Arthur Kahane
Die Thimigs
Arthur Kahane

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Hugo Thimig

I. Anfänge

Hugo war als jüngster, mit einiger Verspätung eingetroffener Sproß der Familie als Kind kränklich. Was der Pausbäckigkeit des Erwachsenen, die er sich glücklicherweise bis ins Greisenalter bewahrt hat, weiß Gott! nicht mehr anzusehen war. Der Zehnjährige vertrug die Stadtluft nicht und mußte aufs Land gebracht werden. Man gab ihn dem Pastor Fiedler des unweit von Dresden gelegenen Dorfes Unkersdorf in Haus und Obhut. Zu spät! Nicht für sein leibliches Wohl zu spät, denn die Landluft schlug ihm vortrefflich an, er tummelte sich mit seinen Mitpensionären fleißig in Garten, Feld und in den Ställen umher, erholte sich zusehends und gedieh kugelrund und dick. Aber geistig! Der gute Pastor ahnte nicht, wes Geistes der kleine Gast war, den er sich in sein unschuldiges Haus geladen hatte. Nicht als ob der Bengel besonders schlimm oder besonders verdorben gewesen wäre: im Gegenteil, er war das gutartigste und harmloseste Kind von der Welt. Aber schlimmer: der Dreikäsehoch hatte bereits sein Pubertätserlebnis hinter sich, hatte seinen Komplex weg, an dem er sein Leben lang zu tragen hatte, daß Professor Freud seine Freude an ihm gehabt hätte: er war bereits vom Theaterteufel besessen. Und das war so gekommen: seine Eltern hatten ihn vor ein oder zwei Jahren etwa in ein 25 Marionettentheater mitgenommen. Zuerst sah er der Vorstellung ganz still zu, fast unbeteiligt, mit Augen, die sich immer weiter aufrissen, doch äußerlich ruhig: aber als Kasperle auftrat, machte es einen solchen Eindruck auf ihn, packte es ihn mit einer so unwiderstehlichen Macht, daß er zu aller Verblüffung unwillkürlich auf die Bank sprang und ganz keck aus dem Stegreif mit Kasperle zu streiten anfing, so lustig und geschickt, daß Kasperle vergnügt auf den Spaß einging. Die Eltern glaubten in den Boden zu sinken vor Scham und Verlegenheit, aber das Publikum johlte vor Vergnügen. Seitdem ist er den Kasperle nicht mehr los geworden. Der Kasperle guckte ihm spitzbübisch aus den Augen, schlenkerte und hampelte in seinen Armen und Beinen, wackelte lustig mit seinen hinteren Körperpartien, wurde Fleisch und Blut in ihm. Und als er sich nun in Unkersdorf unter den nichtsahnenden Augen des Pastors Fiedler zum erstenmal von seinen Eltern unbeobachtet und frei zu fühlen begann, gab er seinem Affen Zucker und verführte seine Mitschüler, mit ihm gemeinsam kleine Begebenheiten, dem täglichen Leben der Umwelt abbeobachtet, dramatisch darzustellen, in die er jedesmal sich selbst als Kasperle hineinschmuggelte. Wie das Gift der Ansteckung in den Mitschülern weiterwirkte, wie sich seine Wirkung mit dem Unkersdorfer Pastorale und dessen pädagogischen Intentionen vertrug, verschweigt die Chronik: aber der kleine Hugo Thimig behielt es im Blute und wurde es im Leben nicht mehr los.

Der kleine Hugo kommt, gesund und blühend, nach Dresden heim und, nach vollendeter Schulzeit, beschließt man, ihn mit dem Ernst des Lebens sich anfreunden zu lassen. Den heimlichen Kasperle im Herzen wird er für reif gehalten, in der schweren, aber verantwortungsvollen Stellung eines Stifts in das altrenommierte 26 Materialwaren-Detailgeschäft der Firma Schramm & Echtermayer, »Zum Bienenkorb«, einzutreten. Es war die Absicht, ihn, wie schon der Name der Firma sinnig andeutete, zum Bienenfleiß im Dienste am Kunden anzuhalten; es war nicht die Absicht, ihm Gelegenheit zu geben, seine Kasperlekünste in der Verspottung seiner Chefs zu betätigen. Kasperles Verführung war stärker. Hugo folgte seinem inneren Kasperle. Ein ausgedienter Bienenkorb diente ihm als Bühne, von der herab er der ganzen jüngeren Materialwaren-Detailmannschaft die nicht wenigen komischen Eigenheiten der verehrungswürdigen Herren Chefs mit Kasperletechnik voragierte. Im unrechten Augenblick traten Schramm & Echtermayer persönlich auf, durchschauten napoleonisch die Situation und warfen den allzu talentierten Stift eigenhändig aus der Materialwaren-Detailpraxis heraus.

So blieb ihm nicht viel übrig, als aus der Praxis zur Theorie überzugehen. Er kam in eine Dresdner Handelsschule, um dort mit leicht gewonnenen Kameraden und Freunden einen Theaterverein zu gründen, der den beziehungsreichen Namen »Merkur I« erhielt. Als sich dann an allen Dresdner Handelsschulen Theatervereine mit den in toller Abwechslung erfundenen Bezeichnungen »Merkur II«, »Merkur III«, »Merkur IV« usw. (der Leser errät) bildeten, änderte man den Namen in den fröhlichen »Frohsinn III«. Mit dem unternehmungslustigen Namen wuchs der Mut: man mietete ein regelrechtes Theater, das sogenannte »Zweite Theater« im damaligen Gewandhaus, man spielte regelrecht Theater, man wurde ganz dreist und verlangte sogar Entree. Ob es auch gezahlt wurde, läßt sich nicht feststellen. Der einzige, der wirklich zahlte, war Vater August Thimig, der bei jeder Vorstellung versteckt in einer dunklen Saalecke saß. Und gerade er war der einzige, der nichts wissen durfte und um dessenwillen Hugo alle 27 Zurüstungen zu diesen Vorstellungen, bei denen er als Direktor, Regisseur, Darsteller, Dramaturg, Bühnenmeister und Requisiteur in Einem funktionieren mußte, mit der äußersten Heimlichkeit betrieb, weil seine Eltern um Gottes willen nicht erfahren sollten, daß dieser »Herr Hugo« auf dem Theaterzettel ihr eigenes schulschwänzendes Früchtl von einem verlorenen Sohne sei. Andererseits ließ sich auch Vater Thimig dem Sohne gegenüber nichts merken, daß er das Mindeste von dessen abwegigem Treiben ahne.

Wer zum Theater soll, dem wird alles zum Theater, der bezieht alles aufs Theater, und alles wird ihm zum Anlaß, ihn auf dem vorbestimmten Weg dem vorbestimmten Ziele zuzutreiben. Selbst die unschuldige, nüchterne Handelsschule, deren Besuch mit ganz anderen Absichten verbunden war, wurde zum Werkzeug in der Hand der Götter, Hugo der Handelswissenschaft zu entfremden, zum Blasebalg, die Theaterflamme in ihm anzufachen. An die Stelle von Gott Merkur I trat die Muse als Mentor verkleidet, das heißt, in der Gestalt von Thimigs verehrtem Deutschprofessor, dem Dr. Christian Semler, einem verdrängten Dichter und enthusiastischen Theaternarren, dessen Vorträge über deutsche Literatur das schwache Interesse für alle übrigen Lehrfächer in Hugo vollends erstickten. Und als der Begeisterte auf Kleists »Zerbrochenen Krug« zu sprechen kam und dessen Humore vor den jungen Handelsbeflissenen mit so viel eigenem Humor aufdeckte, so ergötzlich, so wirklichkeitsnah und so überzeugend eindringlich, und sich anschickte, die Komödie mit verteilten Rollen lesen zu lassen, brachte er den schon lange in Hugo züngelnden Entschluß, dem Kaufmannsstand Valet zu sagen, zur Reife. Mit dieser Wirkung hat Dr. Semler nicht eben den Lehrzielen seiner Anstalt gedient. Aber Hugo 28 verzieh ihm das, dagegen nie, daß er ihm den Schreiber Licht zuteilte und nicht den ihm gebührenden Richter Adam.

Nun kam das Schwerste: der Kampf mit Papa Thimig. Wie es dem Ahnungslosen beibringen? Der Ahnungslose wußte, zu Hugos grenzenloser Überraschung, alles. Die große Auseinandersetzung verlief ernst, aber unblutig. Zum Schluß sagte der Alte, sehr freundlich, doch nachdenklich, nur: »Da mußt du dir aber selbst helfen; mir ist das eine fremde Welt.«

Hugo nahm sein Schicksal in die eigenen jungen Hände.

Hofschauspieler Ferdinand Dessoir, des großen Ludwig Dessoir Sohn, genoß in Dresden den Ruf eines vorzüglichen Lehrers. Zu ihm ging Hugo Thimig hin, mit der Bitte, ihn zu unterrichten. Dessoir übernahm es, aber nur auf Probe. Er behielt sich vor, nach zwölf Stunden sich zu entscheiden, ob er einen weiteren Unterricht für aussichtsvoll halte oder nicht. Nach zwölf Stunden entschied er:

»Junge, dir hilft kein Gott. Du bist dem Theater verfallen. Ich habe dir halbwegs gezeigt, was du auf der Bühne vermeiden sollst; was du machen sollst, kann dir nur der liebe Gott sagen. Ich habe dir ein Engagement zu Direktor Schiemang für Bautzen, Zittau, Kamenz, Freiberg festgemacht. Hier hast du einen Ritterkragen, ein Paar Ritterstiefel, ein Paar wunderschöne lila Trikots und eine Pleureuse aus meiner eigenen Liebhaberzeit. Fahre mit Gott und mache mir keine Schande.«

So begann Hugo Thimigs theatralische Sendung.

Direktor Schiemang, der Herr über Bautzen, Zittau, Kamenz und Freiberg in Sachsen, erkannte mit unfehlbarem Scharfblick den jugendlichen Komiker und 29 Naturburschen und bestimmte ihm zum Debut die Rolle, die zur Schicksalsrolle der Familie Thimig werden sollte bis auf den heutigen Tag: Lanzelot Gobbo in Shakespeares »Kaufmann von Venedig«.

Das ist kein rechter Thimig, der noch nie den Lanzelot Gobbo gespielt hat. Auch Helene hat ihn schon gespielt.

Als Lanzelot Gobbo trat Hugo Thimig sein Engagement in Bautzen und damit seine Bühnenlaufbahn am 15. Oktober 1872 an.

Die Gesellschaft bleibt in Bautzen bis zum 4. Dezember.

Dann setzen Hugo Thimigs Wanderjahre oder vielmehr Wandermonate ein.

In Kamenz vom 6. bis zum 20. Dezember, in Zittau vom 25. Dezember bis zum 31. Januar 1873, am 1. Februar wieder in Bautzen, vom 3. bis zum 14. Februar wieder in Zittau, vom 16. Februar bis 3. März wieder in Bautzen und vom 5. März bis 30. April 1873 in Freiberg in Sachsen.

Direktor Schiemang war zufrieden. Er hatte den drolligen, begabten und überaus eifrigen jungen Mann persönlich lieb gewonnen. Und so wollte er, so schwer ihm auch der Abschied von dem von ihm entdeckten Talente wurde, seinem Aufstieg nicht hindernd in den Weg treten, als Thimig um Lösung seines Vertrages bat, um einem Antrage an das angesehene Breslauer Lobe-Theater zu folgen.

Er tritt das Breslauer Engagement als Theodor in Töpfers »Rosenmüller und Finke« am 4. Juli 1873 an.

In Breslau sieht ihn der Dichter Holtei, der theaterkundigste Deutsche seiner Zeit, und macht den Leiter des Wiener Burgtheaters, Franz Dingelstedt, auf ihn aufmerksam.

Thimig wird von Dingelstedt eingeladen, am Burgtheater auf Engagement zu gastieren.

30 Im Juni 1874 findet das Probegastspiel statt. Er spielt am 5. den Didier in der »Grille«, am 8. den Wilhelm im »Verwunschenen Prinzen« von Plötz, am 11. den Badekommissär Sittig in Bauernfelds »Bürgerlich und romantisch«.

Am zweiten Abend des Gastspiels kommt Dingelstedt in seine Garderobe und teilt ihm mit, daß der dreijährige Vertrag perfekt sei.

Er bleibt bis zum 4. September 1874 in Breslau.

Und von da ab ist Hugo Thimig am Burgtheater.

 


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