildert werden, wo das Erlebnis der Umwelt dem Juden das Gefühl verschafft, dass er siedeln könne. Dazu gehört, dass die Umwelt die Möglichkeit eines menschlichen Kontaktes bietet. Aber es muss ein solcher sein, der nicht immer aus jeder Willkür unterbrochen werden kann. Da er dauernd unterbrochen worden ist und unterbrochen wird, konnte der Jude nur in den Pausen zwischen zwei Katastrophen zum Subjekt der Beziehung werden. Sonst immer machte man ihn zum Objekt. Darum waren seine Assimilation und seine Rezeption auf die Dauer unmöglich. Aber das Bedürfnis nach Heimat, zu lange in der Schwebe gehalten, wendet sich doch überall endlich der Umwelt zu, auch wenn sie barbarisch ist. Immer will der heimatlose Jude irgendwo Heimat aufrichten. Er ist zu unruhigem Schlaf hier und dort eingebettet und weiss in der nie befriedeten Tiefe seiner Seele um die Möglichkeit eines vorzeitigen und brutalen Erwachens.

Auch Süsskind von Trimberg musste so erwachen. Er, der in seiner Gedankenwelt Genossen hatte, musste im Motiv dieser Gedankenwelt, im Schicksal, notwendig einsam werden. Er hatte 166 etwas zu sagen, was ihm wichtig war. Er spürte nicht das Gesetz der Verbannung, dass der Verfall der Umwelt auch den Juden zum Verfall zwingt, wenn er sich ihr ausliefert; und dass er nicht darnach gefragt wird, ob in ihm selber nicht alles noch den Aufstieg anstrebt. Jede Umwelt hat ihre eigene Reife und ihre eigenen Gesetze des Verfalls. Es ist nicht ihre Schuld, wenn sie mit denen des Juden nicht zusammenfallen. Jene sind in ihrer Welt und bleiben in ihrer Welt. Sie erleben Schicksal in ihr. Er aber lebt in einer Welt, deren Wesen es ist, auf allen Seiten von einer anderen berührt zu werden. Darum muss sein Schicksal verdoppelt werden. Er musste zwei Welten zu bewältigen versuchen, zu Erfüllung oder Niederlage, zur Bereicherung oder zum seelischen Zusammenbruch.

Es wurde ein Zusammenbruch. Die Welt, der er sich zuwandte, konnte ihm Schweigen gebieten. Sie tat es. Ein Stück, ein kleines Stück Schöpfertum ging dabei zugrunde. Es lebt eben niemand ungefährdet zwischen zwei Welten, es sei denn, dass zwischen diesen beiden Welten die dichte Atmosphäre des Geistes liege und nicht der Abgrund.

So ist Süsskind von Trimberg zurückgegangen in das Dasein des Juden, jenseits des Abgrunds. Wir wissen nicht, wie er empfangen wurde und was er ferner tat. Eine unzuverlässige ›Erbsage‹ 167 will wissen, er habe im Alter Unglück gehabt. Seine Kinder hätten ihn verlassen. Er sei einsam und allein gestorben. Aber auch ohne solchen Bericht verspüren wir, dass einer, der so weit von seiner Welt wegging und in der anderen Welt nicht sagen darf, was er sagen muss, nur heimkehren kann mit einer tödlichen Wunde.

 


 


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