Josef Kastein
Josef Kastein

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Die Ebene

Peter Küfer, der Holzschnitzer aus der Webergasse, kam eines Morgens, als die Julisonne eines friedreichen und gesättigten Jahres sich über die kleine Stadt ausbreitete, auf die Polizeiwache. Er stand auf dem halbdunklen Gang und las die Bekanntmachungen. Er ging zum Ausgang zurück und sah in das Sonnenlicht. Er kehrte wieder um, ging an den numerierten Türen vorüber und konnte sich zu nichts entschließen. Endlich trat er in das Zimmer der diensttuenden Beamten.

Die Fensterrahmen standen wie schweres Gebälk in den kalkig geweißten Scheiben. Das verstimmte ihn. Er brauchte erst eine gewisse Zeit, bis er sich zu den Menschen im Raume fand. Er bat, einer der Beamten möge mit ihm in seine Wohnung kommen. Den Grund wollte er, trotz vielmaligen Befragens, nicht angeben. Er sagte nur einmal: »Ich schäme mich, es hier zu sagen.« Ein Beamter, dem Peter Küfer nicht unbekannt war, ging endlich mit ihm. Als sie vor dem Hause waren, verwies Peter Küfer ihn nach oben in die 136 Wohnung. Er selbst ging durch die Werkstatt in den Garten und setzte sich auf eine Bank.

Der Beamte, völlig im unklaren darüber, was ihn erwartete, ging in das Wohnzimmer, das nach dem Garten hinaus gelegen war. Er sah einen runden Tisch in der Mitte des Zimmers, mit weißer Decke darüber, Blumen darauf in Töpfen und irdenen Vasen. Der Beamte glaubte noch an einen Scherz des Peter Küfer aus heiterer Laune. Aber wie er ungläubig im Zimmer umhersah, entdeckte er hinter dem Tisch, von dem weißen, fallenden Leinentuch halb verborgen, eine liegende Gestalt. Er ging näher und trat dabei in eine große Blutlache, die schwärzlich und giftig in dem zerstreuten Licht der dämpfenden Fenstervorhänge schillerte. Die Gestalt lag auf dem Rücken. In der linken Brustseite stak tief, das Heft auf die helle, lichte Morgengewandung gedrückt, ein Dolch. Nur wie aus Pflichtgefühl wandte er noch den müde zur Seite gesunkenen Kopf. Er wußte auch so, daß es Bertel, die Frau des Peter Küfer, war.

Mit zitternden Knien schlich er die Treppe hinunter, sah in die Werkstatt, die leer war, und ging in den Garten. Peter Küfer saß auf der Bank und zeichnete mit einem Stecken Figuren in den gelben Sand. –

»Wie ist das geschehen, Peter?« fragte er entsetzt. 137

Peter Küfer duckte sich scheu: »Das habe ich getan.«

Der Beamte sah ihn verständnislos an: »Ihre Frau.«

»Ja,« antwortete Peter Küfer mit einem traurigen Lächeln. Der Beamte nahm neben Peter Küfer auf der Bank Platz. Dort saßen sie schweigend eine ganze Zeit, bis die Turmuhr Mittag schlug. Dann rührte sich der andere schwerfällig-

»Wollen wir gehen, Peter?«

»Ja, es muß wohl.«

Der Beamte verschloß das Wohnzimmer und die Haustüre. Dann gingen sie zur Wache. Man ließ Peter Küfer im Dienstraum sitzen, denn keiner gewann es über sich, ihn in die Zelle zu sperren. –

Nach wenigen Stunden war er vor dem Richter. Seine Aussage war klar, ruhig und bestimmt, wenn auch getragen von einer unendlichen Trauer und verzichtenden Wehmut:

»Ich habe meine Frau heute morgen . . . ums Leben gebracht. Ich nahm einen Dolch dazu, den ich einmal von einem italienischen Kunstfreunde geschenkt bekommen habe. Der Dolch hing im Wohnzimmer auf einem kleinen Angorafell an der Wand. Wir haben keinen Streit miteinander gehabt. Nein. Ich habe ganz mit Bewußtsein gehandelt. Ich wußte wohl, was ich tat, wenigstens 138 in dem Augenblick . . Ich bin von der Werkstatt nach oben gekommen. Da wußte ich noch nicht, daß ich es tun würde. Aber oben mußte ich es dann tun . . . Meine Frau hatte heute Geburtstag . . . ja . . . sie wurde dreiundzwanzig Jahre alt . . . Der Tisch war ihr Geburtstagstisch . . . nein, wir haben ganz in Frieden gelebt . . . Wir erwarteten in drei Monaten ein Kind . . . Mehr kann ich nicht sagen . . . Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen . . . ja, ich bin traurig darüber . . . aber bereuen kann ich es nicht. Ich werde dafür bestraft werden. Das mag gerecht sein, und ich wehre mich ja auch nicht dagegen. Aber wie soll ich es denn bereuen? Es war doch nötig . . . Jetzt sage ich nichts mehr.«

Dabei blieb Peter Küfer. Ihm wurde die Haft verkündet. Er nickte zustimmend. Dann wurde er in das Gefängnis gebracht. –

Die Untersuchung ergab keinen weiteren Anhalt. Alle Versuche, Näheres zu erfahren, erwiesen sich als vergeblich. Als das Drängen kein Ende nahm, verweigerte er endlich jedes Wort.

So ging alles seinen vorgeschriebenen Weg. Die Verhandlung vor dem Schwurgericht fand statt. Ueber den Richtern, den Geschworenen und den gedrängten Massen des Zuschauerraumes lag eine schwere Unlust des Mitlebens und Begreifens. Ein Rätsel mit einem furchtbar gehobenen Ernst stand vor ihnen. Sie ahnten Tiefen und 139 fanden doch keine Oeffnung, einen Blick hineinzutun.

Die Verhandlung ergab kein neues Wort und keine neue Tatsache. Der Verteidiger, in seiner Teilnahme gehemmt durch den stillen, freundlichen Widerstand des Peter Küfer, hatte eine große Zahl von Zeugen gestellt, die über den Ruf und die Lebensführung des Angeklagten aussagen sollten. Man war von vornherein überzeugt, daß alle aus wärmstem Herzen gut und freundlich für ihn aussagen würden. Alle sahen da von Ferne einen Weg, daß sich etwas in seiner Brust lösen würde, wenn Freunde seines Alltags einen Eid ablegten auf sein reines Herz und sein lauteres Gemüt.

Aber sie rechneten falsch. Peter Küfer saß auf der Anklagebank, ein fertiger, in sich geschlossener Mensch, dessen Weg zu Ende ist und der ruhig darauf wartet, daß die Tore der Ereignisse sich hinter ihm schließen möchten. Seine Worte waren weich und bestimmt. Wenn die Zeugen aussagten, erregt, leidenschaftlich, als wären sie zu seinen Verteidigern bestellt, hob er den Kopf und sah sie unverwandt an. Wenn sie vernommen waren und sich mit halber Frage zu ihm wandten, nickte er ihnen zu, dankbar, ein abschiednehmendes, gutes Lächeln. Doch über die Gründe seiner Tat sagte er nichts.

Die Stimmung in dem großen getäfelten Saale 140 wandelte sich langsam vom Mitleid zur Unlust, und von da in einer großen, überstürzenden Welle, die alle ergriff, zu einem bohrenden, persönlichen Haß. Denn was dort so wehmütig lächelnd auf der Schuld ohne Gründe beharrte, war nicht die klare Ergebenheit eines guten, aber schuldigen Menschen. Es war die abgefeimte Schlauheit eines Verbrechers, dessen dunkler Trieb sich befreit hatte in der Roheit eines Mordes, und der sich jetzt schämt, die Gründe anzugeben, die alleine ihn geleitet hatten: die Triebe des Verbrechers. Er aber versucht, alle zu täuschen noch in seiner letzten Stunde. Er will seine Strafe verbrämen mit dem brennenden Mitleid der Menschen, die noch so töricht waren, seiner Unschuld zu glauben. Doch es glaubte keiner mehr daran. Peter Küfer war ein Mörder. Gerechtigkeit!! schrien lautlos Hunderte von Stimmen durch den Saal. In jedem Herzen hämmerte das Blut aus persönlicher Gekränktheit. Peter Küfer hatte ein Verbrechen begangen an ihnen allen. Sie alle wollten entsühnt werden.

Die Verhandlung ging ihrem Ende zu. Die Anklage des Staatsanwalts war ein Klirren vieler Waffen. Aus dem Geist des hohen Saales überwand er die Unsicherheit seiner Stellung. Er war einig mit allen anderen: Das gemeine Verbrechen wollte Mitleid erregen, wo nur Zorn 141 und gerechte Strafe walten können. Er beantragte das »Schuldig«.

Der Verteidiger sprach leise. Seine Stimme verschlug sich an einer dunklen Mauer von Feindseligkeit, die sich vor ihm aufreckte. Er berührte die Tat mit keinem Worte. Er sprach von den Abgründen der Seele, die keiner übersehen kann, sprach über die Schwäche des menschlichen Herzens. Endlich, tiefer gehend und fast nur noch für sich selber sprechend und für seine Bedrängtheit, griff er zu den Worten der Bibel: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet«.

Da sank die feindliche Mauer vor ihm. Alles erschauerte, da doch noch das staunende Fragen tiefer war als der Zorn. Doch an dem Schicksal des Küfer konnte das nichts mehr ändern. Die Geschworenen fühlten sich als Stimmen aus dem Munde einer größeren Macht. Sie bejahten die Frage nach der Schuld. Als der Obmann den Spruch verkündete, sah er schwer und voll Vorwurf zu Peter Küfer hinüber. Der schüttelte den Kopf und sagte weiter kein Wort. –

Nach dem Spruche der Geschworenen fällte das Gericht sein Urteil. Küfer wurde wegen Mordes mit dem Tode bestraft.

Er stand da, und seine Hände, die auf der Brüstung der Anklagebank lagen, zitterten unaufhörlich. Er weinte vor sich hin, still, leise, ein freies 142 Weinen aus irgend einer schmerzhaften Erlösung. Aus dem Zuschauerraum wurden Stimmen laut, befangene, erschreckte Stimmen in einem dichten Gemurmel. Ein Schluchzen krampfte eine Sekunde lang hart und wild auf. Dann leerte sich der Raum unter dem Schurren vieler Schritte. –

Mit einem Male stand Peter Küfer ganz allein und verloren in dem Saal mit der warmen, menschlichen Holztäfelung. Er hielt den Kopf lauschend zur Seite geneigt und eine Beklemmung wich langsam von ihm, als er an dem entfernteren Gang der Schritte fühlte, daß er allein sei. Nur der Gerichtsdiener stand noch in wehmütiger Verlegenheit neben ihm. Er berührte den Arm des Verurteilten.

»Jetzt müssen wir gehen.« Er deutete auf die schmale Tür, die den Gang zwischen dem Sitzungssaal und dem Untersuchungsgefängnis abschloß.

»Es ist schwer, schwer,« seufzte er. »Aber Sie können noch ans Reichsgericht gehen, Sie müssen sich nicht einfach so verurteilen lassen. Ich sage Ihnen, Sie müssen ans Reichsgericht gehen.«

Er redete lange und wohlwollend auf Peter Küfer ein. Der nickte und schien den Rat ernsthaft zu erwägen. Sein Lebensinstinkt wurde wach. Reichsgericht, das klang bedeutend, wie ein Wort voller Zuversicht und felsenfesten Vertrauens. Dort würde er sprechen können. Hier im 143 Schwurgericht saßen Leute, mit denen er den Alltag teilte. Mit diesen Genossen seines Alltags konnte er nicht über seine verborgenen Tiefen sprechen. Dafür waren sie ihm zu nahe. Aber wenn er nur vor Richtern stand, vor Menschen, die Gottes Gerechtigkeit auf Erden vertraten, und von denen ihn die Schranke der Demut und der gehorsam-gläubigen Unterordnung trennte, würde er sprechen können.

Der Gerichtsdiener sah ihn an und erriet seine Gedanken: »Ich will Ihrem Verteidiger sagen, daß er zu Ihnen kommt.«

Küfer drückte ihm die Hand. Ihm war an diesem Tage so viel Liebe und Mitleid gegeben worden, daß er trotz des Verlöschens aller Lichter in sich doch meinte, es müsse trostreich sein, sich an den schwachen Sonnen dieses fernen Mitgefühls noch für einige Zeit zu wärmen. Darum wollte er auch an das Reichsgericht gehen. –

Am Ende der überdeckten und vergitterten Steinbrücke wartete der Schließer.

»Na,« fragte er neugierig, »wie ist es geworden? Verurteilt?«

Peter taumelte unter dem Schlag dieser nackten Frage. Er entsann sich, daß man doch über ihn zu Gericht gesessen hatte. Wie sich das vergaß. Eben war der Stab gebrochen, und nun mußte er es schon heraufholen wie aus tiefem Brunnen der Erinnerung. Nein, es war nicht eben 144 gewesen. Es war schon vor Zeiten, vor ganz langen Zeiten. Nur daß es jetzt wieder deutlich und mit Grausen vor ihm stand.

»Ich bin zum Tode verurteilt,« stammelte er. Seine Lippen wurden bleich und standen trocken und wie entblättert über den sichtbaren Zähnen.

Der Schließer machte eine bedauernde Handbewegung und schwieg betreten. Er ließ die Schlüssel an dem großen Ring durch seine Finger laufen. Doch dann erwachte sein Interesse: »Dann sind Sie übrigens der erste, den ich habe. Ich bin schon sieben Jahre hier, aber der schwerste, den ich gehabt habe, war acht Jahre Zuchthaus.«

»Acht Jahre Zuchthaus,« sprach Peter gedankenlos nach.

»Jawohl, der hatte seine Frau umgebracht, das war ein ganz rüder Bursche.«

»Ich habe doch auch meine Frau umgebracht,« trotzte Peter.

»Na ja,« wehrte der Schließer ab. »Hier liegt das ja ganz anders. Ich bitte Sie, acht Jahre Zuchthaus oder Kopfab, das ist doch ein Unterschied.«

»Ich gehe ans Reichsgericht,« beharrte Peter.

Der Schließer zuckte die Achseln: »Das tun viele, aber geholfen hat es meistens nicht.«

Peter schämte sich vor dem neugierigen Blick dieses nebensächlichen Menschen und schwieg. 145

Im Vorübergehen steckte der Schließer den Kopf in das Zimmer des Inspektors.

»Der auf Nummer 24 ist zum Tode verurteilt.«

»Gut,« klang eine fette Stimme aus versunkener Behaglichkeit. Aus der halbgeöffneten Türe kam ein würziger Geruch von Tabak. –

Peter Küfer sog ihn ein und hatte dabei die Vorstellung eines lichten Sonntagmorgens im Frühling, wenn er auf der Bank vor der Haustüre saß. Der Himmel war unverständlich blau, es schmerzte fast in den Augen, wenn man lange hinaufsah. Und immer waren Schwalben dabei mit ihren schmiegsam spielenden Bewegungen.

»Na, weiter,« drängte der Schließer.

»Ich möchte eine Pfeife rauchen,« bat der Gefangene plötzlich aus einer weichen Erinnerung an Frühling heraus.

Der Schließer riß die Türe wieder auf: »Darf er eine Pfeife rauchen?«

»Wer?« quallte die fette Stimme.

»Der auf 24.«

»Einen Augenblick mal.«

Ein Stuhl schurrte. Behäbige Schritte stampften über blankes Linoleum. Aus der breiten Tabakswolke, die zur halb offenen Türe herausdrang, entschleierte sich das Gesicht des Herrn Inspektors.

»Sind Sie der auf 24?« fragte er mit sachlicher Anteilnahme. »Dann wollen wir Ihnen eine Pfeife 146 erlauben. Na, nehmen Sie die Sache nicht zu schwer. Jeder begeht mal was im Leben. Der eine kommt schnell heraus, der andere gar nicht. Also halten Sie sich tapfer. Und die Pfeife und den Tabak müssen Sie aus eigenen Mitteln bezahlen.«

Peter Küfer überlegte angestrengt, wieviel Geld er wohl bei sich gehabt hatte, als man ihn in das Untersuchungsgefängnis einlieferte. Es kam ihm jetzt alles darauf an, eine Pfeife und Tabak kaufen zu können. Er verlor sich völlig in dieser Vorstellung, war bis zum letzten ausgefüllt von dem steigenden Angstgefühl, auf diesen Genuß verzichten zu müssen. Einen Augenblick lang dachte er daran, daß er seine schöne, gelb verrauchte Meerschaumpfeife zu Hause auf dem Werkstattisch liegen habe. Und in dem glänzenden Lederbeutel, der an einem Nagel mit gelbem Messingknopf an der Wand hing, war noch Tabak. Doch sobald er fühlte, daß diese Vorstellung ihn zurückreißen würde in die Umgrenzung seines vergangenen Lebens, brach er den Gedanken gewaltsam in der Mitte durch und sagte laut und befehlend, indem er sich gleichsam körperlich zwang, nur auf den Augenblick zu denken: »Wenn ich nun nicht Geld genug habe, mir eine Pfeife und Tabak zu kaufen!«

»Mehr als genug,« sagte der Schließer neben ihm. 147

Küfer erschrak, denn er hatte sich längst alleine geglaubt.

»Sie haben bei der Einlieferung über fünfunddreißig Mark bei sich gehabt. Das reicht aus. Ich will selber gleich hingehen und alles besorgen.«

Der Verurteilte nickte Dank, aber zugleich fühlte er einen ganz unbekannten Zorn in sich aufsteigen. Denn mit einem Male war ihm ein Gedanke abgeschnitten, mit dem er sonst Stunden seines leeren Denkens hätte ausfüllen können. In einer halben Stunde, vielleicht noch eher, würde dieser Mensch mit gutmütigem Lächeln wiederkommen und ihm eine Pfeife und Tabak in die Hände legen. Und dann . . .

Peter Küfer hatte die Empfindung, als ob er auf einem ganz schmalen Balken ginge, der über einem tiefen und bodenlosen Abgrund schwebte. Es war rundherum geballter, schwärzlicher Nebel. Jeden Schritt, den er vorwärts machen wollte, mußte er diesem dunklen Nebel abringen durch irgendein Wort oder einen Gedanken. Hinter ihm erlosch der Weg. Er durfte keinen Schritt rückwärts tun, sonst würde er in die Tiefe schmettern. Sie war ausgefüllt mit weißen, bleichenden Gebeinen.

Wie ein böser Gedanke stand die Vergangenheit hinter ihm. Er hatte kein Verständnis dafür. Bis vor wenigen Minuten war doch noch alles, was er getan hatte, klar und ohne Last und 148 Furcht gewesen. Alles war notwendig, nichts war böse. Er hatte . . .

Gepeinigt sprang er auf. Nicht zurückdenken! Nicht tote Dinge lebendig machen! Herrgott, wie ist das schwer, die Tore des Geschehens hinter sich zuzuwerfen und in die weiten Höfe der Vollendung zu gehen!

»Ich bin ein Verbrecher,« sagte er sich. »Ein ganz gemeiner Verbrecher, der Angst hat vor dem, was ihn erwartet, der zusammenbricht vor der Strafe, die kommen muß. Ja, die Strafe muß kommen. Ich habe mit kalten Händen meine . . .«

Er brach ab, und fühlte sich so ohnmächtig und voll Zorn, daß er sich mit der ganzen Last seines Körpers auf den kalten Boden der Zelle niederwarf. Der Kopf schlug gegen den Eisenfuß der Bettstelle. Schweres Blut sickerte ihm über die Stirn. Aus dem Dröhnen, das sein Gehirn umspannte, fühlte er einen wütenden, grellen Schmerz, daß er die Augen schloß und tief und gepeinigt vor sich hinstöhnte. Doch aus dem Schmerz und dem rieselnden Blut kam ihm zugleich die Erlösung. Es war wieder etwas, daran er denken konnte, was nicht seine Tat war. Er konnte einen Schritt weitergehen auf dem Balken im Nebel.

Mit vorsichtigen Fingern tastete er über den Kopf und suchte nach der Wunde. Er umfuhr sie sorgsam. Sie war nicht groß. Es schien auch kein 149 Knochen verletzt zu sein, nur die Haut und das Fleisch schienen zerschlagen von dem harten Fall.

Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis alles verheilt war. Aber er würde sich einige Tage mit diesem körperlichen Schmerz abfinden müssen. Doch würde er nicht allein sein. Er hatte nie gedacht, daß Schmerz ein so guter Gesellschafter sei.

Er richtete sich langsam in den Knien hoch. Sein Rock war beschmutzt, und vor sich auf dem Boden sah er eine Blutlache, die schwärzlich und giftig in dem zerstreuten Licht der hohen Zelle schillerte. Er beugte sich darüber und sah ungewiß zurückgeworfen die Umrisse seines Gesichtes.

So sah auch die Blutlache aus, dachte er, die vor Bertel . . .

Wie ein Irrsinniger warf er die Arme hoch und sah in das vergitterte Fenster hinein. Die Augen standen ihm stier und mit wilder Ausdruckslosigkeit aus den Höhlen. Ein Weinen kam in ihm hoch und ein verzweifeltes, kindliches Beten:

»Herrgott, mußt du mich denn immer zurückdenken lassen? Was soll ich mich denn noch abschinden für das Gewesene? Es ist doch nun einmal geschehen. Ich bekomme doch meine Strafe dafür. Ich bin zum Tode verurteilt. Ich werde hingerichtet. Geköpft werde ich. Man wird mir den 150 Kopf abschlagen. Das Leben wird vor mir ausgelöscht. Ich werde kein Morgen mehr haben und kein Uebermorgen, keinen Sommer und keinen Winter, ich werde überhaupt nicht mehr da sein. Ist das nicht schon schlimm genug? Genügt das denn nicht als Strafe? Warum mußt du mich denn immer wieder rückwärts schauen lassen? Ich mag es doch nicht mehr sehen. Ich mag nicht mehr!«

Ruhig, unaufhaltsam flossen seine Tränen. Die Schultern bebten und stießen. Es war eine tiefe, schwebende Befreiung in diesem Weinen. Er fühlte sich getragen durch Weiten, und Blüten standen auf aus seinen Tränen, fügten sich zu leuchtenden Zweigen, und die Zweige wurden Bäume, rührend-schöne Fruchtbäume, die in der ersten Blüte des Frühlings schwelgten. Er war in einem Garten. Schwalben flogen hoch, und von jenseits der Scheune kam junges Lachen. Er sah sich um. Es war sein Garten, sein Garten hinter dem Hause in der Webergasse.

Er sprang auf: Nein, nein, nicht in meinen Garten. Nicht so nahe an das Haus heran. Denn oben, hinter den weißen Gardinen des Wohnzimmers . . .

Er wehrte sich gegen seine Gedanken mit erlahmender Kraft.

»Ich habe mir den Schädel blutig geschlagen,« sagte er laut. 151

»Sprich doch weiter,« raunte eine böse Stimme in ihm. »Weiter doch: oben hinter den weißen Gardinen des Wohnzimmers . . . na, sag doch weiter!«

»Ich will nicht. Ich muß mir einen Verband machen. Ich werde mein Taschentuch nehmen.«

». . . hinter den weißen Gardinen des Wohnzimmers . . .« beharrte die böse Stimme.

»Ich werde mein Taschentuch zerreißen und mir einen Verband machen.«

»Was liegt denn da hinter der Gardine? Bist du so vergeßlich?« knurrte das ferne Gewissen.

Da stellte er sich aufrecht hin mit einem erblassenden Ausdruck des Verständnisses in seinen übermüden Augen und sagte laut und feierlich: »Da liegt Bertel, mein Weib, und ich habe sie mit dem Dolch erstochen.«

Als der Schließer mit Tabak und Pfeife in der Tür der Zelle erschien, schlug ihm ein gelles, unnatürliches Lachen entgegen. Mitten im Raum stand Peter Küfer und schwenkte mit gesteigerter Lustigkeit die blutigen Fetzen eines Taschentuches um seinen Kopf.

»Mensch, was ist denn los?«

Peter Küfer brach in ein brüllendes Gelächter aus und hielt sich die Seiten: »Jetzt kann ich es ja ruhig sagen. Ich habe nämlich meine Frau umgebracht, die Bertel . . .« 152


Der Gefängnisarzt ordnete die Ueberführung Peter Küfers in die Landes-Irrenanstalt an. Der Kranke bekam ein Zimmer, das nach dem Garten hinaus gelegen war. Die ganze Pracht des Sommers stand mit Duft und Farbe vor seinem Fenster. Daß sich die schwarzen, eisernen Stangen vor das sommerliche Bild stellten, bemerkte er kaum. Wie er früher alle Dinge daraufhin angesehen hatte, ob sich ihre Form mit Meißel und Schnitzholz nachbilden ließe, so war auch jetzt für ihn alles nur denkbar durch die pfeilrechten Gitter vor seinem Fenster. Hätte man diese entfernt, so wäre ihm alles zu nackt und unmittelbar vor Augen gewesen. –

Indessen ging durch die Stadt eine Welle befreiten Aufatmens und sprengte Ketten des Staunens und der Verständnislosigkeit. Diese Tat wäre ja nicht möglich gewesen, wenn nicht irgend etwas krank gewesen wäre in Peter Küfer. Es hatte dumpf gelebt und nicht nach außen kommen können, bis es unter dem Druck des Urteils ausgebrochen war.

Menschen, die in sich erschreckt waren vor der Gewalt dieser Tat, fühlten sich gedrungen, dem Verteidiger ein Wort des Dankes zu übermitteln.

Der Verteidiger rollte den roten Aktendeckel durch seine Hände und schüttelte den Kopf:

»Für mich war Küfer sich seiner Tat bewußt. Ich wollte nur den seelischen Gründen 153 nachspüren, die einen Teil der Verantwortung und der Verpflichtung, die Strafe zu tragen, von ihm abwälzen. Wenn Küfer jetzt geisteskrank geworden ist, so ist das höchstens ein Grund dafür, daß man die Strafe nicht an ihm vollstrecken kann. Ich behaupte auch, daß diese Krankheit eine vorübergehende sein wird. Er wird in kurzer Zeit genesen – und ihn wird eine Strafe treffen, deren Schwere er nicht verdient hat. Denn nur die Strafe ist gerecht, welche mit den inneren Beweggründen der Tat in Einklang steht. Und hier, meine Herren, liegt das Rätsel, das uns noch allein zu raten übrig bleibt.«

Alle, die von diesen Worten hörten, empörten sich gegen ihren kühlen Sinn. Aber gerade aus diesem kühlen Sinn war schon unvermeidbar neuer Zweifel in ihre Herzen gesät, und noch aus einem anderen dunklen Winkel der Meinungen kroch das Mißtrauen über die befreiende Aufklärung des Verbrechens.

Amalie Steinbeißer, oder Mutter Mali, wie man sie in der Stadt nannte, weil sie an den meisten Kindbetten als Helferin stand, hatte über all das Geschehene ihre eigene Meinung. Sie war die Nachbarin des Peter Küfer. Es hätte nicht ihrer ständig lüsternen Augen bedurft, um in das offene Hauswesen des Nachbarn Einblick zu tun, aber da sie durch schärfere Gläser sah als die wohlwollender Neugier, da eine eigentümliche, 154 unersättliche Gier sie trieb, in dem Zusammenleben fremder Menschen Umschau zu halten, wußte sie mehr als alle anderen Nachbarn. Zwar wußte sie nichts über die Tat selbst. Sie wußte auch nichts, im entferntesten nichts über einen äußeren Anlaß zu dem Verbrechen. Aber gerade weil sie nichts wußte, weil keine Lücke da war, durch die sie in das Gewebe von Ursachen und Wirkungen hätte hineinschauen können, gerade deswegen wurmte es sie durch Tage und Nächte, daß ihr etwas nicht offenbar sein sollte. Wenn sie ihren zahnlosen Mund öffnete und nachdenklich in eine Ecke ihres rotgeblümten Zimmers starrte, empfand sie es als Trieb und unabweisbare Notwendigkeit, eine Brücke vom Gedanken zur Tat zu finden.

Sie fand eine Brücke. Sie setzte sich vor ihre Tür und nahm ein Strickzeug in die Hand. Bald blieb diese und jene stehen: »Was tut sich, Mutter Mali?«

»Böses, viel Böses. Die Menschen werden schlecht.«

»Es ist schon eine böse Welt. Wie hat er das nur tun können?«

Mutter Mali zuckte vieldeutig die Achseln: »Je nun, man sagt ja, er ist nicht ganz klar hier oben. Mir ist er nie so vorgekommen.«

»Mir auch nicht, Mutter Mali. Ich denke mir, er wird schon gewußt haben, was er tat.« 155

»Junges Herz und schweres Blut, rauhe Hand und Uebermut,« orakelte die Alte, »das verträgt sich nicht auf die Dauer.«

»Sie ist eine Fremde gewesen, mit der man sich nie ausgekannt hat.«

»War sie wirklich eine Zigeunerin?«

»Jedenfalls hat sie ganz viel hinter sich gebracht. Es war eine dunkle Sache, wie sie da ankam von dem Grafen her.«

Jetzt plätscherten die Stimmen aufgeregt durcheinander. Mutter Mali saß schweigsam wie eine Spinne im Netz und funkelte boshaft und zufrieden über die erhitzten Gesichter. Langsam wand die Gier des Erfahrens enge Fäden um das Ereignis. Aus dem eigenen Abhub ihres Alltags suchten die lärmenden Frauen nach Schuld und Sünde und dunklen Winkeln der Unreinlichkeit; und selbst über das Mitleid, daß eine schwangere Frau ermordet worden war, hängte sich mit einem Male eine dunkle, träge Wolke von Verdacht und Ueberlegung. Wenn Peter Küfer eine Frau ermordet, die im sechsten Monat mit einem Kinde unter dem Herzen geht . . .

». . . dann ist es gar nicht sein Kind gewesen!« überschlug sich hart und gewalttätig eine bröckelnde Frauenstimme. »Gar nicht gewesen!« krächzte sie aus verhaltener Wut hinterdrein, und aller Zorn, so lange im Dunkeln getastet zu 156 haben, ergoß sich wie aufgestaute und befreite Wellen in ihre überhastete Stimme.

Mutter Mali sprang auf, und ihre Augen glimmerten wie Phosphor. Sie raffte ihr Strickzeug von der Bank mit unwahrscheinlich gelenkigen Bewegungen und schüttelte den Kopf. Sie wandte sich den staunenden Weibern zu, die noch unter dem Druck der erlösenden Erkenntnis standen, legte beschwörend und mahnend den Finger auf den Mund und zischte: Pst! Pst! Dann eilte sie, noch immer kopfschüttelnd, ins Haus.

Mit dieser klug berechneten Gebärde der Warnung und der Verschwiegenheit war das Gerücht von dem Beweggrunde des Mordes hart und sicher auf die Erde gestellt. Es bewegte sich, ging auf eigenen Füßen, kam durch die Straßen, huschte hinter die Haustüren, räkelte sich vor den Ladentischen und saß breit und unabweisbar in den schweren Eichenstühlen der Kneipen und Schenken.

Der Anstaltsarzt nahm den Gedanken auf und erwog ihn eingehend. Er war überzeugt, daß die Tat ein klares Ergebnis seelischer Verknüpfungen sei, aber nach dem Knotenpunkt des Geschehens zu gelangen, mühte er sich vergeblich, wie alle anderen auch.

Darum ging er zu ungewohnter Zeit in das Zimmer Peter Küfers. Der saß am Fenster und ritzte mit dem Daumennagel Figuren auf ein 157 weiches Stück Holz. Man hatte nicht gewagt, ihm ein Schnitzmesser zu geben, um das er bat. Er sah auf, erhob sich und grüßte freundlich und unbefangen.

»Herr Küfer,« sagte der Arzt, »haben Sie vielleicht Ihre Frau deswegen getötet, weil das Kind nicht von Ihnen stammte?«

Die erwartete Wirkung dieses Ueberfalles trat nicht ein. Wohl verzerrten sich die Züge eine Sekunde lang in dem Rückdenken, aber der Sinn der Frage war stärker als das Bild der Getöteten. Er schüttelte lebhaft den Kopf: »Nein, Herr Doktor, wenn es ein fremdes Kind gewesen wäre, dann wäre das alles wohl nicht passiert.«

»Sie überraschen mich mit Ihrer Schlußfolgerung. Ich verstehe Sie nicht.«

»Das mag sein, Herr Doktor, aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich werde es Ihnen auch nicht sagen.«

Der Arzt lenkte ein. »Es gibt Fälle, Herr Küfer, in denen der Zweifel über die Gewißheit einer Sache den Menschen so quält, daß er das Bewußtsein für seine Handlungen verliert. Es ist möglich, daß ein Mann irrsinnig wird, weil er Zweifel an der Vaterschaft seines Kindes hat.«

Küfer sann einen Augenblick nach. »Dann, Herr Doktor, ist dieser Mann vielleicht vorher schon wahnsinnig gewesen.« 158

Der Arzt sah ihn zweifelnd und betroffen an. Aber er fühlte sich geschlagen. Er ging mit freundlichem Gruß fort. In der Türe drehte er sich noch einmal um, weil ihn ein schmerzlicher Gedanke gefaßt hatte: »Dann werden Sie Ihr Los tragen müssen, Küfer.«

Der Kranke lächelte seltsam abwesend: »Das schreckt mich nicht mehr. Es ist alles gut so. Ohne Furcht . . . eine endlose Ebene, die ich durchschreite . . .«

Er arbeitete weiter an seiner Holzplatte. Kaum sichtbar, nur schwachen Umrissen nachgebend, formte sich ein Bild auf der Tafel, verschlungen, seltsam gerundet, wie ein Körper, der sich mit unabweisbarer Gebärde ruhig und ruhend in sich zusammenschließt.

Ihm blieb nicht lange Ruhe. Wieder öffnete sich die Türe, schneller, eigenwilliger als zuvor, so daß er wußte: es kommt einer, der noch nicht zu mir gekommen ist.

Es war der Verteidiger. Küfer ging ihm entgegen, rückte ihm einen Stuhl zu und kauerte sich selber auf einen Schemel hin, lächelnd, zufrieden.

»Wie freundlich, daß Sie mich besuchen, Herr Doktor. Es ist etwas einsam hier.«

Der Verteidiger bot kaum die Tageszeit. Mit gewollter, fast erquälter Geschäftsmäßigkeit zerrte er an dem Schloß der Aktentasche, 159 entnahm ihr ein Blatt, breitete es auf der Mappe als Unterlage über seine Knie und ließ den Ring an dem silbernen Bleistift klirren: »Sie wollen Revision einlegen?«

»Nein,« sagte Peter Küfer entschlossen.

Der Verteidiger wehrte kurz ab: »Sie spielen Komödie, mein Lieber. Unter uns ist das nicht nötig. Sie haben mich zur Einlegung der Revision auffordern lassen. Außer dem Antrag ist es nötig, eine Revisionsbegründung einzureichen. Wollen Sie mir bitte die Tatsachen angeben, die Sie zugrunde legen wollen.«

Peter Küfer zog sich vor der harten, grollenden Stimme eng in sich zurück und drehte die Holzplatte in seinen Händen. Er wollte feindselig werden in der Unlust des Nichtverstandenseins, aber es wurde nur eine verhaltene Abwehr aus verschüchterten, etwas zitternden Worten: »Ich bin doch nicht wahnsinnig, Herr Doktor.«

Der Verteidiger stand so hastig auf, daß Küfer erschreckt die Mappe auffing, die über das blanke Linoleum glitt. Der Anwalt fuchtelte mit den Armen und faßte mit allen Fingern in seinen Kragen. Die Luft war eng. Krankenhausluft. Er stieß durch die engen Gitter die Riegel der Fenster zurück, daß die Flügel gegen die Mauer klirrten. Lange mit weiten Augen über das ruhige Grün des Parkes hinschauend, nahm er die klare Sommerluft in sich auf. 160

Er wandte sich nach einer langen Weile um und fuhr matt mit den Händen über die dunklen Augen.

»Wollen wir es nicht heute lassen, Küfer? Sie haben noch bis Donnerstag Zeit. Bis dahin überlegen Sie alles, was Sie mir sagen sollen. Ich will alles ausführen, was Sie wollen, Wort für Wort.«

Küfer lächelte dankbar und erfreut.

»Das will ich. Ich habe ja so viel Zeit hier. Ich will mir alles genau überlegen, was ich Ihnen sagen will. Ich danke Ihnen. Sie sind gut zu mir. Bis Donnerstag, bis dahin . . .«

Der Verteidiger sah ihn argwöhnisch an: »Warten Sie lieber nicht bis zum letzten Augenblick; bis des Abends um sechs Uhr muß die Begründung bei Gericht liegen. Ich stehe jeden Augenblick zu Ihrer Verfügung. Lassen Sie mir Bescheid geben.«

Küfer zögerte. Eine fahle Helligkeit trat in seine blicklosen Augen. Ein letzter Entschluß rang um seine endgültige Gestaltung. Er mahlte die Worte langsam im Munde.

»Herr Doktor, wenn wir nun doch Revision einlegen . . .«

»Nun?«

»Was geschieht dann?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Vielleicht steckt man Sie einige Jahre ins . . .«

»Zuchthaus!« schrie Peter Küfer. 161

Der Anwalt stieß sich den Hut auf den Kopf: »Das ist möglich.«

»Aber man wird mich leben lassen?« forschte der Kranke und sah in einen Winkel.

»Ja!« schrie der Verteidiger und warf knallend die Türe ins Schloß.


Peter Küfer kam nicht zur Ruhe. Er fand sich von seltsamen Widersprüchen umklammert. Das Bild auf der Holzplatte nahm schärferen Umriß an und wurde sichtbarer und hartnäckiger. Es war klar, daß hier über einem Felsen, der breit und schwer aus dem Erdreich aufwuchs, ein Mensch lagerte, liegend, das Gesicht der Tiefe zugewandt, die Hände flach auf die Erde gestützt. Das war er, Peter Küfer, bewußt und mit Willen er selbst; das war sein Wille, nachzugeben und die Dinge geschehen zu lassen. Es war die Abrundung und die Beschließung der Ereignisse.

Daneben aber hämmerte unsinnig und beharrlich das Wort: Revision. Es war ihm als Wort etwas Feierliches, Vornehmes, aus den Kreisen der Gebildeten Herübergetragenes. Als Klang war es etwas Zuversichtliches, ein Bote voller Hoffnung, Gesang eines Herbstvogels, den er noch belauschen würde. Als Sinn endlich war es das körperhafte Gefühl, daß die Gewalt der Anderen, der Unsichtbaren, die nur durch ihre 162 stummen Diener handeln, aufhören würde, ihn zu beherrschen, ihm diesen und jenen Raum anzuweisen, seine Schritte zu beschränken, seine Betätigung zu verengern oder zu erweitern.

In diesem Gedanken fühlte er alles in sich wieder gerade und aufrecht werden. Der Mensch, der über dem Felsen kauerte, wollte aufstehen, gehen, im Leben sein. Er wollte die Tage weiterleben, als er selber, als Peter Küfer, der Holzschnitzer aus der Webergasse; in der Werkstatt arbeiten; vor der Tür auf einer Bank sitzen, sommerabends, und eine Pfeife dabei rauchen. Bertel neben ihm . . .

Er fuhr zusammen. Das würde nicht mehr sein. Auslöschen, auslöschen den Gedanken.

Er gedachte der Gefängniszelle, da die Vorstellung des Geschehenen über ihm zusammenschlug mit wilden Wellen. Heute hob es ihn nicht mehr auf. Er konnte schon ruhiger, wenn auch mit der Blässe des Erschreckens darüber hinwegsehen. Er mühte sich nur noch, die endgültige Richtung seines Weges zu erkennen.

Die Türe öffnete sich. Er verbarg die Holztafel unter seinem Rock. Zum dritten Male an diesem Tage wurde er aufgestört. Mit zögernder Beweglichkeit drängte sich etwas in den Raum. Ein buntgestreifter Rock, ein brauner Armkorb, ein gewürfeltes Kopftuch: Mutter Mali. 163

Ein zwiespältiges Gefühl fuhr ihm durch die Glieder. Freude über den Gruß aus vertrauter Umgebung, Anklammerung des Willens nach dem eigenen Heim an diesen Zufall des nachbarlichen Menschen, und daneben Angst vor der Nähe der Wirklichkeit. Grollende Eifersucht aus langen Ketten persönlichen Erlebens.

Mutter Mali lächelte mit einem Ausdruck, als sei sie es gewohnt, zu Sterbenden zu kommen. Ihre Geste war das schamlose, geoffenbarte Mitleid des Lebenden gegenüber dem, der mit dem Tode gezeichnet ist: überquellend, rückhaltlos, von eigenen Schauern wohlig erfaßt.

Sie entlud den ganzen Vorrat ihrer gespeicherten Worte, aber sie erfuhr nichts als ein freundliches, unbedenkliches Antworten, in dem nur der gewöhnliche eindeutige Sinn des Alltags lag. Zu ihrer heimlichen Vermutung führte keine Brücke.

Endlich legte Peter Küfer ihr die Hand auf den Arm: »Halt mal einen Augenblick auf, Mutter Mali. Du bist doch bewandert. Dann sag mir mal, wenn ein Mensch wahnsinnig ist, darf man ihm dann . . . darf man ihm dann etwas tun? . . .«

»Nein,« funkelte sie.

»Aber wenn er nicht wahnsinnig ist? Ich meine, wenn er sich nur so anläßt, als ob er es wäre, in Wirklichkeit aber ist alles klar und vernünftig, und man müßte es nur sagen können, 164 um es ganz klar und verständlich zu machen. Wie ist es dann?«

»Dann ist es wohl einfach, Peter, dann wird man ihm wohl etwas tun.«

Sie fühlte andächtig den Schauern nach, die ihren gebeugten Rücken hinunterstrichen.

Er lächelte mit einer freien, sonnigen Ueberlegenheit, und eine große Ruhe dehnte sich in ihm: »Siehst du, das wollte ich nur von dir wissen; es ist ja so einfach. Man kann es sich selber denken. Aber es ist immer gut, wenn ein andrer kommt, der es einem sagt.«

»Dir wird man doch nichts tun?« lauerte die Alte.

Er wich ihr aus: »Und dann danke ich dir schön für deinen Besuch. Ich habe heute viel Besuch gehabt. Es hat mich sehr müde gemacht. Ich danke dir auch, Mutter Mali.«

Sie mußte aufstehen, weil er sich erhob und der Türe zuging. Da kramte sie in ihrem Korbe und legte ihm ein kleines Papier mit wichtiger Gebärde des Geheimnisses in die Hand.

»Was ist es?«

»Sieh mal hinein, es wird dich freuen.«

Sie gluckste, daß es ihn einen Augenblick fror von unklar gruselnder Vorstellung.

In dem Papier lag ein Schnitzmesser. Er verbarg es mit langsam überlegter Gebärde in seinem Rock und legte die Hand über die Tasche, 165 als ob er einen Schatz gewonnen hätte. Es war eine unverständliche Klarheit in seiner Stimme, als er ihr nochmals dankte und sie sanft bat, zu gehen.

Sie ging so zögernd, wie sie gekommen war. Sie hielt sich an der Klinke fest, während er dem geöffneten Fenster zuging, und rief ihn an, nackt, lüstern, zittrig vor Gier nach dem Erfahren der Tatsache: »Peter, hat deine Frau das Kind von dir bekommen? Oder hat sie es schon vom Grafen mitgebracht?«

»Hurenweib,« tobte er auf und warf den Holzschemel nach ihr. Der krachte gegen die Türfüllung; schreiend lief die Alte die Gänge hinunter.

Peter Küfer legte sich über das Bett und sah schwer und traurig in den verblauenden Himmel hinein.


Am letzten Tage der Frist, nachmittags gegen fünf Uhr, ließ der Verurteilte Peter Küfer dem Anstaltsdirektor bestellen, man möge seinen Verteidiger um einen sofortigen Besuch bitten lassen. Es geschah. Ehe Peter Küfer noch einen klaren Gedanken gefaßt hatte, stand der Verteidiger im Zimmer, ohne Hut, gerötet, eine Zornader klar und gestriemt auf der Stirne.

»So schnell kommen Sie, Herr Doktor« staunte der Gefangene. 166

Der Verteidiger brach aus wie unter unerträglicher Last: »So schnell? So schnell?« höhnte er. »Soll ich hier an Ihrer Zelle hocken? Ist es nicht genug, daß ich den ganzen Tag hier unten in einem Zimmer sitze, als gehörte ich schon hierher? Ich bin nicht Ihr Verteidiger, um mich mit Ihren Rätseln und Geheimnissen herumzuschlagen. Sie haben meine Dienste gemietet, mehr nicht.«

Peter Küfer sah ihn still an. Unablässig drängten sich Tränen in seine klaren Augen. Er fragte ganz leise: »Wie spät ist es, Herr Doktor?«

»Es ist fünf Uhr,« preßte der Verteidiger aus seinen blassen Lippen.

»Wollen Sie mich anhören, lieber Herr Doktor?«

Der andere nickte hart: »Das ist meine Pflicht.«

Da streichelte Peter Küfer ganz plötzlich über seinen Kopf und sagte: »Sie sind ein guter Mensch.«

Der Anwalt entzog sich hastig der Berührung und kauerte sich auf einem Schemel in der Ecke des Raumes nieder.

»Fangen Sie an. Um sechs Uhr ist die Frist abgelaufen. Ich habe alles vorbereitet. Mein Schreiber wartet unten. Beeilen Sie sich.«

Peter Küfer begann: 167

»Ich bin von einer aussterbenden Kunst. Ich machte Dinge, zu denen die Leute meinesgleichen sagen, sie wären nicht mehr Handwerk, und zu denen die anderen sagen, sie wären noch nicht Kunst. In meinem Hause an der Webergasse hat schon mein Vater gearbeitet. Kennen Sie den Altar in der Kirche unserer lieben Frauen? Den Schrein in der Kapelle der Maria mit den sieben Schwertern? Die alle hat mein Vater gearbeitet.

Ich habe große Wanderungen gemacht. Ich bin in Italien gewesen, in allen Kirchen und Kapellen. Ich bin in Rußland gewesen. Ich habe alle deutschen Städte gesehen, in denen meine Kunst einmal lebte. Als ich heimkam, ganz voll mit Bildern, war unser Haus verschlossen. Vater und Mutter hatten nicht warten können, bis ich von der Wanderschaft kam.

Ich konnte nicht trauern, denn ich war für lange Zeit hinaus gefüllt mit Lust zur Arbeit und mit den Bildern von Dingen, welche geschaffen sein wollten.

In meiner Werkstatt ist es luftig und sehr hell. Der Geruch von Holz ist darin wie festgemauert. Lachen Sie nicht. Es ist wirklich so, als ob die Wände aus dem Geruch von Holz beständen. Ich will mit geschlossenen Augen ein Holz riechen und Ihnen sagen, woher es kommt.

Ich habe in meinem Hause ein sehr stilles Leben geführt. Vielleicht zu still. Ich war mit mir 168 zusammen und mit meiner Arbeit. Mir ist in diesen letzten Tagen ganz klar geworden, daß ich auch immer so allein hätte bleiben müssen. Ich bin nicht fähig, etwas anderes zu verstehen als mich und meine Arbeit.«

»Zur Sache, bitte,« warf der Anwalt ein.

»Gleich, Herr Doktor, gleich; ich muß das alles sagen, damit Sie es ganz verstehen. Auch damit ich selber es ganz verstehe. Ich ging und fragte nach Arbeit an. Ich bekam reichlich, und sie wurde gut bezahlt. Aber wenn ich etwas sehr Gutes vollendet hatte, war es mir zuwider, es gegen Geld herzugeben. Oft und immer öfter behielt ich Dinge in der Werkstatt. Das waren meine besten und hellsten Stunden.

Mutter Mali war die erste, die meine Arbeiten sah. Sie kam eines Morgens in meine Werkstatt, weil sie irgend etwas fragen wollte. Ich sah ihr an, wie sie von Neugier geplagt war. Ich habe es immer noch im Gedächtnis, wie sie ihren Spruch abhaspelte und dabei in jeden Winkel schielte. Ich hätte am liebsten ein Tuch genommen und alles verdeckt. Ich sah ihre häßlichen Hände, und es tat mir leid um das warme, weiche Holz, das von ihnen betastet werden sollte.

Aber sie lobte meine Arbeiten. Sie hatte für jedes ein Wort. Da ich zum ersten Male einen Menschen über meine Werke sprechen hörte, bekamen sie einen vertieften Sinn für mich. Sie 169 wuchsen in ihrer Bedeutung, und ich erfuhr zum ersten Male, wie es ist, wenn Werke sich aus unseren Händen lösen und vor uns stehen.

Daß ich dieses dachte, erkannte sie wohl. Sie erkannte auch, daß sie damit Macht über mich gewann. Ich haßte sie. Ich hatte Ekel vor ihrer Hexenhaftigkeit. Sie war so häßlich, daß es mich tief beleidigte, aber sie war – wie sage ich das – sie war eine bunte Brille für mich. Wenn ich hindurchsah, wurden alle meine Geschöpfe schön und wertvoll.

Ich muß zu ihrer Gerechtigkeit sagen, daß sie viel dazu beigetragen hat, mich bekannt zu machen. Sie liebte mich nicht. Aber auch sie schien mich irgendwie nicht entbehren zu können.

So verging der Sommer, der Sommer im letzten Jahre. Ich war etwas müde und entstrafft vom vielen Schaffen. Ich wurde reizbar und feindselig, und konnte alle ruhelosen Tage und Nächte nur an dieser Alten auslassen, immer in der Hoffnung und Furcht, daß sie es vielleicht aufgeben würde, zu mir zu kommen. Ich brauchte sie nicht mehr so dringend. Es kamen oftmals andere Menschen. Ich lernte freier und selbständiger aus ihrem Urteil erkennen. Ich hielt strenge Auslese und vernichtete vieles. Ich lernte die Verantwortlichkeit des schaffenden Menschen. Aber daß Mutter Mali immer wiederkam, erbitterte mich maßlos. 170

Es kam der Herbst. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie mich der Herbst erregt. Schon in den Jahren der Wanderschaft war ich wie umgewandelt, wenn der Sommer Abschied nahm. Sonst reiste ich in Gesellschaft mit diesem und jenem. Ich war verträglich. Ich liebte es, mit vielen anderen zu singen. Ich teilte meine Zehrpfennige mit ihnen, ich prügelte mich für sie und ließ mich für sie verprügeln.

Aber wenn der Herbst kam, wurde ich unruhig. In irgendeiner Nacht ging ich den Gesellen auf und davon. Kamen sie mir nachgewandert, vertrieb ich sie. Waren sie treu und wollten nicht von mir gehen, wankte ich wie besessen unter einem Zorn und schlug sie. Die vielen satten Farben rings in der Welt schüttelten mich. Die Reife an den Aesten war mir unbegreiflich fürchterlich. Diese brutale Ruhe und Schönheit, diese viehische Selbstverständlichkeit, mit der all die Natur sich zu ihrer Erfüllung beugte, waren mir ein Grauen und ganz tiefe, tiefe Angst. Ich weinte Nächte. Ich taumelte tags durch rotbunte Weinberge und blutgesprenkelte Waldungen. Ich wollte weit nach dem Süden gehen, um noch Frühling zu atmen. Ich wollte weit nach Norden, um schon in Schnee und Eis zu erschauern. Ich war ein sehr unglücklicher Mensch.

So kam auch dieser letzte Herbst, der erste in der Heimat. Ich hatte doch die Wandertage fast 171 schon vergessen über der Inbrunst der Arbeit. Ich sah doch immer neues Leben unter meinen Händen auferstehen. Aber dann war es mit einem Male doch wieder da, dieses Fürchten aus der Unruhe, diese Verzweiflung aus ungehobenen Gefühlen. Mitunter war es so, daß ich auf meine Gebilde losfuhr und ihnen tiefe, entstellende Kerben einschnitt. Wenn ich dann sah, wie sie litten in ihrer entstellten Schönheit, schien es mir, ich hätte einen lebendigen Menschen getötet, und das Blut sickerte dunkel und mit unergründlich tiefem Glanz über meine verworfenen Hände. Ich starb fast an dem Gedanken, einen Menschen töten zu müssen.

Hören Sie mich ruhig weiter an. Ich sage die Wahrheit. Es ist kein Widerspruch zwischen dem, was ich sagte und dem, was ich getan habe . . . denn vielleicht sterbe ich doch daran, daß ich einen Menschen getötet habe.«

»Es ist fünfeinviertel Uhr, Herr Küfer,« sagte der Verteidiger wie unter einem Zwang.

»Rühren Sie nicht an die Zeit,« antwortete Peter Küfer, »meine Zeit bemißt sich anders als gestern und vorgestern. Lassen Sie mich weiter erzählen. Ich habe das Gefühl dabei, als ob sich ein Vorhang vor meinen Augen aufrollte, ein Vorhang, der voller dunkler und drohender Falten war, und hinter dem jetzt viel Licht aufsteht . . . Ich sagte Ihnen von dem Herbst. Er war diesmal 172 schwerer zu ertragen als alle anderen, denn ich war jetzt an meine vier Wände gefesselt. Sonst immer war ein Ausweichen möglich, ein Vergessen und Sich-verschlendern in Wanderung, die müde macht. Aber in einem Hause, nahe den Dingen, kann man seine Sehnsüchte und seine Aengste nicht vergessen. Man kann vielleicht nur das tun, was ich endlich tat: Die Haustüre schließen, sich vor allen Menschen versperren und sich den dunklen Gefühlen ganz ausliefern, damit sie Macht über uns gewinnen und wir erliegen lernen, oder damit wir Macht über sie gewinnen und verstehen lernen.

Mutter Mali kam jeden Morgen an meine Tür. Sie rüttelte an der Klinke und schimpfte wütend. Ich empfand, wie ihre Augen vor fremder Bosheit leuchteten und glimmten. Ich schnitzte eine hexenhafte Figur, belegte die Augenflächen mit giftgrüner, schillernder Farbe und klebte Halbkugeln aus Glas darüber. So hatte ich den boshaften Geist stets neben mir.

Lange Stunden lag ich flach auf meinem großen Arbeitstisch und sah durch das Fenster. Habe ich Ihnen gesagt, daß die Fenster meiner Werkstatt auf den Garten hinausgingen? Eine Tür führte dahin. Die Fenster waren halb beschattet von mächtigen, alten Birnbäumen. Ich sah immer in das Laub hinein. Ich sah die Früchte hängen. Ich hatte die häßlichsten 173 Vorstellungen, wenn ich sie rund und saftig werden sah. Wenn sie fielen, ließ ich sie auf dem Rasen faulen. Trat ich auf eine überreife Frucht, war es mir, als hätte ich in Kot getreten. Aber ich ging immer wieder hinaus, für wenige Augenblicke nur, aber hartnäckig, als könnte ich durch diesen Zwang irgendwie mit meiner Unrast zu Ende kommen.

Aus allem, was in meinem Garten Buntheit war und reifte, fand ich endlich mit ganz tiefem Erschrecken eine Wahrheit für mich: daß alles, was sich da herbstlich vollendete, unter einer Notwendigkeit stand; daß alles das geschehen mußte, nur weil Lebenssäfte ihren Kreis beschlossen hatten, daß alles geschaffen werden mußte, irgendwie, zu irgendeiner Zeit, ohne Zweck, ohne Ziel. Nur geschaffen werden, da sein mußte es. Ich überflog meine Jahre. Ich war noch jung, noch keine dreißig Jahre alt. Aber ich wurde älter. Meine Lebenssäfte liefen ihren Gang, den ich nicht aufhalten konnte. Es lief ein Uhrwerk in mir ab. Alle meine Gedanken und alle meine Fähigkeiten liefen von selbst in mir ab, wie eine Folge von Bildern. Und ich ließ alles das geschehen. Ich ließ das alles in mir geschehen und faßte nicht in die Speichen und hielt sie fest, wenn auch nur für eine Sekunde, wenn auch nur für einen blitzschnellen Augenblick. Meine Zellen reiften und verfielen. Ich selber reifte und 174 verfiel. Ich sah plötzlich einen Grabhügel mit einer morschen Tafel aus Holz, die der Wind zur Seite geworfen hatte. Verschwommene Lettern darauf . . .

Ich war sehr bleich, als ich in meine Werkstatt kam. Ich begann zu arbeiten aus Schuld- und Pflichtgefühl, aber es war kein Trieb in meiner Hand, eine aufrecht und frei stehende Figur zu schaffen. Ich hätte nicht die Größe des Umrisses finden können. Sie wäre verzerrt geworden und unharmonisch. Meine Werke brauchten eine Stütze, so wie meine Gedanken einen Rückhalt brauchten, um überhaupt leben zu können in diesem Herbst.

So trieb es mich von selbst dahin, auf einer großen Holzplatte ein Relief zu schnitzen. Ueber einen Boden, der felsig aufstieg, ging ein nackter Mensch, ein Mann, den Körper übersät mit den harten Windungen der Muskeln, schwer und bewußt im Schreiten, voller Trotz und Sicherheit. Und doch, der schwere, kantige Kopf wollte sich nicht fügen in diese aufrechte Wucht. Ganz von selbst neigte sich alles, was oberhalb des Nackens war. Ein Hinschauen zur Erde, ein unbezwingbarer Drang, das Schauen nach den Horizonten zu verlassen und sich dem Boden zu nähern. Ich staunte vor dieser Unbewußtheit. Ich mißtraute der Ehrlichkeit dieser Auffassung. Wieder und wieder ging ich in den Garten hinaus, die große 175 Holzplatte in der Hand, als hätte ich draußen ein Modell, mit dem ich mein Werk vergleichen müßte. Ich merkte aber, daß all meine zitternde Erregtheit ruhiger wurde in dem Maße, wie der Ausdruck des Sichbeugens in die schreitende Gestalt kam. Und so mußte ich glauben, daß ich der Lösung aller meiner Zweifel nähergekommen sei.

Wie ich so eines Morgens auf der Gartenbank mitten in der warmen Herbstsonne saß und mich freute, wie vertraut sie mir schon geworden war, gellte mir undeutlich etwas durch das Bewußtsein, ein fernes Rufen, ein Schrei wie aus Not. So habe ich immer das Land schreien hören, wenn die Frühlingssonne mit jungen Stürmen kämpfte, ein Schrei aus Blut. Ich legte die Holzplatte beiseite und beugte mich vor. Da – wieder der Ruf – der Schrei eines Weibes, ein hochgeschürzter, nackter Schrei, und dann, während ich mich erheben wollte und doch wie angeklammert auf der Bank saß, ein unendliches Bild: eine Frau, im Hemd, zerrissen, flatternd in weißen Streifen, . . . Arme hoch . . . Haar flackert . . . mitten durch die Gärten . . . sinnloser und sicherer Sprung . . . über Hecken und Zäune . . . ein roter, offener, laut schreiender Mund . . . Arme, die unsagbar schön waren . . . verschwunden.

Ich hörte ein Brechen von Zaunlatten, das 176 Knacken von Zweigen, eine Türe im Hause der Mutter Mali. Dann war alles ruhig.

Ich konnte mich nicht rühren. Immer wiederholte sich mir das Bild. Wie eine gepeitschte Seele sah ich das Weib über die Herbstreife fliegen. Es winkte nach mir. Das Blut erstarrte mir in den Adern. Die Platte mit dem Relief fiel mir aus den Händen. Ich wollte sie aufheben, sah sie zwischen überreifen, faulenden Früchten liegen, wie in Kot, ekel und beschmutzt . . . und ging mit hochgezogenen Achseln, ganz verbeult und verbogen in das Haus. –

Ich weiß nicht, wie sich dieser Tag verlor. Er war plötzlich zu Ende. Nacht kam mit einem Male und gab mir die Hand, so wie einer heimkehrt, den man noch nicht erwartet hat. Gehorsam legte ich mich schlafen. Noch im Verdämmern wunderte ich mich, daß Mutter nicht kam und ihren Jungen zudeckte. Ich hörte Glocken, während ich einschlief. Ich erwachte und wußte nicht, wie viele Stunden der Nacht vergangen waren, und ob ich geträumt hatte oder nicht.

Ich ging hinunter, öffnete meine Haustüre und wußte nicht mehr, warum ich sie geschlossen hatte. Ich ließ sie offenstehen und ging durch die Straße. Mutter Mali stand vor ihrem Hause. Ich schämte mich. Sie nickte, vielsagend, wie es schien, und zog sich schnell in den Hausflur zurück. 177

Die Straße führte mich. Die Steine wären ganz weich von Licht. Nie hatte ich so lebendige, bunte Schatten gesehen. Ihr Schweigen ergänzte vielfach, was die Sonne sagte. Ich hörte Kinder lachen, mußte staunen und wußte nicht warum. Die Frauen hatten einen seltsam aufregenden Gang. Ich hätte weinen können über diesen Gang. –

Ich war mir selber abhanden gekommen. Meine Glieder schritten aus. Ich wurde getragen. Mein Wille hockte sonnenverschlafen in einem Winkel des Gehirns. Zuweilen lächelte er in einer Erinnerung, an der ich nicht Anteil hatte.

Häuser blieben hinter mir zurück. Lange Gitter mit sorgfältig geschnittenen Hecken strichen an mir vorüber. Meine Augen liefen über immer unbegrenztere Flächen. Ueber stumpf-grünen Wiesen wolkte sich trocknendes Heu. Die Kanten der kleinen Waldschneisen spiegelten blau. Ein viel tieferes Blau als der Himmel. Weiche Erde gab nach unter mir. Staub von Feldwegen kräuselte die Sohlen meiner Stiefel. Ein Dorfhund verfolgte mich. Ich war zu eingesponnen, um ihn zu streicheln. Da kläffte er feindselig. Aber die Herbstlandschaft dehnte sich warm und weiblich vor mir und sah mich aus großen Augen an.

Vor einer Dorfschenke aß ich. An einem weißen Holztisch, der unter einer Kastanie stand. 178

Auf einem Heuhaufen schlief ich die leichte Beklemmung des herben Landweines aus. Ich erwachte und wanderte weiter. Es war der Heimweg. Ein kleiner Wind führte mir schwere, runde Wärme dicht über meinen Körper hin. Häuser fingen mich wieder ein. Höher schlug die angesammelte Glut der Mauern an mir hinauf. Ich hatte einen schönen, lachenden Gedanken in mir: du bist eine reife Traube aus einem Weinberg, aber wer wird den Wein pressen aus dir?


Das Haus war offen, als ich am Morgen fortging. Jetzt war es geschlossen. Es wunderte mich nicht. In den Räumen war eine klare und saubere Luft. Die Unordnung meiner abgesonderten Tage war beseitigt. Noch im Abenddämmer sah ich einen Hauch von Freundlichkeit und ordnender Güte über allen Werkzeugen und den Arbeitsräumen ausgebreitet. Ich streifte lässig hindurch, war froh, in meinem Frohsinn nicht gestört zu sein und legte mich schlafen.

Auch diese Nacht hatte keinen Namen und keinen Inhalt. Sie nahm mich hin und trug mich bis an den frühen Morgen, als die Sonne durch die Vorhänge schimmerte. Aber der Tag hatte schon im Erwachen ein anderes Gesicht als der Tag vorher. Er war beweglich, von einer schnellen Gelenkigkeit. Er sprang mit beiden Beinen 179 aus dem Bett, sah sich neugierig um und wollte irgend etwas.

Ich ging schnell und gespannt in meine Werkstatt hinunter. Es war dort so sauber, so von guter Hand geordnet, daß ich mich fast vorsichtig auf den Schemel kauerte. Etwas feierlich war mir zumute. Ich zog mit verlegenen Armen meine Figuren zu mir heran und ließ sie sich darstellen. An jeder hatte ich eine Enttäuschung. Es schien, als ob ich an jede eine Frage stellte, auf die sie keine Antwort geben konnten, und davon kam eine zögernde, unentschlossene Haltung über alle die Körper. Während sie nach einer Antwort suchten, dachte ich selber über den Sinn der Frage nach.

Bis an die Grenze meines Bewußtseins kam ein helles Gefühl. Dann verschwand es wieder. Es ließ sich nicht fassen und ausrechnen. Aber es lag mir als Form in der Hand und als greifbar zu Gestaltendes in der Bildfähigkeit meiner Augen.

Da griff ich zu einem weichen Holz und schnitt wahllos, aber aufmerksam hinein. Und dann, wie alle Linien von selbst zu einer unaussprechlichen Weichheit drängten, zu einem erregt liebkosenden Spiel mit unerschlossener Rundung, wie alle Biegung sich betonte wie die Spannung des warmen, lebendigen Fleisches, riß es wie ein herbstbunter Vorhang vor mir auf, und über schwer atmenden Früchten des Herbstes beugte sich, rundete sich, 180 wand sich in herrlich geschlossener Form der Körper dieser Frau. Das Hemd, das über ihre Lenden schlug wie ein Segel in Not, war zu einem Schleier gerafft, der spielend, und doch in dienender Unterordnung neben der Form des Leibes einherging. Es waren keine Zäune und keine Hecken vor ihr. Alle Gärten hatten sich zu einem einzigen, aufglühenden Fruchttal zusammengefunden, das langsam hinaufwallte zu den bunten Hängen der Berge. Sie ging durch die Niederungen, schwer, so wie Abgründe an Bergen schlummern, gewaltig in der Knospung, die eine Nacht und ein Morgen aufreifen lassen können. Sie ging unentwegt. Ich verstand nicht, daß sie nicht die Augen hob. Mich befremdete die Dumpfheit ihrer Ahnung, mit der sie unmögliche Wege mied. Ich hatte Furcht, sie würde durch meinen Garten gehen. Ich schämte mich ihrer Nacktheit, da sie doch über mein Verständnis keusch war. Wie sollte ich zu ihr sprechen, wie sie empfangen, wo nichts reif in mir war für diese Reife? Aber sie ging. Sie ging in den Bewegungen der roten Blätter, die von entschlafenden Zweigen fallen. Ging in meinen Garten hinein, über die Astern hin, vorbei an den hellroten Säulen der Malven, hob dann die Augen, braun und schwer, vollgesogen mit tiefen Farben, gegen mich auf. Ich zitterte. Einen Augenblick war ich taumelig. Da war sie vor mir und senkte sich . . . ein Weh biß mit spitzen 181 Zähnen mitten in mein Herz . . . ich wehrte mich . . . schrie auf . . . da sprang Blut aus meinem Arm. Wie eine volle Rose blühte es auf aus der inneren Fläche meiner gehöhlten Hand. Sie zerfloß mir zwischen den Fingern und blühte immer wieder neu auf. Mein Schnitzmesser fiel zu Boden. Es war, als ob sich ein Dorn meinem Fleische entlöste. Ich wollte eine Sekunde lang denken, warum sich mein Blut so bunt verlieren mußte und warum mein Wille nicht wach genug war, mir zu helfen. Aber wie ich gerade erkennen wollte, daß mir ein Unglück zugestoßen sei, stieg aus dem Garten nebenan ein Lied auf, klein, verschüchtert, rund und voll zaghaften Weinens. Aber immer, wenn ein Ton sich senken und beschließend ausruhen wollte, hob ein Pulsschlag ihn noch einmal auf, daß er erhöht schwebte, schwebte wie die Verheißung einer neuen Schönheit . . . und weiter schwebte und sich nicht vollendete und sich verlor, unausgetragen, verhallend, immer, bis zum Vertönen immer auf Erlösung wartete.

Da trug es mich mit diesen Tönen ganz weit fort und die quellende Rose erlosch vor meinen Augen.


In einem roten Bett trieb ich dahin, schwebte, gleitend und ohne Schwere. Da traf ich endlich, wie ich schon entschlummern wollte im Gleichmaß des Fließens, auf einen Widerstand. Eine 182 Stimme schrie, ungefesselt, hoch auf vor Entsetzen. Eine Frau schrie vor Grausen. Eine fremde Frau. Ich wollte die Hand heben und ihr die rote, quellende Rose schenken. Da schrie sie noch einmal, wild, wie wenn Frauen gebären. Da beugte ich mich vor Scham und entschlief.

Und erwachte im Zwielicht eines Morgens, in meinem Bette liegend, müde, zerfahren aus Mattigkeit. Meine linke Hand und der linke Arm lagen in weißen Binden. Gleich im Erwachen fühlte ich ein Bedauern, daß die Rose verblüht war.

Ich konnte nur durch einen schmalen Spalt meiner Augen sehen. Alle Kraft reichte nicht aus, ihn zu erweitern, als ob mein Blut nicht mehr Leben verleihen konnte. Durch diesen Spalt kamen alle Bilder schmal, weich gerafft, wie duftige Aquarelle, zag und durchsichtig gedeutet. Der Raum war unverändert. Vor dem Fenster der grüne Laubbogen. Frühe Sonne in den Leisten der Fensterrahmen. Ein Schurfen aus der Ecke. Ein Hexengesicht unter krausem Kopftuch. Ich zwängte den Spalt der Augen zusammen, bis ich nichts mehr sah.

Lärm kam aus der Straße. Eine Türe schlug unter mir. Ich hörte sie dumpf. Vor meinem Zimmer Worte, Rede und Antwort. Dann ein feiner, herbschwerer Duft über mir. Meine Augen zitterten auf zu einem schmalen Spalt. Mitten hinein fielen die braunen, gesättigten Augen einer Frau. 183 Einer fremden Frau. Aber sie schrie nicht mehr. Sie suchte nach mir. Hilflos vor Angst sah ich an ihr vorüber. Sie suchte näher und brennender. Alles Heil schien mir darin zu liegen, daß sie mich in diesem Augenblick nicht fand. Vorsichtig, daß es nicht sichtbar wurde, ließ ich die Augenlider ganz dicht fallen.

Dann wurde es laut. Der braune Duft entwich, wie zurückgerissen von dürren Armen. Scheltende Stimmen. Widerstreben und trotziges Stampfen. Ein böses Wort, laut von sich geschleudert, verharrte vor meinen Ohren. Ich ließ es durch mein Halbdunkel treiben, bis an mein Bett ein Mann trat, sicher in der Bewegung, gütig im Greifen seiner Hände, die mich erfaßten. Ich wußte schon, daß es der Arzt sein mußte.

Dann überflog ich lange Räume. Ein Schmerz weckte mich. Es tastete jemand an meine Hand und fuhr über meinen Arm. Schärfer nagte der Schmerz. Ich zwang die Augen auf. Wie gelähmt sah ich ein Bild: Auf einem Schemel vor meinem Bette saß Mutter Mali. Sie zupfte mit harten Fingern an dem Verband. Sie verwirrte ihn, zog ihn zusammen, riß an den weißen Fäden, lockerte die Binden, glühte dabei aus der Verzerrung einer bösen Kraft, hob und senkte die Schultern unter dem Zucken einer erregten Zufriedenheit. Dann warf sie alle Finger hart und knöchern auf meinen Arm und preßte mich. Der Schmerz holte mit 184 einem langen Speer aus und stach mir in das Gehirn. Dort zerbrach etwas und nahm mir das Bewußtsein.

Nicht lange. Unter dem übertäubten Wallen des Blutes hämmerte hörbar der Schmerz. Ich sah wieder auf. Ich war allein. Alle Qualen einer Wunde tobten rhythmisch durch meine Adern.

Mein Herz kämpfte, daß es alle Luft an sich riß. Ich lag gefesselt. In mir, über mir wurden Schlachten gekämpft. Ich wurde zertreten. Keiner achtete auf mich. Ich war unsagbar traurig, daß ich sterben mußte. Wenn ich doch weinen könnte! Ich kann nicht weinen. Es ist eine große Leere in mir, die will ausgefüllt sein mit Tränen. Ich will Kind sein und mich über einer Mutter Schoß beugen. Wie hilflos . . . die fremde Frau aus dem Garten . . . ihr Schreiten über des Herbstes schönes Kleid . . . und wie gerufen von meiner Starrheit, die weinen will, kommt ein Schritt zu mir heran. Alles Heil schien mir jetzt darin zu liegen, daß sie mich fand in diesem Augenblick und nicht an mir vorüberging. Aus aller Not zwang ich die Augen, sich zu öffnen. Aus allen Worten baute sich ein Stöhnen vor meinem Munde auf: Hilfe! Hilfe!

Ich sah es durch sie hinzucken, wie ein Erwachen. Auf einer Insel stirbt ein Mensch. Ein Schiff fächelt weiß unter Segeln fern im Blau. Notzeichen aus Rauch und letzter Glut . . . Ich zwang 185 mich zu ihr hin. Erlöschend, fast ohne Kraft . . . Sie hob meinen Arm. Sie staunte über den gewaltsam zerrissenen Verband. Ich fühlte ihre Hand zittern. Wieder schrie sie auf. Aber diesmal ging der Schrei zu mir und überhüllte mich mit Wellen von Mitleid und Zärtlichkeit. Sie senkte sich über mich. Blöcke barsten in mir. Laut schluchzend warf ich den Kampf der Beklemmung von mir und zerfloß friedsam und betäubt . . .

So ging ich langsam durch Traum und Klarheit zu einem endgültigen Erwachen. Meine Wunde schloß sich. Meine Kräfte mehrten sich. Der Tag bekam Form und Rundung. Die Stunden suchten nach einem greifbaren Inhalt. In den Rahmen der Zeit spannte sich Geschehen der jüngsten Vergangenheit: Ein Mann, der in seinem Blute liegt. Eine Frau, die, neugierlüstern vom verbotenen Besuch des letzten Tages, wiederkommt und den Mensch findet. Sie schreit, daß die Nachbarn erregt auffahren. Sie schreit, weil ihr eigenes Herz sich unter Schmerzen umwendet. Die Hexe stiebt herbei, sieht das Unglück, gruselnd vor warmen Schauern des Entsetzens, sieht das Mitleid, aufzüngelnd im Haß bestohlener Eifersucht. Nächtliches Wachen am Bett des Fiebernden. Aus brüchigen Lippen Rufe nach einer Frau, die durch den Herbst wandert. Aufglühen tiefster Instinkte in einer alten Seele, die aus der Nutzlosigkeit ihrer gebrechlichen Tage ungeheure 186 Macht vor sich sieht, Macht, einen Menschen sterben zu lassen oder ihn am Leben zu erhalten. Aber dieser Triumph bricht sich täglich an dem überlegenen Willen des Arztes und dem schwerblütig fließenden Drang der Frau, dort nahe zu sein, wo ihr klopfendes Blut sich gebunden fühlt an das Geheimnis dieses kranken Menschen und die werbende Kraft seiner Seele, die noch durch das Fieber der Umnachtung brennt. Und gegen diesen lebendigen Drang des Weibes lehnt sich die alte Seele auf in Zorn und eifersüchtigem Verlangen, den letzten Schatz, der das Leben und Sinnieren wertvoll macht, sich zu erhalten, oder ihn aber in einen Brunnen zu werfen, wovon niemand ihn wieder heben kann. Wellen des Machtgefühls schäumen in ihr, wie sie spielend die Riegel lösen will, die zwischen den Toren des Lebens und des Todes hängen. Nicht Mörder sein, der tötet, sondern Gott sein, der ein Leben verlöschen läßt.

Aber das Uebermaß der Verzückung lähmt sie. Im frühen Morgen hockt sie, bleich verzerrt, festgeschmiedet auf dem Sessel und stöhnt den gebundenen Kräften nach, die sie nicht zu Ende kommen lassen mit ihrem Werke. So wird sie vertrieben, wie die Frau den Dienst des Tages übernimmt. Sie muß in der Nacht vollenden. Aber da ist es zu spät. Wie sie am Abend kommt, stehen ihr zwei Menschen gegenüber, der Arzt, der 187 alles weiß, und die Frau, die sich wie mütterliche Heldin vor die Gefahr stellt. Die Alte, feige und verworfen im tiefsten Grunde ihres Wesens, flüchtet und bettelt um Schweigen.

All dieses Wissen fiel in eine Zeit, in der ich noch viel schlafen mußte in meiner Mattigkeit. So wurde es kein tiefes Entsetzen. Es wurde nur ein befreites und glückliches Aufatmen. Ich träumte über Stunden hin. Die Frau sorgte für mich. Ich erlebte schon wieder Bilder und lebendige Geschöpfe. Die Frau war in Stille und gütiger Heiterkeit in meinen Räumen. Sah sie mich dunkel, so schwieg sie wie ein Bergsee. War ich hell und innen aufgeheitert, war sie ein versonntes, summendes Gewässer unter Weidengebüsch. Sie war ein Spiegel, der mich trank. Im Wachen und im Halbdämmern formte und bildete ich. Dabei gingen ihre Bewegungen in meine Vorstellungen über. Jeder Schritt wurde mir zu körperlicher Form. Wenn ich erst ganz wach sein würde, mußte sie mir unter den Händen entstehen.

Bis ein Tag kam, da hatte ich Heimweh nach meinen eigenen Geschöpfen. Ich sah sie in den Ecken der großen Werkstatt, durch dessen Scheiben die Herbstsonne schon erkältender strahlte. Zuweilen des Nachts hatte ich sie weinen gehört. Es genügt nicht, daß wir unsere Werke schaffen. Wir sind Väter. Sie leben mit uns, neben 188 uns, sie wollen unsere Liebe haben, unser Verständnis, unser Mitgefühl – und unsere Verzeihung, wenn sie anders reifen, als wir sie erstrebten.

Eines Morgens stand ich auf, von einer fiebernden Geschäftigkeit getrieben. Ich überwand das Zittern der Schwäche, das hinfällige Taumeln des aufrechten Ganges. Ich kleidete mich an. Wie ich auf das leere Bett zurücksah, verstand ich nicht mehr, wie das Gestern war, und warum es gewesen war. Ich ging hinunter, die Hand eng an das Geländer der Treppe geschmiedet.

Wie ich vor der Türe der Werkstatt war, überfiel mich eine mutlose Mattigkeit, eine Furcht, die nicht zu beschreiben ist. Hände waren nach mir ausgestreckt, die mich zurückhielten. Stimmen riefen mich an, fremde, nie vernommene. War es trotzdem mein widerstrebender Wille? War es dumpfe Hartnäckigkeit? War es die verfallene Schwere meines Körpers, die sich gegen die Türe stemmte ?

Ich weiß nicht. Ich stand mit einem Male im Raum, in dem Geruch von Holz, mitten in der hellen, kühlen Sonne des Tages. Vor mir auf meinem Arbeitsschemel, wie Mittelpunkt einer ganzen Welt von Farbe und Leben, saß die fremde Frau.

Wir erschraken voreinander, unfaßbar gehetzt von diesem Begegnen. Figuren fielen aus ihrer 189 Hand. Sie saß darüber gebeugt. Aus ihrem Erschrecken heraus beugte sie sich noch tiefer zusammen, fiel sie, stürzte sie in sich zusammen mit einer unerträglichen Bewegung der Furcht und der dumpfen Ergebenheit. Alles an ihr rundete sich zusammen. Aber es war nicht die Rundung des Beschließens und Ausruhens, es war das Verzagen eines Menschen, die Furcht eines Körpers, das dumpfe Beugen unter ein Joch, ein geprügeltes Tier, darüber man einen Knüppel schwingt . . . ein Tier . . . ich sage Ihnen . . . unmenschlich deutlich ein Tier! . . .

Ich tastete mich zurück. Entsetzen umspannte meine Gelenke. Es wimmerte etwas in mir: wie kann ein Mensch so gebeugt werden! Wie kann eine Seele so tief im Joch liegen!

Mir war es ein Schlag in mein Gesicht. Wie soll ich alles das benennen, was in mir in Aufruhr war? Ich fühlte Mitleid mit mir selbst, daß so tiefe Beschämung auf meinem ersten Wege lag. Ich war verzweifelt über das Anschauen einer Gebärde, die Abgründe verriet. Als wäre ich in einen Sumpf geraten, wehrte ich mich gegen die Umstrickung dunkler Gedanken. Ich haßte diese Frau, um dieses Sichbeugens willen, um dieser furchtbeladenen Schwäche, um dieser entsetzlichen Demütigung wegen, die sie sich bereitete.

Ich zog mich die Treppe hinauf. Ich warf mich über das Bett und drückte mein Gesicht in die 190 Kissen. Ich sah vor den flimmernden Augen einen Hund, kahl, mit räudigem Fell, auf der Erde liegend, die Augen weiß vor Feigheit; ein Zittern lief über sein mageres Rückgrat, die Pfoten schleppten sich über den Boden, er zog eine feuchte Spur hinter sich, er heulte laut und grell, er wartete auf den Schlag, der ihn treffen sollte und winselte und heulte und kroch in Schmutz und Kot . . .

Ich mußte mich an das Fenster retten; ich mußte kühle Luft atmen. Ich hätte mich sonst erbrochen vor Ekel.

Da sah ich sie im Garten stehen. Sie hatte den vollen Zweig eines der Birnbäume zu sich herunter gezogen und um ihre Schultern gerundet. Die reifen Früchte lagen wie ein Kranz auf ihrem Nacken. Sie sah über das Land. Sie stand leblos. Wenn ich die Augen eng machte, war sie nicht mehr Mensch. Sie floß als Farbe und Form zusammen mit den lebendigen Gebilden meines herbstlichen Gartens. Wieder sprang meine Phantasie auf wie ein gesporntes Pferd, und ich sah sie gleich den Früchten meiner Bäume reifen und übervoll vom geschlossenen Kreislauf des Lebens zur Erde sinken und . . . sich vollenden.

Voller Trauer wandte ich mich ab. Wie böse doch noch der Herbst in meinen Gedanken und in meiner Seele stand. Woher hatte ich den Mut genommen, einen Tag lang unbeschwert und 191 traumselig durch das Land zu wandern und das Getragensein vom Duft des reifen Bodens als Glück zu schlürfen?

Da sang die Frau im Garten. Ich mochte nicht hinsehen, aber meine Ohren waren offen. Sie sang dasselbe Lied. Ich wußte jeden Ton, der kommen mußte. Ich fühlte, das Lied war schon in mir, ich konnte ihm nicht mehr ausweichen. So folgte ich ihm.

Während ich müde zum zweiten Male an diesem Tage die Stufen hinunterging, empfand ich das Geländer wie eine rotbraune Hecke an meiner Seite. Die Werkstatt offen. Ich sah mich nicht um. Die Gartentüre offen. Ich ging hindurch. Die Bank unter dem schwer lastenden Baum. Sie sah sich um und ihr Lied brach ab. Es zerbrach in dem Ton, der am Ende des Liedes hallt und hallt und nicht sterben will. Sie ging mir schnell entgegen, faßte meine Schultern und drückte mich auf die Bank nieder. Nun sie vor mir stand, ihre Augen weit offen wie immer, wenn sie sich zu mir neigte, war sie größer als ich, und ich hatte Furcht.

»Du hast ein Lied gesungen,« wehrte ich meiner Beklemmung.

»Ja.«

»Du hast es schon einmal gesungen.«

»Wann?« 192

Ich wies auf meine weiße Hand. Sie errötete langsam und staunte groß mit weichen, warmen Blicken.

»Damals, an demselben Tage?«

»In derselben Sekunde.«

Da legte sie ihre Hände wie zwei Schalen über ihre Brüste, straffte sich in einem langen Atem, senkte den Kopf in den Nacken, ließ ein Lächeln, voll, unendlich gütig, über ihrem roten Mund sich sonnen und ging fort, langsam, über den Rasen, durch die Werkstatt, entschwindend; ein Duft, der entgleitet, ein unbeirrbares Schreiten, das tiefen, dunklen Gesetzen gehorcht. Die Haustüre klang. Ich war allein.

Ich lehnte mich an den Stamm des Baumes. Früchte hingen über mir. Sie schreckten mich nicht. Ich entschlief.

Ich erwachte. Es dämmerte schon. Bertel stand vor mir, ohne daß es mich erstaunen machte. Sie nickte mir zu. Sie faßte meine Arme und wollte mir beim Aufstehen helfen. Aber ich war schon meinen alten Kräften wieder näher und erhob mich schneller, als ihre Fürsorge es erwartet hatte. Sie stutzte. Ich sah, wie ihre mütterliche Güte, die einem kranken Menschen zu helfen glaubte, ins Leere stieß, und wie ihre Sicherheit schwand. Nun sie nicht mehr Mutter sein konnte, wurde sie Weib. 193

Wie aus halbem Pflichtgefühl faßte sie leise meinen Ellenbogen. Wir gingen die Treppe hinauf. In dem Wohnzimmer war der runde, kleine Tisch gedeckt. Auf dem blütenweißen Tuch standen die blauen Schüsseln aus Mutters Küche. Aber es war für zwei Menschen aufgelegt. Zwischen den beiden Tellern standen Herbstastern in einer tiefblauen Schale. Die Lampe hing mitten über dem Tisch. Es surrt leise in dem Docht. Das Licht war warm wie ein guter Abend.

Ich versank in dieses Bild. Da ging Bertel mit eiligen Schritten vorauf, legte Messer und Gabel auf einen Teller und wollte ihn forttragen. Ich fühlte ihre leise Scham, daß die Gemeinschaft mit dem gesunden Menschen nicht mehr so mütterlich nahe sein konnte, wie mit dem kranken, der keinen wachen Willen hat. Ich ging ihr nach, nahm ein Stück des weißen Brotes, das in dem geflochtenen Korbe lag, und legte es auf ihren Teller. Sie sah mich nicht an. Aber sie zitterte an allen Gliedern. Sie stellte das Geschirr zurück und setzte sich.

Es war eine stille Mahlzeit. Unter dem lebendigen Licht, das tiefe Schatten in unsere Augen warf, saßen wir schweigsam und in einer tiefen Befangenheit. Unsere Sprache war bedeckt von dem schweren Klopfen unserer Herzen. Wir fühlten die Fremdheit unserer beider Leben und die dunkle Zufälligkeit des Beisammenseins. Wir 194 fühlten ferne Fäden unser Tun lenken und uns gegenüberstellen auf der Bühne des Geschehens. Not und Schicksal dröhnten für Sekunden laut mahnend im Hintergrunde.

So müde machte uns das Wachsein der kurzen Minuten, daß wir aufstanden wie von einer schweren Arbeit. Beide trugen wir Leid umeinander und um uns selbst. Und wie das Leiden uns beide zu zitternden Menschen machte, die Sehnsucht hatten nach der Genesung von einem verhaltenen Siechtum, nahm sie mit einer nie geschauten Bewegung des Verstehens meinen Kopf in ihre Hände und küßte mich.

»Gute Nacht, Peter.«

»Bertel! . . . Gute Nacht.«


Die Tage, die jetzt kamen, waren zwiespältig geteilt zwischen Beklemmung und Freude. Ich wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Aufträge kamen. Alltag überzog mich. Erwerb stellte sich fordernd ein. Ein Zurücksinken in gewohnte Bahnen des Unwesentlichen bereitete sich langsam vor.

Mutter Mali kam wieder. Sie trug die feige Unbefangenheit verworfener Menschen zur Schau. Sie sorgte sich um mein Befinden. Sie ordnete mein Haus. Sie lobte und bewunderte meine Arbeiten. Ich haßte sie wie früher . . . und wartete auf sie wie früher. Von Bertel sprach keiner ein 195 Wort. Mir war es nicht notwendig, von ihr zu sprechen. Nicht einmal an sie zu denken muß mir notwendig gewesen sein, denn wenn ich es heute ansehe, aus dieser unendlichen Entfernung, durch diesen gläsernen Raum hindurch, dann scheint mir, als sei Bertel nur ein Zufall gewesen, der meinen Willen lenkte, ein Gedanke, der meine Bilder formte, der meine Hand führte; ein Anhauch von unbekannten Ufern her; ein Streicheln Gottes über die Wunde dessen, der nach der Gestaltung von Werken ringt . . .

Eines Tages hielt ein Wagen vor meiner Tür. Es klopfte an meine Werkstatt. Ein Mann trat herein, hochgewachsen, aber wie gewaltsam geduckt unter einer leidvollen Schwere, die seine Schultern nach der Brust zu rundete und den klar umrissenen Kopf tief in einen großen Pelz senkte. Er stützte sich auf einen Stock. Seine Augen waren wie die ausgebrannten Fenster eines Schlosses.

Es ist gleich, wie er hieß, und wo er wohnte. Er wollte Arbeiten von mir haben. Er sah mein Widerstreben und wurde dringlicher. Er begann zu erzählen.

Er wohnte in einem großen Hause. Ein Park rund um offene Räume, die nach vielen Menschen begehren. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Die Frau verlor sich in der Geselligkeit 196 der weiten Räume. Sie verfiel einem Menschen, der sie ohne Bedenken aussog in wenigen flammenden Stunden und sie zurückließ, ausgehöhlt, ohne Kraft und Willen. Der Mann zürnte ihr nicht. Er verblutete sich langsam in abwehrender Trauer. Sie entfloh mit den Kindern. Jahre trennten sie. Dann waren sie aus der Qual der Entfernung einander wieder zugewachsen. Briefe kreuzten sich, die um Heimkehr flehten und Heimkehr verhießen. Die verlassenen Räume lebten wieder auf. Der Mann wartete. Er wartete Tage und Wochen. Es kam nichts, keine Botschaft, keine Nachricht. Er wartete Monate. Alle Spuren waren unwiederbringlich ausgelöscht. Er wartete, jeder Tätigkeit entsagend, jeden Gedanken auf die endliche Heimkehr gerichtet. Er saß in den weiten Räumen und wartete, Sommer und Winter, bis ihm das Frösteln die Glieder hinaufstieg und sie sich krümmten und verbogen. Die hellen Wände seiner Räume schmerzten ihn. Er bat, ich sollte ihm diese nackten Wände bekleiden, daß er noch ausharren könne, in der einzigen Pflicht seiner Tage: im Warten auf die Frau.

Es schnitt mir mit vielen Messern durch die Seele. Ich konnte nicht sprechen. Ich verriegelte die Gartentüre, legte ein Tuch über meine Figuren, nahm meine Mütze vom Nagel und ging mit ihm hinaus. Wir fuhren in seinem Wagen fort. Die Fenster klirrten. Durch das einförmige 197 Geräusch hörte ich sein verborgenes Weinen der Befreiung.

Es begannen einzigartige Tage des Schaffens. Hölzer, von denen ich sonst nur geträumt hatte, kamen unter meine Hand. Ich schuf Leben aus ihnen. Sie breiteten sich aus: Täfelungen, Balken, Gesimse, Füllungen, Bogen, Gewölbe, Körper, Tiere, Früchte, Blumen, Engel und Götter. Es lebte wie aus tausend Wäldern; es bevölkerte sich wie eine Erde nach den Schöpfungstagen. Bewegungen verglitten unter Sonne. Stimmen hoben sich aus der Freude der Werke.

Ich arbeitete bis an den Rest meiner Kräfte, Tag und Nacht. Kürzer wurde die Sonne. Kälter stürmten die Tage. Aber immer weicher und vertrauter rundeten sich die Räume. Ich schöpfte Atem, um noch das letzte einzufügen, was aller Wohnlichkeit und Wärme die Ausgleichung geben sollte.

In diesem leeren Augenblick aber überwand ich das Schicksal des anderen. Was mich bis jetzt bedrängt hatte, war das Leiden eines Mannes, der in eisiger Vereinsamung auf die Erfüllung seiner Tage wartete, und dessen Befreiung durch Wärme und Liebe meine Pflicht war. Nun ließ es mich los. Nun stand ich vor mir selbst und besann mich zu mir zurück.

Ich ging in den Park, zum ersten Male in den langen Wochen. Ich hatte eine große Spanne Zeit 198 ohne Bewußtsein übersprungen. Die Bäume waren kahl. Schneidende Winde heulten durch den Forst. Blaugrau und tief deckte sich der Himmel. Zögernd, wie voller Mitleid, rieselte erster Schnee vertraut über das Land.

Eine tiefe Wohligkeit erfaßte mich. Versunken war aller Herbst. Was kümmerte es mich, daß ich das große Fragen von Reife und Verwesung nicht gelöst hatte. Wenn nur zwischen meiner Sehnsucht und meinen Werken keine Hürde stand, wenn nur die Freude am Schaffen sich nicht brach an den Kanten des Gehirns.

Ich fand mich wieder zu einem Lachen voll sommerlicher Heiterkeit. Ich saß vor dem offenen Feuer des Kamins und sah Frühling und junge Knospen in die Flammen hinein. Dabei arbeiteten meine Werkzeuge ohne Unterlaß. Sie eilten hinter meinen Bildern her, sie einzuholen und zu gestalten.

Novemberstürme sangen vor meinem Fenster. Und eines Tages sangen sie ein Lied. Es klang auf, klein, verschüchtert, rund und voll zaghaften Weinens. Aber immer wenn ein Ton sich senken und beschließend ausruhen wollte, hob ein Pulsschlag ihn noch einmal auf, daß er erhöht schwebte, schwebte wie die Verheißung einer neuen Schönheit . . . Ich flog auf. Der Block polterte zu Boden. Ausgelöscht waren dunkle Reihen der Tage hinter mir, Tage, in denen ich 199 fremdes Schicksal zu tragen geglaubt hatte . . . und trug doch nur meine Furcht und das Lied, dieses unausgetragene Lied, und das heiße Bemühen, seinen ruhelosen Ton aufzufangen und ihn sanft zu seinem Frieden zu geleiten.

Ich litt ein Heimweh, das keinen Namen trug und keine Richtung hatte. Ich arbeitete, und während ich vergeblich zu denken trachtete, welcher Sinn dieses letzte Werk führen sollte, stand Bertel wartend vor meinen Augen, ganz überschüttet mit Tränen, singend und voll trauernder Verlassenheit. Ich beugte mich zu ihr hin. Ihre braunen Augen waren offen und spiegelten den Himmel. Ich sah tiefer hinein und sah mich selbst. Ich sah ihre bleiche Stirn. Ich küßte sie unendlich oft, damit Wärme des Lebens sie rötete. Ich sang ihr Lied. Ich sang es mit jenem letzten Ton der fahrenden Sehnsucht und ließ diesen Ton sich beschließen in märchenhaft bunten Träumen. Ihre Starrheit löste sich und wurde bewegt. Ihre toten Arme glitten an mir hinauf und faßten meinen Kopf. Ihr Blut sprang über in meines, und so groß war die Seligkeit des Träumens und der Erfüllung, daß meine zitternden Hände an sich selber den Halt verloren.

Das Feuer im Kamin war nahe am Erlöschen. Es zuckte mit bläulichen Flammen. Ich sah das unvollendete Werk in meiner Hand. Ich konnte es nicht vollenden. Nach dem Erleben solcher 200 Nähe durfte kein Werk entstehen mit unfertigem Können. Und ehe ich noch mit mir selbst im Klaren war, warfen meine Hände das Bildwerk in die knisternden Scheite. Funken sprühten. Neue Nahrung belebte die Glut. Eine helle Flamme sang um die halbgerundete Form. Ich wandte mich ab und fühlte ein Weinen unter meinen Augen.

Ich ging in den Park. Kalte Winde erweckten mich. Das Dunkel lag wie mit schweren Tüchern über den Wegen. Ich tastete hindurch, noch hilflos, ohne Entschluß. Ich dachte an Heimkehr.

Langsam hellte sich die Nacht, wie wenn unruhige Lichter spielten. Ich suchte nach dem Mond, der hinter Wolken zog. Da fiel mein Blick auf das Schloß. Fahle Röte stand in den Fenstern. Fackeln zuckten auf. Ich stand entsetzt. Immer neue Lichter schwelten unruhig und feindlich. Brand! schrie es in mir auf. Ich wollte vorwärts stürzen, schreien, retten. Hilflos, wie gelähmt, hielt es mich an einem Baum. Ich wollte mein Mitleid zur Hilfe rufen, daß meine Werke zerstört wurden, meine Furcht und Anklage, weil ich selbst die tote Flamme im Kamin achtlos belebt hatte. Es half mir nicht. Glühender standen die Fensterrahmen, lauter gebärdete sich die Glut. Auf brach das Dach mit den Funken eines Meteors. Groß und gewaltig stießen die Flammen glutsprühend in die schwarze Nacht. Alle 201 Mauern lebten, die Türme, die Mansarden, die schweren Erker. Ein Märchen flammte von einer Wunderinsel. Leuchtend weitete sich der Himmel zu einer rosigen Kuppel. Kein Laut brach in die Symphonie des großen Brandes. Schwer und steilrecht wie die Glut aus tausend Opferaltaren lohte es auf zu Gott . . .

Stundenlang verharrte ich auf derselben Stelle. Die Röte des Brandes vermischte sich mit der Röte der aufsteigenden Wintersonne. Da wurde das Bild klein, Rauch quoll aus der Brandstätte. Aller Sinn der großen Flamme war ausgelöscht. Um die geschwärzten Mauern mühten sich lärmende Menschen. Da löste sich meine Starrheit. Ich ging mühsam fort.

Ich wanderte über schneeverstäubte Landstraßen. Wiesenhänge glitzerten in der Sonne. Zweige funkelten wie mit Silber bestreut. Ich hatte kein Gefühl für Raum und Zeit. Ich ging Stunde um Stunde. Erst als ich die Türme unserer Stadt sah, weckte mich die Sehnsucht nach meinen eigenen Räumen zu schnellerem Gang. Ich hastete. Ich lief. Warm schlug das Blut in mir. Ich war in den Straßen. Bekannte Menschen staunten und grüßten. Ich sah an ihnen vorüber. Ich stand vor meinem Hause. Eine fremde Freude schüttelte mich. Die Türe stand offen. Ich ging durch den Flur. Die Werkstattüre ist angelehnt. Hinein. 202

Bertel richtet sich auf von meinem Schemel. So wie ich sie in meinem Märchen gesehen habe. Sie wacht auf wie aus einem Tode. Mein Herz tut einen gewaltigen Schlag.

»Peter, kommst du?«

»Bertel! . . . Ja.«

Ich küßte unendlich oft ihre Stirn . . .

 

Bertel hatte keine Heimat. Sie wußte ihren Geburtsort nicht. Irgendwo in den böhmischen Wäldern zog ein Karren mit Musikanten, schwarzen, hageren Menschen, geteilt zwischen der Weichheit ihrer Kunst und der Roheit ihrer ungebändigten Tage. Sie waren nicht eigentlich Zigeuner, aber sie unterschieden sich von ihnen nur durch eine gewisse äußere Haltung, die dem fernen Bewußtsein bürgerlichen Herkommens entsprang. Sonst zogen sie auf dem Karren Jahr aus Jahr ein durch die Ortschaften, Wanderer aus gehegter Gewohnheit, Künstler aus ererbtem Blut, Diebe aus dem Instinkt der Friedlosen, Tiere aus ihrer ewigen Nähe zur nackten Natur. Ihre Männer glühten den Weibern in den Dörfern nach, ihre Frauen hungerten von Ortschaft zu Ortschaft auf die Peitsche einer neuen Manneskraft. Waren sie wieder auf der Wanderung, verwies Eifersucht und Familiengesetz jeden streng zu seiner Gemeinschaft. Sie liebten ihre Familien, aber nach kurzen Tagen schon 203 klagte das Gebundensein an den engen Kreis und das Fernsein von neuem Erleben des Blutes mit weichen Liedern und endlos getragenen Melodien über das Lagerfeuer der abendlichen Wälder. Aus diesem Kreislauf ihrer Herzen erwuchs ständig erneut eine klare Flamme ihres verschütteten Künstlertums und ließ die Menschen bang aufatmen vor Beklemmung, wenn sie im nächsten Dorf ihre Kunst darboten.

Einer von ihnen hatte eine Tochter. Diese ging eines Abends durch ein Dorf. Es waren die Monate ihres Erwachens. Aus der engen Nähe der Karren wußte sie bis zum Ueberdruß genau um das Tun erregter Menschen; aber sie wußte nicht um das Erlebnis. Dem ging sie nach, offen und ohne Scham. Die jungen Burschen der Sippschaft umdrängten sie, boten sich an, priesen sich an. Sie verwarf alle, nicht aus Stolz, sondern weil sie aus unklarem Drang nach Schönheit Gestalten und Hoffnungen in sich gebildet hatte, deren Wirklichkeit sie mit hartnäckiger Klugheit erstrebte.

Sie bekam allmählich eine gesteigerte Gewißheit, daß ihr ein außerordentliches Erlebnis vorbehalten sei. Sie fand es, so wie es alle Menschen finden, die daran glauben und sich dafür aufsparen.

Sie ging eines Abends durch ein Dorf. Erblickte abseits ein großes Licht. Ging querfeldein 204 darauf zu, mitten durch die Saaten. Uebersprang eine niedrige Steinmauer und stand vor der offenen hellen Tür eines breiten, gedrängten Gutshauses. Sie ging ohne Zögern hinein. An einem runden Tische saß eine dürre Frau mit ledergelber Haut und las in einem großen Buche. Bei dem Geräusch der Eintretenden schrie sie auf, mit einem peinlich schrillen Ton, und schob das Buch von sich. Sie rief einen Namen, einen seltsamen und fremdklingenden Namen. Aus einer Seitentür kam ein Mann, unwillig und ohne Hast. Sein junges Gesicht trug die Verbitterung einer langen Knechtschaft. Wie er das Mädchen sah, entspannten sich ihm alle Furchen des Ausdrucks zu einer breiten Welle von erschreckender Blässe. Er wollte etwas sagen, zu der Frau, zu dem Mädchen. Sein Arm hob sich nutzlos. Ein Aufschrei des Erkennens in ihm nahm ihm die Worte. Das Mädchen sah es und streckte bettelnd die gekrümmten Finger aus. Er wühlte in seiner Tasche. Geld klirrte. Sie nahm es und griff dabei verstohlen unter seine zitternde Hand. Es war der Kaufschilling einer verfallenen Seele.

Das Mädchen ging zu den Karren zurück. In der Nacht heulten die Hunde und warnten vor Dieben. Das Mädchen hörte schleichende Schritte kommen und sich entfernen. Sie dehnte alle Glieder und ließ sich in schweren Schlaf fallen. 205

Im nächsten Dorfe erkannte sie unter den Zuhörern freudig aufschreckend den fremden Mann. Er sah zu ihr hinüber und rührte sich nicht. Sie schloß die Augen und wiegte sich nach den neuen Melodien.

Der Mann folgte ihr durch viele Dörfer. Sie gab ihm kein Zeichen des Erkennens. Seine Kleidung wurde abgerissener, seine Haltung dumpf und ermüdet. Wie sie ihn einmal dicht unter dem Licht einer Fackel sah, trug seine Miene wieder die Verbitterung einer langen Knechtschaft. Sie weinte und fühlte sich schuldig. Aus Mitleid und Bewunderung reifte ihr die Stunde des Erlebnisses. Am nächsten Morgen war sie verschwunden. Nach langen Wochen stieß sie wieder zu ihrer Truppe. Der fremde Mann kehrte in sein Dorf zurück. Sie trafen sich nicht wieder.

Das Mädchen hatte die Heimkehr verzögert, bis sie aus ihrem überschwenglichen Glück die Gewißheit hatte, empfangen zu haben. Von der Stunde an raffte sie gleich den anderen Frauen jede zufällige Vereinigung vom Wege auf, weil sie sich ihres Besitzes sicher fühlte.

Das Kind, das zur Welt kam, nannte sie Bertel.

So hatte Bertel eine Geschichte, schon ehe sie geboren wurde. Sie hatte keine Geschwister, weil die Mutter es nicht wollte. Die Mutter blieb dem Gedanken an ihr Erlebnis treu, aber sie vergaß, 206 daß ihr Kind das Zeichen dieses Erlebnisses sei. Auf einem Gutshofe, dessen Bau in ihr die alten Vorstellungen aufweckte, trank sie sich nach einer wilden Verschwendung von Liedern und Melodien zu Tode.

Bertel blieb auf dem Gute. Sie wurde Dienstmagd. Sie wuchs heran, ohne Hemmung, doch vor dem Aeußersten geborgen durch die reine Weiblichkeit ihres Wesens. Aus angeborener Unrast wechselte sie oft den Dienst. Endlich war sie Zofe in einem alten gräflichen Hause. Der Graf, etwas brüchig in seiner Kraft, aber ausdauernd in seinem Willen, zog sie mit Freundlichkeit und Wohlwollen langsam zu sich herüber, bis sie den letzten Ueberfall nicht einmal mehr als Gewalt empfand. Sie gehörte ihm an ohne Anteilnahme, aus der Unterordnung des Dienenden. Aber davon war eine wache Aufmerksamkeit in ihr Blut gekommen, ein Aufhorchen mit allen Sinnen und Nerven. So wach und voll gespannter Erwartung wurde sie, daß sie ihm von da an Widerstand entgegensetzte, den er nicht brechen konnte. Er wurde brutal und laut. Er wurde gemein in der Offenkundigkeit seines Zweckes. Sie schrie auf vor der Gefahr. Die Frau kam hinzu. Noch in ihrer Gegenwart beharrte der Mann blindwütig auf seinem Willen. Die Frau verlor die Fassung und trümmerte ihm eine schwere Karaffe auf den Kopf, daß er blutend 207 zusammenfiel. Bertel sprang aus dem Bett, über den zuckenden Körper hin, durch die Türe, die Treppe hinunter, schreiend, wahnsinnig vor Entsetzen, über den Hof, über Felder und Gärten . . . über die Hecke hin . . . über den schönen, reifen Herbst . . . ich wärmte mich in der Sonne . . . Herbstfrüchte hingen . . .

Sie fiel mir zu wie eine schöne, reife Frucht. Ich erwachte eines Morgens, nach einem verhetzten Tage voller Menschen und Förmlichkeiten, und sah sie neben mir liegen, leise atmend, die Arme über den Kopf geschlungen, ein seltsames Bild von Vollkommenheit und Rundung. Ich staunte sie lange an, bis ihre Augenlider unter meinem Blick zitterten und sich hoben. Sie lächelte. Ihr Lächeln war zwingend, stark und geschlossen wie ihre Hingabe. Ich hörte ihr Lachen immer wiederkehren wie ein kleines helles Gewässer. Es entzückte mich. Ich sah ein Mädchen an einer Quelle hocken, mit Bertels Gliedern, mit Bertels Zügen. Ich formte das Bild, als ob ich in der Werkstatt säße. Jetzt wollte ich dem Gesicht das Lächeln geben. Es geriet mir nicht. Es wurde eine Verzerrung zwischen Schmerz und Unlust.

Ich sah zu Bertel hinüber. Ihre Augen waren wieder geschlossen, aber sie lächelte noch. Ich sah sie aufmerksam an. Dann schloß ich selbst die Augen und formte an meiner Figur weiter. Wieder glitt das Messer aus und kerbte das Gesicht 208 zu einer fürchterlichen Maske von Alter und Schrecken. Ich sah Mutter Mali, wie sie vor meinem Bette hockte und ihre Grausamkeit sich an mir verästelte . . .

Dieses war das Erwachen nach meiner Hochzeitsnacht. Voller Sorge und Befremden hockte ich auf meinem Arbeitstisch. Dort oben, hinter den weißen Gardinen des kleinen Zimmers, schlief eine fremde Frau. Eine Frau mit einem Lächeln, das ich nicht deuten konnte. Was meine Hände nicht bilden können, gehört nicht in mein Herz. In den Stunden im Schloß, als alle Gedanken an sie durch meine Fingerspitzen strömten, liebte ich sie. Nun hatte ich Furcht vor ihr.

Ich schalt mich. Ich vergalt ihr dieses untreue Denken durch tausend kleine Aufmerksamkeiten. Sie dankte es ewig und ewig durch das tiefe, warme Lächeln. Bei all ihrem Tagewerk sang sie. Immer dieses Lied der nicht endenwollenden Sehnsucht. Es war der schwingende Ton, der auf Erlösung wartete. Die Erinnerung an Wälder und nächtliche Feuer, die im Blute strömte . . .

Dieses Singen war es, vor dem ich Furcht hatte. Unendlich oft in den Tagen und Wochen lauerte ich ihr auf, versuchte sie zu überraschen und die Tiefe zu erkennen, aus der sie so sang. Oft gelang es mir. Sie sah einen Vogel durch kahle Aeste hüpfen. Sie sang das Lied. Sie sah sturmgefüllte Wolken vor grauer Himmelswand 209 einherjagen. Sie sang das Lied. Ein Strahl kalter Wintersonne fing sich durch die Fenster in einer irdenen Schale. Sie lachte und sang das Lied. Zuweilen aber gelang es mir nicht. Sie sang und ich überflog ihre Räume, ihre Kleidung, den Himmel, die Straße, den Garten. Ich forschte nach dem sichtbaren Anlaß und fand ihn nicht. Ich verstand ihre Melodie nicht. Sie quälte mich tief und unaufhörlich.

Da bekam ich Heimweh nach meinen verbrannten Kindern in dem einsamen Schloß. Ich zwang mich wieder zu meiner Arbeit. Alte Bilder lebten auf. Ich mußte eine nackte Frau bilden, die an einer Quelle hockt. Wie fügsam mir die Form in den Händen lag. Wie durchlebt sich jedes Glied darstellte. Ich zitterte vor Glück. Aber das seligste, das Gesicht, ließ ich mir bis zuletzt. Ueber dem vollendeten Bau des Körpers stak eine ungefüge, kantige Form: das unerlöste Haupt.

Es fügte sich nicht dem Tage und der Sonne. Es wartete auf Nacht und auf das geheimnisvolle Anspringen von flackerndem Licht. Es wartete auf Schweigen und auf das eintönige Sausen des Windes in schwarzen Baumkronen. Es wartete auf ein inneres Gesicht, um Antlitz zu werden. Und als es vollendet war, wurde aus dem lebendigen Wesen ein Mensch. Diese hockende Frau war Bertel, Erinnerung aus glühenden 210 Winternächten, Offenbarung tiefer Heimlichkeiten und Eingeständnis meines Glückes.

Ich rief nach ihr. Sie kam. Feierlich und mit einem sonnigen Lächeln. Langsam, spielend, um mich an ihrer Erwartung zu freuen, zog ich das Tuch von meinem Bildwerk. Sie erschrak. Sie legte die Arme über die Brust, und ihr Lächeln schwand. Statt dessen trat in ihr Gesicht eine seltsam fromme Innigkeit, eine Gläubigkeit wie vor dem Wunder eines Sakramentes. Ihre Augen wurden tief. Zögernd streichelte sie mit spitzen Händen den Körper. Immer und immer wieder.

»Das ist eine Heilige,« sagte sie mit Ehrfurcht. »In welcher Kirche wird sie stehen? Ich will hingehen und dort beten.«

Abgründe rissen plötzlich auf zwischen ihr und mir. Sie stand jenseits einer Schlucht und ihre Stimme jubelte fromm wie eine Lerche in den Himmel. Ich aber stand diesseits und schlug hart gegen die Erde, um sie singen zu machen. Während mir dumpf der Widerhall der unendlichen Welt zurückkam, sangen ein Gott und eine ganze Welt aus ihr und in ihr.

Ich schenkte ihr das Bildwerk. So habe ich sie nie jubeln hören. Sie stellte es zu Häupten unserer Betten. Sie sagte ihr Vaterunser davor am Abend und am Morgen. Sie sprach mit ihm, wenn sie sich allein glaubte. Zuweilen, wenn die Nächte sich wie rote Feuerräder um unser 211 Zusammensein drehten, warf sie auflachend den Kopf zurück und grüßte ihre Heilige.

Dieses war das erste Werk meiner Hände, das ich verlor, und das mir entglitt. In der Folge geschah es öfter, daß ich Bildwerke schuf, aus meinem Herzblut und aus meinem Suchen nach Bertels Seele, und sie stand davor und gab ihm einen Namen, der aus ihr entsprang und nicht aus mir. Endlich war ich so weit, daß ich ihr nichts mehr zeigte. Es war niemand da, der sie rief und benannte. Kennen Sie das Gefühl, vor den Werken namenloser Meister zu stehen? Wenn man aus dem Entzücken über diese Offenbarung der Kunst mit einem Male nach dem Menschen sucht, dessen Blut diese Eingebung erlebte, und die Augen sind schon lange tot und nicht einmal der Name kann gerufen und in Dankbarkeit gesagt werden, und eine Trauer packt uns an, wie ein Schöpfer von seinem Werke wegstirbt, und wir wissen nicht, wie er dabei gelitten hat . . .

Ich faßte eines Tages einen Entschluß und ging zur Mutter Mali. Sie erkannte, daß sie wieder Gewalt über mich gewinnen würde. Sie kam wieder ins Haus, gab Ratschläge, war bescheiden und von einer zufriedenen Unterordnung. Bertel bat ihr insgeheim alle bösen Gedanken ab und wurde aufrichtig gut zu ihr. Ich sah es nicht ungern. Ich lebte nur noch in meiner Werkstatt. Ich brauchte unendlich viel Raum und Zeit für mich. 212

Endlich, nachdem alle Vertraulichkeit des Nachbarlichen wiederhergestellt war, kam Mutter Mali in meine Werkstatt. Ich saß in einer Ecke und rührte mich nicht. Sie ging zu dem Tisch, wo alle meine Werke schon auf sie warteten. Lange schwieg sie. Meine Nerven spannten sich unerträglich. Sie tastete über das Holz mit ihren brüchigen Fingern. Meine Hand zuckte nach einem Hammer, um ihr den Arm zu zerschlagen. Sie sah es. Sie zog sich noch härter in sich zusammen und drehte langsam die Figuren, um das Licht von allen Seiten zu haben. Ich zitterte vor Haß. Meine Mundwinkel schmerzten vor der Verzerrung der Wut. Da nahm sie triumphierend die Gestalt eines knienden Weibes in ihre Hände und drückte sie wie überschäumend an ihren unsagbar häßlichen Mund. Ich warf meine Hände über die Augen, um meine Mordgedanken auszulöschen . . . aber ich wußte, es durfte keine Bewegung mehr von ihr kommen, oder ich würde ein schweres Holz nehmen . . .

Auch sie erkannte, daß es genug war. Sie drehte sich zu mir um und sagte: »Peter, du bist ein großer Künstler geworden.«

Warum betrog mich dieses Wort? Ich wußte, daß es falsch war und von Absicht geleitet. Aber doch war es mir die Erlösung aus all meiner Not. Ich hatte eine Sekunde des Ausruhens. Die Dinge 213 waren wieder gesagt worden. Sie hatten einen Namen. Sie lebten . . .

Die helle Sonne kam über den Schnee aus dem Garten und strahlte zu meiner unermüdlichen Arbeit. Das Feuer prasselte im Ofen. Ich lebte in schönen und erregenden Gedanken. Unendliche, nie erträumte Formen sollten vor mir entstehen. Ich sah Menschen zu einem Hause pilgern, darin eine große, runde Halle war. Kein Stein war in diesen Räumen zu sehen, alles war Holz, warmes, lebendiges Holz. Nichts sollten die Menschen in diesen Räumen tun, als umhergehen, dort auf einer Bank sitzen, am Kamin hocken, in einer Fensternische lehnen, sich über ein Geländer beugen, sich gegen eine menschenumrankte Säule stützen. Sie sollten nur schauen, alle, die in ihren Räumen frieren, alle die Kranken, die sich in ihren vier Wänden verlieren, alle die Bleichen aus der Verlassenheit ihrer toten Wohnungen . . .

Ich zeichnete einen großen Plan. Das Papier knisterte unter meinen Händen. Tag und Nacht verloren ihre Grenzen. Alle Menschen verloren ihre Nähe. Gottvater kann nicht einsamer und beglückter gelebt haben als ich in diesen Tagen der Schöpfung. Zuletzt schlief ich auch des Nachts auf dem Arbeitstisch. Die große Form wuchs. Umrisse gestalteten sich. Einzelheiten sprangen hervor. Unerschöpflich entstiegen mir Gedanken, 214 bis alles bis zum kleinsten Raum hin gefüllt und erfüllt war.

Ich saß vor dem fertigen Plan und konnte mich nicht erinnern, je anders als so ganz allein, nur für mich gelebt zu haben. Aber in die leere Wölbung meines Schädels tasteten sich langsam Geräusche des Alltags hinein. Ich hatte eine ferne Vorstellung: Mutter Mali. Ich hatte ein plötzliches Erschrecken: Bertel! Eine Furcht befiel mich. Wo ist Bertel? Eine Scham kam über mich, eine Reue. Es war ein Suchen und Nachsinnen in mir, und dann stand sie vor meinen Augen, ganz überschüttet mit Tränen, singend und voll trauernder Verlassenheit, wie ich sie am Kamin des reichen Schlosses zum ersten Male sah. Und zugleich stand meine Liebe zu ihr warm und wundervoll wieder auf, so daß es mir schien, als wäre das Ringen aller dieser Tage nur ein Kämpfen gewesen um den Weg zu ihr. Inmitten meines Planes, über dem schweren Balken einer Türe, stand Erzvater Jakob und rang aus seinen tiefsten Kräften mit dem Engel des Herrn, während aus schwer geballten Wolken schon das verheißende Licht der Segnung sich befreite. War nicht dieses schon der Ruf meines Herzens nach der Segnung durch ihre Liebe?

Ich riß die Türe auf. Ich rief in das dämmernde Haus hinein. Es war ein ungeformter Ruf, der sich durch das Halbdunkel wälzte, und den eine 215 schwere Stille aufsog und verschlang. Dann huschte Bertel die Treppe hinunter, bleich und erschreckt, ein schweres Tuch um die runden Schultern geschlagen. Sie sah mich übernächtigt und verwildert und weinte auf vor Sorge. Ich aber faßte sie und zog sie zu mir hinauf, daß ihr Gesicht in meinem Haare lag. Sie umklammerte meinen Kopf und sprach dumpf und stoßweise:

»Ich bin allein . . . es ist niemand, der mich findet . . . kalt ist mir, ganz kalt . . . wenn du wüßtest, wie mich friert . . . wie ein Wald friert mich . . . wie ein Baum . . . o . . .«

Ich hielt es nicht aus. Ich legte ihr die Hand auf den Mund und trug sie in meine Werkstatt. Ich drängte ihr Gesicht über den großen Plan und ließ sie schauen. Ihre Augen waren leer und weit geöffnet. Tränen fielen langsam, und war doch kein Zug des Schmerzes in ihrem Gesicht. Ich wartete, daß ihre Augen sich beleben sollten vor der Glut meiner umrissenen Gedanken. Sie blieben leer. Eintönig und unausgeglichen wie ihr Lied klagte sie vor sich hin: »Wie ein Wald friert mich . . . wie ein Baum . . .«

Da schmerzte es mich tief, daß ich allen Menschen Wärme geben wollte, und ganz dicht neben mir war ein Mensch, dem es kalt war wie einem winterlichen Wald.

In der Folgezeit arbeitete ich nicht. Ich ging kaum von ihrer Seite, soviel hatte ich wieder 216 gutzumachen. Ich erzählte ihr von meinen Wanderfahrten. Wir besahen Bilder zusammen. Einmal gingen wir auch zu einer wandernden Truppe.

Am Morgen waren Ausrufer durch die Stadt geritten, bunt in Flitter, mit Fanfaren, denen sie an jeder Straßenecke schmetternde Töne entlockten. Zwei schlanke braune Männer und zwei schlanke braune Frauen. Wir lagen zusammen im Fenster und sahen die bunte Maskerade durch die Wintersonne reiten. Bertel sah ihnen nach, solange sie konnte.

Am Mittag, als wir an unserem runden Tisch saßen, legte sie langsam den Löffel in den Teller und träumte über die weißblanken Fensterscheiben hinaus, verträumte sich, und begann zu singen. So singen Wintervögel, wenn ein Hauch von Frühlingswinden sie anrührt. Ich hielt mich ganz still vor Freude. Meine Lerche sang wieder. Mir war so dankbar zumute, als wäre mir etwas Gutes geschenkt worden.

Ich nahm die Mütze vom Nagel, sagte kein Wort und ging zum Wirtshaus, wo die Ausrufer warteten und Eintrittskarten verkauften. Ich erstand zwei davon. Wie ich zurückkam, hockte Bertel am Fenster auf dem Boden und hatte den Kopf auf die Knie gelegt. Wieder stand schmerzlich und quälend das Bild eines geschlagenen Tieres vor mir. 217

Aber ich hielt mich im Zaum. Ich schob ihr die grünen Karten unter die Hände.

Wie ein Gelächter quirlte sie auf. Ihre Formen erschlossen sich wie eine Wunderblume. Sie jagte durch das Zimmer, lachte vor Entzücken, ahmte Tierstimmen nach, versteckte sich und rief mich mit tausend Schmeichelnamen.

Bis zum Abend war sie maßlos erregt. Sie schmückte sich, daß ich sie nie so schön gesehen habe als an diesem einen Tage.

Vor den Zeltpfosten hingen bunte Lampen und spielten mit farbigen Reflexen über den Schnee. Menschen trieben sich lachend und erwartungsvoll umher. Aus den grünen Karren huschten dicht vermummte Gestalten und verschwanden in den Zelten. Ein Ausrufer schlug ein klirrendes Blechbecken. Eine Schiffsglocke hämmerte. Hunde jagten dazwischen. Kinder neckten einen Bären, der zur Schau gestellt war und sich mißmutig auf seinen großen Tatzen schaukelte.

Dann begann die Vorstellung. Ponys stäubten in die Manege. Zwei blasse Kinder hielten sie in Schach und sprangen von einem Rücken zum anderen. Wie kleine Elfenbeinfiguren huschten sie über die braunen Croupen. Ein Clown mit einem bösen Blick trieb sich dazwischen umher und fiel immer wieder in den gelben Sand. Rundes, breites Gelächter verfolgte ihn. Dann kamen vier Männer, die sich wie Bälle warfen und fingen, sich 218 verknäulten, als wären sie ohne Knochen im Leibe. Ein Schimmel, stolz aufgezäumt, trabte herein. Die Musik schwieg einen Augenblick, Erwartung machte sich breit. Zögernd entstand eine Falte im Vorhang. Schwarzes Dunkel klaffte dahinter. Dann schoß aus der schwarzen Höhlung hellweiß eine Frau. Ich mußte ihr entgegenrufen vor Schönheitsfreude. Da fühlte ich Bertels Hand auf meinem Arm. Ich wachte auf, vergaß die weiße Frau und lachte begütigend.

Bunt, in immer drängenderer Fülle kamen die Darbietungen. Bis der Direktor peitscheknallend in die Mitte trat und die Versammelten ersuchte, sich nicht zu erschrecken, wenn sogleich das Licht für einige Minuten gelöscht würde. Man möge sich auf eine große und schöne Ueberraschung gefaßt machen und nicht die Geduld verlieren.

Emsig wurden die Lampen ausgeschraubt. Fahler gingen die Lichter über die graue Leinwand. Schatten huschten und jagten sich. Die Sitzreihen fielen eine nach der anderen in fahle Schatten zurück. Man lachte. Frauen kreischten. Schabernack wurde getrieben. Der Clown lief noch einmal in einem langen, weißen Hemd, eine Stallaterne vor sich herschwingend, durch die Manege und rief nach seiner Mutter. Ausgelassenes Gelächter. Dann war das Dunkel vollkommen. 219

Die Stimmen schwiegen. Das Stroh unter den Füßen raschelte noch einmal auf. Dann verschwand auch das. Ein guter Geruch kam von den Stallungen. Ein Seil knarrte. Irgendwo schlackerte ein loses Zelttuch. Dann war die Stille tief und wie mit hohlen Händen zu schöpfen. Sie wälzte sich schwer über das kleine Rund. Sie brauchte lange Zeit, um sich zu lagern und von den lauschenden Menschen Besitz zu ergreifen, bis sie sie fest und unentrinnbar in der Gewalt hatte. Ich mußte meinen Arm um Bertels Schulter schlingen, so sehr zitterte sie.

Auch mir wurde es langsam unheimlich und schwer. Aber da kamen schon die ersten Geräusche. Man ahnte, daß irgendwelche Dinge in die Manege gestellt würden. Eine Kette klirrte kurz, über den Sand schurfte und raschelte es. Ein Gehen und Kommen, ganz behutsam.

Endlich, wie die Spannung schon zelthoch gestrafft war und eine Unruhe drohend in der Luft lag, glomm inmitten der Manege ein kleines, schwaches Lichtpünktchen auf. Es wurde größer, knisterte und sprühte leise, wurde eine schmale, blaue Flamme, die unter trockenen Holzscheiten aufschwelte, über sie hinwegsprang, unter einen schwarz verrußten Kessel schlug und nun plötzlich, verhalten aufleuchtend, ein ganzes Bild entschleierte: 220

Im Hintergrunde, von blauen Schatten eingefangen, stumpfe, hohe Säulen, als wären es lebendige Bäume. Zweige hingen tief, nachtbeladen davon herunter. Sie überragten eine Reihe niedriger, in halber Höhe über den Boden gepflöckter Zelttücher, an seltsam wirkliches Buschwerk angedrängt. Unter den Zelten, vor den Zelten, daneben, nahe am Feuer, rot überschienen, halb verhüllt von Schatten, aus weichen Umrissen kaum erkennbar, lagerten und kauerten Menschen, Frauen und Männer, farbig gekleidet, dunkelhaarig, ein blankes Blitzen in den Augen. Die Flamme vervielfältigte jedes Gesicht und jeden Ausdruck, löste die unbewegte Ruhe auf, ließ die Menschen durcheinander taumeln, während sie doch reglos dalagen. Trauer ging von ihnen aus, Kälte und Feuchtigkeit eines windgeschüttelten Waldes. Wege lagen hinter ihnen ohne Erinnern, Wege vor ihnen ohne Ahnung, Zeit neben ihnen, Dunkel über ihnen . . . bis ins Herz fror dieses Bild der Heimatlosigkeit.

Dann begann unter dem niedrigen Zelt eine Geige zu singen, süß und schmerzvoll. Sie rief nach irgend etwas. Eine zweite Geige antwortete. Die erste hielt jäh erschreckt inne. Dann entflammte sie und grüßte den Gefährten. Als sie sich gefunden hatten, dämpften sie sich in der Zwiesprache, und während man noch glaubte, sie tauschten die Erinnerungen ihrer Wege aus, 221 hatte schon langsam eines das andere vergessen und war, von neuer Sehnsucht gepackt, eigene Straßen gegangen. Da erst bekamen sie neue Genossen. Die ganze Unrast der fahrenden Menschen schien lebendig zu werden. Immer neue Stimmen. Immer neue Melodien. Lauten dumpften dazwischen. Frauen sangen hoch und vertönend. Männerstimmen lagen wie breiter, weicher Grund unter aller Musik. Jede Stimme floh die andere, aber wie unabwendbares Schicksal fügten sie sich doch immer wieder zusammen, und je mehr sie die Gemeinsamkeit fürchteten, je mehr sie sich härmten nach neuem Erleben für ihre eigenen Herzen, desto zwingender bannte ein Zauber ihre Gesänge zu einem einzigen, großen Liede aus Trauer, Wehmut und Trotz und Wildheit und Verlangen des Blutes.

Ich weiß nicht, wie lange mich diese Flut der Melodien überschüttete. Ich ging mit ihnen auf die Straße meiner Wanderschaft. Ich fand mich wieder in meinen jungen Tagen von Zweifel und dumpfer Sehnsucht und Träumen und Künstlerwollen. Ich ließ mich tragen und konnte lange, lange Wege rückwärts gehen.

Dann verstummte eine Stimme nach der anderen. Zuletzt sang noch die erste Geige, müde, schlafsehnsüchtig, nach Ruhe verlangend und voll Verheißung nächtlicher Träume. Sie starb mit dem verzuckenden Lichte des Lagerfeuers. 222 Stille und Dunkel kehrten wieder ein. Es blieb still und dunkel. Kein Licht wurde mehr angezündet. An einem schneidend kalten Windzug spürte ich, daß das Zelt geöffnet wurde und die Menschen langsam und befangen durch die Nacht heimkehrten.

Wie ich seitwärts tastete, war Bertel verschwunden. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich ließ mich vom Strom der anderen hinausdrängen und stand unter einem klaren, sternenbesäten Himmel.

Ich ging ohne Hast. Licht kam durch die Butzenscheiben einer Schenke. Ich trat ein und trank einen Schoppen Wein. Er wärmte mich und lag mir wohlig in den Gliedern. Ich trank noch einen. Wenn ich das Glas ansetzte, lebten die wunderbaren Melodien wieder in mir auf. Wenn man ein solches Singen formen könnte! Dieses Singen der vielen Stimmen. Dieses Lied, klein, verschüchtert, rund und voll zaghaften Weinens. Aber immer, wenn ein Ton sich senken und beschließend ausruhen wollte, hob ein Pulsschlag ihn noch einmal auf, daß er erhöht schwebte, schwebte wie die Verheißung einer neuen Schönheit . . .

Das Glas zitterte mir plötzlich in den Händen. So war Bertels Singen! Bertels Sehnsucht, die ich mich unterfangen hatte, zu beschließen und 223 zur Ruhe zu bringen. Jetzt wußte ich, warum sie nicht mehr neben mir war.

Langsam ging ich nach Hause. Oben aus den Fenstern kam noch Licht. Ich ging leise hinauf. Bertel saß in einer Ecke, den Kopf an die Wand gelehnt, von einem fremden, unfaßbaren Lächeln verschönt. Sie sah mich nicht an. Sie erwiderte meinen gedrückten Gruß nicht. Ich sah, sie war mir entschwunden. Sie duckte sich nicht mehr, und daran sah ich, wie verloren an irgendeinen Gedanken sie war. Ich wußte mit einem Mal, daß dieses Singen der Heimatlosen ihr Grüße gebracht hatte von der Heimat ihrer Seele. Sie kam von dort, wo der Sinn des Lebens sich selber trägt in der Kette von Tagen und der ewigen Folge von Sehnsucht und Hoffnungen. Wo das Blut sich erneuert in unbewußtem Verlangen nach Wärme und Liebe, und wo die Freiheit aufklagt selbst vor den lindesten Fesseln und aus aller Bläue der Ferne neue Verheißungen des zitternden Erlebens sich eröffnen.

Hoffnungslos sah ich die Kluft zwischen uns sich ins Bodenlose aufreißen. Müde sah ich meine Hände niedersinken an einem ungetanen Werke. Da griff ich, wie zu einem Anker, noch einmal zurück zu meinem großen Plan unten in der Werkstatt. Hier sah ich den letzten Weg, daß wir uns einer dem anderen restlos eröffnen konnten, um 224 mit eng gefaßten Händen unseren Weg zu Ende zu gehen.

Ich rief sie an, daß sie aus ihrer Versunkenheit erwachte. Sie folgte mir mit den zögernden Schritten, mit denen sie meine Werkstatt betrat. Wir beugten uns über den Plan. Ich erklärte jede Einzelheit. Ich erläuterte und beschrieb. Sie folgte aufmerksam, hatte Freude an vielem einzelnen, fand manches unschön, was ich ihr im stillen zugeben mußte, wollte hier eine Rundung und dort eine weiche Linie. Aber wie ich zusammenfassend ihr das Ganze darstellte, den Sinn, den großen Gedanken des Raumes, da wich sie wieder in sich zurück und folgte mir nicht. Um so eifriger sprach ich auf sie ein. Suchend glitten ihre Augen in die Winkel. Sie schlug das Tuch enger um ihre Schultern, und während ich mühsam und hoffnungslos Worte auf Worte türmte, klagte sie wieder ihre alte Klage auf: ›Wenn du wüßtest, wie mich friert . . . wie ein Wald friert mich . . . wie ein Baum . . .‹

Wir legten uns schlafen. Vor meinen offenen Augen stand das Viereck des Fensters geisterhaft schwach von der Nacht abgehoben. Die Zeit fiel langsam durch ein Sekundenglas. Ich sah zu Bertel hinüber. Sie hatte ihren Kopf ganz weit zurückgebogen, daß das Weiße ihrer Augen leuchtete, und sah zu ihrem Madonnenbilde hinauf. Ich fühlte, wie ihre Lippen zitterten. Ich fühlte, wie 225 sie verzweifelt sich in dem engen Kreis ihrer Natur bewegte und alle Grenzen so dicht geschlossen fand, daß es keinen Ausweg gab, wenn nicht ein Mensch von außen kommen wollte, um in dem Rosenhaag ihrer Seele eine Bresche freizulegen. Aus dem Nachklang der Lieder des fahrenden Volkes aber war in mir alle Sehnsucht des Märchenprinzen, die goldene Krone aus dem Brunnen zu holen und sie meiner Königin auf das Haupt zu setzen.

Die Stunden liefen. Beide lagen wir wach und leidend. Ich suchte nach Brücken. Sie formten sich immer deutlicher in mir, so daß es mir schien, ich hätte sie schon gestern und ehegestern geahnt, und nur mein Blut war zu sehr in sich selbst gekehrt gewesen, um alles richtig zu begreifen.

Ich schloß die Augen und suchte nach ihrer Hand. Sie ließ sie mir. Ich beugte mich über ihr Ohr: ›Bertel, wenn wir nun nicht allein wären . . .‹ Ihre Arme ergriffen mich unendlich weich und mütterlich.


Der Frühling kam. Wolken wanderten rastlos den ganzen Tag. Ueber dem knisternden Schweigen des Winters wurden viele Stimmen laut. In den Nächten orgelte der Sturm aus allen Registern von den Bergen her und wußte kaum noch, welches Lied er sang. Er sang es endlich nur 226 noch um seiner selbst willen, wegen der Kraft und der Unbändigkeit, wegen der Gewalt und aller Schönheit. Er wußte nicht, daß Häuser zitterten vor seinem Anprall und Herzen vor seiner Umarmung. Er hatte die Augen geschlossen und schlug seinen riesengroßen Leib voll und unbeherrscht über die nasse Erde. Sie schrie, aber er schrie vielfach stärker. Sie dröhnte, aber sein Erdbeben überklang alles. Er hatte nicht Acht darauf, daß er einmal sterben müßte vor wärmerer Sonne. Er lebte und hatte sein Reich und sein Königtum und verschenkte sich königlich bis zum Verlöschen.

Wir saßen dicht zusammen und hatten Freude an der Schönheit dieser Majestät. Wir dachten in den gleichen Bildern. Wir sprachen in den gleichen Worten. Wir wußten nicht, daß wir jemals nebeneinander gelebt hatten.

Der Schnee zerfloß. Aufgedecktes Land atmete. Die Sonne zog steilere Kreise und verkürzte die Nächte. Länger dehnten sich die Tage und verlangten, aufgefüllt zu sein. Ich schnitzte an einer Wiege. Sie sollte so reich werden, wie keines Fürsten Kind sie je besessen hatte, reich an guten, frommen Wünschen und schönen Bildern. Ein Relief von weichen, warmen Kinderleibern lief ringsherum, und weil Bertel so inständig darum bat, gab ich auch zum erstenmal der Farbe 227 einen breiten Raum. Wie ein Sommerglück strahlte das kleine Werk.

Als die Wiege fertig war, nahm Bertel sie zu sich hinauf, und nun saß ich unten mit müßigen Händen. Bertel nähte an ihren Erstlingssachen. Bald saß Mutter Mali daneben und es gab geheime Aussprache. Nachbarinnen kamen hinzu, erregt und hilfsbereit. Die stillen Türen klappten auf und zu. Ein neuer Kreis des Lebens begann dort für sich. Ich empfand es freudig und mit Aufmerksamkeit. Aber bei diesem wartenden Abseitsstehen glitt ich unbemerkt wieder in die Vereinzelung meiner früheren Tage zurück.

Ich verbrachte Stunden über der Erinnerung an meine Wanderjahre. Ich ging durch einen lichten Frühling an der Ponalewand des Gardasees. Ich bedauerte die ungezählten Heiligen auf dem Dom zu Mailand. In Verona strichen wir scheu durch pinienumwachsene Gärten. Venedig floß wie ein weiches, von Licht gelöstes Relief an mir vorüber. Eine Taverne an der Appischen Landstraße . . . vergessene Kirchen . . . überwachsene Ruinen . . . Frühling und Sonne und Blumen und das ungehemmte Sichentfalten in der ganzen Natur . . .

Stimmen riefen nach mir. Ich nahm meinen Wanderstock aus der Ecke und ging fort. Die feuchten Wände der Häuser, die tropfenden Dächer, in denen die Sonne funkelte, grüßten mich 228 ganz heimlich, denn sie waren tief mit sich selbst beschäftigt, hatten zu lauschen und zu horchen auf das Singen des Erwachens und hatten nicht viel Zeit für mich. Die jungen Knospen waren mattgrün in sich zusammengefaltet und hatten gleichsam Augen, die voll Erwartung nach innen sahen. Ich kam mir vor wie ein einsamer Mensch. Alle Dinge waren ganz sich selber zugekehrt. Alles hoffte; alles wartete auf den Frühling. Alles neigte sich zu den steigenden Säften des Lebens und hauste ganz still für sich. Wohin ich auch ängstlich suchte, alles war vor mir verschlossen in derselben Gebärde. Selbst die ersten Felder vor der Stadt trugen diese abgerundete Beschaulichkeit. Aber da schlug mich der erste leise Frühlingswind an. Er ging mit ungeformten Kinderhänden über meinen Körper und mit einer jungen Stimme über meine Ohren. Er sagte etwas, das nur Kinderherzen verstehen oder die tief Aufmerksamen unter den Menschen.

Dem ging ich nach. Aber mein Glaube, daß der Sinn dieses Frühlingsliedes sich mir von Mittag bis zum Abend erschließen würde, trog. Scham verwehrte mir, jetzt heimzukehren und mit halbem Empfinden dazusitzen und zu warten. So ging ich weiter, bis es dunkelte. Ein kleines Dorf nahm mich auf. Es gab einen guten Abendtrunk und ein sauberes, weißes Bett in einem Alkoven.

Ich schlief ein mit der Melodie des Lenzwindes 229 in meinen Ohren. Ich stand früh auf und wanderte weiter. Ich sah blaudunkle Nebel über fernen Wäldern liegen und strebte dahin. Ich schulterte den Stock und sang aus aller Kehle. Aber wenn der Wind mich wieder anfaßte, schwieg ich und suchte ihm sein Lied abzugewinnen.

Gegen Mittag kam ich in eine kleine Stadt. Die hohen spitzen Giebel, wie blankgescheuert vom jungen Jahre, lachten in satten Farben. Ich schaute mich um, bis ich müde war. Dann schrieb ich einen Brief an Bertel, den ersten und einzigen Brief an sie. Um meinen Ranzen bat ich und um das, was ein einzelner Mensch auf der Suche nach dem Niegesagten für sich braucht. Ich wußte einige Tagemärsche weiter südlich eine halbvergessene Stadt liegen, in der ich einmal eines Sommerabends mit anderen Gesellen gezecht hatte. Bis dorthin steckte ich mir ein Ziel. Dort wollte ich Bertels Antwort erwarten. Ich fand alles vor, als ich dahin kam. Auch einen Brief von Bertel, mit großen Buchstaben liebevoll geschrieben. Sie war nicht böse auf mich, daß ich ohne Abschied fortgegangen war. Sie beneidete mich um das Wandern. Sie bat, ich möchte den ganzen Ranzen voll Sonne mitbringen und die ersten Weidenkätzchen und Veilchen, wenn welche sich am Wege finden ließen. Sie erzählte von der Wiege, von dem warmen Schreck, wenn sich das junge 230 Leben in ihr bewegte, von ihren Sächelchen und von Mutter Mali.

Ich fand nichts in der Stadt, was mich an früher erinnerte. Die Enttäuschung war so groß, daß ich weiterwanderte. Ich weiß nicht mehr, wo überall ich gewesen bin. Ich weiß nur, daß aus den wenigen Tagen wenige Wochen wurden. Ich hatte im Umherstreifen das Gefühl bekommen, daß die Verschlossenheit aller Dinge sich allmählich löste, daß die Knospen aufblätterten, die Felder sich erschlossen, daß die Wälder mitteilsam wurden, daß alle Winde offener und vertraulicher zu singen begannen. Und wie ich ging und rastete und mich verträumte und versann, gewahrte ich, daß alle Antwort schon in meinem Grunde fertig lag, und es bedurfte nur einer Welle, um sie hochzuspülen.

Eines Tages, irgendwo am Grabenrand, wo Spiräen weiß leuchteten und stark dufteten, wo Wasserläufer über die kleinen, blanken Flächen glitten, Algen sich zart und zitternd in die schwache Strömung fühlten, lag mir der Sinn meiner Wanderung klar in den Händen: Zeugen wie einer Erde aufwachender Lenz; aus Sturm Trieb wecken in den Tiefen; nicht wissen und nicht fühlen und nicht denken, sondern Gefäß sein voll jungen Weines, Kraft sein, die gären und reifen läßt, Rausch sein, der über die Nüchternheit sich hebt. Psalm sein, der die unheiligen Tage aufträgt 231 in seinen Rhythmus; Gottvater sein aus dem ewigen Drang zur Schöpfung . . .

Mein Ranzen flog über die Achseln. Mein Stecken wirbelte durch die Luft. Ich sprang auf die Landstraße und lief, lief um die Wette mit der zagen Sonne und der sich wärmenden Luft, lief heimwärts, dieselben Wege zurück, machte kurze Rast, wenn ich müde war, ging spät irgendwo schlafen, und war mit der ersten Sonne hoch. Der gleiche Trieb, der mich in die Weite getrieben hatte, drängte mich jetzt heimwärts. Noch wußte ich nicht, zu welchem Zwecke. Aber ich war sicher, daß ich es wissen würde, wenn ich zu Hause war.

Ich erfuhr es früher, als ich gedacht hatte, und anders, als es mir in meinen Gedanken lag. Ich stand in dem Flur meines Hauses und atmete den Geruch des Holzes ein. Wie zum Gruß kam mit einem Male das Singen Bertels. Als hätte sie mein Kommen geahnt und wollte mir sagen, daß sie da sei und auf mich wartete. Mir aber griff das Lied mit Zangen in das Herz. Alle Qual seiner Unvollendung häufte sich über mein Frühlingsdrängen und über das wunderbare Gleichgesicht meiner Seele. Es stand mir vor Augen, wie ich um meiner Werke und um meines Schaffens willen gewandert und heimgekehrt sei, und statt aller Erfüllung warf sich mir dieses Lied auf den Weg, dieses Lied, das sich niemals endete, 232 dieses Lied, das ich niemals überwinden würde, und das ich haßte, haßte . . . oh, ich wußte jetzt, wie sich das Gefühl benannte, das ich dieser Folge von Tönen gegenüber hegte. Es war die Notwehr eines schwimmenden Menschen gegen einen anderen, der sich an ihn klammert. Es war ein Kämpfen auf einer Planke in aufgewühlter See. Aber nicht meine Rettung galt es. Nicht ich, der Mensch Peter Küfer, mußte am Leben bleiben. Aber ich, der Bildschnitzer Peter Küfer, mußte leben, ich, das Geschöpf aus Gottes Hand, das Gefäß einer Sehnsucht, die vom Himmel kam, ich, Frühling im Herzen, Schöpfung im Blute . . . Ich, aus Gottes eigener Hand . . .

Erregt sprang ich die Treppe hinauf. Mein Stock polterte die Stufen hinunter. Das Lied brach ab. – ›Peter!‹ rief eine helle Stimme hinter der Tür. – Wie mir das Herz aufsprang! Wie ein Strom von Güte sich durch mein Blut ergoß! Ich öffnete die Tür und mir fiel ein, daß ich keine Weidenkätzchen und keine Veilchen mitgebracht hatte. Aber wie ich gerade mein Bedauern verdecken wollte mit einem Gruß der Liebe, sah ich Bertel. Sie saß im Winkel in einem Armstuhl. Sie trug ein helles Kleid mit vielen bunten Blumen darauf. Eine weiche und wohlige Müdigkeit lag über ihr. Sie rührte sich nicht. Sie hob mir keinen Arm entgegen. Sie sah mich nur an und lächelte. Dieses Lächeln!, reif, 233 gerundet, voll, in sich geschlossen und strahlend wie eine Frucht bei Sommerausgang.

Das ist der Herbst! schrie es plötzlich auf in mir, Herbst! Herbst! umschlang mich ein Echo aus verborgenen Winkeln meiner Tiefe. Ich zuckte zusammen –. ›Peter!‹ rief Bertel entsetzt. – Herbst! Herbst! brüllten böse Geister in mir. Reife! Verwesung! –

›Peter, was ist dir?‹

Sie legte die Hände auf die Armlehne und wollte sich erheben. – Der Herbst kommt, raunte es mir in den Ohren. Nimm dich in acht! – Ich wollte wieder Gewalt gewinnen über mich selbst. Da war Bertel aufgestanden und kam zu mir heran: ›Peter, Peter, wenn du mir krank wirst! . . .‹ Der Tod kommt! schrie es in mir. Herbst! Tod! – Da drehte ich mich um mich selbst, warf die Tür in die Angeln, lief in meine Werkstatt, schob alle Riegel vor und versteckte mich in dem dunkelsten Winkel.

Damit, Herr Doktor, hob sich der letzte Vorhang auf der Bühne unseres Geschehens. Noch ist er nicht wieder geschlossen. Noch sehen Sie mich dastehen, allein, ungewiß über den Sinn des letzten, schon ein klein wenig fern von allem, was gewesen . . .

Noch am gleichen Tage ging ich wieder zu Bertel hinauf. Sie weinte lautlos in ihrer Ecke. Ich legte ihr meinen Kopf in den Schoß und 234 schloß die Augen. Sie streichelte mein Haar und tröstete mich. Sie fragte nach nichts und nach keinem Grunde. Sie erzählte mit leiser Stimme von allem, was sich ereignet hatte, vom Alltag, vom Feiertag, von sich, von dem Kinde, von Mutter Mali und den Nachbarn.

Ich hörte es nur halb. Ich achtete nur auf den Tonfall ihrer Stimme. Ich verfolgte jede ihrer Bewegungen. Ich suchte nach der Reife, die ich fürchtete. Ich sah unser Kind. Es würde sein wie sie. Es würde so sein, wie seine Mutter es trug, wie ein Tier, dumpf, schwer, sinnend. Es würde leben wie sie, wie eine Pflanze, lächelnd in der Sonne, klagend in Sturm und Regen, starr und leblos im Winter. Es würde ewig dulden und mit sich geschehen lassen. Jeder Fuß würde es zertreten. Jedes nahe und verwandte Blut würde es zum Singen bringen. Es würde von seiner ersten bewußten Stunde an leben wie eine Frucht des Herbstes, nur immer wartend auf seine Bestimmung, zu reifen und zu gebären . . .

Ich sah die dunklen Abgründe, in die ich mich verlieren würde, wenn ich auf diesen Gedanken beharrte. Es gab keinen Ausweg aus dieser Sackgasse der Furcht. Zugleich sprach etwas in mir ganz deutlich von eigener Schuld. Denn wie konnte ich es wagen, ich, der Gefangene meiner eigenen Tage, ich, der Sklave meiner unausgetragenen Geschöpfe, der blinde Sucher nach dem 235 eigenen Ich, die Bürde eines zweiten Menschen auf mich zu nehmen und Führer zu sein in Fernen, die mir selber verhangen waren von Wolken! Um dieser Furcht und um dieser Schuld willen raffte ich mich noch einmal auf zu einem letzten Versuch.

Wieder begannen Tage der Absonderung in meinen engen vier Wänden. Wieder stand ich da, stemmte die Schultern gegen die Enge und wollte sie ausweiten bis in das Uferlose. Wie eine Schildwache stand ich vor jedem Gedanken und vor jedem Gefühl und forderte Parole. Ich forderte Erkenntnis und letzte Klarheit von allem, was in mir war. Ich hieß die Wehmut schweigen und die matte Verzweiflung sich unterordnen. Ich dachte an Weib und Kind, und an die vielen, vielen Tage, die folgen mußten, um ein ganzes Leben auszufüllen. Ein ganzes Leben, Tag für Tag gelebt, ohne Sinn, ohne Wissen von seinem letzten Zweck! Wie das die Hände lähmte. Wie das die Augen matt und farblos machte . . .

Endlich traf alles in einer einzigen, bildhaften Vorstellung zusammen. Ich griff zurück zu der Gestaltung meines letzten Herbstes. Ich nahm eine Holzplatte, so groß, wie ich sie noch nie in meinem Leben bearbeitet habe. Ich sah die Umrisse eines Reliefs hinein. Wieder, wie einst, aus dem schweren, felsigen Untergrund des harten Lebens aufwachsend, ein Mensch, nackt, 236 so nackt, wie uns der Tag in den Tag stellt, so knorrig in der Kraft seiner Muskeln, wie wir noch kraftvoll sind, wenn wir unbeschwert aus unserem Hafen den Horizonten entgegenfahren. Die Hände groß, flächig, bereit, alles zu ergreifen und zu halten, was neben unserem bunten Nachen einherschwimmt, und doch schon etwas ermüdet von der Enttäuschung, wenn etwas Glitzerndes, was uns eine Königskrone schien, sich nur als bunter Tang erwies, durchspielt von den Wassern des Meeres und durchleuchtet von trügerischer Sonne. Und der ganze Körper, von der hohlen Wölbung der Fußsohle bis zum schweren Bogen des Kopfes war einmal in einer einzigen, wunderbaren Linie aufwärtsragend gewesen in den Himmel, und die Arme schlugen wie Schaft der Speere in die Wolken hinein und wollten Gott packen auf seinem Thron. Aber die Weite unter Himmel und Wolken war unendlich gewesen und alle Kraft war irgendwo vergangen und verweht in der namenlosen Weite über uns. So nirgends zur Heimat zu sein mit der Fülle seines Herzens, hatte zuerst den schweren, starren Kopf gebeugt und die Blicke langsam erdwärts gerichtet, hin zu dem Ursprung aller Tage. Und die Melodie, die nicht vom Himmel klingen wollte, atmet leise, durch lange Pausen tiefen und bangen Schweigens unterbrochen, aus dem Innern der Erde wieder. Die Schultern beugen 237 sich vor, um näher zu sein und zu lauschen. Eine letzte, flüchtige Hoffnung strahlt auf, vom Mark der Erde zu erlangen, was die hohen Himmel versagten. Das Knie beugt sich, widerstrebend, in einer seltsamen Mischung von Demut und Verzicht. In diesen Stunden tropft unser Herzblut dunkel und unablässig, denn wer einmal das Knie zur Erde gebeugt hat, und findet seine Sehnsucht nicht und seine Beschließung, der kann sich nie wieder aufrecken zu den Himmeln.

Diese Furcht, zwischen zwei Erlösungen zu schweben, macht aus dem edlen Gleichmaß des Körpers, der nur dem Schönen dienen wollte, die knorrige Windung eines Stammes, der aus Niederungen in die Sonne will. Dieses war das Bild, bis zu welchem ich immer gediehen war. Heute aber hieß es, damit zu Ende kommen, und da der Weg zum Himmel diesem gebeugten Menschen nur noch möglich war durch die warme, fruchtbare Rinde der Erde, rang ich um die göttliche Ruhe des Beschließens und der Vollendung, um der Schuld willen, daß ich einen Menschen an mich fesselte, um der Schuld willen, daß ich einen Menschen zeugte, um der ehernen Selbstsucht meiner Träume willen. Ich arbeitete mit toten Augen. Es lag eine verzweifelte Wucht in dem Beugen des Körpers. Sie kennen die Danaïde von Rodin, diese unendliche Gebärde, bei der man jeden Augenblick erwartet, sie werde den Körper 238 vollends zurückführen zu seinem Ursprung, dem er nie völlig entwachsen scheint . . .

Hier bog mein Werk unerbittlich von meinem Willen ab. Es hatte seine eigene Kraft. Es hatte seinen eigenen Widerstand, der mir nicht folgen wollte. Himmel lebten in ihm, Hoffnung lebte in ihm, nutzlos, töricht und vermessen. Aber es wollte lieber in dieser Torheit verbluten, als sich einer Begrenzung beugen. Es ging nicht in die Erde ein. Es blieb über der Erde. Es lagerte sich dumpf und schwer auf den Felsen. Es lag darüber gebreitet mit seiner Massenhaftigkeit und Fülle, wie hingefällt von einem Blitz, wie von einem Schwert in der Schlacht getroffen. Aber in all der Beugung vor dem Unabwendbaren lag doch noch – ich erkannte es mit einem plötzlichen, heißen Erschrecken – ein unbändiger Triumph, ein durch Blut ersticktes Frohlocken, noch über der Erde zu sein und nicht nachgeben zu müssen. Und wenn es verwesen und verderben sollte, es würde doch oberhalb der Erde bleiben, unter dem freien, blauen Himmel, noch ganz gesättigt mit Träumen und Hoffnungen und noch im Verhauchen mit dem geschwungenen Rücken aufwärts drängend, ein stiller Widerspruch von Heldenhaftigkeit und Torheit.

Das war das letzte, was ich klar empfand. Ich fühlte langsam diesen unheimlichen Gedanken von mir Besitz ergreifen. Mein Wille 239 verdämmerte vor diesem lebendigen Widerstand meines Werkes, das stärker war als ich. Ich sah meine Hoffnungen scheitern. Ich sah den Weg aufgerissen vor mir, mit einer Tiefe, die schwarz, blicklos aus Abgründen schauerte. Alle meine Tage, alle meine Werke stürzten über mir zusammen. Trümmer fielen. Zeiten wurden ausgelöscht. Dinge zerschmettert. Ich war arm, beraubt, nackt. Ich tobte auf vor Wut. Ich nahm ein Messer und stieß in das Relief hinein. Splitter fielen. Der Körper schien zu bluten und zu zucken. Der Kopf spaltete sich. Aber der Rücken, machtvoll gebeugt über undurchlässigem Fels, schrie noch mit seinem Bogen triumphierend hinauf zu allen Himmeln.

Da nahm ich die Platte und schleuderte sie in einen Winkel. Figuren fielen und brachen. Ich stürmte hinauf zu Bertel. Mein Blut kochte vor Verzweiflung und Haß. Ich sah sie im Zimmer stehen, in einem hellen, lichten Morgenkleid, hinter dem runden Tisch, zwischen Blumen und bunten Geschenken, reif, unsagbar reif, herbstschwer und braun, mit einem unendlichen Triumph in ihren aufgeblühten Zügen. Sie sah mich an und lächelte. Ich glaube, sie hat etwas gesagt zu mir. Ich verstand es nicht. Ich sah nur mein Werk wieder vor Augen . . . ich sah Bertel, mit diesem hohnvollen Lächeln der Reife und der Beschlossenheit . . . sie war das Werk . . . es war 240 kein Unterschied mehr . . . Herbst . . . Widerstand . . . Zerschnitzen! Zerschnitzen! Auslöschen! schrie etwas in mir. Ein letztes Weh weinte auf . . . ich riß den Dolch von der Wand  . . . sie sah mich aus großen erschreckten Augen an, ohne eine Bewegung zu machen, ohne sich .zu wehren . . . hören Sie, ohne sich zu wehren!

Und dann war es geschehen . . .«

Peter Küfer schwieg. Eine abgründige Ruhe ging durch die verdämmernde Zelle, getragen und voll von fliehenden Gestalten. Da schlug mitten hinein, wie das Aufhämmern einer ungeheuren bronzenen Platte, die Turmuhr. Langsam und voll kamen sieben Schläge.

Da lächelte Peter Küfer: »Die Frist ist abgelaufen, Herr Doktor . . . Es ist gut so . . .«

Der Verteidiger schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte auf wie ein verwundetes Tier.

Peter Küfer lächelte leise und entrückt.


Nacht kam und tiefe Ruhe. Glocken einer fernen Welt schwangen darin. Sie hallten tief und voll Frieden wider in dem Herzen des Peter Küfer. Er nickte ihnen zu und staunte gläubig. Er legte die Holzplatte beiseite und sah angestrengt durch die bleichen Felder der vergitterten Nacht.

Er sah: Sein Beginnen war nicht ein schneller Ansturm gewesen zu hellen Gipfeln und nicht 241 lachender Sprung in unerschöpfte Tiefen. Es war nur ein Ausbrechen gewesen aus den Hürden des Lebens in eine unermessene Ebene. Grasland floh bis an die Ewigkeit der Horizonte. Nicht Baum, nicht Strauch. In der gelockerten Schnittfläche von Himmel und Ebene kräuselte ein blutrot gesäumter Wolkenvorhang. Wagerecht verlöschende Sonne stellte ihn in Streifen Lichts.

Er sah hinein und fühlte überragend den Ruf der Pflicht in sich, diese Ebene ohne Ende zu durchschreiten, bis hinein in den Vorhang verglutender Abendsonne. Er zog den Riemen fester um die Hüften, faßte noch einmal prüfend sein Ziel ins Auge, tastend, schweifend und erwägend über die keinem menschlichen Maße zugängliche Platte dieser Ebene, schritt dann aus und begann zu wandern. Ferne Glocken hämmerten neben ihm im Gleichklang seiner Schritte.

Er sprach: Wäret ihr eher zu mir gekommen mit eurem Tönen, es möchte sein, daß ich euch gehört hätte. So aber habe ich das Erz in mir zerschlagen, das mit euch hätte singen können bis an den Rand aller Tage. Nun hebt die Nachtfahrt an. Eines großen Meisters Hand wird das Erz meiner Seele umschmelzen zu einer neuen Glocke Klang. Ich werde wiederkehren. Die Seele eines, der schafft, stirbt nicht. Je eher ich gehe, desto früher werde ich wiederkehren. Ich habe Heimweh nach dieser Wiederkehr . . . 242

Im jungen Morgen des nächsten Tages fand man Peter Küfer auf dem Boden der Zelle liegen, verblutet, verschmachtet wie ein Wanderer in der Ebene. Die Pulsader war mit einem Schnitzmesser geöffnet. Eine Holzplatte lag vor ihm. Darauf, über steilem Fels, der Körper eines Menschen. Blut war darüber ergossen. Blut war auch ergossen in die gekrümmte, starre Hand. Im Frühschein leuchtete es daraus hervor wie eine aufgeblühte Rose . . .

 


 


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