Josef Kastein
Josef Kastein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Tod des Alexei

Die Insel Orechow liegt ganz in praller Mittagssonne. Die Newa reibt sich verschlafen an den braunen Ufern und gurgelt zuweilen in unbestimmten Lauten.

Ein Kahn treibt mit dem gelben Wasser, schiebt sich mit der Strömung fort und schaukelt ganz leise nach den hängenden Weidenbüschen. Der Schiffer greift mit der Hand in das Blattwerk, läßt es durch seine Finger gleiten, läßt es wieder entwischen und gähnt und zieht endlich den Kahn hart auf den Sand.

Der Mann, der bislang am Steuer saß, springt an das Ufer und tritt dabei stark gegen den schmalen Bord des Bootes, daß es schwankt.

Der Schiffer schimpft hinter ihm her.

Der Mann hat eine Ledertasche über den Schultern hängen und geht träge und verschlafen die schmalen Sandwege, grauen und gelben Staub aufwirbelnd, zur Festung Schlüsselburg.

Ihre Gebäude schließen sich wie harte, graue Pranken um den offenen Hof.

Ueberall hohes, böses Mauerwerk. Von dorten kann niemand entfliehen. Es gibt keine Sehnsucht 14 nach Freiheit mehr unter den Gefangenen der Schlüsselburg.

Der Mann schlägt verdrossen mit dem Hacken gegen die eiserne Pforte und wundert sich, daß er kaum einen Ton hört, als habe er mit dem kleinen Finger vorsichtig den Stein berührt.

Eine Klappe fällt aus dem Tor. Er wirft ohne hinzusehen einen Brief hindurch und geht zum Kahn zurück.

Der graue Wächter fängt den Brief auf und dreht ihn in den Händen. Er sieht das Wappen der beiden Adler auf der Rückseite und bekreuzigt sich schmunzelnd.

Dann geht er zum Kommandeur.

Der sitzt in einem Sessel und trinkt. Wirre, dumpfe Gedanken schleichen durch seinen Kopf.

»Ein Brief, Exzellenz!«

Der Kommandeur schlägt ärgerlich auf den Tisch: »Schmeiß ihn in den Ofen!«

»Schade um die schönen Adler,« meint der Graue.

»Was unterstehst du dich?« brüllt der Kommandeur. »Du willst den Brief in den Ofen werfen? Und die Adler? He? Ein Brief von oben!«

Der Graue legt den Brief zwischen die Schnapsgläser: »Wohl bekomm's.«

Dann weicht er geschickt dem Fußtritt des Trunkenen aus.

Er geht durch die Gänge. Er muß seine gute 15 Laune irgendwie befriedigen. Darum reißt er hier und dort eine Klappe auf und sieht in die Zellen. Wie ruhig sie alle sind. Wie folgsam. Es macht so viel Freude, sie anzusehen.

Sie sind alle seine lieben Kinder. Er sagt »du« zu allen.

Nur zu dem da nicht, dessen Zelle allein liegt. Natürlich, wenn man Fürst ist! Ungerechte Bevorzugung!

Und nicht einmal eine Klappe ist da, durch die man hineinsehen könnte.

Es sollte keine Standesunterschiede mehr geben, denkt der Graue und rafft sein letztes Wissen zusammen aus der Zeit, als er vom Nihilismus zum Amt des Wärters überging. Aber er dämpft doch den Schritt, wie er an der Zelle vorübergeht und drinnen ein langsames, ruhiges Schreiten hört.

 

Alexei geht in seiner Zelle auf und ab. Mit einem Gleichmaß, das etwas Erschütterndes hat. Mit einer Ruhe, wie sie der rasende Stolz alten Blutes aus lebendigen Menschen stanzt.

Alexei ist aus einem alternden Geschlecht.

Er merkt es an seinem Puls, der ganz ruhig und in sich gekehrt schlägt, an seinen Händen, denen alles Tun lästig und zu viel. Darum sind sie schmal und ganz bleich von irgendeinem Ueberdruß. 16

Sein ganzer Körper ist matt von dem erschöpften Leben seiner Väter her.

Er sinnt. Er wägt alles ab, was er noch aus seinem Leben weiß. Erkennt, daß er sorgsam abwägt, erkennt, daß er nicht mehr in den freien Tag hineinleben mag. Menschen, die auf die Neige gehen, denken zurück und werden sparsam mit dem Eigenen.

Er schlägt die Hände zusammen und will irgend etwas anrufen, den lieben Gott vielleicht oder irgendein anderes Phantom.

Aber er weiß, daß es nichts nützt, sich in Verzweiflung zu stürzen. Die Bilder werden doch nicht farbiger. Er wird nicht reicher.

Es ist immer so, daß zwischen wenigen Tagen der Kindheit und dem Jetzt eine tote, schwarze Lücke klafft.

Irgendwo ein Schloß mit hohen Rundtürmen. Ein Park mit einem kleinen See. Viele Diener und wenige Gäste.

Da lebt Alexei, der Knabe.

Er ist ein Feigling. Wenn die Knaben sich prügeln, flüchtet er in das Schloß und verlangt andere Spielkameraden.

Wenn er allein ist, geht er zuweilen in den Hundezwinger und reizt die großen Tiere, bis sie ihn wütend anspringen und zurückprallen vor seinen harten Schlägen. Dann lacht er wie ein ganz alter Mensch. 17

Er ist mürrisch und schweigsam. Die Dienerschaft haßt ihn, weil er nie spricht, nur immer mit den Augen befiehlt.

Des Nachts steht er heimlich auf, öffnet die großen Schränke, liebkost seine Kleider aus Samt und bunter Seide und spricht mit ihnen.

Bis es dem Hofpopen hinterbracht wird.

Der redet lange und eindringlich zu Alexei von der Unheiligkeit der Dinge und von der Güte des Herzens.

Alexei hört ihm stillschweigend zu und küßt artig seine Hand.

Am nächsten Tage wird der Pope von den großen Rüden gebissen, die aus dem offenen Zwinger über ihn herfallen.

Keiner weiß, wer den Zwinger öffnete. Der Wärter wird bestraft, obgleich er seine Unschuld beteuert.

Alexei geht mit in die Kapelle, um für die Genesung des Popen zu beten.

Er lächelt ganz leise bei dieser Erinnerung.

Er hat seinen Betstuhl ganz vorne unter dem Altar.

Daneben sind zwei reich geschnitzte Stühle, die immer leer sind.

Der eine gehört dem Vater des Alexei.

Der Vater ist tot. Dessen Mutter, die Kaiserin, ließ ihn töten an dem Tage, da Alexei geboren wurde. 18

Seitdem liegt die Fürstin Anna krank und gelähmt in ihrem Sessel und starrt vor sich hin.

Darum sind beide Betstühle leer.

Alexei denkt nicht darüber nach. Er hat keinen Drang, zu fragen. Er geht nur jeden Morgen, nachdem man ihn angekleidet hat, in das blaue Zimmer zu seiner Mutter.

Er tritt an den Lehnstuhl, verneigt sich und küßt ihre Hand, eine grauenhaft tote Hand.

Er berührt sie ganz flüchtig mit den Lippen. Er kennt kaum das Gesicht seiner Mutter. Immer zwingt es ihn, auf die kalkbleiche Hand zu schauen.

Dann, nach einer Weile, öffnen sich die schmalen, verkniffenen Lippen: »Geht es dir gut?«

»Ich danke.«

Sie nickt zerstreut. Er ist entlassen, macht seine Verbeugung und geht.

Dann beginnt der Unterricht. Eine schwarze Frau, die er Madame nennen muß, lehrt ihn schreiben.

Alexei schreibt gerne. Die vielen Buchstaben sind Tiere und Menschen und Farben. Es ist eine Fülle von Gestalten. Hier ist ein ungeheuerliches Tier, das sich auf einen Menschen stürzen will. Der hat die Hände eng vor das Gesicht gepreßt und kann sich nicht mehr rühren.

Alexei atmet schwer. Lächelt dabei. Jetzt wird das Ungeheuer ihn verschlingen. Aber es 19 geschieht nichts. Alles bleibt stehen. Es ist eine Stein gewordene Drohung.

In diesem Bilde wächst Alexei auf. Alles um ihn ruht, lastet. Es ist alles ohne Veränderung.

Die Zeit hat keine Tiefen, die man hinabsehen kann. Ein Tag ist wie der andere.

Aber in ihm ist eine leise, stete Unruhe. Sein Gang trägt ihn. Seine Haltung ist aufrecht. Sein Blick beweglich und doch fest.

Er geht gerne langsam und nachdenklich durch den Park. Aber stets, wenn er sich vom Hause entfernt, ist ein Diener hinter ihm.

So werden seine Bewegungen bald gemessen, unfrei. Er weiß sich immer beobachtet.

Mitunter schüttelt ihn der Zorn, und einmal, wie sie tief im Park sind, hebt er einen morschen Ast vom Boden und schlägt auf den Diener ein, langsam und mit Ueberlegung.

Der sinkt hilflos in die Knie und wehrt sich nicht.

Da glaubt Alexei glühendes Eisen in der Hand zu haben und wirft es schreiend fort.

»Warum wehrst du dich nicht?«

»Ich darf nicht.«

»Warum verfolgst du mich?«

»Ich muß.«

Sie gehen weiter.

Nach einer Weile, demütig: »Fürst!«

»Was willst du?« 20

»Fürst, wenn Ihr mir versprechen könntet, nicht davonzulaufen . . .«

Alexei wehrt mit großer Gebärde ab: »Ich verspreche nichts.«

Seitdem reden sie nicht mehr zusammen. Wie vordem.

Aber Alexei hat begriffen, daß er unfrei ist.

 

Vor der schmalen Pforte am äußersten Ende des Gartens hält ein Reisewagen.

Die Kaiserin schaut gelangweilt durch die großen Scheiben. Sie seufzt.

»Ein Gewissen ist eine unnütze Last,« spricht sie nach rückwärts.

Verbindlich lächelnd küßt ihr der Mann die Hand.

»Ihr lächelt immer, Petrikow,« fährt sie gereizt auf.

»Wer sollte nicht lächeln, wenn Eure Huld ihn begnadet?«

Sie schwingt langsam einen Fächer auf und ab und sagt leise und deutlich: »Ich mag nicht jeden Tag Süßigkeiten.«

Petrikows dunkle Augen glimmen feindselig. Seine Stunde hat geschlagen. Es wird Zeit, daß er zu den Feinden der Kaiserin geht.

Schritte rascheln über welkes Laub. Madame kommt durch die Pforte.

»Nun?« forscht die Kaiserin. 21

»Es geht ihm gut, Majestät.«

Die Kaiserin wird ungeduldig: »Lebt er, oder lebt er nicht? Mehr brauche ich nicht zu wissen.«

»Er lebt.«

»Wie alt mag er jetzt sein?« sinnt die Kaiserin.

»Er wird morgen sechs Jahre alt,« antwortet Petrikow hinter ihr.

Die Kaiserin zuckt. Sie hat verstanden.

»Ihr habt ein sehr gutes Gedächtnis, Petrikow,« sagt sie bedauernd. Da weiß Petrikow, daß es zu spät ist, zu den Feinden der Kaiserin zu gehen.

Ein blitzschneller Griff. Mit einem ziehenden Geräusch fährt ein Dolch dicht neben der Kaiserin in die Polsterung.

»Zu kurz!« lacht sie und springt ganz leicht aus dem Wagen. Petrikow windet sich unter harten Kosakenfäusten.

»Euren Arm, Madame. Es hat mich angegriffen. Ich werde hier übernachten.«

Madame ist schreckensbleich. Aber sie wagt nicht zu widersprechen.

Am Hauptwege treffen sie auf Alexei. Der Diener geht hinter ihm.

In der Kaiserin ist eine ganz ungewohnte Zärtlichkeit. Tändelnd und lachend winkt sie Alexei entgegen. 22

Alexei bleibt stehen, sieht sie einen Augenblick aufmerksam an und macht eine tiefe, gemessene Verbeugung.

Die Kaiserin beißt sich auf die Lippen.

»Du kennst mich?«

Alexei verbeugt sich zustimmend.

»Verbeugst du dich immer?« ruft die Kaiserin gereizt.

Alexei lächelt mit unheimlich tückischen Augen: »Ja.«

»Du bist ein kluger, kleiner Junge,« sagt sie mühsam und hat in dieser Sekunde über sein Schicksal entschieden.

Alexei denkt nach. Dann gibt er mit einer höflichen Gebärde den Weg frei und stellt sich neben die Kaiserin: »Darf ich dich zu meiner Mutter führen?«

Er weiß es selbst nicht, warum er es fragte. Aber in ihm ist eine jubelnde Glückseligkeit, daß ihm die Kaiserin jetzt folgen muß.

Sie gehen zusammen den Parkweg entlang, freundlich plaudernd, Hand in Hand. So sehr hassen sie sich.

 

Madame geht in das blaue Zimmer. Es ist zu ungewohnter Zeit. Die Kranke sieht verstört auf.

Jedes Wort verschlägt ihr im Munde. Endlich sagt sie hart und laut: »Die Kaiserin!«

Bei diesem Klang dehnt sich die Fürstin, als 23 ob ein Funke sich wieder zur Flamme weiten wolle.

Die eine tote, lahme Hand zittert, bekommt Leben und hebt sich zu einer einladenden Gebärde.

Madame geht weinend hinaus.

Die Kaiserin steht auf der Schwelle. Sie hat Alexei immer noch an der Hand. Nachlässig tritt sie vor und erfüllt den stillen Raum mit einer lauten Bewegung.

Sie wird immer sehr schnell in fremden Räumen heimisch.

Die Fürstin sieht sie gleichmütig an. Sie tritt ein, als ob sie einen neuen Geliebten erwarte, denkt sie und verzieht ihr Gesicht hämisch.

Die Kaiserin sieht es. »Anna!« ruft sie laut.

Die Fürstin hat nur noch Augen für Alexei. Das Zittern in ihrem Körper verdichtet sich zu einer Bewegung. Plötzlich steht die Gelähmte aufrecht und macht zwei, drei abgerissene Schritte in den blanken Raum. Ruhig zieht sie Alexei an sich, birgt ihn in ihrem Gewand und sieht die Kaiserin an.

»Noch nicht!«

Die Kaiserin klatscht kindlich in die Hände, als wäre sie in einem Puppentheater.

»Doch,« lacht sie. »Heute noch!«

In derselben Nacht geht das Schloß in Flammen auf. Alexei wird entführt und auf die 24 Festung Schlüsselburg gebracht. Die Fürstin Anna wird nach einem entfernten Jagdschloß geführt. Die Kaiserin erwählt zu Ehren dieser Ereignisse einen neuen Liebhaber.

 

Madame ist beim Kommandeur der Festung Schlüsselburg.

»Ihr habt gestern einen neuen Gefangenen bekommen.«

Der Kommandeur lacht gutmütig: »Es sind mehrere gekommen.«

»Ich meine den Knaben.«

Der Kommandeur entsinnt sich: »Ach der! Der spielt draußen im Hofe.«

Madame nestelt zitternd Papiere aus ihrem Kleide: »Bewahrt sie gut auf. Und gebt dem Fürsten Alexei die beste Zelle, die Ihr habt.«

Der Kommandeur ist aufgesprungen: »Wem?«

»Dem Fürsten Alexei, dem Enkel der Kaiserin.«

Alexei wird in die Zelle gebracht. Er sieht sich um, erfaßt mit ganz reifem Geiste alles, was hier zu begreifen ist und beginnt sich zu gewöhnen.

Hin und wieder will der Kommandeur ihn trösten. Aber eine eisige Kälte kommt ihm entgegen. Er schweigt, ist gereizt in diesem Schweigen und wird feindselig.

Der Wächter des Alexei ist der Graue. Nirgends kann seine Grausamkeit den ruhigen 25 Menschen fassen. Darum haßt er ihn mit all der Wut des Ungebildeten.

 

Jahre vergehen, ruhig, ereignislos. Leer und satt wie dieser heiße Mittag.

Seine Gedanken kreisen langsamer, wie verschlafen von Sonne. Er fühlt, daß seine Zeit stille steht in dieser Glut.

Alexei wird vierundzwanzig Jahre alt. Alexei hat mitgezählt mit sachlicher Ruhe, weil einmal in jedem Jahre der Kommandeur kommt, sich vor ihm verneigt und ihm neue Kleider aushändigt.

Fürst Alexei bittet jedesmal den Kommandeur, der Kaiserin für ihre Güte seinen Dank auszusprechen.

Dann fragt der Kommandeur nach den Wünschen des Alexei.

Alexei hat keine Wünsche. Allmählich fragt der Kommandeur nicht mehr.

Die Reife ist über Alexei gekommen, und einmal äußert er einen Wunsch.

Er bittet um Papier und um einen Gänsekiel.

Der Kommandeur lächelt durch seinen filzigen Bart.

Alexei sieht ihm nach: Ob draußen in der Welt das Schreiben so verpönt ist, daß selbst der Ungebildete darüber lächeln darf? 26

Alexei schreibt, mit großen, hakigen Buchstaben, wie er sie von Madame gelernt hat.

Er schreibt weder Worte noch Sätze. Er malt nur Buchstaben. Er schreibt nur, so wie der Graue aus seiner bauchigen Flasche trinkt. Dann wird er erregt.

Alexei will sich schützen vor der großen Ruhe, die in ihm ist. Darum schreibt er.

Oder er geht in seiner Zelle auf und ab, sechzehn Schritt der Länge nach, acht Schritt der Breite nach.

Er weiß, daß er das endlose Zeit hindurch tun kann, ohne das Gleichmaß als Qual zu empfinden.

Oder er steht unter dem Fenster, legt die Arme an die Eisenstäbe, wartet und schaut in die Höhe, bis die Sonne eine Hand breit über seinen Kopf hinwegstreicht und immer steiler in den Raum hineinklettert.

Aber sie erreicht ihn nie.

Oder er sitzt vor dem schweren Eichentisch und starrt auf die Maserung.

Das alles läßt ihm seine Zeit ganz ruhig sterben. Es ist viel Frieden in den Augenblicken, die vorüber sind.

 

Die Kaiserin steht auf dem nackten Hügel, von dem aus man das Gelände überblicken kann. 27

Die Schlacht ist vorüber. Träge Pulverschwaden streifen über braunes, rot gesprenkeltes Land.

Es blinkt noch in den Niederungen. Verborgene Schreie von Sterbenden, die man irgendwo hinter zerbrochenem Kriegsgerät und zerfetztem Boden ahnt.

Matte Bilder, die schon wieder sanft und friedlich werden wollen.

Die Kaiserin lächelt, daß soviel gleichgültiges Leben hüben und drüben zerschlagen werden muß, um den Lauernden im Lande zu zeigen, daß die Kaiserin noch Macht hat.

Gefangene ziehen am Fuße des Hügels vorbei, in langen, bunten Ketten.

Ein Trupp Menschen kommt gerade auf den Hügel zu. Ein Mann geht in der Mitte, stolpernd, das Schwert vor sich hertragend wie eine kostbare Fahne.

Vor ihm, hinter ihm, neben ihm gehen Bewaffnete in achtungsvoller Entfernung.

Der Oberst salutiert: »Majestät, dieser Offizier ergab sich unter der Bedingung, daß man ihn in Waffen vor Euch brächte.«

Ein Wink der Kaiserin. Der Gefangene tritt vor. Er keucht noch verhalten von der Glut des Kampfes. Er sieht groß in die flackernden Augen der Kaiserin, hebt das Schwert wagrecht in 28 beiden Händen, zerbricht es und wirft die Stücke nachlässig vor die Füße der Kaiserin.

Sie hält sich mit maßloser Kraft aufrecht, zögert, beugt sich dann, hebt schnell den kostbaren Knauf des Schwertes auf und birgt ihn in dem langen Seidentuch.

»Damit ich an Euch denken kann, Petrikow, wenn Ihr in Schlüsselburg seid.«

 

Der Graue geht durch die Zellen und hängt ein dunkles Tuch vor die Fenster.

Es ist unnütze Vorsicht. Die Menschen auf Schlüsselburg sind nicht mehr neugierig. Aber es ist Vorschrift.

Die Gefangenen sind gutmütig. Sie wissen längst, daß der Graue umhergeht und die Fenster verhängt.

Sie klopfen und kratzen in ihren Zeichen, und allmählich wirft der Graue nur noch einen flüchtigen Blick in die Zellen. Es ist gut, die Tücher hängen schon.

Die große Pforte der Außenmauer knarrt.

Alexei hört es. Er geht zum Fenster und zieht das Tuch fort. Er weiß nicht, warum er es tat. Es ist ohne Wunsch oder Neugierde. Es ist nur so, wie er zuweilen ohne Grund in seinem Schreiten innehält und sich setzt.

Ein hagerer Mann steigt aus dem Wagen, reckt wohlig die Glieder und speit seine Wächter an. 29 Dann sieht er sich ruhig rings nach all den verhängten Fenstern um.

Er entdeckt Alexei, wird bleich, hält beide Arme weit vor sich, als trage er ein Schwert und grüßt demütig zu Alexei hinauf.

Der Graue winkt heftig nach dem kahlen Fenster. Aber Alexei muß immer den hageren Mann anschauen.

Er sieht aus wie mein Schicksal, denkt Alexei mit fröstelnder Unruhe.

Da reißt der Graue wütend sein Gewehr von der Schulter und legt auf Alexei an.

Der hagere Mann wendet sich und schlägt dem Grauen beide Fäuste ins Gesicht.

Alexei tritt vom Fenster zurück. Der Streit geht ihn nichts an.

Aber die Augen des hageren Mannes sind neben ihm. Ganz kalte, aber im tiefsten Grunde ruhelose Augen.

Es wird schnell Abend. Aber das Lärmen im Hofe hört nicht auf.

Jetzt zimmern sie das Blutgerüst.

Alexei fährt leicht zusammen. So schlimm steht es mit der Kaiserin? Und wie weit ist der Weg von jener Zelle zu der des Alexei?

Von unten ertönt die Stimme des Kommandeurs. Er ruft die Nummern der Zellen, die geräumt werden müssen.

»Dreiundvierzig!« 30

Alexei denkt nach. Das ist weit drüben an der Schmalseite der Festung. Dort sitzt eine politische Verbrecherin. Je nun, früher oder später!

Und dann heult eine Frau, laut, anhaltend, als ob sie mit ganz weit offenem Munde weinte. Sie steht vor dem Holz, reglos, mit hängenden Armen und starrem Gesicht. Aber zwischen den vollen Lippen sieht man die Zähne leuchten. Ihr Heulen ist wie das Gleichmaß des Ostwindes.

Alexei hört andächtig zu. Es ist eine unendlich zufriedene Trauer in ihrem Weinen.

Der dumpfe Schlag schneidet den Laut ab.

Alexei atmet auf.

Es ist so menschlich, in der Nacht zu töten. Das Auge kann sich an nichts anklammern. Man ist ganz losgelöst von Dingen. Ich möchte einmal in der Nacht getötet werden.

Ganz friedlich schläft er ein.

 

Alexei hat unklare Träume. Da ist ein Hügel mit roten und blauen Blumen. Ueber dem Hügel steht eine Wolke. Aus dieser Wolke fällt unermeßliches Licht gleich Sommerregen.

Am Morgen will Alexei schauen, ob es wahr ist, daß Licht so aus den Wolken fällt.

Der Graue kommt. Ob der Fürst heute spazieren gehen will, fragt er. Es wäre Sonne draußen. Und lacht dabei. 31

Alexei denkt an die Zellen, die leer geworden sind nach einer solchen Nacht. Wenn er hinausgeht, wird er sehen können, welche Fenster heute nicht mit einem Tuch verhängt sind.

Sonst ist Ruhe hinter all den schweren Tüchern. Nur eines, dicht neben der Zelle des Alexei, bewegt sich. Ganz leise, zitternd. Es rieselt immer etwas daran entlang wie verhaltenes Weinen.

Dort wird der hagere Mann sein; es beruhigt Alexei in seiner unbestimmten Furcht, ihn so nahe zu wissen.

Er hat Furcht. Zum ersten Male in seinem Leben.

Es strafft sich etwas in seinem Körper. Es fragt etwas in seinem Geiste.

Und plötzlich bleibt er mitten auf dem Hofe stehen. Staunt, denkt nach, staunt wieder, daß seine Augen ganz weit und farblos werden.

Er weiß seinen eigenen Namen nicht.

Für alle anderen Dinge ist es ein Segen, daß er die Namen nicht weiß. Alle Unruhe hat sich erschöpft, wie er erst die Namen der Menschen vergessen hat. Da ist nur eine blonde Magd und eine braune Zofe, und ein Diener mit Schlitzaugen und ein Pferdeknecht mit einer blauen Jacke.

Das ist gut so. Ueber alle diese Dinge kann er nachdenken. Aber wenn er ihre Namen wüßte, hätte er Sehnsucht und müßte weinen. 32

Aber der eigene Name!

Es steht ein Bild vor seinen Augen: Irgendwo ist lauter übermütige Mittagssonne. Ein Duft von Wein und Kuchen strömt durch bunte Räume. Da lärmen und lachen viele Menschen. Und irgendwo eine breite Treppe in den Garten hinein. Da faßt ihn jemand bei der Hand und führt ihn die Stufen hinunter. Sie stehen alle auf, daß eine breite Gasse vor ihm ist, schreien im Rausch und lachen im Taumel, lauter grelle, rote Gesichter. Und neigen sich vor ihm und schreien alle einen Namen, ein helles Wort von vielen klingenden Vokalen.

Das ist sein Name.

Oh, er weiß noch gut, wie er aufstand in der Nacht, um nach seinem Namen zu suchen. Das Dunkel der Festung war noch schreckhaft, er staunte noch über den jähen Wechsel von Licht und Schatten, wollte noch Wein haben und süße Kuchen. In einer solchen Nacht war es. Und er hat noch gebetet, zu dem bunten, fleckigen Madonnenbilde.

Da war plötzlich der Name da wie ein Schrei aus den trunkenen Gesichtern. Und unter allen weinroten Mienen stand die Madonna und lachte.

Dann nahm die Zeit ihre weiche Hand und wischte über das Bild, bis es milde wurde. Alles Laute wurde still. Jetzt ist sein Name nur noch 33 wie matter, roter Wein, der die schwellenden Farben des Blutes hat.

 

Der Pope schüttelt den Kopf und sieht mißtrauisch zu der Kaiserin hinüber.

»Majestät, die Natur hat jeden Menschen zur Freiheit erschaffen.«

»Wie?« fragt die Kaiserin scharf und wendet den Kopf.

Der Pope zuckt zusammen: »Verzeihung, Majestät. So meinte ich es nicht. Natürlich die Obrigkeit. Von Gott eingesetzt. Natürlich. Ich meine nur . . .«

»Was meinst du denn? He? Etwa Freiheit im Denken? Was?«

»Auch so nicht, Majestät. So nicht. Der Mensch muß glauben, natürlich. Und soll mehr glauben als denken. Aber doch . . .«

Die Kaiserin steht auf: »Laß es genug sein für heute. Alexei bleibt, wo er ist. Wenn ich von Gott die Gewalt der Herrschaft habe, so habe ich auch die Weisheit von ihm.«

Der Pope sieht ihr demütig in die listigen Augen und schweigt.

Und plötzlich hat sie ihn hart angefaßt und rüttelt ihn: »Oder soll ich glauben, daß die anderen dich zu mir schicken?«

Der Pope zittert. Er hat keinen Dolch bei sich, keine Pistole. Nichts. Er ist ganz wehrlos. 34 Darum sinkt er nieder und küßt den Saum vom Kleide der Kaiserin.

Sie heißt ihn aufstehen? »Er kann es nicht besser haben, als er es hat. Er hat etwas, was die meisten von uns nicht haben: einen Zweck. Sein Zweck ist es, seinem Tode entgegenzuleben. Wenn die anderen ihn gegen mich ausspielen, töte ich ihn. Wenn sie mich fällen, töten sie ihn. Immer ist es klar, was aus ihm wird. Immer weiß er, wozu seine Tage ihm nützen. Er muß nicht suchen und fragen. Es ist etwas Großes, wenn man einen Zweck im Leben hat.«

Der Pope küßt ihre Hand und geht.

Am selben Tage sendet die Kaiserin den Grafen Orlow in geheimer Mission nach der Festung Schlüsselburg.

 

Graf Orlow ist gelangweilt. Die Kaiserin wird lästig. Sie hat ein Vertrauen, das peinlich wirkt. Und am gefährlichsten ist sie, wenn sie von Vertrauen spricht.

Er verschläft die ganze Fahrt. Schläft noch halb, wie der Kommandeur ihn in die Zelle des Alexei führt.

Alexei steht auf und geht seinem Gaste zwei Schritte entgegen. Dann wartet er.

Orlow reibt sich die dicken Augen, wird aufmerksam, respektvoll und verneigt sich endlich. 35

Alexei schweigt noch eine Weile, um die Entfernung zwischen sich und dem Boten der Kaiserin zu weiten.

»Ihr wünscht, Graf Orlow?«

Orlow ist Weltmann. Er weiß, wie man einsame Menschen einfängt und sie sich gefügig macht.

»Die Kaiserin naht sich Euch mit einer großen Bitte.«

Alexeis Gesicht bleibt ruhig.

»Die Kaiserin lebt in einer tiefen Not.«

Alexei lächelt boshaft.

Falsche Fährte, denkt Orlow und ändert seine Taktik.

»Die schweren Lasten der Regierung lassen sie erst jetzt erkennen, was sie an Euch gefehlt hat.«

Alexei wird ernst. Also die richtige Fährte, denkt Orlow.

»Sie hat sich tief in Eure Lage hineingedacht, ist bewegt von Eurem Schicksal, ist gram der Notwendigkeit, die sie also handeln ließ.«

Alexei gähnt mit ganz weit offenem Munde und hebt nur lässig die Hand.

»Und was will sie von mir?« fragt er.

Orlow knittert verstört an seiner Kleidung. Dann stößt er hervor: »Ihr sollt fliehen!«

Alexei sieht nachdenklich lange Zeit zu Boden. Dann, mit halb geschlossenen Augen: 36

»Was bin ich wert?«

»Wie sagtet Ihr?« stammelt Orlow.

»Was ich wert bin?« wiederholt Alexei ruhig.

Orlow sieht ihn blöde an. Da winkt Alexei verabschiedend mit der Hand.

»Ich danke Euch. Sagt der Kaiserin, ich würde darüber nachdenken.«

Orlow hört die Tür hinter sich zufallen, während die Zornesader auf seiner Stirne mächtig schwillt.

Es wird wieder ruhig in Alexeis Zelle. Er verdämmert den Tag, die Nacht und den grauenden Morgen.

Es ist immer nur tiefe Ruhe da.

Da fühlt Alexei zum ersten Male die Ruhe in sich wie ein dumpfes Bleigewicht lasten.

Die Morgensonne sticht. Er geht umher und schleppt das Bleigewicht mit sich. Es ist eine schwere Last in der Brust. Da bleibt er stehen, preßt beide Arme stützend gegen die Seiten und seufzt.

Der Graue lächelt, wie er den fürstlichen Gleichmut wanken sieht. Seine Zeit kommt.

Am Nachmittag beginnt sein Werk. Er führt den Kommandeur in die Zelle. Der zieht mit hartem Griff Alexeis Papiere an sich und nimmt sie fort.

Alexei schaut nicht auf. Aber ganz klar sieht 37 er die feuchte Hand, die zugegriffen hat. »Pfui,« sagt Alexei und beginnt zu wandern.

Durch die Gitterstäbe schwält die Sonne wie Brand. Es müßte Krieg sein, denkt Alexei, und läßt blutende Bilder vor sich auftauchen.

Aber die Bilder sind alle verdämmert wie ein hoher, verhängter Raum.

Wo war doch dieser Raum gewesen und dieses streifige Gold?

Da ist das Bild: Ein Gemach mit roten Sesseln. In dem einen sitzt eine schmale, blasse Frau mit leeren Augen, in denen sich nicht einmal die Sonne spiegeln kann.

Er hockt zu ihren Füßen und rollt Goldfäden ab. Sie kriechen wie winzige Schlangen über das viele Rot. Er windet sie um Stühle und Tische, wickelt sie um die prallen Beine eines Dieners und lacht.

Und wie es dunkel wird, leuchten noch immer die Goldfäden.

Das ist die Sonne, sagt er zu der schmalen Frau.

Ja, sagt sie und weint.

Da geht er verstört durch das Zimmer und zerreißt einen Goldfaden nach dem anderen, bis ein krauses Gewirre über den Teppichen liegt.

Jetzt ist die Sonne tot, sagt er zu der schmalen Frau.

Ja, antwortet sie und lacht hämisch. 38

Da schlägt er sie.

So schließt das Bild ab.

Wie er sich nach der Sonne umsieht, hockt in dem plumpen Stuhl die schmale Frau und lacht hämisch.

Ich sehe Bilder, denkt Alexei und geht schneller durch den Raum.

Der Kommandeur kommt wieder.

Er greift in den faltigen Rock und hält Alexei einen Brief entgegen.

»Von der Kaiserin.«

Alexei zuckt die Achseln und geht weiter.

Der Kommandeur hält ihm den Brief vors Gesicht.

»Von der Kaiserin!« grunzt er.

Alexei schlägt ihm auf die Hand, daß der Brief zur Erde flattert.

Ganz rot schwellen die Augen des Kommandeurs, wie er sich bückt. Er wirft den Brief auf den Tisch und stößt ihn mit einem Messer darauf fest.

Alexei löst das Messer, nimmt sorgfältig den Brief, reckt sich auf und wirft ihn aus dem Fenster.

Der Kommandeur geht, ganz gebeugt von der Last rachvoller Gedanken.

Zum ersten Male empfindet Alexei die Enge seines Raumes. Seine Schritte füllen ihn zu schnell aus. Die Wände laufen ihm eilfertig 39 entgegen, wenn er wandert, sechzehn Schritt der Länge nach, acht Schritt der Breite nach.

Der Graue bringt ihm die Mahlzeit und grinst. Mitten in der schlampigen Brühe schwimmt der Brief der Kaiserin.

Man muß um die Dinge herumgehen, lächelt Alexei und löffelt im Kreise um das aufgequollene Papier.

Auf dem Papier sind Schriftzüge. Das ist mein Name! schreckt es durch ihn hin.

Klirrend schmettert er den Napf gegen die Tischkante und hascht nach dem Briefe. Er eilt ans Licht. Aber es ist alles verwischt und verquollen. Ein roter Streifen läuft über den Umschlag.

Er atmet tief auf und starrt ganz ruhig auf die Gitterstäbe.

Dann fühlt er die fette Flüssigkeit widerwärtig durch seine Finger rinnen. Verekelt schüttelt er sich. Der Brief klatscht auf die Fliesen.

Ihm ist, als habe sein neugieriger Eifer ihn entwürdigt.

Ganz aufrecht und verschlossen nimmt er seine Wanderung wieder auf. Aber eine Hast geht neben ihm her.

Er kämpft mühsam gegen den Pulsschlag, der ihn zur Eile treiben will. Ein Fürst hat keine Eile. 40

Ja, wenn man ein Pferd unter sich fühlte und durch graues Steppenland jagen könnte.

Oder wenn man Schwingen hätte, um zur Sonne zu fliegen.

Hellweiße Wolken treiben vor dem Gitter. Ein Wind löst sie auf. Jetzt sind sie nur noch wie weiche, weiße Fasern. Sie zerwehen und es ist nur noch schwellendes Blau dort draußen.

Alexei klammert seine Augen an dies ruhige Blau und wird still.

Die Zugbrücke knarrt. Aber es zwingt ihn nichts mehr, hinauszusehen. Er lächelt über seine Ruhe.

Lächelt noch, wie des Kommandeurs schleichender Tritt sich durch die Türe zwängt. Der sieht sich um.

»Dort liegt ein Brief der Kaiserin.«

Seine Mundwinkel zucken vor grausamem Behagen.

»Wer mag wohl den Brief in das Essen geworfen haben?« fragt Alexei scheinbar absichtslos.

Die Hände des Kommandeurs klammern sich feindselig zusammen. Mit scheuer Bewegung rafft er den Brief an sich und verschwindet.

Alexei beugt sich über den Tisch, legt die Arme lang auf die Platte und sieht in das Blau hinein. Wieder schleichen matte Wolken vorbei wie windhungrige Fahnen. 41

Das Blau bin ich, denkt er, und die unruhigen Wolken sind mein Ereignis. Es ist zu viel ruhige Sonne da, darum müssen sie vorübergehen. Aber wenn die Sonne schwächer wird, bleiben sie haften und der Himmel wird grau. So werden sie mich einmal zudecken.

 

Auf dem Hofe sind scheltende Stimmen.

Ein Weib lacht dazwischen, spöttisch und sicher. Ihr Lachen klingt reif, als käme sie mitten aus dem Leben.

Dieses lebensvolle Lachen flattert das Mauerwerk empor und geht in die vielen Zellen hinein.

Da wird es mit einem Male überall ruhig von gespanntem Lauschen und von hungriger Gier.

Alexei neigt den Kopf etwas, um das Lachen aufzufangen. Es verklingt in den Steingewölben. In seinem Blute bleibt eine harte Wallung zurück.

Er geht mit hallenden Schritten, um das laute Blut zu übertönen, und kann sich doch nicht erwehren, manchmal stehen zu bleiben und zu lauschen.

Es brütet eine heimtückisch bewegte Stille vor dem Fenster.

Es war ein Lachen, das aufschlug in erregenden Triolen. Immer so: Hahaha! Hahaha! Immer emporschnellend wie eine Angelrute, kurz, aufreizend. 42

Sie hat brandrotes Haar, denkt Alexei, und tiefbraune Augen. Wie die Magd, die früher im Abenddämmern über den Hof ging. Sie bog die Hüften und kehrte die pralle Brust heraus. So schmerzte sie die Einsamkeit.

Und dann, mitten durch das harte Gehen, flattert das Lachen auf.

Er stockt.

Es ist ganz ruhig.

Und unvermittelt überfällt ihn eine sinnlose Angst, daß er das Lachen überhören könnte. Auf den Zehen schleicht er zum Tisch, aufschreckend bei jedem Sandkorn, das unter seinen Schuhen knirscht, tastet zum Stuhl, hockt darauf nieder, mit kurzem Atem, biegt sich leise in sich zusammen und verharrt lauschend.

Wie rote Tropfen pulst die Zeit vor seinem Auge vorbei.

Bis es Nacht geworden ist.

 

Am Morgen findet ihn der Graue auf dem Stuhle, schlafend, noch lauschend in sich zusammengebeugt.

Er setzt den Napf hart auf den Tisch. Alexei erwacht.

Seine Augen sind weit fort: »Wo ist sie?« murmelt er.

»Was wollt Ihr?«

»Nichts.« 43

Die Türe schließt.

»Der Fürst hat Hunger,« höhnt Alexei und wehrt sich verzweifelt gegen den Traum der Nacht.

Der Graue holt den Napf. Er zeigt mit dem Schlüsselbund zum Fenster. Ob der Fürst auch heute spazierengehen will.

Alexei starrt ihn eine Weile an. Dann nickt er heftig.

Ja, aber er möchte erst ein Messer haben.

Der Graue erschrickt: »Habt Ihr denn die Erlaubnis, Euch selbst zu töten?«

In Alexei dehnt sich aufatmend die gleichgültige Ruhe. Wie entschuldigend neigt er den Kopf: »Ich wollte mir den Bart scheeren.«

Dann geht er mit dem Grauen hinaus.

Er sieht nicht auf. Die kurze Anwandlung der Eitelkeit liegt wie ein flüchtiger Schatten hinter ihm. Ein Fürst schmückt sich nicht um einer Dirne willen.

Er geht die alten Kreise. Der Schritt des Grauen schlägt gleichmäßig hinter ihm.

Aber es ist doch ruhiger als sonst. Es ist, als ob alle die Gefangenen in einem tiefen Schweigen verharren.

Sie lauschen, so wie er es gestern tat. Lauschen geduldig auf das lebendige Lachen, das aufschlug in erregenden Triolen. 44

Ob ein Fürst eifersüchtig sein darf auf ein Lachen? sinnt Alexei.

Und möchte sie alle töten in sinnloser, glühender Eifersucht.

Er geht schneller. Nun verlieren die Schritte des Grauen hinter ihm den Takt und klappern hinterdrein wie ein hinkendes Echo.

Dieser nachhallende Schritt bohrt sich mit ganz feinem Schmerz in seine Schläfen ein. Irgend ein Gleichmaß ist gestört.

Er sieht auf. Alle Fenster sind verhängt wie sonst. Doch bei der Wendung sieht er, daß auch vor dem Eckfenster der Mauer wieder ein dunkles Tuch hängt.

Also dort!

Er geht immer hastiger, um möglichst oft die Richtung zu gehen, von der aus er die Blicke auf das Fenster richten kann. Sein Gang wird getrieben von den Triolen des Lachens.

Eine schmerzvolle Sehnsucht nach Bewegung kommt über ihn.

So eilen können über weite Flächen, durch Moor und Heideland, wo der Fuß nicht strauchelt. Allein sein, zu Häupten dieses ruhige Blau, und wandern können. Und kein Erinnern haben und keine Sehnsucht!

Erschreckt sieht er sich um. Ihm war, als habe er es ganz laut gerufen. Aber der Graue trottet seinen Gang weiter. 45

»So war es nur ein Schrei in mir!« stöhnt Alexei.

Es duldet ihn nicht mehr draußen. Der Raum ist schreckhaft weit.

Er flüchtet in seine Zelle, wirft sich auf das Lager und preßt die Fäuste gegen die Augen, bis rote Sonnen einschläfernd vor seinem Geiste tanzen.

 

In der Nacht will es nicht dunkel werden. Eine fahle Helligkeit klammert sich an alle Mauern. Immer noch ist diese lauschende Ruhe da.

Aber allmählich beginnt sie zu stöhnen, mit kurzen, knisternden Lauten, daß die fahle Helligkeit davon greller wird und blasser.

Als ob ein großes Licht irgendwo schwankt.

Draußen scharrt etwas. Ein leises Klirren ist dazwischen.

Die Riegel der Türe gehen mit einem peinlich schleifenden Geräusch zurück. Die Klinke wird gedrückt. Und nun ist ein matter Lichtspalt längs dem Pfosten der Türe. Er wird breiter, allmählich, immer begleitet von dem unheimlichen Knarren der Türangeln.

Die Türe ist weit offen. Alexeis Augen betasten abwägend den finsteren, endlosen Gang. Rechts und links sind Türen, mit schweren Riegeln und Schlössern. 46

Da sitzen sie alle. Und da ist der steinerne Gang, durch den sie hineingekommen sind.

Und ganz hinten aus dem Dunkel hebt sich eine hellere Fläche ab. Das ist die Pforte, die seitwärts zur Landstraße führt.

Wenn ich jetzt aufstehe, denkt Alexei, und durch den Steingang schleiche, werde ich vor der Pforte stehen. Dann wird die Pforte sich öffnen, langsam und schleifend, wie diese Tür hier. Drei Stufen führen davor auf die Landstraße hinaus. Von dort kam ich und könnte dort auch wieder hinausgehen.

Nun dämmert auch am Ende des Ganges ein blasser Streifen neben dem Tor.

Ein harter Schreck beißt sich in seinen Wangen fest, bis er begriffen hat, daß das Tor sich wirklich öffnet.

Jetzt kann er die Schwellen sehen und den grauen Streifen der Landstraße, und nun die staubhellen Büsche zu beiden Seiten.

Wer will da kommen?

Es kommt niemand. Die Türe steht da, nackt, offen, wie ein gelangweilter, verbissener Wächter, der einen Gefangenen entfliehen lassen muß.

Sie wartet. Sie winkt. Sie befiehlt mit ungeduldiger Ruhe.

»Komm! Geh durch den Gang, durch das Tor. Da ist die Landstraße. Geh! Es gibt keinen Zufall, der Tore öffnet. Es gibt nur kleinen 47 Menschenwillen, der mit anderen Menschen spielt. Und das Ganze nennt man Schicksal.«

Er rührt sich nicht.

Die offene Türe gähnt vor Langerweile. Sie ist wie ein grauer Schatten an die Mauer geklemmt und spricht auf Alexei ein.

»Du mußt jetzt gehen. Weißt du denn nicht, was Freiheit ist?«

Die Falten seiner Augen kräuseln sich vor stillem Hohn:

»Mein Dasein ist Freiheit. Nicht für den Tag und seine Bedürfnisse sorgen müssen, ist Freiheit. Zu wissen, wofür man lebt, ist Freiheit. Einen Zweck haben, und sei es auch nur der, zu einer fest bestimmten Stunde zu sterben, ist allerhöchste Freiheit!«

Das Tor rüttelt sich vor Ungeduld.

»Freiheit ist die Landstraße,« orakelt es. »Der Weg ist Freiheit.«

Alexei faltet die Hände:

»Das tiefste Wissen aus dem Leben kommt uns, wenn wir neben der großen Heerstraße der Erkenntnisse einhergehen.«

Er lacht schallend auf.

Da springt der Graue hinter der Türe hervor in fassungsloser Aufregung. Stammelnd weisen seine Hände zum Tor. Das Ungewohnte des Staunens macht ihn bösartig.

Er sieht Alexei eine Weile an. 48

Alexei wendet sich ab.

»Bitte, mach' die Pforte zu. Es wird kalt.«

Die Türe zu Alexeis Zimmer wird zugeworfen. Des Grauen Schritte schlürfen über den Gang. Nun schlägt die schwere Pforte ins Schloß.

Bellend wälzt sich das Krachen über den Gang und zersplittert schnell am grauen Mauerwerk.

 

Eine Nacht hat viele Stunden, und jede Stunde zerfällt in kleine und kleinste Abschnitte, und jeder ist gleich wertvoll. Jeder ist Zeit. Jeder geht mit hartnäckigem Gleichmaß vorüber.

Alexei hat nur einen Freund: Die Zeit. Sie trägt ihn. Sie macht es ihm mühelos, zu wandern. Er kann sich ihr anvertrauen. Sie wird ihn bis an das Ende tragen.

Aber diese Nacht liegt er mit der Zeit in Fehde. Sie ist stehen geblieben. Und wie er sie staunend übersieht, geht sie zurück.

Wie an dünnen, glitzernden Goldfäden zieht sie ihn hinter sich her, durch Zeiten hindurch, durch das, was tot ist.

Sie zerrt ihn durch einen Park. Da ist ein gefrorener Teich. Aus dem zerborstenen Eis winden sich zwei feine, weiße Hände, wollen sich ankrallen, werden prall und rot vor vergeblicher Anstrengung, gleiten ab, versinken.

Hinter einem Boskett lacht eine Frau ihr zufriedenes Lachen. 49

Dann ist es ein Saal in einem Schloß. Tänzer und Tänzerinnen, in zwei Reihen aufgestellt, qualvoll ruhig in dem toten Saal. Keiner rührt sich. Es stehen zwei Augen über ihnen. Aber keiner weiß, von wo die Kaiserin sie betrachtet. Und sie fiebern.

Hinter einem roten Teppich lacht eine Frau ihr zufriedenes Lachen.

Immer im Kreise führt es ihn um diese Frau und um ihr Lachen.

Du sollst sie hassen lernen, raunt ihm die Zeit.

Alexei verneint.

Aber sie haßt auch dich!

Alexei zuckt die Achseln.

Vielleicht auch liebt sie dich!

Alexei lächelt matt und schüttelt den Kopf:

»Es ist ganz gleich. Mein Schicksal hat nichts mit dem ihren zu tun, und ihres nichts mit dem meinen. Sie gibt nur Umstände, Begleiterscheinungen meiner wenigen Tage. Es ist gleich, was ich sehe und denke. Es ist nur wesentlich, wie ich sehe und denke.«

Die Zeit reißt ihn immer mehr zurück und verstrickt ihn in Bilder, läßt ihn auf einem Pferde reiten, vor einem Tscherkessen, über braunen Landweg.

Ein Karren kommt vorüber mit einem kranken Weibe.

»Deine Mutter,« sagt der Tscherkesse. 50

Der Knabe nickt ernsthaft zu ihr hinüber, wie eine selbstverständliche Pflicht der Höflichkeit. Die kranke Frau schaut ihn nur wortlos an.

»Nun?« drängt die Zeit. »Ist es nur wesentlich, wie du siehst?«

Alexei verbessert sich: »Auch das ist nicht wesentlich. Wesentlich ist nur, daß die Zeit nicht stille steht, denn ich mag keinen Weg zweimal gehen.«

Der Schweiß tropft ihm von der Stirne, wie er aus seinen Träumen erwacht.

 

Der Kommandeur kommt scheu in Alexeis Zelle. Seine Stimme ist befangen.

»Ich las den Brief der Kaiserin.«

Alexei antwortet nichts.

»Ich las den Brief der Kaiserin!«

»Ja,« sagt Alexei und weiß, daß er den Kommandeur von irgend einer Angst erlöst.

»Und in der Nacht mußte ich die Pforte öffnen.«

Alexei wehrt müde mit der Hand ab. Was quält sie mich? denkt er. Steht es so schlimm mit ihr? Und muß sie mit ihrem Leid zu meiner Ruhe kommen?

»Warum bist du nicht gegangen?« fragt der Kommandeur.

Alexei sieht ihn mitleidig an.

»Weil es mir zu kalt war,« sagt er dann. 51

Der Kommandeur geht und kommt mit einem Pelzmantel wieder. Er kann seinen Hohn kaum verbergen.

»Für die kommende Nacht,« sagt er und schließt die Türe hinter sich.

Alexei leidet. Nichts stemmte sich bis jetzt gegen seine Ruhe. Nichts Wollendes aus fremdem Willen zwang sich ihm auf. Nun erkennt er hinter sich das Machtgebot von Menschen, die ihn handeln heißen.

Es dämmert. Es wird Nacht.

Alexei sieht grauen Spinnen zu, die über die Wände kriechen.

Darüber vergißt er, sein Lager aufzusuchen. Scheut auch vor der trägen Ruhe des Schlafes, denn seitdem die Zeit ihm untreu wurde, möchte er sie zwingen und sie bestehlen mit dem Schlaf der Nacht.

Das peinlich schleifende Geräusch rüttelt ihn auf. Wieder dämmert der blasse Streifen an der Türe. Sie öffnet sich und legt den Gang frei. Und hinten ist wieder die helle Fläche, das Tor.

Auch das Tor öffnet sich. Unsichtbare Hände reißen es zurück, lauter schon und rücksichtsloser als in der Nacht vorher.

Alexei sieht wieder Raum. Und ganz weit hinten sind matte Sterne. Wieviel Unaussprechliches hinter dieser Weite liegt.

Es zieht ihn leise an, wortlos, mächtig. 52

Er muß immer dasitzen und mit stieren Augen diesen Raum entlang sehen. Und mit einem Male weiß er ganz sicher, daß hinten, am Ende des Raumes, einer stehen wird. Und der kennt seinen Namen.

Seine Wangen röten sich. Er tastet nach dem Pelzmantel, steht auf, immer noch die Augen unverwandt auf das Ende des Ganges gerichtet.

Nachtwandelnd schleicht er vorwärts. Zuweilen muß er sich an der Wand stützen, denn dieses Gehen ist so fremd. Sonst immer weiß er, daß dieser und jener Schritt hier und dort enden wird. Hier ist die Wand der Zelle: da stockt er. Dort ist die Mauer des Hofes: da wendet er um.

Aber hier ist nur Raum, der keine Begrenzung hat. Der Schritt weiß nichts, was ihn hemmt. Und daß er keine Hemmung hat, macht ihn unfrei.

Alexei fühlt ein dumpfes Grauen vor dem Hemmungslosen des Schreitens.

Aber draußen steht der Mann, der seinen Namen weiß.

Er tastet weiter.

Nun bricht das matte Licht der Nacht ganz unvermittelt in den Gang. Da ist das Tor. Da sind die drei Schwellen.

Er steigt hinunter.

Von hinten aus dem Gang ertönt leise ein hohnvolles Lachen. 53

Alexei steht auf der Landstraße. Er wagt nicht aufzusehen von dem gelben Staub zu seinen Füßen. Denn auch die Augen sind eng geworden vom Raume.

Er geht quer über den schmalen Landweg. Dichte Büsche von Heckenrosen strahlen ihm entgegen.

Nun hat sein Schreiten einen Halt. Ohne den Blick zu heben, geht er zum Tor zurück, bis er an die Stufen prallt. Er wendet um und geht zurück zu den Heckenrosen.

Und sieht, daß der Strauch voll ist von matten, roten Blüten. Eine ganz fremde Gier treibt ihn, hineinzugreifen und eine Blüte zu brechen.

Noch ehe sie in seiner Hand ist, weiß er, für wen er sie pflücken wird. Und er schämt sich.

Ein Geräusch geht durch die Nacht. Ein leises Knarren und Schleifen. Alexei horcht hell auf.

Es wird still. Dann wieder ein leises Knarren und Schleifen vom Tore her.

Das Tor! schreit es in ihm auf.

Da überfällt ihn eine sinnlose, fliegende Angst, das Tor möchte hinter ihm geschlossen werden und er müsse draußen stehenbleiben in diesem furchtbar weiten Raum, wo des Schreitens kein Ende ist.

Er rafft den Pelz an sich und die Heckenrose. Zwei, drei mächtige Sprünge über die 54 Landstraße, die Schwellen hinauf. Herr Gott! Es ist nur noch ein schmaler Spalt des Tores offen!

Sinnlose Brocken verwehter Kindergebete taumeln durch seine Gedanken.

Jetzt will das Tor schließen. Mit der ganzen Wucht seines Körpers wirft er sich dagegen.

Es gibt nach, so weit, daß ein Mensch durch den Spalt schlüpfen kann. Eine rohe Stimme brüllt durch den Gang.

Alexei hört es nicht. Er fühlt Stein unter seinen Füßen, schlägt mit dem Arm hart an eiserne Riegel, sieht hinten irgendwo eine offene Zelle und hastet hinein. Die Türe schlägt hinter ihm ins Schloß.

Er wirft sich flach auf den Boden nieder und weint sich in den Schlaf.

 

Er erwacht ganz früh am Morgen. Mit schnellen Blicken findet er sich zurecht.

Da ist der plumpe Tisch. Da der Stuhl. Die Gitterstäbe mit dem wolkenlosen Blau davor.

Ja, denkt Alexei. Ich bin wieder daheim.

Er weiß nicht wohin mit der sanften Ruhe in sich. Er möchte sich lang auf den Pelzmantel strecken und halbwach träumen.

Es vergeht Zeit. Alexei fühlt sich wunderbar geborgen.

Bis der Kommandeur in fliegender Hast die Türe aufreißt. 55

»Bist du noch immer da?«

Alexei räkelt sich auf dem Pelzmantel.

»Gib her! Du brauchst ihn ja nicht mehr!«

Er reißt ihm den Mantel unter dem Körper weg. Da fällt die Heckenrose heraus.

Der Kommandeur sieht sie und greift lachend darnach.

Da ist Alexei blitzschnell aufgesprungen und stößt seine Hand zurück, und wie der Kommandeur sie dennoch greift, preßt er ihm mit aller Kraft die Faust zusammen, daß die spitzen Dornen sich tief ins Fleisch drücken.

Mit einem Wutschrei läßt der Kommandeur die Rose fallen.

Alexei verbirgt sie in seinem Gewand.

Der Kommandeur will sich auf ihn werfen. Aber er scheut vor dem stahlharten Blick in Alexeis Augen.

»Wir werden nicht mehr das Tor für dich öffnen,« knirscht er.

»Ja!« sagt Alexei, und es liegt eine grenzenlose Dankbarkeit in seiner Stimme.

Der Kommandeur glättet nachdenklich den Pelzmantel: »Und wir wollten dich dem Leben zurückgeben.«

Da fährt Alexei auf: »Ihr wolltet mich dem Leben stehlen!« stammelte er. »Ausschließen wolltet ihr mich in diese fürchterliche Weite!«

Wie geborstenes Kristall hämmert seine 56 Stimme. Er deckt mit seinen müden Händen die Augen und wendet sich ab.

In dem Kommandeur ist eine fremde Scheu. Er greift in die Tasche und holt Alexeis Papiere heraus, legt sie leise auf den Tisch und geht hinaus.

Alexei nimmt sie langsam auf und blättert darin. Er wird mutlos.

»Es ist alles unwahr,« sagt Alexei. »Und ich darf nicht lügen. Andere haben Zeit. Sie bauen aus ihrer Lüge. Wenn ich heute lüge, werde ich morgen nicht mehr Zeit haben, aus meiner Lüge aufzubauen.«

Und zieht mit dem Gänsekiel dicke Striche über das Papier.

»Ausgelöscht. Wer so stümperhaft lügt wie ich, soll seine Lebenslüge durchstreichen.«

Und lacht dazu.

Dann reißt er aus allen Seiten lange Streifen und läßt sie durch die Gitterstäbe in den leichten Morgenwind flattern.

»Da verfliegt, was ich habe sein wollen,« sagt Alexei. »Vielleicht bleibt noch, was ich bin.«

Er sinnt nach über das Spiel der Worte. Dann geht ihm irgend eine Wahrheit auf.

»Es bleibt, was ich bin.«

Er nimmt die Heckenrose, deren Blätter sich schon welk zu kräuseln beginnen, und schlingt sie mit dem letzten Streifen des Papiers an die 57 Gitterstäbe fest, daß man sie sehen kann von allen Fenstern des Hofes aus.

»Ein Gruß Alexeis an die Dirne mit dem brandroten Haar.«

Er sieht lange hinauf zu der welken Rose.

»Dies also ist von mir geblieben.«

Er geht sinnend den ganzen Tag über in der Zelle umher, immer sechzehn Schritt der Länge nach, acht Schritt der Breite nach.

 

Durch die Festung Schlüsselburg geht ein Raunen.

Der Wind hat einen hellen Ton herübergeworfen von den Wassern der Newa.

Es streicht über die Insel Orechow ein Duft von reifem Korn, das sich auf Barken häuft.

Stumme Hände rütteln erregt an eisernen Stäben.

Der Graue geht öfter als sonst über den Steingang. Er trinkt maßlos. Zuweilen schluckt er vor Aufregung wie ein bissiger Hund.

In allen Zellen ist ein leises Kratzen und Klopfen. Sie fragen einander in der harten Sprache der Ausgestoßenen.

Der Kommandeur hat seine Uniform angezogen. Er bürstet heftig daran.

Er kommt mit dem Grauen in Alexeis Zelle. Der Graue hat ein Bündel neuer Kleider auf dem Arm und wirft sie auf den Tisch. 58

»Fürst,« sagt der Kommandeur mit hastiger Verbeugung, »ich bringe Euch neue Kleider.«

Alexei verbeugt sich schweigend.

Der Kommandeur räuspert sich und zerrt an seinem Bart.

»Ich bitte Euch, die Kleider anzulegen.«

In Alexei steigt eine Welle übermütigen Lachens auf.

»Wünscht die Kaiserin, daß ich mich für sie schmücke?«

Und jetzt fühlt er eine quallige Bosheit auf seiner Zunge, daß man ihn zur Schau herrichtet, wenn seine Mörderin kommt.

Er geht langsam auf den Kommandeur zu.

»Was will sie von mir?«

Der Kommandeur erblaßt und weicht einen Schritt zurück. Alexei geht ihm nach, steht immer dicht vor seinem Gesicht und sieht ihn an.

»Dies alles ist ein Wunsch von dir und nicht ein Befehl der Kaiserin.«

»Ich handle auf Befehl der Kaiserin,« brüstet sich der Kommandeur.

Alexei schüttelt überlegen den Kopf: »Du lügst. Die Kaiserin ist nicht gemein. Sie ist nur schön. Und sie liebt mehr, als sie geliebt wird.«

Der Kommandeur reckt sich auf: »Wir lieben alle unsere Kaiserin.« 59

»Wir möchten, wir möchten,« verbessert Alexei trocken.

»Wir möchten,« spricht ihm der Kommandeur ehrerbietig nach.

Da lacht Alexei still vor sich hin: »Was ist das eine sonderbare Welt! Sie weiß nicht, was sie am meisten treibt, Gier oder Geist.«

Alexei sieht Sonne draußen. Sie trägt feinen, leuchtenden Staub auf die Kleider. Da sieht er darunter ein rotes Wams. Er zieht es nachdenklich hervor.

»Wann kommt die Kaiserin?«

»Gegen Abend, Fürst.«

»Bis dahin bin ich bereit.«

Der Kommandeur verneigt sich dankend.

Wie er draußen ist, breitet Alexei ein Kleidungsstück nach dem anderen aus. Es sind alles neue Gewänder aus rotem und blauem Samt.

Sie müßten in einem duftigen Garten getragen werden, denkt Alexei, bei frohen Menschen, die im Leben haften. Und es müßte Freude dabei sein, ganz helle, drängende Freude, die nach irgendwohin überschäumen will vor Fülle.

Es überfällt ihn wie wütender Hunger nach diesem geschmückten Gartenbild. Er sieht Wege mit blauschimmerndem Kies, grüne Bosketts, eine hohe Wand von gelben Rosen, Brunnen, die in das bunte Leben hineinplaudern. Und dazwischen Menschen, Menschen, die sich bewegen, die 60 lachen und trinken, Lust empfinden, ganz einfache Menschen, die so einfach sind, weil sie alles haben und nicht mit ihrer Enge sorgsam rechnen müssen.

Und ehe er es noch weiß, zieht er ein Kleidungsstück nach dem anderen von seinem Körper, eilig, denn der Garten ist draußen und da gehen Menschen.

Ein Schuh aus sämischem Leder, schmiegsam, der jede Form des Fußes nachspielt. So dünn ist die Sohle, daß man jede Blume fühlen muß, über die sie schreitet.

Strümpfe aus weißer Seide. Und dann Samt, weich und warm wie Menschenhaut.

Alexei kleidet sich an. Er sieht nur Farben. Und jemand ruft seinen Namen. Ganz deutlich, mit vielen klingenden Vokalen. Und das Jauchzen in ihm will nicht schweigen.

Er hebt die Arme: »Ach, wenn uns dieses Jauchzen tragen könnte, durch bunte Gärten und durch Wege hin, auf denen keine Hast das Lachen stört. Und matt verdämmert wissen, daß ganz fern im Grün sich einer birgt, der uns erkannt, der unsern Namen weiß und der ihn ruft, ganz lockend, fern, verhallend wie ein Meer, das in sich ruht mit namenloser Fülle.«

Alexei erwacht. Sieht sich in roten und blauen Samt gekleidet.

Eine unsagbare Bitterkeit ist in ihm. 61

In den blanken Schnallen der Schuhe sieht er unklar sein Bild.

Schlecht gerechnet, Alexei, nickt er sich zu. Du machst Fehler. Die Zeit ist dir feind geworden. Sie überschlägt die Gegenwart. Wie listig!

Das Zerrbild in den Schnallen schwankt.

»Ich bin ein Bettler,« sagt Alexei. »Ich borge bei den Bildern von draußen. Es ist mir nicht mehr genug, zu wandern, sechzehn Schritt der Länge nach, acht Schritt der Breite nach. Ich werde ärmlich. Es wird Zeit, daß das Leben nach mir verlangt.«

Alexei geht mit angespannter Aufmerksamkeit in seiner Zelle auf und ab.

 

Jetzt ist die Zeit ganz stehengeblieben. Alexei scheint es, als gehe er schon lange Tage so auf und ab, in roten und blauen Samt gekleidet.

Aber der Kommandeur fragt lächelnd: »So schnell habt Ihr Euch umgekleidet?«

Alexei packt rauh seine beiden Hände und drängt ihn gegen die Mauer: »Du, draußen im Garten stand ein Mensch. Der rief meinen Namen. Wie heiße ich? Sag' das!«

Die Augen des Kommandeurs quellen aus den Höhlen. Der Fürst ist wahnsinnig. Ihm graut. Er will ihm zureden wie einem kranken Kinde.

»Fürst, Ihr müßt Euch irren. Wir haben hier keinen Garten.« 62

Alexei läßt ihn lachend frei.

»Wir haben doch einen Garten. Oder ich habe einen. Euch hat der viele Raum unfruchtbar gemacht. Meine Enge zeugt alles, was sie begehrt. Darum war auch eben ein Garten da und . . .«

Er bricht ab und wendet sich zum Fenster.

Ist soviel Not in dir, Alexei, fragt er sich, daß du geschwätzig wirst?

Der Kommandeur steht hinter ihm: »Fürst, Ihr solltet in die Sonne gehen.«

Alexei nickt: »Ja, das wäre schön!«

Und ein tiefes Atmen will ihm die Brust zersprengen.

Schon schlürfen des Grauen Schritte hinter ihm. Er will ihn spazierenführen. Fürst Alexei soll ja in die Sonne gehen.

In den grauen Gängen heben sich die dunklen Gewänder mißtönend von dem Stein ab.

Etwas Höhnendes schmiegt sich durch die feuchte Luft an Alexei und fragt: Und was soll das alles? Hat es einen Zweck? Schmückt sich der Fürst für die Kaiserin?

Alexei sieht mit verbissener Wut um sich, und urplötzlich steht aus Trotz und Hunger gefügt eine Antwort in ihm auf: Es hat Zweck, wenn ich mich schmücke, wenn auch nicht für mich, so doch für die Dirne! 63

Pathos! Lüge! ruft das Höhnende neben ihm.

»Wahrheit! Wunsch!« ruft Alexei zurück und tritt aus dem steinernen Gang in das helle Sonnenlicht.

Alle Ruhe ist fort. Er geht mit verkniffenen Lippen und senkt die Augen. Es sieht niemand auf ihn als die Dirne.

Er fühlt ganz deutlich ihren Blick. Er geht eilig.

Eine unbekannte Glut ist in ihm, die ihn warm durchschauert.

»Ich will zu ihr in den Garten gehen. Sie hat mich doch gerufen. Dann wollen wir die Welt entdecken. Bei jedem Lachen, das sie gibt, will ich ihr einen funkelnden Gedanken geben, blank wie ein Edelstein. Den ganzen Raum wollen wir mit diesem Funkeln ausschmücken, bis er ohne Furcht geworden ist.«

Eine hingebende Heiterkeit erfüllt ihn ganz. Augen und Hände richtet er nach dem Fenster an der Ecke der Mauer.

Es ist weit offen und gähnend leer.

Wie tote Aeste fallen seine Arme herunter. Einen Augenblick würgt ihn das Blut am Halse.

Er wendet sich zu dem Grauen, will schreien, brüllen vor fassungsloser Angst.

Aber es wird nur ein dunkler Kehllaut: »Wo?« 64

Der Graue weicht ihm aus und zuckt die Achseln.

Da schwingt Alexei die Arme und schlägt ihm beide Fäuste ins Gesicht. Er sieht nichts mehr. Fühlt nur einen dumpfen Schmerz, wie er hart in die Knie sinkt.

Der Graue steht reglos neben ihm, ganz Diener des Fürsten. Es ist ein böses Zucken in seinem Gesicht.

»Steht auf, Fürst, Ihr habt neue Kleider an.«

Alexei fühlt die Macht dieser Worte.

Immer, wenn er etwas tut, was zu dem Leben von draußen gehört, kehrt er sich gegen ihn.

Er fühlt das Leben wie eine grauenhafte Last über sich hängen. Er weiß erst jetzt, daß er arm ist, so arm, daß alles Leben ihm den Napf vor der Türe reicht und ihn nicht über die Schwelle läßt.

Wieder lockt der Duft des reifen Kornes von den Barken her über die Insel hinweg.

Es ruft so schmerzhaft, daß er in seine Zelle fliehen will.

Der Graue wehrt ihm den Eingang. Er müsse noch warten. Warum? Befehl vom Kommandeur.

Alexei reinigt seine Kleider vom Staub. Wie er aufsieht, ist der Graue schon zur Seite getreten.

Eine frische, klare Luft strömt aus Alexeis Zelle. Ordnende Hände haben sie gereinigt. 65 Weiche Stühle sind da, ein Kruzifix aus mattem Elfenbein an der Wand, ein Madonnenbild mit leuchtenden Farben.

Und in einer irdenen Schale, mitten auf dem Tisch, ein voller Strauß von Heckenrosen.

Da schwemmt es alle Hemmungen von Alexeis Brust. Er kniet vor dem Tisch nieder und sieht in die Blumen. Auf der Schale stehen zwei Worte vorsichtig eingekratzt:

Evoë, Fürst!

Ein Gruß der Dirne.

Da reißt er die Blumen hoch und eilt zum Fenster.

»Für die Kaiserin,« ruft ihm der Graue nach.

»Für die Kaiserin!« jauchzt Alexei und zwängt die zarten Blüten durch die Gitterstäbe, daß es wie heller Regen durch den sonnigen Hof flutet.

Von jenseits der Mauer antwortet ein Lachen, das aufschlägt in erregenden Triolen.

 

Auf der Newa schwanken Barken mit farbigen Segeln. Die bunten, grellen Schiffe fahren an den schwarzen Getreidebarken vorbei und die Bauern entblößen ihr Haupt.

Die Kaiserin schaut auf die Berge gelben Kornes. Ein nervöses Schluchzen will sich aus ihrer Kehle pressen, wie sie all die Reife sieht.

Sie hat gerade keinen Geliebten und die Partei des Gegners wächst mächtig auf. 66

Die Hofdamen freuen sich des romantischen Ausflugs, daß ihr Lachen hell über das sonnenwarme Wasser streicht.

Aber die Kaiserin ist bleich vor Furcht.

Die Wasser der Newa teilen sich müde und lassen eine Insel frei. Wie ein drohendes Wort ragen die Festungsmauern in den warmen Sommer hinein.

Braune Hände werfen Taue an das Ufer. Drüben werden sie gepackt und um Pfähle geschlungen. Leise knirschend halten die Barken an den Stegen.

Der Kommandeur ist blutrot vor Erregung. Er versucht, einen Willkommengruß zu stammeln. Die Kehle versagt.

Die Kaiserin sieht ihn nicht an. Einen Augenblick scheint ihr die dunkle Festung mit all den verhängten Fenstern wie der Schatten unergründlicher Gefahr. Sie will nach einer Hand neben sich greifen, um das lastende Gefühl der Schuld zu vergessen. Aber es steht niemand neben ihr.

Die Kaiserin hat Heimweh und möchte weinen.

Dann geht sie schnell durch Höfe und Gänge, von einem sicheren Trieb geleitet, der ihr den Weg weist, in die Zelle des Alexei.

Die Schar der Hofdamen drängt hinter ihr her. Sie fühlen ein zufriedenes Gruseln. 67

Alexei steht unter dem Fenster, so daß sein Gesicht im Schatten ist. Aber alle anderen stehen im hellen Licht.

Es flutet herein in den Raum, Körper, Bewegungen, Farben, unendliche Töne von der Welt da draußen. Für kurze Sekunden ist es ihm, als solle er niedersinken vor diesem reichen Bilde.

Sein Blick fällt auf die leere Schale, in der die Heckenrosen waren.

Evoë, Fürst!

Nun braucht er nicht mehr zu borgen von jenem Leben und wird ruhig und hart wie glänzender Stahl.

Er kreuzt die Arme und sieht in das bunte Bild. Vor seinem Schweigen schreckt die Schar und wird still.

Ein kleines Hoffräulein legt errötend beide Hände an ihre Wangen und schmachtet zu Alexei hinauf.

Eine wunderbar heitere Ruhe ist in ihm. Ganz ferne sieht er Gestalten einer leeren Welt, die keinen Wunsch mehr in ihm zeugt.

Er verneigt sich mit Anmut. Ein Fürst hat Pflichten gegen seine hohen Gäste.

Vergebens sucht die Kaiserin seinen Blick an sich zu fesseln. Sie tastet mit der Hand über die Tischkante und kommt näher.

»Wer ist die Kaiserin?« forscht sie argwöhnisch. 68

Alexei verbeugt sich: »Diejenige, die am hoheitsvollsten fragt.«

Es spielt ein ganz leises Lächeln um seinen Mund.

Die Kaiserin winkt mit der Hand, daß die goldenen Armreifen klirren.

Die Hofdamen drängen zur Türe, neugierig, verschüchtert.

Die Kaiserin winkt noch einmal, hastig, als habe sie keine Zeit mehr.

Der Raum wird leer. Die Kaiserin und Alexei stehen sich gegenüber.

Die Kaiserin atmet heiß: »Geh!«

»Nein,« sagt Alexei.

»Du mußt!«

»Ich bleibe.«

Die Kaiserin faltet die Hände. Ihr Gesicht ist straff vor Anstrengung.

»Soll ich dir erst Abbitte leisten für meine Schuld?«

Alexei fühlt ein kurzes Beben vor dieser Stimme. Dann wird es wieder still in ihm:

»Bis hierher dringt der Begriff der Schuld nicht mehr,« sagt er langsam. »Das gilt hier nichts. Hier gilt nur das wenige, was ist. Wo ein Leben sich rundete, muß niemand Abbitte leisten.«

Evoë, Fürst! steht auf der Schale geschrieben. 69

»Und wenn du es nun für mich tätest?« bittet die Kaiserin.

»Ich habe es immer nur für dich tun sollen, gestern und vorgestern, als die Pforten geöffnet waren.«

»Aber heute drängt es,« ruft die Kaiserin. »Heute ist Not!«

Aber sie wird ganz still unter Alexeis starrem Blick.

»Du spielst schon wieder, Kaiserin. Das darfst du nicht tun, denn ich bin so eingelebt in meinen engen Kreis, daß ich glücklich bin.«

»Glücklich?« lächelt die Kaiserin, und ihr gieriger Körper reckt sich überlegen auf. »Glücklich, womit?«

Alexei antwortet ganz leise, als berichte er eine gleichgültige Begebenheit: »Mit Heckenrosen und einer Dirne, die brandrotes Haar hat.«

Und fühlt keine Scham dabei.

Die Kaiserin starrt ihn an. Sie versteht nicht. Aber sie klammert sich an das Wort.

»Du sollst auch draußen Heckenrosen haben und Dirnen mit brandrotem Haar.«

Alexei schüttelt den Kopf: »Dazu müßte ich noch einmal vierundzwanzig Jahre haben.«

Die Kaiserin sieht sich erlöst: »Du sollst noch mehr haben. Ein ganzes Leben sollst du haben!«

Alexei wischt ein Staubkörnchen von dem blauen Samt: »Das eben will ich nicht.« 70

Die Kaiserin ist in dem Sessel zusammengesunken. Sie sieht langsam zu ihm hinauf und sagt ganz hart: »Vielleicht ist morgen schon mein Gegner stärker als ich. Und dann wird er dich töten lassen.«

Alexei schweigt.

»Aber wenn du fort bist, ist er um eine Waffe ärmer.«

Alexei nimmt wieder seine Wanderung auf. Er hat fast an die Kaiserin vergessen. Er spricht wie zu sich selbst:

»Ich menge mich nicht mehr in das Spiel von draußen. Ich bin niemandes Waffe. Ich will niemandes Zuchtrute sein. Mein Körper ist meine Zuchtrute.«

Er sieht auf die Schale: Evoë, Fürst!

Jetzt umlauern sie sich mit ihrem Schweigen.

Die Luft schwingt von verwehten Geräuschen. An den Mauern ist ein Kratzen und Pochen. Die Gefangenen reden. Von irgendwo kam das Wissen: »Die Kaiserin ist da.«

Jetzt geht es durch die Räume, tastet den Stein entlang, haftet an Gitterstäben, pocht an die Holzbohlen: »Die Kaiserin ist da!«

Dumpfe Laute ersticken in den Gewölben, werden heller, klingen zu Worten zusammen, werden Rufe, und jetzt aus zahllosen Stimmen ein tosender Schrei: »Kaiserin!!«

Die Kaiserin fliegt auf: »Was ist?« 71

Alexei ist qualvoll bleich: »Sie rufen nach dir!«

Wie zügelloser Irrsinn brüllen die Stimmen in den Zellen. Alexei kann sich nicht mehr wehren gegen ihre Kraft. Der Wahnsinn steckt ihn an. Ekstatisch krampfen sich Faust und Mund. Er brüllt wie die anderen: »Kaiserin!!«

Sie taumelt zur Türe, durch Gänge, Gewölbe, gejagt und gehetzt vom Schrei der Gefesselten, umschleudert vom Echo, über Steine und Stufen, auf den engen Hof. Sie will fliehen, findet keinen Ausweg, sieht verzweifelt die hohen Mauern hinauf zu den verhängten Fenstern.

Da lösen sich wie auf ein Zeichen die dunklen Tücher. Fäuste klammern sich an die schwarzen Stäbe. Gesichter tauchen auf, entstellt von Einsamkeit und Wut.

Alexei schleudert einen Stuhl zum Fenster, springt hinauf, schmiegt sein Gesicht eng an die Stäbe und sieht die Kaiserin sich schwankend im Kreise drehen.

Da preßt es ihm ein böses Lachen ab, ein Lachen, das schwirrend auf den Hof gleitet, ein Lachen, das widerhallt, das aufgefangen wird von all den entstellten Gesichtern.

Die Kaiserin fällt. Wie Teufelschöre schlägt der Ausgestoßenen Lachen über ihr zusammen.

Und über allem ein Lachen, das aufschlägt in erregenden Triolen – 72

Dann ist alles verklungen.

Es ist Nacht. Verwehte Geräusche kommen von den Getreidebarken der Newa.

Die Festung ist grabesstill. Es werden heute viele sterben.

Henkerstritte hallen auf dem Hofe. Sie schlagen das Gerüst auf mit hämmernden Lauten.

Aber nirgends in der Nacht findet das Pochen einen Widerhall.

Und nun kommen sie aus den Zellen, alle, deren Schuld es ist, daß sie die Kaiserin erschreckten.

Sie sterben.

Ab und zu ein dumpfer Schlag. Sonst nichts als grauenhaftes, atemloses Schweigen.

Alexei lehnt müde an der Mauer. Er will es nicht verwinden, daß sein Trotz in das Leben der Kaiserin hineingegriffen hat. Er fühlt sich abtrünnig an seiner eigenen Welt.

Er nickt hinauf zu dem Kruzifix: »Das war auch deine Schuld. Dein Reich war nicht von dieser Welt. Aber du hast immer wieder in dieses Leben hineingegriffen.«

Und dann, wie Erkenntnis und letzte heiße Bitte: »Und ist nicht auch zu dir die Dirne gekommen in letzter Not?«

Alexei ist, als ob er bete. Er wird fromm. Eine reine Zärtlichkeit ist in ihm, die ihn still macht.

Er geht zum Fenster, umfaßt die Gitterstäbe 73 und sieht durch die Nacht. Er achtet nicht der dunklen Schatten, die im Hofe sind. Er sieht zum Fenster jenseits in der Ecke der Mauer.

Da steht die Dirne und schaut zu ihm hinüber.

Ihre Gesichter sind in Dunkel verhüllt.

Sie sehen nur eines des anderen bleiche Hände.

Ueber dem dunklen Handwerk unten im Hofe grüßen sich die bleichen Hände, starr und unruhevoll verlangend.

Die ganze Nacht hindurch.

 

Wer seine Welt liebt, ist treu. Und wer seine Welt bis zum Ende auslebt, ist der Treuesten einer. Doch wer sie selbst beendet, der hat der Untreue Raum gegeben in seinem Herzen.

Alexei nestelt den Strick von den Gitterstäben. Die Furcht der Nacht schweigt, denn unten brechen sie das Gerüst ab. Man wird ihn nicht mehr holen.

Glührot von Scham windet er den Strick hart um die Schale. Sie zerbricht, und die brennenden Worte sind Staub von rotem Ton.

Einen Tag Aufschub haben können! Noch einmal von vorne anfangen mit dem Sinnen und Denken, und etwas formen in sich, diese roten Bruchstücke zusammenlesen von dem grauen Stein und sie zueinander fügen, alle, wie sie 74 waren, bis die Form sich wieder gerundet hat und bis wieder das Wort dasteht: Evoë, Fürst!

Es ist ein sinnlos Fürchterliches um den Tod.

Und Alexei schreibt einen Brief an die Kaiserin:

»Kaiserin, gib mir noch einen Tag. Ich ahne, daß ich etwas in mir noch nicht gefunden habe. Oder etwas außer mir. Ich bitte Dich jetzt. Ich tue es ohne Scham, denn Du bist mir so fremd, daß ich keine Scham vor Dir habe. Ich bitte auch nicht so wie ein Mensch, der das Recht zum Fordern hat. Ich stelle mich nicht hin und sage: Diesen einen Tag bist Du mir schuldig für all das Unrecht, das Du mir zugefügt hast, für alle die Zeit, die Du mir verkürzt hast am Leben. Denn alle die Tage, die hinter mir liegen, sind ein Nichts. Darum kann sie mir niemand genommen haben und sie ruhen auf niemandes Seele. Sie waren rein, aber leer. Aber dieser eine Tag, der kommt, wird mein Tag sein. Das weiß ich. Und wenn Du mir diesen Tag nimmst, so begehst Du eine Sünde. Aber wenn Du mir diesen Tag nicht geben kannst, so will ich zu Dir, weil Du mir so fremd bist, noch eine Bitte senden, so wie man einen Gedanken ausschickt, der nie zu einem zurückkehrt: Gib mir etwas, wonach ich Sehnsucht haben kann.«

Die Feder will noch etwas hinzufügen. Seinen Namen. Einen Augenblick müht er sein Gehirn, 75 dann malt er höhnisch lächelnd das Wappen der beiden Adler unter den Brief.

Der Brief muß fort, augenblicklich. Es hängt ein Leben daran. Der Tag will grauen. Sein Tag. Jede Sekunde, die er zögert, ist Raub an seinem Hoffen.

Laut und taktmäßig schlägt er an die Eisenschiene, die durch alle Räume bis zu dem Wächter führt. Die Schläge hallen. Jeder sagt dasselbe immer wieder: »Gib mir den Tag!«

Der Graue kommt, müde von der Blutarbeit der Nacht.

Alexei befiehlt: »Nimm den Brief. Bring ihn der Kaiserin. Augenblicklich. Sie ist noch nicht fort. Ich weiß, daß sie noch nicht fortgehen kann. Sie muß noch warten auf mich.«

Der Graue zögert mißtrauisch.

»Geh doch, du verfluchter Hund!«

Da verneigt sich der Graue demütig und eilt fort.

Alexei tastet erregt an den nackten Wänden.

Sie muß mir diesen einen Tag geben. Ich habe so viel versäumt, meinen Namen und Rosen und die Dirne mit dem brandroten Haar. Und alles könnte Erfüllung bringen, der Name, die Rosen, die Dirne. Alles hat jetzt einen Sinn. Und den muß ich fassen, schnell, ganz schnell.

Eilige Schritte auf dem Pflaster des Hofes. Der Graue. 76

Alexei reißt ihm das Papier aus der Hand. Er liest den Jubelruf, der die Kaiserin befreit.

»Sei frei, Fürst! Ich schenke dir ein ganzes Leben!«

Aschfahl wird Alexei. Er wankt zu einem Stuhl.

Das ist der gemeinste Streich der Kaiserin. Die eine Hand rafft gierig, was die andere gibt.

Alexei stöhnt auf in ohnmächtiger Wut: »Frei sein, ja, das ist etwas. Aber frei sein in einem ganzen Leben ist eine Lüge. Wenn ich weiß, daß ich noch einen Tag vor mir habe, bin ich frei. Aber wenn ich noch ein ganzes Leben lang leben muß, weiß ich, daß das Unbekannte von morgen mich unfrei machen wird.«

Und brüllend in rettungslosem Zweifel schreit er auf: »Kaiserin!«

Da öffnet sich die Türe. Die Kaiserin kommt, strahlend von Lebensfrische. In hellem Gewand.

»Jetzt jubelst du, Fürst!«

Die goldenen Reifen an ihrem Arme klirren.

Alexei starrt sie an, fassungslos, blöde.

Die Kaiserin ist gerührt.

»Ja, mein guter Fürst. Es ist Wahrheit. Du sollst noch ein ganzes Leben haben.«

Da wird Alexeis Stimme ganz hell und hoch, bittend und bettelnd wie Kinderwunsch:

»Kaiserin, einen einzigen Tag! Bitte!«

Sie lacht nervös auf: 77

»Sei nicht bescheiden, du Kind. Ein Leben ist ein großes Geschenk von vielen einzelnen Tagen.«

Alexei läßt die Arme müde an seinen Körper fallen.

»Ich weiß nichts damit anzufangen.«

Mitleidig schüttelt sie den Kopf: »Viele Tage werden dich vieles lehren. Viele Tage sind . . .«

»Sind doch nichts als ein einziger Tag,« unterbricht er sie rauh. »Sie sind nur Raum, alles darin zu verzetteln und zu verzerren. Heute, eine Frist von Stunden, die alles drängend zusammentürmt, das ist etwas. Morgen ist schon Trägheit des Erlebens. Uebermorgen ist schon stehendes Gewässer, darin alles fault.«

»Ich verstehe dich nicht. Sag mir, was du willst.«

»Eine enge Schranke, um glücklich zu sein.«

Feindselig hebt sie beide Hände.

»Damit willst du mich treffen! Weil ich so viel Raum und Zeit zum Leben brauche.«

Alexei wehrt höflich lächelnd ab.

»Hör' zu, Fürst. Da du wieder höflich lächeln kannst, wirst du mich auch verstehen können. Du mußt nur einmal scharf hinhören und jedes Wort nach nichts nehmen als nach seinem Sinn. Ich bin ein Weib. Mein Wille zum Lieben ist maßlos. Für all das viele Lieben, das mich beherrscht, muß ich Macht haben, die ich 78 beherrschen kann. Das ist mein Ausgleich. Darum regiere ich.«

»Und was willst du noch von mir?«

Sie lacht: »Narr, begreifst du nicht? Jeder Herrscher hat hier sein Gegenspiel. Ich habe es von dem Tage an, da die Leibgarde mir den Purpur mitten aus dem Blut holte.«

»Aus Liebe zu dir!« höhnt Alexei.

Sie schüttelt aufmerksam den Kopf: »Aus Begierde und Hoffnung. Dich habe ich aufgespart. Wenn ich einmal nicht mehr herrschen kann, will ich dich auf den Thron setzen oder dich töten lassen, je nachdem es das Tun der Gegner verlangt. Stützen sie sich auf eigene Kraft, so mache ich dich zum Kaiser. Vertreten sie dein Recht als das ihre, töte ich dich.«

Alexei folgt den Worten, als ob er schnelle Pfeile durch die Luft schneiden sieht.

»Aber heute willst du keines von beiden.«

Sie weicht ihm aus: »Du sollst frei sein. Ich will noch herrschen. Meine Gegner sollen fürchten, wenn sie hören, daß du in Freiheit bist und eigenes Recht zu vertreten hast.«

»Wenn sich mein Recht nun auch gegen dich wendet?« fragt Alexei schnell. Ihm ist, als könne er das tun.

Sie stutzt. Lacht überlegen: »Das kannst du nicht. Denn dann verrate ich dich den anderen.« 79

Und urplötzlich ist eine ungeheure Ahnung in Alexei: »Ich werde als Kaiser sterben!«

Sie hört die grausame Sicherheit dieser Stimme, taumelt, weiß alles Leben in sich hochgewühlt und sieht mit beklemmender Furcht ihr ganzes Dasein zusammenbrechen.

Sie fleht: »Werde Kaiser!«

Alexei sieht grenzenloses Licht vor sich. Sterne tanzen. Blutigrote Streifen taumeln. Ein hoher Thron mit purpurnen Gewändern. Buntgekleidete Menschen. Ein Duft von Wein und süßem Kuchen. Heckenrosen. Menschen, die sich verneigen.

Die Kaiserin hockt bleich zu seinen Füßen und sieht mit fast mütterlicher Sorge in sein fahles Gesicht.

Er sieht nur Bilder. Sieht einen Garten, weinrote, frohe Gesichter, und alle rufen seinen Namen.

Da packt es ihn an. Das alte Bild schüttelt ihn. Die alte Frage.

Er greift den nackten, weißen Arm, zerrt ihn, bis rote Spuren sich zeigen. Schreit, mit überschlagender, hastender Stimme:

»Sag' mir meinen Namen!«

Ihre Augen werden ganz weiß vor Furcht: »Was willst du?«

»Meinen Namen will ich wissen! Ich frage danach bis zum Wahnsinn. Herrgott,« lacht es 80 aus ihm heraus, »ich will ein ganzes Leben von vorne anfangen und weiß nicht einmal, wessen Namen dieses Leben trägt!«

Da hat sie sich mit einem Ruck frei gemacht, ist aufgesprungen, groß und stark, ein reifes, helles Weib. Ihre Weibnatur greift nach diesem Anker, schlingt ihn fest, schmiedet eine Waffe daraus in einem Bruchteil von Sekunden.

Wie mit Katzenpfoten streichelt sie seine heiße Stirn: »Deinen Namen willst du wissen, Fürst? Wozu brauchst du dieses schwere Wissen? Nur um einen Tag lang zu leben? Du würdest deine kurze Zeit beschweren. Und wenn du noch ein ganzes Leben hast und Kaiser wirst, so nimm den Namen deines Vaters. Er ist kurz und leicht und hat doch Gewicht. Nenne dich Paul.«

Sie spielt mit Worten und mit Lachen.

Alexei friert. Er weiß, er hat ausgespielt. Er hat dem Weibe die Seele gezeigt, und sie verstand, was sie an Geist nicht fassen konnte.

Und schon ist sie über ihm, mit trockener, schleppender Stimme: »Ich kann nicht darauf warten, bis du mit deinen Träumen fertig bist. Es mag sein, daß hier die Zeit nichts gilt. Meine Zeit ist immer kostbar. Denn wenn ich versäume, Liebe zu suchen, werfe ich etwas von meinem Leben hinter mich. Und das ist schade. Es gibt so viel Wichtiges im Leben zu tun.« 81

Er nickt: »Es ist gleich, was man tut. Es ist alles wichtig.«

»Wichtig für das Leben,« wirft sie ein.

Er lächelt verloren: »Wie gut es ist, mit dem Leben nichts zu tun zu haben.«

Erregt von seiner eigenen Wahrheit spricht er auf sie ein, wird lebendig, übersprühend vom Drange der entfesselten Gedanken.

»Hast du das nicht auch schon einmal gedacht, Kaiserin? Als du gestern zum ersten Male in meine Zelle kamst, da hast du es gedacht. Hier diese Falte um den Mund hat es gedacht.«

Er streicht zaghaft mit weichen Fingern über ihren Mund. Sie wehrt es ihm nicht.

»Und heute morgen hat diese Falte es wieder gedacht. Und mit ihr dein ganzer Körper. Ich weiß ja nichts von der Welt. Die paar Kinderjahre haben bunte Farben geschaffen, wenige, wechselnde. Alles andere kam mir aus mir selbst. Nur ab und zu kam aus der Welt ein Schein von Leben. Ein Brief von dir, der mir den Tod androhte. Oder ein Geräusch von der Newa. Ein Duft von Korn. Oder der Schrei eines Menschen.«

»Dir ist das nichts. Mir sind es Bausteine gewesen, Kaiserin. Jetzt habe ich ein Wissen vom Leben. Und dieses ist es: Man muß nicht mit Menschen und Dingen leben. Sie lenken ab. Sie rühren uns viel zu oft auf, daß aller Bodensatz 82 aufwirbelt in schmutzigen Säulen. Man muß um sein eigenes Ich im Kreise herumgehen und es ganz still und wunschlos machen, bis alles Tun und Denken gleich wichtig und unwichtig geworden ist. Bis wir träumen, über Raum, über Zeit hinweg. Wir müssen unsere Neugierde nach dem Erleben töten.«

Wie Mahnungen einer fremden Welt fallen die Worte über die Kaiserin her.

»Müde, müde,« stammelt sie und hebt die Hände auf. »Laß mich schlafen, Alexei. Werde Kaiser!«

Er windet sich in boshaftem Lachen.

»Nein, jetzt nicht. Bleibe Kaiserin. Bleibe immer halb, weil du auch Weib daneben sein mußt. Und ich will lachen. Damit ich auch einen Zweck habe. Welterkenntnis! Ich will mich besaufen an meiner Erkenntnis. Ich will die Sonne anlachen und den Mond und alle Sterne, denn jetzt habe ich ja so viel Zeit dafür.«

Die Kaiserin atmet schwer: »Du hast gar nicht einmal so viel Zeit.«

»Doch,« sagt Alexei. »Ich habe ja ein ganzes Leben vor mir.«

»Das ist nicht wahr!« höhnt sie auf. »Du hast nur noch einen Tag. Denn ich bin großmütig geworden bei deiner Strafrede. Einen Tag will ich dir noch schenken. Dann ist es aus.«

Alexei nickt ruhig. 83

»Das wußte ich ja, daß du nachgeben würdest. Ich habe also doch noch ein ganzes Leben vor mir. Und dieses ganze Leben lang will ich über dich lachen und über deine leere Welt.«

Die Kaiserin preßt die Hände vor den Mund, um nicht aufzuschreien vor Wut. Flimmernder Haß ist in ihr.

»Jetzt rechnen wir ab, Fürst. Und das letzte, was du sehen sollst, wird ein Bild sein aus meiner leeren Welt.«

Alexei verneigt sich wie ein Fürst.

Die Kaiserin geht.

 

Es geht lautes Treiben um die Festung Schlüsselburg.

Schwere Soldatentritte. Blanke Waffen. Befehle in rauhen Lauten.

Hacken, Hämmer und Brechstangen klirren. Steine poltern. Weißer Staub wirbelt.

Soldaten brechen die Mauer ab, die die Festung von der Newa trennt.

Befehl der Kaiserin: »Es sollen heute in keiner Zelle die schweren Tücher vor den Fenstern hängen.«

Der Graue geht durch die Zellen. Ueberall sind die Tücher schon fort. Er schäumt vor Wut, wie er die höhnischen, wissenden Gesichter sieht. Bei jedem Schritt hört er das Kratzen und Pochen ihrer Sprache. 84

Sie hören jeden Stein poltern. Jetzt müssen die Zinnen umgelegt sein. Man wird ein weites Stück vom blauen Himmel sehen können.

Jetzt müssen schon Bäume auftauchen. Die höchsten Wipfel von Kiefern oder Tannen.

Nun fühlen sie den warmen Erdgeruch des Bodens in die Zellen streichen. Und jetzt kann man einen blauen Streifen sehen, ganz fern am Horizont.

Blaues Land taucht auf. Weite Stoppelfelder. Jetzt ein Blinken und Gleißen in der Sommersonne. Ein Winden von silbernen Streifen mit schwarzen und gelben Flecken besät.

Langsam fahren die dunklen Barken mit ihrer reifen Last über den Spiegel der Newa.

Die Kaiserin geht vor der Festung auf und ab.

Die Mauer fällt ihr zu langsam. Kaum, daß sie die ersten Zellen sieht.

»Schneller!«

Wütender reißen die Fäuste, wilder kratzen Stemmeisen und Meißel. Schweiß tropft über braune und rote Gesichter. Blut fließt aus aufgesprungenen Fingern.

Die Steine füllen den Graben aus. Alle Fenster sind nackt.

Nur vor dem Fenster des Alexei hängt ein schweres, braunes Tuch.

»Nimm es fort,« befiehlt sie wütend dem Grauen. 85

»Aber das ist die Zelle des Alexei,« sagt der Graue verwundert.

Sie wird rot und wendet sich ab.

Das Fenster wird kahl.

Die Kaiserin wartet.

In den Zellen ist ein Kratzen und Pochen. Die Gefangenen reden.

»Keiner soll hinaussehen. Sie will uns nur Heimweh machen nach Freiheit und weitem Land. Macht ihr nicht die Freude.«

Die Kaiserin wartet.

Prall steht die Mittagssonne gegen die Zellen.

Da liegen sie auf der Erde, wärmen sich und klopfen sich höhnische Worte zu.

Kein Gesicht zeigt sich hinter den Gitterstäben.

Die Kaiserin lacht überlegen auf: »Es ist ihm zu wenig. Er soll mehr sehen.«

Sie gibt schnelle, flüsternde Befehle.

Es wird ein Märchen auf die Insel Orechow verpflanzt.

Der Platz vor der Mauer wird geebnet, in einem großen Halbkreis, der nach der Festung offen ist.

Kiefern und junge Birken werden gefällt und in den Boden gestampft, daß sie zitternd aufrecht stehen. Blumen, eilig von irgendwoher geholt, werden in die Erde gedrückt. 86

Ein weiter blühender Bogen öffnet sich nach der Festung hin mit trügerischer Pracht.

Seidene Zelte werden aufgeschlagen. Teppiche werden gelegt. Was immer in den kaiserlichen Barken dem Behagen dient, wird ausgebreitet auf dem freien Platz.

Und über allem thront in leuchtenden Farben ein Madonnenbild.

Der Festplatz ist bereit.

 

Indessen treibt eine große Barke eilig die Newa hinunter. Braune Segel erhaschen jeden Windhauch. Breite Ruder schlagen ungeduldig das Wasser.

Vorne steht Graf Poniatowsky.

Vor zwei Stunden kam ein reitender Bote der Kaiserin: »Es ist schön auf der Insel Orechow, Graf Poniatowsky.«

Verfluchter Doppelsinn der Worte!

Aber eines steht fest: Wenn er nicht eiligst kommt, so kann es sein, daß man ihn holt. Und dann ist der Doppelsinn um nichts klarer geworden.

Gehorsam geben die Getreidebarken Raum. Aber wenn sie vorüber sind, spucken die Bauern aus.

Graf Poniatowsky klirrt mit Goldstücken.

Die Ruderer hören es durch das brausende Blut. Für eine Zeit geht die Barke schneller. 87

Dann läßt die Eile nach.

Graf Poniatowsky geht auf das Verdeck, prüft alle sorgfältig mit den Augen und wirft langsam diesem und jenem ein Goldstück zu.

Die Holzwände der Barke knirschen gepeinigt.

Und dann lacht Graf Poniatowsky. Vor ihm ragt die Festung Schlüsselburg.

Die Kaiserin steht am Ufer. Sie blinzelt sonnenmüde aus halb geschlossenen Augen. Ihre Arme fallen nackt aus weißer Seide.

»Es ist schön hier, Graf Poniatowsky.«

Der Graf küßt kniend ihre Hand. Er wagt nicht Mann zu sein bei dieser schmachtenden Stimme. Sein Argwohn wittert dahinter die Kaiserin.

»Ich habe ein Fest für Euch gerichtet, Graf Poniatowsky.«

Der Graf küßt wärmer ihre Hand und lächelt selig. Aber insgeheim prüft er alle seine Taten der letzten Zeit. Er kann nichts finden, was die Kaiserin verletzt haben kann. Oder doch? Die Briefe? Heilige Madonna, die Briefe!

»Steht auf, Graf. Ich weiß, daß Ihr mir treu seid. Ich brauche treue Menschen um mich, denn manchmal fühle ich mich einsam.«

Sie berührt leise seinen Arm. In ihm ist ein glucksendes, holperndes Lachen. Also doch nur Geliebter der Kaiserin. Gott sei gelobt. Morgen wird er die Briefe verbrennen. 88

Aber die Erregung hat ihn glührot gemacht.

Die Kaiserin sieht es. Sie lächelt nachsichtig und vielsagend.

»In einer Stunde beginnt Euer Fest, Fürst Poniatowsky.«

Dann verschwindet sie in ihrer Barke.

 

Die Dunkelheit greift mit schweren Händen über die Insel Orechow.

Matt schimmern die Festungsmauern. Heller der offene Kreisbogen des Festplatzes.

Und jäh flammen tausend Lichter auf, gewaltsam schnell, roh, ohne jeden Uebergang.

Die in den Zellen zucken schmerzhaft auf, verbissen in feindseligem Groll.

Instrumente brechen los, mit überschlagender, hungriger Wut. Sie führen keine Melodie. Sie brausen. Sie rasen. Sie haben keinen Gedanken mehr. Sind übertäubt von Licht, eingehüllt von boshaftem Willen.

Sie schreien alle dasselbe: »Weib! Leben! Trunk! Leben! Licht! Leben!«

Und endlos fort der Schrei von allem, was begehrenswert erscheint.

Dann eine strenge, lauernde Pause.

Eine verbrauchte Stimme ruft irgendwo. Sie scheint aus der Luft zu schwingen.

Alle Augen suchen. Sie finden den Grauen hinter dem Fenster von Alexeis Zelle. Sein Gesicht 89 ist vielfach gestreift vom harten Schatten der Gitterstäbe.

Er ruft aus der Zelle des Alexei, wie es die Kaiserin befahl:

»Dies ist das Fest, das die Kaiserin ihrem getreuen Fürsten Poniatowsky weiht, ein Fest der Dankbarkeit und Liebe.«

Alexei hockt hinter ihm und lächelt froh.

Der Schall der Worte tastet über die Mauern, in jede Zelle hinein, in jedes Hirn, prägt sich ein wie gemeißelt.

Die Kaiserin steht vor ihrem Zelte. Sie will lachen. Aber das nackte Echo der stolpernden Worte preßt gegen ihren Mund.

Sie schaudert, sucht nach Alexeis Fenster, findet nur die gedunsene Grimasse des Grauen und winkt heftig mit dem Arm.

Die Musik wühlt in die kurze Stille hinein und verschlingt sie.

Die Geigen wollen sich aufschwingen zu einer bacchantischen Lust. Aber sie ersticken in dem grellen, putzsüchtigen Flackern der Fanfaren.

»Wein! Wein!«

Gläser klirren aneinander. Flaschen splittern. Kurze Schreie, wenn eine Rakete aufwärts sprüht. Ein Chaos von Stimmen wirbelt im Raume. In Sekunden sind sie trunken, weil sie trunken sein wollen. 90

Fromme Wünsche weihen ein Glas dem bunten Madonnenbilde.

Jedes Wort, jedes Lachen wird Lärm. Sie können nur noch schreien, umrauscht von Weindunst und Geruch welkender Blumen.

Sie entkleiden, geben preis, werden schamlos hell und sicher in ihrem Tun, bis wie eine senkrechte Fackel die Begierde durch den zertretenen Raum geht.

Die Kaiserin sieht es rings um sich taumeln und tasten und greifen. Sie schaut von einem zum anderen, ruhelos wandernd, wie sie es den ganzen Abend tat.

Noch einmal sieht sie hinauf zur Zelle des Alexei.

Dann tritt sie vor das Zelt des Fürsten Poniatowsky und hebt den Vorhang.

Ein entfesseltes Brüllen grüßt diese Geste. Die Kaiserin hat »ja« gesagt zu ihrem Tun.

Es raunt und eilt durch die Büsche und Blumen.

Der Platz ist ganz leer.

Da tritt sie hastig ein, geschüttelt vom Fieber der Erwartung.

Sie lauscht, atemlos, hoffend.

Aus der Ecke des Zeltes kommt ein hohles, breites Schnarchen.

Der Fürst Poniatowsky hat geruht, sich sinnlos zu betrinken. 91

Die Stille atmet tief und verhalten.

Irgendwo leidet die Kaiserin an ihrer großen Enttäuschung.

Alexei hat beide Hände gegen die Schläfen gepreßt. Sein Blut summt ganz laut in den Adern.

Das hätte die Kaiserin nicht tun dürfen. Es ist grenzenlos feige, einen Gefesselten zu martern. Und alle ihre Streiche trafen.

Anders zwar, als sie dachte. Daß sie Feste feiert, ist nur ein leeres Schattenspiel. Und daß sie sich und das Fest dem Fürsten Poniatowsky weiht, ist nur eine Laune, über die das Weltgeschehen lächelnd hinweggeht.

Alexei sah viel mehr. Er sah hinter dem Mummenschanz das wirkliche Leben, sah Raum, den man durcheilen kann, sah Form, die man umschließen und austrinken kann, sah Bewegung, die das Auge niemals erschöpft. Form, die sich im Raum bewegt.

Der Raum muß grenzenlos sein. Freiheit ist die Landstraße, hatte die offene Pforte orakelt.

Sie hatte recht. Raum zeigt Ferne. Ferne zeugt Sehnsucht. Es gibt keine Sehnsucht, die nicht nach der Ferne strebt.

Die vier Wände drücken, häßlich, mitleidslos. Sie sind so feind dem Raum, daß alle Sehnsucht daran zerschellt und ohnmächtig sich in Zorn und Wut verkehrt. 92

»Ich habe ganz nutzlos gelebt,« sagt Alexei. »Morgen werde ich ganz nutzlos gelebt haben.«

»Aber ich habe doch noch einen Tag!«

»Was willst du an diesem Tage tun?«

Er sieht ratlos vor sich hin. Das nackte Weh des leeren Lebens schüttelt ihn.

Er umfaßt die Füße des Gekreuzigten.

»Hilf! Gib! Hilf mir doch gegen den Vorwurf des vergeudeten Lebens. Gib Raum! Bewegung! Ich brülle! Ich will ja alles ausfüllen. Aber es ist nicht Raum. Gib mir ein Pferd. Ich will hinrasen über Steppe und Heide, hei und hussah. Es soll mich aufrütteln, hinreißen zu Raum, Bewegung, Taumel von Kraft, denn dieses alles, all dies ist Leben!«

Er sagt es immer wieder, flehend, ohne Sinn. Wird ganz ruhig dabei. Lächelt und denkt an irgendwelche roten Bilder.

Ein Geräusch ist hinter ihm. Ein Mann im Sträflingsanzug, barhäuptig, öffnet die Tür. Er setzt das eine Bein steif und langsam über die Schwelle, zieht das andere steif und langsam nach und steht breit vor der geschlossenen Türe.

Alexei zittert: »Woher kommst du?«

»Aus meiner Zelle.«

Es sind gurgelnde Laute, die lange nicht sprachen.

»Wo ist der Graue?«

»Tot.« 93

»Der Kommandeur?«

»Tot.«

»Und alle die anderen?«

»Frei.«

Der Mann reibt sich den Hals, als müßte er ersticken an diesem Wort.

Ganz langsam fühlt Alexei das Blut zum Kopfe drängen. Rote Nebel tanzen. Er faßt des Mannes schmutzigen Kittel und klammert sich an.

Der umfaßt ihn wie eine Mutter.

Da sieht Alexei, daß sein Gesicht ganz bleich und edel ist, und daß er ihn kennt seit jenem Tage, da er den Grauen schlug.

»Geht, Fürst,« sagt Petrikow mit zitternder Stimme.

»Wohin?«

Und weiß längst, wohin er gehen wird.

»Wohin Ihr gehen müßt, mein Fürst.«

Er schiebt ihn aus der Zelle auf den Gang. Ein leiser Argwohn streift Alexei.

»Und was wollt Ihr beginnen?«

Petrikow lächelt gütig, indem er die Türe hinter sich schließt.

»Ich bleibe in Eurer Zelle.«

Alexei steht im Halbdämmer. Er spannt und duckt sich wie ein Tier. Dann springt er in wilden Sätzen vorwärts. 94

Das Ende des Ganges. Eine scharfe Mauerkante. Eine Tür. Der Riegel hängt lose herunter, träge, einladend.

Er öffnet.

Sie steht an ihren Tisch gelehnt, aufrecht, gesammelt. Mit brandrotem Haar.

Sie stutzen vor einander. Ihre Augen zucken. Sie erkennen sich.

Zwei Wesen krampfen sich zusammen. Lautlos.

Die Grenze zwischen Tier und Gott erstickt in roter Glut.

 

Flammenschein lodert. Mit einem Male heulen Stimmen. Entfesselt. Brunstvoll nach Freiheit sehnend.

Alle Wächter sind tot. Alle Gefangenen frei. Aber keiner entweicht in das schützende Dunkel. Wie sinnlos durcheilen sie die langen Gänge als den Raum, der ihnen zunächst liegt.

Trommeln. Hörner. Die Soldaten kommen.

Es raucht von Blut. Wie trunkene Motten laufen die Befreiten in die kalten Bajonette.

Was nicht stirbt, wird auf den Hof geschleift, zu dem breiten Block.

Der Schrei der Kaiserin hallt ganz laut durch den Aufruhr:

»Schützt die Zelle des Alexei!«

Zwei riesige Soldaten halten Wache. 95

Dann zerren sie alles Lebende aus den Zellen.

Es wird schnelle Arbeit getan im Hofe.

In einer Zelle finden sie einen Mann bei einem Weibe.

Die Soldaten lassen das Weib liegen, um es sich aufzusparen. Den Mann schleppen sie zum Block. Er geht hell lachend und singend mit. Er trägt die Soldaten vor sich her mit unfaßbarer Kraft.

Er beugt das Haupt, singend, lachend.

Der Henker schaudert vor diesem Wahnsinn der Todeswut.

Schreiend kommt die Kaiserin gelaufen: »Nicht diesen! Nicht diesen!«

In Alexei drängt alle Lebenskraft zu einem endlosen Jubelschrei. Er sieht ein Weib zu seinen Füßen. Sieht starre Augen, einen weißen Hals. Tobend vor Lebenswonne greift er nach diesem Hals, hart, schnürend, bis dumpf der Kopf zu Boden schlägt.

Ein dunkler Ruf drängt durch die Stille: »Die Kaiserin ist tot!«

Alexei hebt die Arme auf, versonnen, bleich: »Ich werde als Kaiser sterben.«

Rings beleben sich Fenster und Türen. Sie schauen, ahnend, begreifend.

Ein Wort wird laut, schwingt sich auf, heller, tönender, wird ein einziger Schrei, ein hoher Schrei: »Kaiser Alexei!!« 96

Alexei fühlt es über sich hinwegrauschen mit roten Schwingen. Klingend kommt sein Name gegangen. Sein Herz will brechen vor Wonne.

Da findet der Henker seinen Mut wieder und waltet seines Amtes.

Und über allem ist ein Lachen, das aufschlägt in erregenden Triolen.

 


 


 << zurück weiter >>