Arthur Kahane
Die Thimigs
Arthur Kahane

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III. Helene Thimig bei Reinhardt

Nun war Helene Thimig bei Max Reinhardt gelandet.

Unter den vielen Qualitäten, die Max Reinhardt als Regisseur, als Menschenkenner und -führer, als Psychologe und Psychagoge besitzt, ist keine so stark und produktiv wie diese: sein Wissen um die Frau.

Wie nur die weiblichsten Frauen im Manne das Männliche erkennen – ich denke an Selma Lagerlöf und ihren »Gösta Berling« – so spürt dieser männliche Mann an der Frau das Weiblichste. Er kennt das ganze Arsenal der Weiblichkeit, ihre Zeichen und Merkmale – vieles, wovon die Frauen glauben, daß es ihr gehütetes Geschlechtsgeheimnis 114 ist –, aber auch ihre Hintergründe und Verborgenheiten – vieles, das ihnen selbst Geheimnis ist –; und er ist Künstler genug, um es in Form, Schauspieler genug, um es in Gestalt, in Geste, Klang und Miene umsetzen zu müssen.

Alle Frauen fühlen sich von ihm verstanden und folgen ihm, wenn er ihnen den Weg zu ihnen selbst weist.

Alle Frauen suchen diesen Weg. Auch die schamhafteste.

Die Schamhafteste ist deshalb zum Theater gegangen. Grade die Schamhafteste.

Denn die tiefste Wurzel der Schauspielkunst ist die Schamhaftigkeit.

Jede Frau sucht das Einmalige ihrer Weibnatur. Es ist ihre stärkste Kraft und das Maß ihres Wertes. Es ist ihre Aufgabe im Weltganzen. Das Einmalige ihrer Weibnatur ist es, um dessenwillen die Frau lebt.

Die einen erfüllen es in ihrem Leben, die anderen auf der Bühne. Weithin vorbildlich, für das ganze Geschlecht mit.

Sie flüchten vor sich selbst, vor der unheimlichen Gewalt des eigenen Geheimnisses, in Form und Gestalt. Sie flüchten vor den ungeheuren Möglichkeiten des Erlebens in ein selbstgewähltes, selbstbefreites Erleben. Sie überwinden ihre Schamhaftigkeit, aus Schamhaftigkeit.

Und so erfüllen sie sich, erfüllen sie ihre Weibnatur. Indem sie den Reichtum ihrer inneren Fülle an fremdes Leben verschwenden, sammeln, steigern, gestalten sie ihn.

Aber ihre Fülle braucht den Meister, der sie errät, der sie zutage fördert, der die ihr vorgezeichnete Form errät und den einzigen ihr möglichen Weg zu ihrer Form.

Von jetzt ab geht Helene Thimig ihren Weg an der Hand ihres Meisters mit einer nachtwandlerischen Sicherheit.

Unbekümmert um Erfolg und Mißerfolg, unabhängig von Verständnis und Mißverständnis der anderen, auch das Wagnis, auch den Irrtum nicht scheuend, mit einer letzten 115 überpersönlichen Sachlichkeit auf das eine Ziel zu: sich selbst zu gestalten, über sich selbst hinauszuwachsen.

Und weiter: nicht für sich allein, sondern einem Ganzen eingegliedert, das sie ebenso als ihre Sache ansieht wie den eigenen Weg.

Und schließlich: mit dem vollen Bewußtsein einer Verantwortung für den lebendigen Zusammenhang ihrer Kunst mit dem Leben und Geist ihrer Zeit.

Das ist der Weg der Schauspielerin Helene Thimig.

Am 17. Oktober 1917 debütierte sie am Deutschen Theater als Elsalil in Gerhart Hauptmanns »Winterballade«. Ein erster, noch vorsichtig tastender Schritt. Es war eines jener Hauptmannschen Mädchenkinder, unbewußt, unerweckt, fast unwirklich, zwischen Traum und Ekstase und hart an der Grenze einer gewissen romantisch verklärten Pathologie. Sie hatte Rollen dieser Art schon wiederholt gespielt, und jedermann wußte, wie sie das spielte und daß ihr das Poetische, Schwebende solcher Naturen mühelos gelang. Vielleicht war hier das Volkstümliche, Balladeske etwas stärker herausgearbeitet: als etwas wesentlich Neues empfand man, empfand vor allem sie die Leistung nicht.

Sie spielte später, im weiteren Verlaufe dieser ihrer ersten Spielzeit am Deutschen Theater noch, in derselben Linie: das Hannele, in einer anderen die Marina in »Macht der Finsternis« und, mit Laune und Anmut, die Lucile im »Bürger als Edelmann«.

Aber noch vor diesen Rollen, bereits als zweite im Deutschen Theater, spielte Helene Thimig das Mädchen im »Bettler« von Reinhard Sorge, in einer Matinee des »Jungen Deutschland«. Es war ein sehr merkwürdiges Stück des hochbegabten, früh gefallenen Dichters. Reinhardt führte, mit stärkster Anteilnahme an der Dichtung und an dem Neuen, das sie wies, die Regie. Die Art, wie die Thimig 116 die Figur des Mädchens spielte, war bereits ganz reinhardtisch, ganz thimigisch. Hauchzart schwebte es, das Bild einer rührenden Schwermut, durch das Stück, das Leiseste, das man sich träumen konnte, ganz still, fast stumm, mit einem Nichts an Gebärde, aber in den wenigen Worten von einer bewegten Innerlichkeit, einer glühenden Intensität keuscher Hingabe ohnegleichen.

In der nächsten Spielzeit 1918/19 spielte Helene Thimig die kränkelnde Marie Beaumarchais im »Clavigo«, und das Schöne an ihrer Marie war, daß sie nicht an ihrer Krankheit, sondern an gebrochenem Herzen starb. Sie wurde selbst krank und spielte dann die Hedwig in Lauckners »Sturz des Apostel Paulus«.

Helene Thimig spielte die Rosalinde in Shakespeares »Wie es euch gefällt«. Es war wie ein erlöstes Aufatmen. Es war, wie wenn alle Schwere und aller Ernst mit einemmal von ihr abgeglitten, abgefallen wäre. Es war, wie wenn alles, was an Glück, Heiterkeit, Helligkeit, Leichtigkeit in dieser reichen Frauenseele aufgespeichert lag, Schwingen bekam und sie weit über alle Erdenschwere hinaustrug in ein geträumtes Märchenland der Phantasie. Es war das Schwerloseste und Beschwingteste, was ich je auf einer Bühne erlebte.

So war die ganze Aufführung. Sie gehörte zum Schönsten, das Reinhardt je gelungen ist. Von der Arbeit, die in dem Werke steckte, war nichts mehr zu spüren. Es war das Zauberwerk leichter Hände und schönheitseliger Menschen. Phantasie entzündete sich an Phantasie, Geist an Geist, und aus allen Teilen der Aufführung schien das Glück beglückter Menschen, begnadeter Schöpferstunden zu rieseln. Mir war es ein erfüllter Knabentraum.

Ich hatte dieses luftigste Dichtergebilde schon immer im Wunschtraum gesehen und von einer Rosalinde geträumt, so süß, wie es in der Wirklichkeit keine geben konnte.

117 Es gab sie also in der Wirklichkeit.

Als ob ich das damals geahnt hätte!

Rosalinde, Fräulein Rosalinde, Prinzessin Rosalinde kam herab (ich weiß es noch, als ob es heute wäre), trug Rosen in den kleinen Prinzessinnenhänden und streute Rosenblätter auf die Träume eines Knaben.

Ach, es ist lange, viel zu lange her, aber ich weiß es noch, als ob es heute wäre.

Der dumme romantische Bub nannte sich Orlando (wie sollte er sich anders nennen als Orlando oder Rinaldo?), stand allein und verlassen in der bösen feindseligen Welt, und sein großer Bruder schlug ihn und peinigte ihn mit Regeln und Vorschriften, die grade so albern und steif waren wie die Etikette an einem großen Hofe. Er aber war sehr ritterlich und stolz und furchtbar stark und warf den großen, dicken, dummen Ringer des bösen Herzogs zu Boden wie nichts. Und zwei wunderschöne Damen erschienen, ganz jung, und waren Prinzessinnen, und die eine, natürlich die Schönere, hing ihm eine Kette von Gold, die sie vorher an ihrer jungen, weißen, runden Brust getragen hatte, als Siegespreis um den Hals und sagte ihm irgend etwas, das voll Witz und Heiterkeit war, aber in ihrem Witz glänzten Tränen der Melancholie und ihre Heiterkeit zwitscherte wie Vogelstimmen und sang wie Weben des Waldes. Er wurde stumm vor Glück. Und alles war schlank, silbrig und unwirklich wie ein Knabentraum. Mozarten.

Rosalinde, Zarteste, Wehmütig-Übermütigste, Freieste von Erdenschwere, du Elfenleichte, Sprühende und Schwebende, du über alle Maßen Verliebte, Knabentraum voll Ahnung, Sehnsucht und wehem Schmerz, weil er dich je auf Erden zu finden verzweifelt!

Irgendwo müßte ein Wald sein, der besser ist als die Welt. 118 Der anders ist als andere Wälder. Ardennenwald. Wie wunderschön das klang, ehe ihn die dumme Weltgeschichte so arg und blutig kompromittiert hat. Ein Wald voll Freiheit, zarter Musik und stiller, gedämpfter Heiterkeit. Ein Wald, der in allen Zweigen von Liebe rauscht. Ein ganz unwirklicher Wald, in dem das Unwahrscheinliche wahr wird. Ein guter, fürstlicher Herzog haust in dem Wald, milde gegen Mensch und Kreatur, voll Fröhlichkeit der Reife, wie jeder, der verzichten gelernt und das Leid erfahren hat. Mit seinen seltsamen Gesellen, Spielleuten und allerhand Volk, von dem jeder ein verstecktes Schicksal stillvergnügt zu tragen weiß. Einer ist darunter, seltsamer als die anderen, der, vollgefüllt mit Hemmungen und bitteren Wahrheiten, unter der Güte seines Herrn leidet wie andere unter der Härte von Tyrannen, bis er ihn zu hassen beginnt und danach brennt, ihm endlich einmal die Wahrheit zu sagen, etwa wie ein großer Dichter danach brennen mag, endlich einmal seinem Tyrannen, dem Publikum, die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Schäfer und Schäferinnen sind in dem Wald, dumme und kluge, schöne und häßliche, alle sehr verliebt, manchmal glücklich und meist unglücklich, weil es ja doch nichts Süßeres gibt als die Schmerzen der Liebe. Einem sehr verliebten und sehr unglücklichen leiht Bruder Hermann sein gutmütiges Gesicht. Aber der gute Wald, der melancholisch heitere Wald löst und versöhnt, sanft und milde, alle die Zwiste und Eifersüchte, Gegensätze und Widersprüche, die Abenteuer und Irrtümer zu einem fröhlichen Ende.

In diesem klingenden, singenden Walde heiterer Unwirklichkeiten lebt und liebt, lacht und leidet Rosalinde Thimig, holdeste Wirklichkeit, holder als jede Wirklichkeit und jede Phantasie der Dichter, klingende, singende Seele. Sie scherzt und spielt und verkleidet sich, aber unter den Witzen 119 ihrer sprühenden Laune, unter den Scherzen ihres anmutigen Geistes verbirgt sich ein Herz voll thimigscher Scham, ein Herz voll überströmender Liebe, ein empfindliches Herz, das unter den kleinen Qualen der Liebe, unter Ungeduld und Warten, so leidet wie andere unter Verrat und Enttäuschung. Träumte der Knabe nicht immer von einem Mädchen, das so zur Liebe geschaffen, so für die Liebe, für nichts als die Liebe begabt ist wie dieses? Und wenn die Mädchenhafteste ihre keusche Scheu in Knabengewandung versteckt, weckt die knabenhafte Grazie ihrer anmutigen Bewegungen nicht Erinnerung an jene Tage der Knabenfreundschaft, an jene nie wiederkehrende Zärtlichkeit grenzenlosen Vertrauens und heißen Bedürfnisses, sein Herz in die Hände des anderen zu legen? Welche Sehnsucht weckt Rosalinde nicht, diese Mädchen gewordene Melodie Mozarts? Aber wer hätte je geglaubt, sie anders als im Traum, als in der Vision einsamer Stunden mit sich und dem Buche, zu erleben!

Manchmal freilich geschieht das Wunder. Manchmal erfüllen sich Kinderwünsche. Ich habe »Wie es euch gefällt« gesehen. Ich habe Rosalinde erlebt. Ich habe die Rosalinde der Thimig erlebt. Und alles war schlank, silbrig, unwirklich und mozarten wie ein Knabentraum.

Und voll verliebter Torheit, wie ein Knabentraum.

Es gibt sie noch, die Liebe. O wie schön, daß es sie gibt!

Einmal hat die Thimig sie gespielt, nicht die verspielte wie die der Rosalinde oder die tragische wie die Liebe Gretchens und Clärchens, nicht die stolze oder hingebende, die herbe oder zärtliche, die keusche oder sinnlich leidenschaftliche, nicht die glückliche oder unglückliche, die Liebe als Gift oder als Segen, die Liebe mit Gegebenheiten oder mit Hindernissen, sondern die Liebe, die alles das zusammen ist, die Liebe, wie sie ist, die Liebe an sich, die Liebe allein, 120 losgelöst von Welt und Geschehen, die Liebe, die nichts kennt als sich und den einen Menschen: als sie Goethes »Stella« spielte.

Die Liebe als Musik. Als die Musik der zartesten, weichsten, reinsten Seele.

Sie spielte die ganze Skala des Frauengeschicks: Erwartung, Erleben, Erfüllung, Enttäuschung, Erinnerung, Entsagung, Erlösung. Mit einem Reichtum an Tönen, mit einer melodischen Süße der seelischen Modulation, mit einer Tiefe und Innerlichkeit des Gefühls, mit einer mädchenhaften Schamhaftigkeit der Hingabe, mit einer jenseitigen Seligkeit, mit einer Stärke des Schmerzes und mit einer Verklärung ohnegleichen.

Sie spielte, mit dem ganzen Rokokozauber der »schönen Seele«, mit der ganzen Verschwärmtheit jener gefühlsseligen Zeit eine Liebe, die zeitlos ist; die Liebe, die ewig ist.

»Und so ward das Mädchen vom Kopf bis zu den Sohlen ganz Herz, ganz Gefühl. Und wo ist denn nun der Himmelsstrich für dies Geschöpf, um drin zu atmen, um Nahrung drunter zu finden?«

Helene Thimig hatte übrigens Stella bereits einmal, ein einziges Mal vorher gespielt, in ihrer Abschiedsvorstellung am Schauspielhause. Aber die eigentliche Stella war doch wohl erst die in der Reinhardtschen Aufführung der Kammerspiele.

Abgesehen von dem Persönlichkeitszauber, von dem Kulturreiz eines vollkommen getroffenen Zeitkolorits entwickelte sich hier ein Neues: eine ganz in das Seeleninnere, in den innersten Aufbau und Ablauf sich ablösender Gefühlsstadien verlegte Seelenkunst.

Es täte not, einmal über einen der vieldeutigsten, mißverstandensten, mißbrauchtesten, geschmähtesten und doch wichtigsten Begriffe Klarheit zu schaffen: über den der psychologischen Schauspielkunst.

121 Der Anlaß wäre gegeben: es gibt kaum eine Kunst, auf die der Begriff: psychologisch mit mehr Berechtigung anzuwenden wäre als auf die der Helene Thimig.

Und doch scheut man sich davor. Man scheut sich, eine so gültige Kunst wie diese einer in zeitlichen Bedingtheiten eingeengten Diskussion um Schlagworte mit allen ihren Mißverständnissen auszusetzen. Man scheut sich, die zartesten Seelengebilde, aber in aller Zartheit von Fleisch und Blut, in Begrifflichkeiten aufzulösen. Man scheut sich, eine so reiche Kunst auf einen wenn auch noch so reichen Begriff festgelegt zu sehen.

Denn wenn die Kunst der Thimig auch psychologisch ist, sie ist nicht nur psychologisch. Nicht nur daß es Rollen von ihr gibt, die in einer ganz andern, einer überpsychologischen Sphäre stehen, wie Indras Tochter in Strindbergs »Traumspiel«, der Glaube in »Jedermann« und schließlich die Iphigenie, Rollen von der intensivsten Transzendenz, von einer fast esoterischen Inbrunst, schon außerhalb jeder Menschlichkeit, oder von einer Menschlichkeit, die nur noch große Idee, große Form ist, also Rollen, die nur aus dem Geiste der Musik zu erfassen waren und von ihr erfaßt wurden: aber auch in jeder ihrer psychologischen Rollen wuchs sie über das Psychologische hinaus.

Es gehört nämlich zum Wesen der psychologischen Schauspielkunst, daß sie die scheinbar widerstrebende Synthese nicht bloß verträgt, sondern auch verlangt.

Es gibt Menschen, für die es keine Kunst gibt und je gegeben hat, die nicht psychologisch wäre. Es gibt Menschen, für die Psychologie die überwundene Methode der vorletzten Periode ist.

Gewiß ist es wahr, daß im Mittelpunkt der Schauspielkunst und aller Kunst die menschliche Seele und ihr Erlebnis steht. Aber die psychologische Kunst, in der nicht 122 mehr die Abenteuer und Wirkungen der Seele, sondern die Seele selbst dargestellt wird, die Seele nicht mehr als Objekt, sondern als Subjekt und Schauplatz der Handlung, die psychologische Methode, die den Funktionen der Seele ihren Rhythmus und die Stadien ihres Werdens ablauscht und sie wiederholt, diese Kunst war wohl vor Dostojewski, Jacobsen und Hamsun nicht möglich.

Für mein Gefühl ist das, was Helene Thimig in einigen ihrer besten Rollen gespielt hat: Hamsun.

Wie kann man Psychologie als Methode widerlegen wollen? Wie kann man glauben, daß dieser unmittelbarste und wahrste Weg zum Menschlichen je wieder überwunden werden wird?

Man hat Psychologie nacheinander in Gegensatz gebracht zu Charakteristik, großem Stil, zum Naturalismus, zur Ausdruckskunst. Als allzu leise Kunst der Übergänge und Abschattierungen in Gegensatz zu Leidenschaft; als allzu analytisch zu Synthese und plastischer Gestaltung; als allzu privat zur sogenannten Zeitkunst. Man hat sie als eine Mimosenkunst der Selbstbespiegelung und Selbstzerfaserung definiert und damit verkleinern wollen.

Nichts von alledem ist richtig. Psychologie verträgt sich mit allen ihren Gegensätzen und mit jedem Inhalt, wenn er wahr ist. Psychologie besteht nicht bloß, wie man zu glauben scheint, darin, daß sie Pausen füllt. Psychologie bereitet nicht bloß den großen Ausbruch der Leidenschaft vor, sondern die Leidenschaft selbst gehört hinein. Nicht bloß das Leise ist Psychologie, sondern das Wahre, auch wenn es laut ist. Und wer die Thimig in ihren psychologischen Rollen gesehen hat, der weiß, daß sie über der zartesten Nuancierung im stufenweisen Aufbau des seelischen Erlebens auch nicht einen Moment lang das Profil der Figur verliert.

123 Psychologische Schauspielkunst heißt: transparent werden. Nicht bloß im Wort, sondern in allen Merkmalen, die allerdings um so beredter werden, je leiser sie sind, erraten lassen, was in einem Menschen vorgeht. Und das seelische Erlebnis nicht bloß in seinem groben Resultat, sondern in seinem allmählichen Werden erraten lassen.

Die Freundin in August Stramms »Kräfte«; Helene in Hofmannsthals »Schwierigem«; Géraldys »Aimée« und Turgenjews »Natalie«; Bourdets »Gefangene«; die Lisa im »Lebenden Leichnam« und Hauptmanns »Dorothea Angermann«.

Sieben verschiedene Frauenerlebnisse in sieben verschiedenen Frauenleben. Erlebnis und Leben von sieben verschiedenen Frauen. Und jedes Erlebnis von seinem zentralen Geheimnis aus gesehen und gestaltet. Und von jedem Erlebnis aus die Perspektive auf das Ganze, das Vor- und Nachher des dazugehörigen Lebens. Und jedes Leben ganz anders als das andere, und jedes Erlebnis und Leben an einem andern Menschen, anders an Gestalt, Tonfall, Haltung und Willen zum Leben.

»Kräfte«: ein Stück der Strindberg-Atmosphäre, das, in fast pantomimer Wortlosigkeit, letzte Willensexplosionen dämonischer Urkräfte sich nur durch die Energie von Interjektionen und Gesten entladen ließ. Der Haß und die Liebe, Frauen und sogar hypermondäne Frauen geworden, kämpfen um Männer und zerstören sie, beide zerstören, der Haß und die Liebe. Das Stück hätte in der Darstellung der Thimig auch »die Stärkere« heißen können: so spielte sie, gegen den Vampyrtypus der andern, mit allen Zeichen der Schwäche, mit einer letzten vergehenden Weichheit, die Überlegenheit der Besiegten, den Sieg der nichts als weiblichen Hingabe. Das Liebe gewordene Weibchen.

Helene im »Schwierigen« : die Frau, in deren zarte Hände, 124 ohne daß er es weiß, das Leben eines wertvollen Mannes gegeben ist; die Kluge, Feine, Überlegene, ohne die Geste der Überlegenheit, die Führende, die sich anzuschmiegen scheint, die Versteherin, die, unmerkbar, den schwierigen Mann scheinbar kampflos allen Widerständen einer ringsum erstarrten Konvention, mit unaufdringlich leiser Schonung allen Hemmungen der eigenen Natur abringt. Es war, ohne allen Tamtam des Kampfes, der Kampf des Taktes gegen die Gesellschaft, mit den Waffen der Frau, und eine Psychologie des Taktes, was die Thimig spielte. Die Persönlichkeit gewordene Dame.

Paul Géraldys »Aimée«. Die Frau und der Eigentliche. Wer ist der Eigentliche? Der Mann, der es eigentlich hätte werden sollen, oder der Mann, dem eigentlich sie nötig geworden ist? Alle Phasen beider Entdeckungen spielte die Thimig als eine Kette schmerzlicher Entsagungen, die in einer auferlegten Notwendigkeit endeten. Eine Psychologie der Wahl, aufgelöst in eine Psychologie des Müssens. Die Frau gewordene Frau.

Turgenjews »Natalie«. Die Leere des Lebens. Die Schwäche der Frau, sie auszufüllen. Die Gleichgültigkeit der Ehe. Die Schwäche der Frau, sie zu ändern. Ein in der Gefangenschaft des Käfigs matt gewordener Vogel, der zum letztenmal Schwingen zu heben versucht, die versagen. Die Thimig spielte das Allein- und Unverstandensein inmitten der einschläfernden Geräusche einer behaglichen Leere, eine Frau, die sich ihrer früheren Seele nur grade noch erinnern kann, und sie spielte die matte Schönheit der letzten Sommertage vor dem Herbst als eine letzte Versuchung, der zu erliegen man zu schwach geworden ist. Die im Ehealltag flügellahm gewordene Frau.

Bourdets »Gefangene«. Die in der verirrten Leidenschaft einer unabänderlichen Natur Gefangene. Die Entdeckung 125 der Leidenschaft. Die Angst vor der Verfehmung durch die Welt. Das Bemühen, sie vor der Welt zu verbergen. Der Versuch, sich durch eine Ehe zu retten. Der vergebliche Versuch, zu lieben wie die anderen. Die Qual bei jeder Berührung durch den eigenen Mann. Die Folter einer ehrlichen Seele durch den Zwang zur Lüge. Die Folter durch die entdeckte Wahrheit. Der ehrliche Kampf gegen die angeborene Leidenschaft. Die Ohnmacht, ihr zu entrinnen. Die Erkenntnis, ihr rettungslos verfallen zu sein. Der erwachte Trotz. Der aufgenommene Kampf gegen Alle um diese Leidenschaft. Das Zusehenmüssen, wie ihre ganze, kleine, mühsam aufgebaute Welt um sie zusammenbricht, Alle sie im Stiche lassen, die Nächsten sie aufgeben. Der Verlust des Mannes, an dem sie mit einer schwesterlichen Zuneigung hängt, an die nächste beste. Demütigung, Schande, Verzweiflung. Und zum Schluß: das letzte Sichselbstaufgeben, weil ja doch alles umsonst ist. Die Opfer gewordene, zum Opfer der eigenen Natur gewordene Frau.

Das alles war da. Mit einer letzten leisen Diskretion. Ohne jedes äußere Zeichen der Veranlagung, nur aus den Reflexen der inneren Passionsgeschichte zu erraten. Schritt für Schritt, von Phase zu Phase, ein langsames Aufschleiern, wie in einem antiken Drama. Gefühle verrieten sich unwillkürlich, man sah, wie früher Gefühltes plötzlich ins Bewußtsein schoß; man sah das Versteckenspielen vor sich selbst, das Versteckenspielen vor den anderen, das Nichtmehrversteckenkönnen, das Nichtmehrversteckenwollen. Man sah das ohnmächtige Werben um den Mann, das ohnmächtige Wehren gegen die Frau (die man nicht sah). Komplizierte Seelenregungen und Seelenbiegungen wurden deutlich, wie hinter Glas, mit einer Einfachheit und Selbstverständlichkeit, mit den kleinsten Mitteln, mit einem Neigen des Kopfes, mit einem Zittern der Stimme, mit 126 einem Zittern der Hände, dieser Hände, mit einem Stocken des Ganges. Es gibt einen Schmerz, der nicht mehr schreit, nicht mehr tobt. Sie blieb so wunderbar ruhig in ihrem Schmerz. Woher kam das Gehetzte in ihren Blick? Geheimnisse, die kein Mensch enträtseln kann, vielleicht die Spielende selber kaum. Sie machte nichts, als was sie machen mußte.

Vielleicht gibt es keine andere Definition für psychologische Schauspielkunst, als daß einer alles das, was er macht, machen muß.

Lisa Andrejewna in Tolstojs »Lebendem Leichnam«. Eine einfache, grade Seele, die des guten Willens ist. Sie will das Richtige tun. Aber was ist das Richtige? Wissen es die Männer? Woher soll eine schwache Frau es wissen? Das Leben ist so schwer. Da ist ein Mann, ihr Mann, sie hat ihn lieb gehabt, ist ihm eine gute Frau gewesen, er war ein guter Mensch, aber ein schwacher Mensch, konnte nicht arbeiten, trank, ging zu den Zigeunern. Er konnte keiner Versuchung widerstehen. Sie fühlte, wenn sie bei ihm bliebe, ginge sie mit ihm zugrunde. Nützte ihm nichts, aber ginge selbst zugrunde, an Leib und Seele. Und da war ein anderer Mann, ein edler, feiner Mensch, der sie liebte, der zu ihr paßte und zu dem sie paßte und der für sie die Rettung bedeutete. Sie will nichts Unrechtes und niemandem Unrecht tun. Nie hätte sie ihren rechtmäßigen Mann verlassen. Aber nun kommt er von selbst und zeigt ihr den Weg, wie sie alle drei, drei gute, schuldlose und rechtlich denkende Menschen, zu einem ruhigen Leben kommen könnten, ohne schuldig zu werden, ohne einander unrecht und weh zu tun. Und nun kommt die Gesellschaftsordnung und sagt: »Nein. Ihr müßt alle drei unglücklich werden, weil der Buchstabe des Gesetzes es so will.« Wie soll eine Frau das verstehen? Ein Gesetz verstehen, das 127 erlaubt, daß man auf der Seele einer Frau herumtritt, ihr die intimsten Geheimnisse ihrer Ehe entreißt und preisgibt, ihre Frauenehre beschmutzt, ihr Frauenempfinden entheiligt. Und was ist der Sinn, das Ende? Wertvolle Menschen gehen zugrunde, ein wertvoller Mensch stirbt. Diese Einfachheit und Gradlinigkeit der Gefühle, diese Hilflosigkeit einer schuldlosen Seele, dieses Nichtverstehenkönnen, Sichnichtwehrenkönnen und verzweifelte Erstaunen spielte die Thimig. Aus denselben Elementen, mit denen Lucie Höflich früher dieselbe Rolle herrlich gespielt hatte; und doch anders: die Höflich brachte die erschütternde Tragik einer in ihrer Kraft gebrochenen starken Natur, die Thimig die rührende Hilflosigkeit der in ihrer Schwäche geängstigten Natur. Die zum Opfer der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gewordene Frau.

Dorothea Angermann. Ein Mädchen. Opfer einer Sinnesverwirrung. Opfer von Trieben irgendeiner dunklen Stunde. Opfer der erstbesten männlichen Brutalität, die eine Faust nach ihr ausstreckt. Opfer des väterlichen Unverstandes, des bürgerlich bornierten Muckertums. Opfer der allzu intellektuellen, unmännlich männlichen, menschlich feigen Resignation eines Mannes. Opfer des schmutzigen Lebens. Immer wieder verfallenes Opfer einer sinnlosen Hörigkeit. Und schließlich, im letzten Erwachen aus allen Instinktlosigkeiten eines bloßen Instinktlebens, das Opfer eines fürchterlichen »Zu spät«. Das Opfer gewordene Mädchen.

Immer war es ein Werden, das Helene Thimig in diesen Rollen gestaltete, das allmähliche Herauswachsen einer Lebenstragik aus allmählich sich aufblätternden seelischen Elementen.

Die letzte Figur, die wir von Helene Thimig sahen, war die Ministerin in Shaws Komödie »Der Kaiser von Amerika«. 128 Bei der Art des Stückes, das einer individualistischen Königsfigur ein Ensemble fast karikaturistisch gezeichneter Typen gegenüberstellte, mußte an die Stelle der psychologischen eine charakterisierende Gestaltung treten. Die Thimig zeichnete den modernen Typ der in der Sachlichkeit aufgehenden Berufsfrau mit einer ungeheuren geistigen Energie, mit einer fast monomanen Konzentration, die vielleicht auf die seelischen Konzentrationsübungen ihrer frühen Mädchenjahre zurückging. Sie erreichte mit dieser Spannung einen Grad von männlicher Sachlichkeit, der wahrscheinlich nur einer Frau erreichbar ist, und so sah man, durch die Maske der Emanzipation durch, wieder eine neue Art von Weiblichkeit. Übrigens meisterlich im gesteigerten Aufbau der mit Intensitäten geladenen Rede, die, aus der Skurrilität der Situation hinaufwachsend, erschütternd wirkte.

Man möchte von der Leistung eines Schauspielers sprechen und man spricht von den Gegebenheiten des Stücks, der Situation und der Rolle, man spricht von der Wirkung, von der Wirkung aufs Publikum und vom eigenen Eindruck und Erlebnis, man spricht von der Natur des Schauspielers, von seinem Charakter und seiner künstlerischen Gesinnung. Aber das Eigentliche, das Technische, sein technisches Geheimnis bleibt man schuldig. Wie macht das die Thimig? Ja, wer das sagen könnte! Wer kann einen Blick beschreiben? Das Streichen einer Locke aus der Stirne? Ein wehes Zucken um den Mund? Das Weichwerden von Knien? Oder den Stolz eines Schrittes? Oder gar das Vibrato einer Stimme? Einer Stimme, die erröten und erblassen kann.

Wie macht sie das, daß sie eigentlich nichts macht, und wir sehen glashell alles, was in ihrer Seele vorgeht?

Wie macht sie das, daß wir ihr alles glauben müssen?

129 Wer ist der Schlaue, ihr auf die Tricks ihrer Wahrheit zu kommen?

Ich glaube, es gibt nur einen Trick der Wahrheit: wahr zu sein.

Diese Frau ist so wahr, daß sie keine Konzessionen verträgt.

Diese Frau ist so voll von ihrer Kunst, daß sie nicht einmal das Vakuum zwischen zwei Rollen verträgt. Sie ist nie unglücklicher, als wenn sie am Tage einer Premiere nicht bereits die nächste Aufgabe zu tragen beginnen darf.

Was ist es, daß diese Frau jeden Tag ohne Kunst als leer, Leere des Lebens als das einzige Unglück empfinden läßt? Was ist es, das dieser Schauspielerin Wahrheit zu dem ihr aufgegebenen Schicksal macht?

Die tiefste Wurzel aller Schauspielkunst ist die Scham. 130

 


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