Immanuel Kant
Kritik der Urteilskraft
Immanuel Kant

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§ 53
Vergleichung des ästhetischen Werts der schönen Künste untereinander

Unter allen behauptet die Dichtkunst (die fast gänzlich dem Genie ihren Ursprung verdankt, und am wenigsten durch Vorschrift, oder durch Beispiele geleitet sein will) den obersten Rang. Sie erweitert das Gemüt dadurch, daß sie die Einbildungskraft in Freiheit setzt und innerhalb den Schranken eines gegebenen Begriffs, unter der unbegrenzten Mannigfaltigkeit möglicher damit zusammenstimmender Formen, diejenige darbietet, welche die Darstellung desselben mit einer Gedankenfülle verknüpft, der kein Sprachausdruck völlig adäquat ist, und sich also ästhetisch zu Ideen erhebt. Sie stärkt das Gemüt, indem sie es sein freies, selbsttätiges und von der Naturbestimmung unabhängiges Vermögen fühlen läßt, die Natur, als Erscheinung, nach Ansichten zu betrachten und zu beurteilen, die sie nicht von selbst, weder für den Sinn noch den Verstand in der Erfahrung darbietet, und sie also zum Behuf und gleichsam zum Schema des Übersinnlichen zu gebrauchen. Sie spielt mit dem Schein, den sie nach Belieben bewirkt, ohne doch dadurch zu betrügen; denn sie erklärt ihre Beschäftigung selbst für bloßes Spiel, welches gleichwohl vom Verstande und zu dessen Geschäfte zweckmäßig gebraucht werden kann. – Die Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria), und nicht bloße Wohlredenheit (Eloquenz und Stil) verstanden wird, ist eine Dialektik, die von der Dichtkunst nur soviel entlehnt, als nötig ist, die Gemüter, vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen, und dieser die Freiheit zu benehmen; kann also weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angeraten werden. Denn wenn es um bürgerliche Gesetze, um das Recht einzelner Personen, oder um dauerhafte Belehrung und Bestimmung der Gemüter zur richtigen Kenntnis und gewissenhaften Beobachtung ihrer Pflicht, zu tun ist: so ist es unter der Würde eines so wichtigen Geschäftes, auch nur eine Spur von Üppigkeit des Witzes und der Einbildungskraft, noch mehr aber von der Kunst zu überreden und zu irgend jemandes Vorteil einzunehmen, blicken zu lassen. Denn, wenn sie gleich bisweilen zu an sich rechtmäßigen und lobenswürdigen Absichten angewandt werden kann, so wird sie doch dadurch verwerflich, daß auf diese Art die Maximen und Gesinnungen subjektiv verderbt werden, wenngleich die Tat objektiv gesetzmäßig ist: indem es nicht genug ist, das, was Recht ist, zu tun, sondern es auch aus dem Grunde allein, ,weil es Recht ist, auszuüben. Auch hat der bloße deutliche Begriff dieser Arten von menschlicher Angelegenheit, mit einer lebhaften Darstellung in Beispielen verbunden, und ohne Verstoß wider die Regeln des Wohllauts der Sprache, oder der Wohlanständigkeit des Ausdrucks, für Ideen der Vernunft (die zusammen die Wohlredenheit ausmachen), schon an sich hinreichenden Einfluß auf menschliche Gemüter, als daß es nötig wäre noch die Maschinen der Überredung hiebei anzulegen; welche, da sie ebensowohl auch zur Beschönigung oder Verdeckung des Lasters und Irrtums gebraucht werden können, den geheimen Verdacht wegen einer künstlichen Überlistung nicht ganz vertilgen können. In der Dichtkunst geht alles ehrlich und aufrichtig zu. Sie erklärt sich, ein bloßes unterhaltendes Spiel mit der Einbildungskraft, und zwar der Form nach, einstimmig mit Verstandesgesetzen treiben zu wollen; und verlangt nicht, den Verstand durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken.Ich muß gestehen: daß ein schönes Gedicht mir immer ein reines Vergnügen gemacht hat, anstatt daß die Lesung der besten Rede eines römischen Volks- oder jetzigen Parlaments- oder Kanzelredners jederzeit mit dem unangenehmen Gefühl der Mißbilligung einer hinterlistigen Kunst vermengt war, welche die Menschen als Maschinen in wichtigen Dingen zu einem Urteile zu bewegen versteht, das im ruhigen Nachdenken alles Gewicht bei ihnen verlieren muß. Beredtheit und Wohlredenheit (zusammen Rhetorik) gehören zur schönen Kunst; aber Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeint, oder auch wirklich gut sein, als sie wollen), gar keiner Achtung würdig. Auch erhob sie sich nur, sowohl in Athen als in Rom, zur höchsten Stufe zu einer Zeit, da der Staat seinem Verderben zueilte und wahre patriotische Denkungsart erloschen war. Wer, bei klarer Einsicht in Sachen, die Sprache nach deren Reichtum und Reinigkeit in seiner Gewalt hat, und, bei einer fruchtbaren zur Darstellung seiner Ideen tüchtigen Einbildungskraft, lebhaften Herzensanteil am wahren Guten nimmt, ist der vir bonus dicendi peritus, der Redner ohne Kunst, aber voll Nachdruck, wie ihn Cicero haben will, ohne doch diesem Ideal selbst immer treu geblieben zu sein.

Nach der Dichtkunst würde ich, wenn es um Reiz und Bewegung des Gemüts zu tun ist, diejenige, welche ihr unter den redenden am nächsten kommt und sich damit auch sehr natürlich vereinigen läßt, nämlich die Tonkunst, setzen. Denn, ob sie zwar durch lauter Empfindungen ohne Begriffe spricht, mithin nicht, wie die Poesie, etwas zum Nachdenken übrigbleiben läßt, so bewegt sie doch das Gemüt mannigfaltiger und, obgleich bloß vorübergehend, doch inniglicher; ist aber freilich mehr Genuß als Kultur (das Gedankenspiel, was nebenbei dadurch erregt wird, ist bloß die Wirkung einer gleichsam mechanischen Assoziation); und hat, durch Vernunft beurteilt, weniger Wert, als jede andere der schönen Künste. Daher verlangt sie, wie jeder Genuß, öftern Wechsel, und hält die mehrmalige Wiederholung nicht aus, ohne Überdruß zu erzeugen. Der Reiz derselben, der sich so allgemein mitteilen läßt, scheint darauf zu beruhen: daß jeder Ausdruck der Sprache im Zusammenhange einen Ton hat, der dem Sinne desselben angemessen ist; daß dieser Ton mehr oder weniger einen Affekt des Sprechenden bezeichnet und gegenseitig auch im Hörenden hervorbringt , der denn in diesem umgekehrt auch die Idee erregt, die in der Sprache mit solchem Tone ausgedrückt wird; und daß, so wie die Modulation gleichsam eine allgemeine jedem Menschen verständliche Sprache der Empfindungen ist, die Tonkunst diese für sich allein in ihrem ganzen Nachdrucke, nämlich als Sprache der Affekten ausübe, und so, nach dem Gesetze der Assoziation die damit natürlicher Weise verbundenen ästhetischen Ideen allgemein mitteile; daß aber, weil jene ästhetischen Ideen keine Begriffe und bestimmte Gedanken sind, die Form der Zusammensetzung dieser Empfindungen (Harmonie und Melodie) nur, statt der Form einer Sprache, dazu diene, vermittelst einer proportionierten Stimmung derselben (welche, weil sie bei Tönen auf dem Verhältnis der Zahl der Luftbebungen in derselben Zeit, sofern die Töne zugleich oder auch nacheinander verbunden werden, beruht, mathematisch unter gewisse Regeln gebracht werden kann), die ästhetische Idee eines zusammenhängenden Ganzen einer unnennbaren Gedankenfülle, einem gewissen Thema gemäß, welches den in dem Stücke herrschenden Affekt ausmacht, auszudrücken. An dieser mathematischen Form, obgleich nicht durch bestimmte Begriffe vorgestellt, hängt allein das Wohlgefallen, welches die bloße Reflexion über eine solche Menge einander begleitender oder folgender Empfindungen mit diesem Spiele derselben als für jedermann gültige Bedingung seiner Schönheit verknüpft; und sie ist es allein, nach welcher der Geschmack sich ein Recht über das Urteil von jedermann zum voraus auszusprechen, anmaßen darf.

Aber an dem Reize und der Gemütsbewegung, welche die Musik hervorbringt, hat die Mathematik sicherlich nicht den mindesten Anteil; sondern sie ist nur die unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) derjenigen Proportion der Eindrücke, in ihrer Verbindung sowohl als ihrem Wechsel, wodurch es möglich wird sie zusammenzufassen, und zu verhindern, daß diese einander nicht zerstören, sondern zu einer kontinuierlichen Bewegung und Belebung des Gemüts durch damit konsonierende Affekten und hiemit zu einem behaglichen Selbstgenusse zusammenstimmen.

Wenn man dagegen den Wert der schönen Künste nach der Kultur schätzt, die sie dem Gemüt verschaffen, und die Erweiterung der Vermögen, welche in der Urteilskraft zum Erkenntnisse zusammenkommen müssen, zum Maßstabe nimmt; so hat Musik unter den schönen Künsten sofern den untersten (so wie unter denen, die zugleich nach ihrer Annehmlichkeit geschätzt werden, vielleicht den obersten) Platz, weil sie bloß mit Empfindungen spielt. Die bildenden Künste gehen ihr also in diesem Betracht weit vor; denn, indem sie die Einbildungskraft in ein freies und doch zugleich dem Verstande angemessenes Spiel versetzen, so treiben sie zugleich ein Geschäft, indem sie ein Produkt zustande bringen, welches den Verstandesbegriffen zu einem dauerhaften und für sich selbst sich empfehlenden Vehikel dient, die Vereinigung derselben mit der Sinnlichkeit und so gleichsam die Urbanität der obern Erkenntniskräfte zu befördern. Beiderlei Art Künste nehmen einen ganz verschiedenen Gang: die erstere von Empfindungen zu unbestimmten Ideen; die zweite Art aber von bestimmten Ideen zu Empfindungen. Die letztern sind von bleibendem, die erstern nur von transitorischem Eindrucke. Die Einbildungskraft kann jene zurückrufen und sich damit angenehm unterhalten; diese aber erlöschen entweder gänzlich, oder, wenn sie unwillkürlich von der Einbildungskraft wiederholt werden, sind sie uns eher lästig als angenehm. Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel der Urbanität an, daß sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluß weiter, als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet, und so sich gleichsam aufdringt, mithin der Freiheit andrer, außer der musikalischen Gesellschaft, Abbruch tut; welches die Künste, die zu den Augen reden, nicht tun, indem man seine Augen nur wegwenden darf, wenn man ihren Eindruck nicht einlassen will. Es ist hiemit fast so, wie mit der Ergötzung durch einen sich weit ausbreitenden Geruch bewandt. Der, welcher sein parfümiertes Schnupftuch aus der Tasche zieht, traktiert alle um und neben sich wider ihren Willen, und nötigt sie, wenn sie atmen wollen, zugleich zu genießen; daher es auch aus der Mode gekommen ist.Diejenigen, welche zu den häuslichen Andachtsübungen auch das Singen geistlicher Lieder empfohlen haben, bedachten nicht, daß sie dem Publikum durch eine solche lärmende (eben dadurch gemeiniglich pharisäische) Andacht eine große Beschwerde auflegen, indem sie die Nachbarschaft entweder mit zu singen oder ihr Gedankengeschäft niederzulegen nötigen. – Unter den bildenden Künsten würde ich der Malerei den Vorzug geben: teils weil sie, als Zeichnungskunst, allen übrigen bildenden zum Grunde liegt; teils weil sie weit mehr in die Region der Ideen eindringen und auch das Feld der Anschauung, diesen gemäß, mehr erweitern kann, als den übrigen verstattet ist.


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