Josef Kastein
Süsskind von Trimberg
Josef Kastein

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Zweites Kapitel

Autonomie

Wir sahen eine Welt, die in der Gesetzmässigkeit ihres Dualismus lebt und darin ihre gefährlichen Pendelausschläge vollführt. Wir wenden uns einer Welt zu, von der jedermann weiss, dass sie nach einem Gesetz lebte, das ihr einmal offenbart worden war. Dieser konstruktive Unterschied zweier Welten verkehrt sich aber in sein Gegenteil, sobald es um die Lebensgestaltung geht, also um das Hineintragen dieser Gesetzmässigkeit in das Dasein. Denn da erweist sich, dass der Germane seine Gesetze von allem empfängt, was aus Welt und Umwelt auf ihn eindrängt; der Jude hingegen gibt sich seine Gesetze selbst; das heisst; er bestimmt sich selbst nach gottgegebener Satzung. Er ist autonom im Leben und im Sterben. Er demonstriert diese Selbständigkeit, diese Selbstverfügung über sich gerade in der Epoche, in der es scheint, als sei er nichts als das Objekt, an dem die widerstreitenden Leidenschaften seiner Umgebung sich hemmungslos betätigen.

Auch für den Juden in Deutschland beginnt mit den Kreuzzügen ein besonderes Kapitel seiner Geschichte. Es muss dabei zunächst klargestellt werden, dass die Galuth, die Zerstreuung der Juden über die Welt, von ihm nicht als ein soziologisches, sondern als ein religiöses Faktum gewertet wurde. Damals war das Schicksal des Juden noch nicht entwertet und die Idee von 42 der jüdischen Mission noch nicht erfunden, wenn man sie nicht gerade darin erblicken will, dass die christliche Kirche die Zerstreuung des jüdischen Volkes als den sichtbaren Triumph ihres Glaubens darstellte und feierte. Von seiner Mission unter den Völkern, wie gesagt, wusste der Jude nichts. Er wusste nur, dass er sein Dasein nicht nach Gottes Sinn und nach Gottes Anforderungen geführt hatte, und dass er dieses Leben unter fremden Völkern als Strafe dafür trug. Es war Strafe nicht nach heidnischem, sondern nach jüdischem Sinn; es war Leiden, das nicht Vernichtung bedeuten sollte, sondern Läuterung. Hinter allem Leid stand also eine Zukunft: die Erlösung. Freilich entwertete der Ablauf der Zeit mit den vielen Möglichkeiten des Lebens hier und da die Unmittelbarkeit des Gefühls für solche reale Zukunft. Das bedeutet, dass der provisorische Charakter der Galuth zuweilen in den Hintergrund trat und man sich, wie etwa in Spanien, auf längere Räume und Zeiten einrichtete. Aber selbst wo das geschah, rief die Umwelt ihnen diesen Charakter ihres Daseins zur rechten Zeit immer wieder ins Bewusstsein. Sie mochten irgendwo hundert oder zweihundert Jahre einer verhältnismässig ungestörten Existenz verbringen: dann überfiel sie das Gastland mit irgend einem Angriff. Sie wussten sodann: das ist immer noch Galuth, immer noch Strafe, immer noch Aufruf 43 zur Läuterung und folglich immer noch Hoffnung auf Erlösung.

So mussten ihnen die Völker als Werkzeuge Gottes erscheinen. Dadurch geschah ihnen immer Produktives, denn wenn einer in seinem Schicksal seinen Anteil an Schuld sucht, vermag er sein Dasein unendlich zu steigern und zu vertiefen. Aber zuweilen revoltierten sie doch. Zuweilen schien es ihnen, dass dieses Maass von Leid nicht verdient und nicht zu ertragen sei. Zuweilen klagten sie Gott an, dass hier Unwürdiges und Brutales über sie verhängt sei, ein Leid so ohne Sinn, dass Gott selbst sich damit entwürdigte. Sie taten es immer dann, wenn ihnen dieses Leid mit einer Begründung aus dem erhabenen Gebiet des Glaubens zugefügt wurde; wenn die höchsten Motive der Seele gerade gut genug waren, den Mord an ihnen zu rechtfertigen. Sie taten es in Deutschland. Sie empfingen den ersten Anstoss dazu aus den Kreuzzügen.

Um die Heftigkeit und zugleich Unfruchtbarkeit ihrer Reaktion zu verstehen, muss die ganze Grenze auch ihrer soziologischen Situation abgeschritten werden. Denn es kann nicht geleugnet und darf nicht übersehen werden, dass die geistige Haltung des Juden zu einem erheblichen Teil ein Umweltproblem ist. An sich ist solche Beziehung ein Teil der eingeborenen und natürlichen Beziehung zur Welt überhaupt. Aber gerade weil 44 der Jude bei aller Transzendenz seines Glaubens auf die Weltlichkeit angewiesen ist – genau wie andere Religionen, die es nur zur Glorifizierung ihrer Idee leugnen, um dann an der Idee überhaupt zu scheitern – gerade darum beeindruckte sie ihn in der Weite oder Enge, in der Höhe oder der Tiefe seines jüdischen Empfindens. Gewiss wird der Kern als solcher dabei nicht berührt; aber seine Produktivität wird beeinflusst, so wie eine Pflanze die Gesetze ihres Wachstums nicht aufgibt, auch wenn schlechter Boden nur eine kümmerliche Entfaltung und eine geringe und missfarbene Blüte zulässt.

Der Jude lebte seine Verbannung in Deutschland in jener natürlichen Isolierung, die sein Glaube ihm vorschrieb. Diese Isolierung zeigte ihr eigentliches Schwergewicht nicht so sehr im Glaubensinhalt selbst als vielmehr in den Lebensformen und damit in der Lebensführung. Die Galuth wurde ja, je länger sie dauerte, um so mehr der Raum ihrer nomokratischen Disziplin. Sie waren nicht mehr biblische Juden. Sie waren talmudische Juden geworden. Biblische Juden konnten sie nur sein, so lange sie noch ein organisches Volksleben führten. Sie konnten aber nur noch die Fiktion eines solchen Lebens darstellen, so lange sie in der Fremde waren. Hier musste alles auf die Organisation der Lebensform abgestellt werden, aus Gründen der Selbsterhaltung 45 und um das tödliche Gefühl der Fremde durch eigene Sitten und eigenen Volksbrauch wenigstens teilweise aufzuheben. Und das musste um so mehr geschehen, je fremder ihnen innerlich und äusserlich das umgebende Volk war. Die Verpflichtung zu dieser abgesonderten Lebensform galt als so unbedingt, dass das religiöse Schwergewicht dahin verlagert wurde und dass die authentische Quelle für die Regelung ihres Alltags, der Talmud, ihr eigentliches geistiges Gelände wurde. Ihre innere Aufmerksamkeit und ihr Gefühl der Zugehörigkeit waren folglich dahin gerichtet, wo dieses geistige Bedürfnis befriedigt werden konnte. Dabei respektierten sie keine nationalen Grenzen. Die hatten für sie mit Recht keine Verbindlichkeit. Die Juden am Rhein und die Juden an der Seine und Loire stellten organisatorisch eine Einheit dar. In Orleans und in Köln sprach der Jude eine aus Französisch und Hebräisch gefügte Mundart. Er war eben mit ungebrochener Selbstverständlichkeit in erster Linie Jude und dann erst Zugehöriger seines Wohnlandes.

Der Begriff der Zugehörigkeit darf allerdings nur sehr zögernd verwendet werden. Für die Zugehörigkeit von Menschen zu einem Lande und zu seiner kulturellen Atmosphäre ist ja nur für den mechanisch Denkenden entscheidend, wie er dem Lande juristisch und 46 verwaltungstechnisch eingefügt ist. Das Recht kann alle Zeit durch Praktiken gelähmt werden. Die wahrhafte Zugehörigkeit beginnt dort, wo von Mensch zu Mensch der Ausgleich verschiedener Lebensebenen sich anbahnt, dort, wo die höchste Voraussetzung für menschliches Beieinander geschaffen wird: im Verstehen und Begreifen. Ein solches Verstehen und Begreifen war durchaus nicht so undenkbar, wie es nach dem blutigen Ablauf dieses Geschichtsabschnittes scheinen möchte.

Bewegliche Klagen aus päpstlichen Bullen beweisen, dass zwischen Juden und Christen Dinge geschahen, die das Entsetzen Roms erregten. Da näherten sich Menschen, die bei Juden Dienste verrichteten, dem jüdischen Glauben. Da disputierten Nichtjuden mit Juden leidenschaftlich über Sinn und Wesen der Religion. Da ereignete sich manche »verdammenswürdige Vermischung« zwischen den Geschlechtern. Es muss also wohl dieser Glaube, so umständlich und beschwerlich er war, eine gewisse Anziehungskraft besessen haben. Es bahnte sich trotz aller Fremdheit und Verschiedenheit so etwas wie eine Annäherung der Gruppen aus den alltäglichen Beziehungen an. Da bestand der Schein einer Möglichkeit, dass der Nichtjude Einblick gewann in das harte, schlichte, innerlich saubere und fromme Dasein von Juden und in die Art und Weise ihrer Religion. Das musste verhindert 47 werden, denn das hätte den Glauben gefährden können; den Glauben der Majorität, nicht etwa den der Minderheit. Die Kirche durfte ihren Bekennern nicht das Vorurteil nehmen, denn das hätte einen Frieden begünstigt, der sich mit den Ideen der streitbaren Kirche nicht vertrug, vollends nicht in einer Zeit, wo es im eigenen Gebälk knisterte und die äusseren Kreuzzüge durch innere Kreuzzüge gegen die »Ketzer« ergänzt werden mussten. So setzte Rom immer wieder den Klerus in Bewegung, um die Scheidung von Juden und Nichtjuden zu propagieren und zu erzwingen. Solches Bemühen fügte zur schon vorhandenen Isolierung eine neue, räumliche hinzu: die Juden begannen, sich in besondere Wohnviertel zurückzuziehen. Das Judenquartier des Mittelalters bestand nicht von allem Anfang an. Sie wohnten dort, wo ihre Tätigkeit oder wo besonderer Schutz es zweckmässig machte. Erst mit dem 13. Jahrhundert, dem Zeitraum unserer Darstellung, beginnen die Juden, sich zusammenzudrängen, aus der Umgebung der Christen wegzuziehen in wirklich nachbarliche Nähe; beginnen sie, christliche Häuser in ihrem Bezirk systematisch aufzukaufen, um die Lücken zu schliessen; beginnen sie, Mauern zu ziehen, um zu der Geborgenheit noch einen wirksamen Schutz zu haben. Sie taten es freiwillig und gezwungen. Die Kirche hat jahrhundertelang darum gekämpft; aber der Jude 48 hatte auch ohne den Zwang solcher Gesetze immer steigenden Grund, hier nachzugeben. Sein Leben, statt mit fortschreitender Zeit immer heller und sicherer zu werden, wurde immer dunkler und ungesicherter. Die wachsende Enge seiner Gassen demonstrierte nur die vermehrte Enge seines sozialen Lebensraumes.

Dieser Lebensraum des Juden in Deutschland war von allem Anfang an nicht bedeutend. Die geringe Kultur der deutschen Länder wies geringe Bedürfnisse auf, sodass – im Gegensatz zum französischen Bezirk des Juden – auch nur ein geringer Importhandel praktisch wurde. Das Bedürfnis nach jener bedeutsamen Ware, die man Geld nennt, war in sehr gemächlicher Entwicklung und konnte den Juden nicht zum Finanzier, sondern höchstens zum kleinen Geldgeber machen. Eine landwirtschaftliche Tätigkeit des Juden bahnte sich zwar vielfach an; aber ehe sie Zeit gewann, sich zu entfalten, ehe in ihr die Tradition entstehen konnte, die entstehen muss, wenn ein Volk auf Wanderschaft sich einem Lande bis zur Besitzergreifung der Scholle verhaftet, war schon durch die Entwicklung des Feudalismus der Jude vom Boden abgedrängt. Auch das Handwerk, das gleichen Voraussetzungen der Tradition unterliegt, musste in den Anfängen verkümmern, weil die wachsende Gestaltung der Zünfte den Juden von solcher Betätigung ausschloss. Dabei 49 hatte gerade das Handwerk im Judentum eine bedeutende Tradition, und im Talmud findet sich der Ausspruch des Rabbi Jehuda: »Wenn jemand seinen Sohn kein Handwerk lehrt, ist es, als ob er ihn zur Strassenräuberei erzöge«. Der gleichen Entwicklung unterlag der Handel, in den mit fortschreitender wirtschaftlicher Reife der Zeit der christliche Kaufmann hineinwuchs. Er schloss nicht nur durch die Gilden den Juden von der Mitwirkung aus, sondern konnte sich auch durch seine Teilnahme an den Kreuzzügen das Monopol auf den Handel mit dem Orient sichern. Als die ständische Schichtung des deutschen Mittelalters abgeschlossen war, stand der Jude draussen. Für freie Berufe, wie er sie in Spanien ausübte, gab es in Deutschland keine geistige Atmosphäre. Ihm blieb ausserhalb seines Quartiers nur der Kleinhandel und das Darlehengewerbe.

Nach dorthin drängte ihn auch ausserhalb der rein ökonomischen Entwicklung der Umwelt alles, was diese Umwelt gegen den Juden aus den beiden Extremen des Rechts und der Gewalt ausspielte. Das Recht, dem der Jude unterstand, war in allen christlichen Ländern ein Sonderrecht. Nirgends wurde er in das natürliche und organische Gefüge einer Rechtsordnung aufgenommen. Das Rechtsbewusstsein der Zeiten und Völker war egoistisch und auf den eigenen Kreis beschränkt. Es wäre ihnen nicht in den Sinn 50 gekommen, gleich der jüdischen Rechtsordnung den Schutz des Fremden als Teil ihres allgemeinen Rechts zu begreifen, ja, gar die Pflicht zu empfinden, den nicht in seiner Heimat Stehenden, den Isolierten und Verlassenen, unter ihre bergende Obhut zu nehmen. Der Jude stand grundsätzlich ausserhalb jedes geltenden Rechts und darum grundsätzlich innerhalb jeder Willkür. Diese Willkür konnte nur dadurch in gewissem Umfange unschädlich gemacht werden, dass Instanzen, die daran ein persönliches Interesse hatten, schützendes Sonderrecht für ihn erschufen. Diese Instanz war in Deutschland das Kaisertum. Als Erben Karls des Grossen betrachteten sie sich als Nachfahren römischer Imperiumsgewalt, und da Rom einmal Judäa beherrscht hatte, beherrschten die deutschen Kaiser die Juden. Der konsequenten Durchführung dieser Idee stand allerdings das materielle Interesse der deutschen Kaiser am Juden einigermassen im Wege. Hätten sie den Gedanken dieser Herrschaft wirklich mit der Logik römischer Rechtsauffassung verfolgt, so hätte man dem Juden zweifellos eine volle Autonomie und Gleichberechtigung gewähren müssen. Aber das war für sie unvorstellbar und unvorteilhaft. Der Jude war für sie nicht Untertan, sondern Besitz, Ding, Sache. Die juristische Begründung dafür wurde ohne Bedenken aus der Sage geschöpft, und im »Schwabenspiegel« 51 wird folgendes Märchen zum Ausgangspunkt eines Rechtssatzes: nach der Zerstörung Jerusalems habe Titus eine Anzahl jüdischer Gefangener dem römischen Hofe geschenkt. Damit seien diese Gefangenen und ihre Nachkommen Eigentum Roms geworden und folglich im Laufe der weiteren Erbfolge auch Eigentum der deutschen Kaiser. Sie gehören zur ›kaiserlichen Kammer.‹ Sie waren servi camerae nostrae.

Eine solche rechtliche Konstruktion ermöglichte es dem deutschen Kaisertum, die Vormundschaft über alle Juden in ihrem Reiche zu beanspruchen. Das mochte als eine Art Patronatshaltung noch ideal genannt werden. Die Kehrseite hingegen liess sich recht materiell an. Das Kaisertum liess sich die Praxis dieser Vormundschaft, die Gewährung von Rechten und ›Privilegien‹ an die Juden, in einem unerhörten Ausmasse bezahlen. Sie machte ein grandioses Geschäft daraus, allen voran die Habsburger. Das »jüdische Regal« wurde an Lehnsherren, Bischöfe und Magistrate verkauft und verpfändet und von den Erwerbern ausgebeutet. Oft gab es erbitterte Streitigkeiten und Prozesse um dieses lukrative Recht, Juden zu ›bevormunden‹. Es umfasste einmalige und Sonderabgaben, motivierte und unmotivierte, herkömmliche und erpresste, vereinbarte und geraubte, und darüber hinaus Zahlungen für besonderen Schutz, den jeweils und 52 immer wieder Angriffe von aussen notwendig machten. Die Exzesse gegen Juden sind im ganzen deutschen Mittelalter eine stehende Erscheinung, und rechnet man das ein, so ergibt sich eine Beziehung zum sozialen Status des Juden mit einem fatalen Kreislauf. Die Exzesse gegen den Juden erzeugten ein Schutzbedürfnis; dieser Schutz kostete immense Summen. Wie sollte man sie aufbringen? Durch jedes Mittel, das sich bot, Geld – und zwar viel Geld – zu verdienen. Da entwickelte sich eine zwangsläufige soziale Verschiebung, die von den Erben der verantwortlichen Urheber bis heute als selbständiges Motiv im Kampfe gegen den Juden benutzt wird.

Aber nicht minder verhängnisvoll und nicht minder weitreichend war die rein geistige Folge, die sich aus solcher Sonderstellung im Rechtlichen ergab. Sie förderte beim Juden die Unsicherheit und beim Nichtjuden die Willkür. Das Recht, das man dem Juden einräumte, hing allzusehr an der materiellen Gegenleistung, um wirklich Recht zu sein. Es war ein Geschäft, und zwar ein sehr zweischneidiges. Bei der ewigen Bedrohung durch die Masse von unten konnte der Jude nie auf christliche Nächstenliebe rechnen, durch die sich man ihm überlegen fühlte, sondern nur auf den gesund entwickelten Geschäftssinn der Fürsten, Bischöfe und Magistrate. Das gab ihm die grosse Unsicherheit seiner 53 Stellung in der Umwelt. Er war da nicht zugehörig, sondern war nur ein Zubehör. Von daher wurde ihm alles provisorisch, unzuverlässig, ungarantiert. Man zwang ihn, reich zu sein, um dieses unzuverlässige Recht immer von neuem erkaufen zu können. Das vermittelte ihm eine stark verminderte Achtung vor einem Recht, das sich in Ziffern ausdrückte. Unzählige male brach man ihm gegenüber das Recht. Das musste seinem Rechtsempfinden, dem eine ganz andere Seele innewohnte als der Eleganz römischer Rechtskonstruktionen, schweren Abbruch tun. Seine Moral musste notwendig gespalten werden und dieser rechtsbrüchigen Umwelt gegenüber an Präzision nachlassen. So ausgeklügelt musste jede Möglichkeit der Existenz werden, dass die Gefahr des krummen Weges immer in der Nähe lag. Dabei hatte man schon Erfahrung genug gesammelt, um in dem zeitgenössischen »Buch der Frommen« folgende Anleitung für geschäftliches Verhalten geben zu können: »Ist einem Andersgläubigen ein Rechenfehler unterlaufen, so mach ihn darauf aufmerksam, bevor er ihn selbst bemerkt hat; sonst wird durch dich der Name Gottes entweiht, denn es wird heissen: alle Juden sind Betrüger.«

Dieses trübe Licht, das bis in unsere Gegenwart leuchtet, erhellt die verzehrende Unsicherheit, die der Jude dem Deutschen gegenüber immer empfand und noch heute empfindet: mit 54 verschiedenem Mass gemessen zu werden und die Last aller Einzelnen zu tragen, gegen die irgend eine Beschuldigung erhoben wird. Aber noch schwerwiegender ist die Unsicherheit, die sich aus der Erkenntnis ergab, dass die Gesetze imgrunde gar keine bindende Kraft hatten. Wenn der Pöbel es wollte, durchbrach er sie einfach und metzelte den Juden nieder. Er konnte dabei – vom Menschlichen ganz abgesehen – vielleicht nicht einmal das Gefühl haben, Recht zu verletzen, denn diese Stellung des Juden jenseits des geltenden Rechts musste des Deutschen Neigung zur Willkür in einem Masse wachrufen, das seine Nachwirkung bis heute nicht verleugnet. Es nützte nichts, dass der Jude zu vielen malen im 12. und 13. Jahrhundert ausdrücklich in die Verträge einbezogen wurde, in denen Städte oder Fürsten oder der Kaiser mit einem von beiden den »Landfrieden« herzustellen suchten. Der Vertrag vom Jahre 1265 ist für das Motiv aufschlussreich: »Angesichts dessen, dass in vielen Städten zügellose Menschen sich vermessen, gegen den Willen Gottes, um dessen Martertodes willen und der Erinnerung an ihn die Heilige Kirche den Juden am Leben erhält, sowie zum Nachteil des Kaiserreiches und seiner Schatzkammer Ruhe und Ordnung zu verletzen und den Juden allerlei Beleidigung zufügen, ja sie zuweilen in unmenschlicher Weise niedermetzeln, ist die Bestimmung 55 getroffen, dass jeder, der solcher Freveltaten oder Quälereien überführt wird, wegen Landfriedensbruchs bestraft werden soll.« Aber Recht war eines und Praxis ein anderes. Die interessierten Instanzen machten das Recht und das Volk machte die Justiz. Es stand eben keine Notwendigkeit der Gesinnung hinter diesen Gesetzen, sondern nur Erwägungen der Zweckmässigkeit. Wenn gegen das Gesetz verstossen wurde – und wir werden sogleich sehen, in welchem Umfange das geschah – so war der normale Ausgang der, dass die Mörder nach erledigtem Verfahren amnestiert wurden.

Neben solchem ›Recht‹, das nicht einmal das Dasein garantierte, hatte die Zeit aber noch ein besonderes Recht für den Juden, das sein Dasein diffamierte. Der Sinn dieses Rechtes war die Aufrechterhaltung der Fremdheit zwischen Juden und Nichtjuden. Sein Urheber war durchweg die katholische Kirche. Sie fügte der freiwilligen Absonderung des Juden die zwangsweise Isolierung hinzu. Da sie den Geist dieser Absonderung, den Erhaltungswillen eines Volkes und seines Glaubens, nicht brechen konnte, demütigte sie ihn wenigstens. Die Zahl der darauf abzielenden Vorschriften ist fast unübersehbar. Der Jude durfte keine christlichen Angestellten halten. Er durfte kein Amt bekleiden. Der Christ durfte beim Juden nicht zu Gast sein und ihn nicht als 56 Gast empfangen. Er durfte nicht mit ihm disputieren und nicht gleichzeitig mit ihm in das Badehaus gehen. Der Jude musste – seit dem Laterankonzil von 1215 – ein besonderes Abzeichen zur Unterscheidung vom Nichtjuden tragen. Er durfte sich an den Ostertagen nicht auf der Strasse blicken lassen. Er musste bei der Eidesleistung die Hand auf den Pentateuch legen, aber dabei auf einer Schweinshaut stehen, und ähnliche Dinge mehr, wie Arroganz und Sadismus im Verein sie auszudenken pflegen. Dabei ist immerhin als Entschuldigung anzumerken, dass die Kirche mit solchen Gesetzen Politik trieb, also an sich schon ein Handwerk jenseits der Moral. Viel wesentlicher ist die Feststellung, dass diese Kanons fast lückenlos in den »Schwabenspiegel« übernommen werden, jene Kodifikation von Volksrecht und Gewohnheitsrecht des Mittelalters, die sich im übrigen auf einer normalen Stufe der Rechtsauffassung hält. Da enthüllt sich wieder die grosse Zwiegespaltenheit: ein normales Rechtsbewusstsein des Deutschen, so weit seine unmittelbare Lebenssphäre in Betracht kommt, und ein absoluter Mangel an Maass und Verständnis, wenn eine andere, eine fremde Welt infrage kommt.

Was hier im Bezirk des Rechtes in die Erscheinung tritt, kann verständlichermassen im Gebiet des Glaubens nicht anders sein. Doch während 57 das Recht noch ein verhältnismässig gelassener Bezirk ist, muss der Glaube als Region des unmittelbar beteiligten Gefühls notwendig den Affekt berühren. Was im Recht Selbstsucht und Quälerei ist, muss sich im Glauben in den Blutrausch des Introvertierten überschlagen.

Es wird jetzt nötig, die Kreuzzüge von einer anderen Seite her zu betrachten; nicht mehr von denen aus, die sie veranstalteten, sondern von denen aus, die sie zu erdulden hatten. Da tauchen Aspekte auf, an deren Mitteilung der christliche Chronist nur ein geringes Interesse hat. Mit Recht notiert hingegen der Jude die Seite, die ihm zugekehrt war. Lassen wir einen der Chronisten sprechen, etwa Salomo bar Simon. Er erspart uns jeden Kommentar.

»Und nun werde ich erzählen von dem Hinrollen des Verhängnisses auch in den anderen Gemeinden, die erschlagen wurden für Seinen Namen, den Einzigen, und wie sehr sie Gott, dem Gott ihrer Väter, anhafteten, und wie sie seine Einzigkeit bewährten bis zum Auspressen ihrer Seele.

»Es war im Jahre 4856 (1096), damals, als wir auf Befreiung und Trost hofften . . . da erhoben sich zuerst freche Gesichter, ein Volk fremder Sprache, ein bitteres, ungestümes Volk der Franzosen und Deutschen; sie richteten ihr Herz, nach der heiligen Stadt zu gehen, welche verbrecherisches Volk entweiht hatte, um das Grab 58 des Nazareners dort aufzusuchen, die Ismaeliter, die Bewohner des Landes von dort zu vertreiben und das Land in ihre Hand zu zwingen. Sie machten ein Zeichen, ein Mal, das nicht gilt, an ihre Kleider, ein Kreuz, jeder Mann und jede Frau, die ihr Herz trieb, den Irrweg zum Grab ihres Gesalbten zu gehen, bis dass sie zahlreicher waren als der Heuschreck auf dem Erdboden. Als sie durch die Städte zogen, wo Juden waren, sprachen sie einer zum anderen: seht, wir gehen einen fernen Weg, um das Grab zu suchen, unsere Rache zu nehmen an den Ismaeliten, und seht, unter uns sitzen die Juden, deren Väter ihn grundlos erschlagen und gekreuzigt haben; rächen wir uns doch zuerst an ihnen, tilgen wir sie aus den Völkern, oder sie mögen werden wie wir und sich zum Nazarener bekennen.«

Hier stossen wir auf ein Motiv, dass durch übermässigen Gebrauch schon so vertraut geworden ist, dass man ihm kaum noch nachgeht und dass selbst der Jude sich emsig um den Beweis bemüht, dass nicht seine Vorfahren, sondern Rom die Kreuzigung vorgenommen hätte. Das ist richtig, aber belanglos, weil das Motiv an sich von einem geradezu brutalen Widersinn ist. Denn wie steht es mit Jesu Tod? Hatte er ihn nicht nach den Evangelien vorausgesagt? War dieser Tod nach seinem eigenen Ausspruch nicht nötig und von Gott so beschlossen? Beruht nicht 59 darauf die ganze Heilslehre? Ist sein Tod nicht der geistige Angelpunkt, von dem her die christliche Religion erst ihre Schwerkraft bezieht? Und gibt es wildere Sinnlosigkeit, als das Notwendige unter Rache zu stellen? Aber diese Menschen brauchen nicht den Sinn, sondern das Motiv. Allezeit geht es ihnen nicht um den Sinn, nach dem sie handeln, sondern um ein Motiv, das ihr Tun rechtfertigt.

Die Juden jener Zeit verstanden schon recht gut, um was es ging. »Als die Gemeinden ihre Reden hörten, ergriffen sie das Handwerk unserer Väter: Umkehr, Gebet und Wohltun. Damals aber erschlafften die Hände des heiligen Volkes, ihr Herz schmolz, ihre Kraft ward schwach, sie verbargen sich in innersten Gemächern vor dem kreisenden Schwerte und quälten ihre Seele im Fasten. Sie schrieen. Sie liessen einen grossen und bitteren Aufschrei hören. Doch ihr Vater antwortete ihnen nicht. Er hüllte sich in ein Gewölk, dass ihr Gebet nicht hindurchdrang.«

Sie wissen also: hier ist Verhängnis, das nicht abzuwenden ist. Sie erlebten ihr Schicksal, dass die Umwelt, wenn sie in Zuckungen gerät, Juden ermordet, sei es körperlich oder seelisch. Ein Schuldgrund findet sich stets, so wie er sich hier fand, als die religiöse Explosion sich gegen den Juden mit ihrer Komplementärseite entlud, mit dem Rausch nach Blut. Sich dagegen zu verteidigen, 60 war ein fast hoffnungsloses Beginnen. Sie versuchen es dennoch. Es war ein kurzer Widerstand. »Als die Söhne des heiligen Bundes sahen, dass das Verhängnis sich erfüllen würde, die Feinde sie besiegen und in den Hof eintreten würden, da schrien sie alle auf, alle zusammen, Greise und Jünglinge, Jungfrauen und Kinder, Knechte und Mägde, zu ihrem Vater im Himmel und weinten über sich und ihr Leben. Das Urteil des Himmels nahmen sie als gerecht auf sich und sprachen zu einander: Wir wollen stark sein. Für eine Stunde werden die Feinde uns töten, aber unsere Seelen werden leben und bestehen im Garten Eden. Und sie sprachen aus ganzem Herzen und williger Seele: dies ist der letzte Sinn: nicht nachzugrübeln über die Weise des Heiligen. Er hat uns seine Tora gegeben und das Gebot, uns töten zu lassen für die Einzigkeit seines heiligen Namens. Wohl uns, wenn wir seinen Willen tun. Wohl dem, der umgebracht, der geschlachtet wird. Für die kommende Welt ist er bestimmt. Ihm wird getauscht eine Welt der Finsternis um eine Welt des Lichts, eine Welt der Not um eine Welt der Freude.«

Hier stehen also Menschen vor uns, die sich auf das Sterben vorbereiten. Hatten sie keinen anderen Ausweg? Gewiss: die Taufe. Sie hörten ja, dass man sie verschonen würde, wenn sie sich zu Jesus bekennen wollten. Sie zogen es 61 vor, sich selber abzuschlachten. Zu dieser Religion sich zu bekennen, war für sie unvorstellbar. Und das war nicht nur, weil sie bis in die letzte Tiefe ihrer Seele Juden waren. Was war das im übrigen für ein seltsamer Glaube, der immer gleich morden musste, wenn er in Erregung geriet? Da traten ihnen Menschen entgegen und trugen auf ihrem Gewand ein Abzeichen, von dem sie sagten, es sei das Symbol eines Glaubens: ein Kreuz. Und unter diesem Kreuz behaupteten sie eine grosse Idee zu vertreten. Sie verstanden aber nicht, dass solche Symbole und solche Vertretung von Ideen zunächst verpflichten und dann erst berechtigen. Sie konnten unter ihren Symbolen immer nur Henker derer werden, die andere Symbole hatten. Das ist nie überwunden worden. Und es ist dem Juden schon damals so eindringlich vor Augen geführt worden, dass in dem »Buch der Frommen« sich die Anweisung finden kann: »Sollten die Feinde sagen: liefert uns einen aus, damit wir ihn totschlagen, sonst werden wir euch alle niedermachen – so mögen sie alle niedermachen, nur dass ihnen keine jüdische Seele ausgeliefert werde.«

Nicht anders dachten die Juden gegenüber den Kreuzfahrern. »Da schrieen sie alle mit lauter Stimme und sprachen wie ein Mann: Nun haben wir nicht mehr zu zögern, denn die Feinde kommen schon über uns her. Gehen wir rasch, tun 62 wirs, opfern wir uns vor dem Angesicht Gottes. Jeder, der ein Messer hat, prüfe es, dass es nicht schartig sei, und komme und schlachte uns für die Heiligung des Einzigen; und dann schlachte er sich selbst an seinem Halse oder steche sich das Messer in den Leib.«

Das geschah, hundert mal, tausend mal und mehr. Oder es geschah so: »Als die Feinde vors Dorf gekommen waren, da stiegen einige von den Frommen auf den Turm und warfen sich in den Rhein, der am Dorfe vorbeifliesst, und ertränkten sich im Strom und starben allesamt.« Und Dinge wie diese haben sich ereignet: »Als Sarit, die bräutliche Jungfrau, sah, dass sie sich mit den Schwertern umbrachten, dass sie geschlachtet wurden, einer vom anderen, da wollte sie vor dem Schrecken, den sie sah, durchs Fenster auf die Gasse entweichen. Aber als ihr Schwiegervater, Herr Jehuda, Sohn des Rabbi Ahraham des Frommen, das sah, rief er ihr zu und sprach: ›Meine Tochter, weil ich nun nicht gewürdigt ward, dich meinem Sohne Abraham zur Frau zu geben, so sollst du doch nicht einem anderen, einem Fremden zur Frau werden.‹ Er führte sie vom Fenster weg, küsste ihren Mund, erhob mit dem Mädchen zugleich seine Stimme im Weinen und sprach zu allen, die umherstanden: Seht ihr alle, dies ist das Trauzelt meiner Tochter. Und sie weinten alle, ein grosses Weinen. Sprach zu ihr Herr Jehuda: Komm,63 meine Tochter, lege dich hin in den Schoss Abrahams unseres Vaters, denn mit einer Stunde erwirbst du deine Welt. – Er nahm sie, legte sie in den Schoss seines Sohnes Abraham, zerhieb sie mit einem scharfen Schwert mittendurch in zwei Stücke; dann schlachtete er auch seinen Sohn.

»Darüber weine ich, und mein Herz jammert.

»Und nachher, als die Söhne des heiligen Bundes getötet da lagen, kamen die Unbeschnittenen über sie her, um sie auszuziehen und aus den Gemächern zu räumen. Sie warfen sie nackt durch die Fenster zu Boden, Berge über Berge, Haufen über Haufen. Und viele unter ihnen lebten noch, als man sie hinunter gestürzt hatte; ein wenig Leben war noch in ihnen und sie winkten mit ihren Fingern: Gebt uns ein wenig Wasser zu trinken. Als die Verblendeten das sahen, dass in ihnen noch eine Spur Leben war, fragten sie: ›Wollt ihr euch taufen lassen? So werden wir euch Wasser zu trinken geben, und noch könnt ihr gerettet werden.‹ Sie aber schüttelten mit dem Kopfe, blickten hin zu ihrem Vater im Himmel, als sprächen sie: »Nein!«, und wiesen mit dem Finger nach oben. Doch kein Wort konnten sie aus ihrem Munde hervorbringen vor der Menge der Wunden, die ihnen zugefügt worden waren. Und jene fuhren fort, sie zu schlagen, bis über das Mass, bis sie sie zum zweiten male umgebracht hatten.« 64

Was hier mitgeteilt worden ist, illustriert die Vorgänge, die sich im Beginn des ersten Kreuzzuges (1096) in Speyer, Worms, Mainz, Köln und Trier abspielten. Es ist zu ergänzen, dass vielfach Juden bei diesen Angriffen zwangsgetauft wurden.

Hier mag ein Aufmerksamer einwenden, dass diese Vorgänge doch an der Wende des 12. Jahrhunderts stehen und nicht im Zeitraum unseres Themas, im 13. Jahrhundert. Das ist richtig. Dennoch muss bis hierher zurückgegangen werden, um den Zeitpunkt zu fixieren, an dem das Judentum in Deutschland den entscheidenden und für Jahrhunderte nachwirkenden seelischen Chok bekam. Von hier aus erfuhr der geistige, der seelische, der religiöse Habitus seine Gestaltung; nicht von der rechtlichen und nicht von der ökonomischen Situation, sondern von diesem Angriff aus der Sphäre eines Glaubens. Und dieser Angriff war kontinuierlich. Er konnte zwar im zweiten Kreuzzug (1147–1149) nicht mehr die gleichen Dimensionen annehmen, weil der Schutz besser funktionierte. Aber war es nicht eine recht zweifelhafte Sublimierung des Mordgedankens, wenn der Mönch Peter von Cluny, Petrus Venerabilis, argumentierte: »Ich verlange nicht, dass diese Menschen, auf denen der Fluch lastet, dem Tode preisgegeben werden, denn es steht geschrieben; du sollst sie nicht töten! Gott will nicht, dass sie ausgerottet werden; sie sollen 65 vielmehr, gleich dem Brudermörder Kain, zu grossen Qualen und grosser Schmach fortexistieren, damit das Leben ihnen bitterer werde als der Tod. Sie sind abhängig, elend, gedrückt, furchtsam, und müssen es bleiben, bis sie sich auf den Weg der Rettung gewandt haben.«

Aber was in Frankreich eine Demonstration der Gesinnung blieb, wurde in Deutschland in die Praxis umgesetzt. Noch hundert Jahre nach dem ersten Massensterben genügt schon die Kunde von der Ausrüstung eines neuen (des dritten) Kreuzzuges, um die Juden zur Flucht in die schützenden Burgen zu veranlassen. Als dann das Motiv der Rache für Jesu Tod abgenutzt war, wurde es ersetzt durch zwei andere von gleicher Wirksamkeit: der Anklage wegen Ritualmord und wegen Schändung von Hostien. Die Juden schlachten Christenkinder und benutzen das Blut zu rituellen Zwecken. Andererseits durchstechen sie Hostien, um damit symbolisch den Leib Christi zu durchbohren. Einmal wurde mitgeteilt, dass eine solche Hostie zu bluten begonnen habe, und dieses Blut hatte wundertätige Wirkung. Solche Entdeckung, die zur Ausbeute geradezu herausforderte, war lukrativ für den Klerus. Doch wurde dieses Wunder, als es zu häufig auftrat, durch Einspruch von Rom untersagt. Dagegen waren die Ritualmorde geeignet, den ständigen Bedarf an neuen Heiligen und 66 Märtyrern zu decken. In beiden Fällen aber starben Juden in Massen durch das ganze 13. Jahrhundert hin: in Lauda, Bischofsheim, Fulda, Frankfurt, Koblenz, Sinzig, Weissenburg, Pforzheim, Mainz, Bachrach, München, Oberwesel, Pritzwalk.

Das Schema solcher Vorgänge sei kurz dargestellt an den Judenmetzeleien in Bayern vom Jahre 1298. In Röttingen, einem fränkischen Städtchen, erzählte man sich, dass die Juden aus der Kirche eine Hostie gestohlen und in einem Mörser zerstampft hätten. Die Hostie begann zu bluten. Ein Edelmann namens Rindfleisch empfing daraufhin unmittelbar vom Himmel den Befehl, dieses Sakrileg zu rächen. Er führte den Auftrag mit höchster Gewissenhaftigkeit aus. Er und seine Anhänger erschlugen alle Juden in Röttingen. Dann zogen sie ins Land hinaus. Gleichgesinnte schlossen sich ihnen unterwegs an. Sie mordeten in Rotenburg, Nürnberg, Würzburg. Nach Rotenburg mussten sie zum Abschluss der Rache noch zweimal zurückkehren. Bis zum Herbst hatten sie es auf einhundert und vierzig jüdische Gemeinden gebracht, und nur das fiskalische Interesse des Albrecht von Habsburg beendete diesen göttlichen Auftrag. Von den vielen tausend Juden, die auf der Strecke blieben, ist allerdings dem Rindfleisch nur ein Teil zuzurechnen. Der andere Teil beging Selbstmord, um der himmlischen Rache zuvorzukommen. 67

So bezahlte der Jude immer wieder den Irrwahn seiner Umwelt. Gewiss muss man zugeben, dass die breite, dumpfe Masse der Deutschen an derartige Vorwürfe glaubte, (sie, nicht der katholische Klerus; der wucherte mit diesen Lügen) und dass ihnen solche Vorstellungen gemäss waren, weil sie aus ihrer eigenen Religion her die Mystik des Blutes noch mit heidnischer Ursprünglichkeit und derbster Naivität erleben. Das löst aber nicht die Ungeheuerlichkeit auf, dass der Jude die Zuckungen dessen auffangen muss, was der Deutsche nicht in sich selbst und mit sich selbst erledigen kann. Das Judentum hat daher in jedem Jahrhundert seinen Rindfleisch. Dem Namen und der Technik nach ist es jeweils ein anderer. Dem Geiste nach ist es immer der gleiche.

Es drängt sich, wenn solches Martyrium betrachtet wird, von selbst die Frage auf, warum der Jude dieses ungastliche Land nicht verlassen hat. Liebte er Deutschland so sehr, oder waren die Chancen, die es ihm bot, so gewaltig, dass er dieses Leben in Kauf nahm? Die Frage ist leichter gestellt als beantwortet. Gewiss suchten die Juden auszuweichen. Nach den ersten Kreuzzügen flohen viele nach Österreich, nach Ungarn und gar bis Byzanz. Es fand zudem eine ständige Abwanderung nach dem Osten statt. Aber solche Flucht bedeutete damals wirkliche Wanderung, 68 Schritt für Schritt über unsichere Strassen, durch feindliche Menschen, in unbekannte und ungewisse Gebiete, immer verfolgt von dem grossen Gegner: dem christlichen Klerus. Und diese Wanderung war nicht einmal legal. Mit jedem Flüchtling entlief den deutschen Kaisern ein Stück ihres Eigentums, den Lehnsherren ein Stück ihrer Beute und den Städten ein Stück ihres Einkommens; und das Eigentum kann man festhalten, um seine Rechte daran auszuüben. Es ist daher nur konsequent, wenn Rudolf von Habsburg ein Auswanderungsverbot erlässt (1286) und es wie folgt motiviert: »Alle Juden sind samt und sonders unsere Kronknechte und gehören mitsamt ihrem Vermögen einzig und allein uns oder denjenigen Fürsten, denen wir sie nach lehensherrlichem Recht abgetreten haben. Wenn also manche Juden ohne unsere besondere Genehmigung davonlaufen, um sich jenseits des Meeres anzusiedeln, sich so der Gewalt ihres gesetzlichen Herrn entziehend, so ist es rechtens, dass all ihr Hab und Gut, bewegliches und unbewegliches, unser werde.« Man brauchte eben den Juden, des Geldes wegen und des Blutes wegen; das Geld für die herrschenden Instanzen, das Blut für das Volk, um den Sieg einer Idee immer wieder daran beweisen zu können.

Auch hier sei ein kurzes Beispiel als Beleg gegeben: als der berühmte Rabbi Meïr von 69 Rotenburg unter dem Druck der Zeit und der Umstände sich auf die Flucht nach Palästina begab, wurde er in der Lombardei von einem getauften Juden erkannt und denunziert. Man lieferte ihn an Rudolf von Habsburg aus, der ihn auf Burg Ensisheim gefangen setzte. Die Juden boten 20 000 Mark Lösegeld nach damaligem Wert. Das schien nicht genug. Der Rabbi starb nach siebenjähriger Gefangenschaft, aber noch der Leichnam blieb Eigentum des Kaisers. Er verkaufte ihn nach weiteren vierzehn Jahren an den Juden Süsskind von Wimpfen.

Das also ist, vom äusseren Ablauf her gesehen, das Leben des Juden in Deutschland bis an das Ende des 13. Jahrhunderts. Er machte den Versuch, dieses isolierte und schwankende Dasein wenigstens in den Formen einer straffen Organisation nach innen aufzufangen. Die Gemeinde wurde sein Staat, die Versammlung der Rabbinen und Gemeindevertreter sein Parlament. Er hatte sein eigenes Gericht, seine eigene Schule, seine eigenen Institutionen. Er stellte auf den Rabbinerkonferenzen, den Waadim, eigene Gesetze für das Verhalten im religiösen Alltag auf, für Familienrecht und innere Verwaltung, sowie eigene Anleitungen und Normen für den Verkehr mit der Umwelt. Von dieser Umwelt will er nicht nur geschieden, sondern auch unterschieden sein. Er macht es sich selbst bis in die Äusserlichkeiten 70 zur Pflicht; besteht darauf, jüdische Kleidung zu tragen, sich den Bart wachsen zu lassen und das Haar nicht nach der Mode der Anderen zu stutzen. Er belegt jeden Juden mit dem Bann, der gegen einen anderen Juden das christliche Gericht anruft. Sie wollen sich diesem ›Recht‹ nicht ausliefern. Er belegt mit dem Bann jeden Versuch eines Juden, sich zur Erlangung eines Gemeindeamtes der christlichen Autoritäten zu bedienen oder Ernennungen von ihnen entgegen zu nehmen. Damit soll jede Möglichkeit eines fremden Autoritätseinflusses auf die inneren Angelegenheiten unterbunden werden. »Der Christ« heisst es da, »darf mit keinem Finger an unsere Angelegenheiten rühren und kein Fremder in unsere Reihen eindringen. Mögen alle auf ihre Heiligkeit und Reinheit bedacht sein und sich von den Schlechtigkeiten der Landesbevölkerung fernhalten.«

Hier wird also aus der Lebensformung her Antwort erteilt auf das, was die Lebensformen des Deutschen dem Juden zufügen. Auf die Versklavung von aussen antwortet der Jude mit der Autonomie von innen. Willkür der Umwelt kompensiert er durch vermehrte Gesetzesstrenge der Eigenwelt. Die diffamierende Isolierung wird zur wertbetonten Absonderung. Selbst das Morden aus den Instinkten des Blutes fängt er auf durch den nach den Vorschriften des Ritus 71 vollzogenen Selbstmord. Er wird autonom bis in das Sterben.

Damit haben wir zwei Welten gegen einander abgegrenzt. In einer von ihnen, der autonomen Welt, ist Süsskind von Trimberg herangewachsen. Von dort geht er hinüber in die andere, die in der Unruhe des Pendels schwingt. Aber solches Schreiten von einer Welt zur anderen vollzieht sich immer auf dem Wege durch die inneren Gemächer. Man geht nicht von einem Haus in das andere, von diesem Wohnviertel zu jenem, von Judentracht zur mittelalterlichen Kleidung. Man geht aus einem geistigen Umkreis in den anderen. Man geht über die Brücken der Gedanken, Empfindungen und Strebungen.

So muss, um diesen Übergang in all seiner Schwere und Sonderheit und Schicksalhaftigkeit aufzuweisen, der Innenraum von hüben und drüben, der geistige und seelische Status dieser beiden Welten vorab noch umrissen werden.

 


 


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