Arthur Kahane
Die Thimigs
Arthur Kahane

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II. Hermann Thimig bei Reinhardt

Es war nicht leicht gewesen; denn Hermann Thimig war ein schwerer Bursche, schwer im Blut und schwer von Entschlüssen, mißtrauisch gegen Überredung, mißtrauisch gegen große Worte und gegen große Namen, für sich selbst bescheiden und eigentlich schüchtern, und hatte Furcht vor der Weltstadt, Vorurteile und Mißtrauen gegen Berlin und alles, was er sich unter Berlin vorstellte, Ellenbogenkrieg, Koterienwesen, unsolide Arbeit, Lärm, Reklame, Betrieb.

Er wäre am liebsten in einer bescheidenen Stellung an das Theater irgendeiner Mittelstadt gegangen.

Er ging weder nach Berlin noch in eine Mittelstadt, sondern ins Feld. Es war 1914.

Die erste Post, die er im Felde erhielt, brachte ihm einen Brief des Deutschen Theaters mit der Mitteilung, daß die Summe der dem Theater zugemessenen Reklamationen erschöpft sei und das Theater für seine Reklamation nichts tun könne, weil es außerstande sei, die Unentbehrlichkeit eines bisher noch nicht in Tätigkeit gewesenen Mitgliedes nachzuweisen.

Er blieb von 1914 bis 1916 im Felde.

1916 erhielt er einen Antrag des Staatstheaters in Berlin, an dem seine Schwester Helene damals engagiert war, als Bellmaus in den »Journalisten« auf Engagement zu gastieren. Er nahm an, erhielt einen Urlaub, reiste nach Berlin und spielte den Bellmaus. Nach der Vorstellung sagte ihm der Intendant Graf Hülsen allerhand Freundliches über seine Leistung und bestellte ihn für den nächsten Vormittag zur Engagementsunterhandlung in sein Büro. Bei dieser Unterredung sagte ihm Hülsen: »Mein lieber Thimig! Ich habe mich nach reiflicher Überlegung leider dahin entscheiden müssen, von einem Engagement zunächst abzusehen. Ich will es Ihnen nicht zumuten, als 79 Mauerblümchen in kleinen Rollen danebenzustehen, wenn Ihre Schwester bei uns die großen Rollen spielt. Etwas anderes wäre es, wenn Sie sich entschließen wollten, mit mir für die Zeit nach Ihrer Rückkehr aus dem Felde abzuschließen. Darüber ließe sich mit mir reden, und ich wäre sogar bereit, Ihnen jetzt schon einen Vertrag in diesem Sinne zu geben. Überlegen Sie sich das, lieber Thimig!«

Hermann Thimig überlegte sich das nicht, sondern lehnte den Vorschlag dankend ab. Stand aber da und hatte nichts. Mußte sich bereit halten, ins Feld zurückzukehren.

Damals hatte Max Reinhardt die Verpflichtung übernommen, mit einem Teil seines Ensembles im Hause der Volksbühne zu spielen. Man bereitete Anzengrubers »Doppelselbstmord« vor, und der Toni fehlte. Eine zufällige Begegnung brachte Hollaender auf den Namen: Hermann Thimig. Er wurde ausfindig gemacht, er war selig über die Rolle, akzeptierte, die Reklamation wurde in die Wege geleitet, er probierte, er spielte. Er probierte also und spielte im Ensemble Max Reinhardts unter der Leitung Max Reinhardts. Aber er hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, hatte Max Reinhardt noch nicht kennengelernt. Erst auf der Generalprobe war ein Herr auf ihn zugekommen und hatte ihn gefragt: »Sie sind also Hermann Thimig?« Sonst nichts. »Wer war das?« wandte er sich an einen Mitspieler. »Max Reinhardt. Kennen Sie ihn denn nicht?« Viel hat der sich nicht um ihn gekümmert. Ist das hier immer so? Kriegt man seinen Direktor nie zu sprechen? Nach der Vorstellung aber erschien Reinhardt wieder auf der Bühne, ging auf ihn zu, sah ihn lange stumm an und sagte dann, leise, nichts als: »Das war ein Schuß ins Zentrum.«

Von diesem Augenblick an wußte Hermann Thimig, wohin er gehörte.

80 Dieser Toni war einfach bezaubernd. Eine in ihrer Art vollendete Leistung. Man denke: ein Anfänger – drei Jahre beim Theater – wie alt war Hermann Thimig damals? sechsundzwanzig Jahre – hatte nie derartiges gespielt – immer nur alte Leute, die letzten zwei Jahre überhaupt nicht – und immer unter der Faszination des väterlichen Vorbildes, immer der kleine Sohn des großen Schauspielers; gewiß, es erinnerte noch manches in den Bewegungen angenehm an den Vater, besonders in denen der unteren Rückenpartien, aber es stand doch etwas Neues da, eine andere Art von Wahrheit, eine andere Art von Sachlichkeit, etwas, das schon gar nicht mehr Theater war, nur Herz. Das Technische mühelos, es verstand sich von selbst, man kam gar nicht dazu, an Technisches zu denken, weil es in der Natürlichkeit der Leistung aufging. Es kam alles zusammen: die absolute Echtheit des Dialekts, die absolute Echtheit des bäurischen Wesens – das war einmal ein richtiger vierschrötiger Bauernbursch mit einem vierkantigen Bauernschädel, gleich fern vom Salontiroler wie von jeder Sentimentalität, die prachtvolle Mischung von pfiffiger Schalkhaftigkeit und einer wirklichen naiven Dämlichkeit, eine robust zupackende und dabei schamhaft unschuldige Sinnlichkeit, bäurisch in Zorn, Liebe, Verlegenheit, Eigensinn, linkisch, täppisch, aber in ihrer Unbeholfenheit von einer natürlichen Anmut. Und wirklich jung.

In früheren Jahren hatte Rollen dieser Art am Deutschen Theater der unvergessene Alexander Ekert gespielt. Der leider zu früh Verstorbene hatte sich, namentlich unter seinen Kollegen, wegen seines schlichten und herzlichen Wesens einer großen Beliebtheit erfreut, und sein Tod hatte eine schmerzliche, lang unausgefüllte Lücke gerissen. Auch der hatte weit mehr von einem niederösterreichischen Bauernsohn an sich (er stammte aus Baden bei Wien, dem 81 Geburtsort Reinhardts) als Komödiantisches, nur weicher, lyrischer, sentimentaler. Hermann Thimig aber war fester, männlicher, und wie man gleich merkte, bei derselben Ursprünglichkeit schauspielerisch disziplinierter und präziser. »Jetzt ist unser Ekert ersetzt!« hieß es im Theater. »Wir haben endlich einen richtigen Naturburschen wieder!«

Im nächsten Stücke, das Max Reinhardt am Deutschen Theater inszenierte, in den »Soldaten« von Lenz, gab er Thimig eine Rolle ganz anderer Art, die tragische Brackenburgfigur eines betrogenen und mißhandelten Liebhabers aus dem Kaufmannsstande. Ein bürgerlicher, gedrückter und unfreier junger Mensch, zum Prügeljungen des Schicksals und als Zielscheibe des brutalen Spottes geboren, hilflos, wehrlos in allen Ecken herumgestoßen. Es war nun wunderbar, wie gut Reinhardt und dieser Neue zusammenarbeiteten und wie aus dieser Arbeit eine rührende und dabei ganz unsentimentale Schlemihl-Gestaltung entstand, in ihrer Stille und Diskretion von erschütternder Eindringlichkeit und Schärfe. Die stumme und passive Tragik des unterdrückten tiers état, der anklagende Sinn dieses revolutionären Stückes, kam vielleicht durch keine Figur des Stückes zu so beredtem Ausdruck wie durch die des Stolzius, und in ihrer Thimigschen Beseelung wurde, ohne jedes Pathos, Bürgerlichkeit dämonisch.

Auch an dieser Leistung war nichts spielerisch, und jeder naheliegende Versuch einer Stilisierung etwa ins zeitkoloristisch Historische wurde unbedingt und unerbittlich unterdrückt durch eine streng sachliche bürgerliche Realität.

So schien dieser junge Schauspieler in zwei Rollen entgegengesetzten Helligkeitsgrades, in beiden gleich auf das Natürliche, fast naturalistisch Natürliche eingestellt, fast (im Geiste des Naturalismus) sozial bestimmt, das eine Mal durch das Bäurische, das andere Mal durch das Bürgerliche 82 in seinem Wesen. Aber dann kam der Leon in Grillparzers »Weh dem, der lügt« und zeigte ihn ganz anders. Auch natürlich, denn er kann nicht anders als natürlich sein, und Natürlichkeit ist die Dominante seiner schauspielerischen Kunst: aber zugleich beschwingt, zugleich witzig, zugleich spielerisch und leicht; mit einer reizend natürlichen, aber nicht formlosen, sogar musikalischen Art, Verse zu sprechen; und, im Gebete des letzten Aktes, von einem gehobenen ritterlichen Schwung, dem auch ein natürliches Pathos nicht fehlte. Es war nicht mehr Burgtheater, dazu war es immer noch zu real, zu handfest, zu sehr Leon der Küchenjunge, zu sehr bereits Deutsches Theater 1916, aber ganz weit weg vom Burgtheater war es eben auch nicht. Im ganzen eine sehr vielversprechende, sehr glückliche und geglückte Mischung, in der sich die scheinbar disparaten Elemente durch das Medium einer bereits deutlich werdenden Persönlichkeit liebenswürdig rund zu einem Ganzen zusammenschlossen.

In diesen ersten drei Rollen hatte es sich bereits gezeigt, daß hier eine neue Art von Schauspieler aufwuchs, die nur durch eine neue Art, Mensch zu sein, zu erklären war. Kein Revolutionär seiner Kunst, kein Himmelsstürmer, kein Stilerneuerer: vielmehr eine unauffällige, stille, zähe und ernste Natur. Aber eine neue Auffassung des Berufs, ein neues Verhältnis zum Theater, zur Arbeit, zum Ganzen des Hauses und der Sache, der man diente. Man konnte, vielleicht zum erstenmal bei Schauspielern, von einer frommen Demut sprechen, mit der Schauspieler an ihrer Sache hingen, ihrer Sache dienten, sich ihrer Sache hingaben. Nicht als ob es nicht auch schon früher Schauspieler gegeben hätte, die ihren Beruf, ihre Arbeit, ihre Sache ernst nahmen; im Gegenteil, an disziplinierter Pflichterfüllung und Pünktlichkeit übertrafen die Schauspieler der älteren 83 Generation die meisten ihrer jüngeren Kollegen. Auch darin allerdings war und blieb Hermann Thimig ein Sohn seines Vaters: tadellos und korrekt in der Arbeit bis zur Vorbildlichkeit. Aber es gab ein Darüber hinaus, das neu war: ein Aufgehen in der Sache, nichts als der Sache bis an die Grenzen der Selbstvergessenheit; eine bewußte, sich ihrer Verantwortung bewußte, übrigens, im Bewußtsein ihrer Verantwortung, durchaus nicht kritiklose Hingabe an den Meister bis zur Identifizierung.

Wahrheit, wie in der Kunst, so auch im Leben gegen sich und gegen die anderen; Sachlichkeit, die das private Sentiment und Ressentiment überwindet; Treue, der man auch Opfer seiner Eitelkeit zu bringen imstande ist; und Verantwortung: sich bescheiden als Glied in einer Kette fühlen, für die man Verantwortungen mitträgt: da kann man wohl von einem neuen Schauspielertypus sprechen, der allerdings auch heute noch recht selten anzufinden sein dürfte.

Sind diese Eigenschaften ein Monopol der so ernst gewordenen Kriegs- und Nachkriegsgeneration? Sind sie individuell? Sind sie thimigisch? (Helene Thimig ist ebenso.) Oder sind sie auf die Macht und Einwirkung der Reinhardtschen Persönlichkeit zurückzuführen?

Das Eigentümliche am Falle Hermann Thimig war, daß sie sich nicht bloß in seinem Charakter und in seiner Berufsauffassung, sondern auch in der Art seiner Kunst ausdrückten; daß sich diese unschauspielerischen Eigenschaften mit der durchaus schauspielerischen Struktur seines Wesens sehr wohl vertrugen; daß er wohl ein neuer und doch durch und durch ein echter Schauspieler war.

Ein Schauspieler hört nie auf, Schauspieler zu sein, und Eitelkeit gehört zu den lebensnotwendigen Eigenschaften des Berufes, gewissermaßen eine unentbehrliche Waffe im Existenzkampf. Bei Hermann Thimig tritt sie allmählich 84 immer mehr und mehr zurück, je höhere Ziele sich sein sachlicher Ehrgeiz steckt.

Hermann Thimig wächst in der Arbeit mit Reinhardt von Rolle zu Rolle und wächst von Rolle zu Rolle in die Arbeit Reinhardts. Der sonst gar nicht elastische Mensch ist in der Hand Reinhardts weich wie Ton in des Meisters Hand. Sie verstehen einander ohne viel Worte; die Andeutung genügt. Reinhardt liebt Menschen dieser Art, die sich erst allmählich am langsam glimmenden eigenen Feuer entzünden und deren Schwere dann um so stärker und elementarer aufbricht. Diese Langsamkeit ist nicht die Form eines langsamen Verständnisses (bei Hermann Thimig im Gegenteil: er weiß sofort, was Reinhardt will, aber er braucht Zeit, bis er es verarbeitet, bis es ihm zur Natur geworden ist), sondern eine Form der Schamhaftigkeit: er kann sich nicht sofort geben, nicht auf Kommando. Und Reinhardt läßt ihn gewähren: denn er weiß, daß schließlich das wird, was er will. Er kennt diesen Schauspieler so genau, daß er jede Thimigsche Figur von vornherein in der Thimigschen Form sieht, und er braucht ihm nur die Details, die bereichernden Varianten zu geben. Und da die Thimigsche Art, aus mancherlei fruchtbarem Widerspruch zusammengesetzt: Leichtigkeit, die einer Schwere entspringt, Liebenswürdigkeit, die durch Herbe und Scham durchbricht, Anmut einer derben Ursprünglichkeit, das österreichisch Freie, durch deutsche Zucht gebändigt, seinem Geschmacke besonders zusagt, wird seine regieliche Phantasie an ihr besonders schöpferisch und reich an Einfall.

Darum arbeitet Reinhardt mit Thimig gerne und er nimmt ihn, wenn es das Stück gestattet, fast in jede seiner Inszenierungen hinein. Und als Reinhardt zu seinen Berliner Theatern noch das Wiener Theater in der Josefstadt übernahm, wurde Hermann, mit den anderen Thimigs, eine 85 Stütze des dortigen Repertoires und seine Tätigkeit zwischen Berlin und Wien aufgeteilt.

Er spielt in Wien das moderne Lustspiel und Gesellschaftsstück, in Berlin alles, auch im klassischen Stück, und die meisten seiner Rollen in beiden Städten und hat durch diese Kombination die dem Schauspieler so förderliche Gelegenheit, sich immer wieder von Zeit zu Zeit vor einem neuen Publikum ausprobieren zu können, ohne auf den Kontakt mit einem Stammpublikum zu verzichten.

Hermann Thimig hatte in seinen ersten drei Berliner Rollen den deutlichen Umriß einer Persönlichkeit gezeigt und doch erlebte er, was seinem Vater durch die strenge Beschränkung auf ein Fach in fünfundzwanzig Burgtheaterjahren versagt blieb, das Glück einer ungehemmten, unverkennbaren, ruhig und stark ansteigenden Entwicklung. Nicht zu sich selbst: denn alle Thimigs fangen gleich damit an, daß sie ganz sie selbst sind. Aber über sich selbst hinaus: ins allgemein Menschliche. Er blieb nicht im Fache; vom jugendlichen Komiker, schüchternen Liebhaber und Naturburschen war längst nicht mehr die Rede. Das waren einzelne und gelegentliche Seiten und Farben seines Könnens, die er aufblitzen ließ, wenn er Shakespearesche Narren und Schäfer spielte, wie den Lanzelot, den Mopsus im »Wintermärchen«, den jungen Schäfer in »Wie es euch gefällt«, auch diese bereits vom Artistischen und Nurkomischen wegspielend mit Zügen einer rührenden Menschlichkeit. Er war über das enge Fach hinausgewachsen in das weite und unbegrenzte der Menschendarstellung. Über Charge und Charakteristik hinaus zur Darstellung der reinen Menschlichkeit, der Menschlichkeit an sich; der heiteren, der rührenden, der lachenden, der leidenden, der gedrückten, unterdrückten und der sehnenden, der befreienden, der beschränkten und der offenen, der liebenswürdigen und der 86 frechunternehmenden, der glücklich oder unglücklich liebenden und verliebten. Freilich immer, mit einer früh schon weisen Selbstbeherrschung, in den erkannten Grenzen der eigenen Natur, die zur sehr Natur war, um sich Fremdes aufpfropfen zu können.

Unter den vielen Genüssen, die uns das Theater bietet, gibt es vielleicht keinen höheren als die seelische Wollust, das menschliche Geheimnis sich vor uns entschleiern zu sehen. Wir Menschen wissen sonst nicht allzuviel voneinander. Einiges immerhin verrät uns das Theater von dem, was im menschlichen Herzen vorgeht. Und was uns der Nachbar verschweigt, aus Schamhaftigkeit oder aus Furcht vor dem Entlarvtwerden oder, meistens, weil er es selber nicht weiß, erzählt uns der Schauspieler von ihm. Aber er verrät dabei nicht bloß indiskret den Nachbarn, sondern zugleich, ohne es zu wollen, sich selbst. Wenn mir der Nachbar erzählt, wie er sich selbst sieht, glaube ich ihm nicht: er möchte sich bloß so sehen und er will, daß ich ihn so sehe. Darin schwindeln die meisten Menschen. Dem Schauspieler glaube ich es: auf der Bühne kann er nicht lügen, selbst wenn er wollte. Die Bühne deckt jede Lüge auf: sie dekuvriert die Wahrheit. Von Hermann Thimig wissen wir's, wie er sich selbst sieht. Er hat es uns selbst erzählt. Als er den Michel Hellriegel spielte, in Gerhart Hauptmanns »Und Pippa tanzt«. Hermann Thimig lügt nicht. Als er den Hellriegel spielte, kam alles heraus: was er sich wünscht und wovon er träumt und was er singt, wenn er mit sich allein ist, und wie er trällert und pfeift und dalbert und spielt, und alle Eichendorff-Romantik, die in ihm steckt, und Wanderburschenherrlichkeit und daß er sich nur im Walde zu Hause fühlt, und viel verliebtes Zeug, das er sonst schamhaft zu verstecken weiß, und mit einem Wort: die ganze entlarvte, dekuvrierte, blamierte neue 87 Sachlichkeit mitsamt dem ganzen schweren und besonnenen Ernst, hinter dem ein himmlisch verrücktes, herzliches Jungenslachen quietschvergnügt hervorguckt, das im nächsten Augenblick auch weinen kann, weil die Welt so schön und manchmal auch so schlecht ist. Lieber Thimig! dich kennen wir jetzt.

Jeder, der sich bemüht, dem Rätsel dieser rätselhaften Kunst: Schauspielkunst auf den Grund zu gehen, kommt wie von selbst auf jene beiden Typenreihen, in denen sich, wie in zwei getrennten Lagern, in einem unvereinbar scheinenden Gegensatze die beiden Fundamentalverschiedenheiten in der schauspielerischen Einstellung zu Gestalt und Form repräsentativ verdichtet haben: die Schauspieler der Verwandlung und die Schauspieler der eigenen Natur. Immer kehren sie wieder, sich deutlich gegeneinander abhebend, in jeder Periode, jeder Generation, in jeder Stilart, in jedem Ensemble, und es ist fast kein Schauspieler, der nicht unbezweifelbar dem einen oder dem andern Typus zuzuzählen ist. Es wird immer Schauspieler geben, deren wunderbare Stärke es ist, statt einer Natur tausend Naturen in sich zu haben und sie in tausend Verwandlungen zu zeigen, so, als ob sie überhaupt keine eigene Natur hätten und nur auf die Berührung des dichterischen Zauberwortes warteten, eine und jedesmal eine andere zu bekommen. Und andere Schauspieler mit der entgegengesetzten, aber fast noch wunderbareren Kraft, nur durch die eigene Natur, nur durch ihr reines und einfaches Sein zu wirken. So ist es fast, als hätten jene alle Künste des Metiers gepachtet, alle Geheimnisse der Verwandlung, der Maske, der Charakteristik, während diese nichts zu tun brauchten, als einfach auf die Bühne zu treten und sich so zu geben, wie sie sind. Ganz so einfach ist es nicht. Gar so unvereinbar sind die Gegensätze nicht. Abgesehen davon, daß es, wie bei 88 allen Gegensätzen, Übergänge gibt, Überschneidungen, Kombinationen, Verwischtheiten, finden sich in jedem Schauspieler, er gehöre dem oder jenem Typus an, Ansätze zum andern Typus: sonst wäre er kein Schauspieler. Sei es, daß er durch den einen Typus durchgegangen sein muß, um zu dem andern zu gelangen; sei es, daß er in einzelnen Rollen dem, in anderen dem andern Typus anzugehören scheint. Es kommt kein Schauspieler, der einer ist, ganz ohne beides aus: Natur und Verwandlung. Um tausend Naturen in sich zu haben, muß man selber eine sein: ein Vakuum gebiert nur Vakuum, nicht Gestalt. Grade von den großen Künstlern der Verwandlung, diesen Abenteurern der eigenen Seele, blieb uns zum Schluß das Bild einer überreichen Natur, die tausend Formen braucht, weil ihr die eine nicht genügt. Und um ganz sich selbst geben zu können, muß einer vorher alle Künste der schauspielerischen Verwandlung beherrscht haben. Die schwerste Verwandlung ist die Verwandlung zu sich selbst. Wie schwer muß sie sein, wenn es erst einer so weit gebracht hat, daß man ihre Schwierigkeit gar nicht mehr bemerkt. Und erst dann kann man davon sprechen, daß er sich selbst spielt und durch die reine Kraft der eigenen Natur wirkt.

Die tiefste Wurzel aller Schauspielerei ist die Scham. Im Schauspieler wird Scham schöpferisch, gleichviel ob er, aus Scham, nur sich selbst zu geben vermag oder, auf der Flucht vor der eigenen Seele, sie hinter tausend Verwandlungen schamhaft versteckt.

Wie alle Thimigs gehört Hermann zu den Schauspielern der eigenen Natur. Aber welche Kunst bewies es, so schmucklos wahr nicht bloß sein Wesen, sondern auch die geheimen Hintergründe seines Wesens darzustellen, wie es im Hellriegel ihm gelang! Wie kann sich einer so von außen und von innen zugleich sehen und das Gesehene gestalten, wie 89 wenn es ein Fremder wäre, und sich doch eine naive Schlichtheit bewahren, die wie ein treuherziges Volkslied klang!

Das war nun Hermann Thimigs eigentliche Natur, das von jedem Schauspieler ersehnte Glück, einmal sich selbst und nur sich selbst erfüllen und sich auf der Bühne ganz ausleben zu können. Aber als er am Deutschen Theater den Chlestakoff in Gogols »Revisor« spielte, wie einst sein Vater am Burgtheater, nur freilich, bei einiger Ähnlichkeit, anders, den Russen Chlestakoff, der gar nichts von einem deutschen Träumer an sich hatte, einen Hochstapler, einen Schwindler, einen Renommisten, Säufer und verfluchten Kerl spielte, sich also in das ihm Entgegengesetzte verwandeln mußte, und die Verwandlung gelang, es war ein Russe, man konnte an einen jüngeren und agileren Oblomow denken, es war ein Betrüger und Aufschneider, mit Snobismen, mit einer falschen Nonchalance –: wirkte er da nicht, durch alle Verwandlung und Maske durch, wieder am stärksten durch die zwingende Selbstverständlichkeit seines Wesens, seiner Anmut, seiner Liebenswürdigkeit? Es wird wohl so sein: es kann einer eine Natur sein und kann sich trotzdem verwandeln, aber er wird auch in der Verwandlung eine Natur bleiben; er kann auch das Unehrliche glaubhaft machen, aber auf eine ehrliche Weise; und seine Wirkung wird den Reiz dieser Ehrlichkeit ausüben, ohne daß darüber die unehrliche Figur verlorengeht.

Es ist nicht unergiebig, die beiden Chlestakoffs miteinander zu vergleichen. Zu vergleichen, nicht zu werten, denn an Qualität dürften die beiden Leistungen sicher ebenbürtig gewesen sein. Der Vater stach – Vorteil und Nachteil – von einer viel schwächeren Umgebung ab, die einzige hochwertige Leistung in einer sonst mäßigen Aufführung. Die neuere Aufführung war unvergleichlich echter, eigenartiger, gewichtiger und zugleich lustiger; brauchte 90 nicht tausend Vorsichten und Rücksichten zu üben, war sozial aggressiver und anklägerischer und basierte auf einer ganz anderen Vertrautheit mit dem russischen Wesen als die einer Zeit, die kaum die großen russischen Romanciers, die russische Geschichte und Gegenwart gar nicht kannte. Das einzige, was an jener Aufführung russisch war, dürfte der Chlestakoff Hugo Thimigs gewesen sein. Aber auch die Echtheit war damals etwas anderes, als sie jetzt ist: sozusagen ethnographischer, jetzt ist sie psychologisch. Damals wirkte das Russische mit dem exotischen Reiz einer unbekannten und fernen Völkerschaft, viel zu fern, um der Neugierde mehr als eine Kuriosität zu bedeuten, heute ist uns diese Völkerschaft ganz nahe auf den Leib gerückt, und wir wissen um die dunklen, gebundenen und schöpferischen Kräfte dieser im Guten wie im Bösen ungeheuren Kultur- und Unkulturmacht. So konnte der Vater sich mit einer fast eleganten Zeichnung begnügen, wo der Sohn aus Widersprüchen eine einheitlich plastische Figur gestalten mußte. Der Chlestakoff Hugo Thimigs hatte etwas von einem russischen Daumier, der Chlestakoff Hermanns war mehr wie eine Porträtstudie Troubetzkojs. Aber zu den Unterschieden der zeitlichen Auffassung kamen die persönlichen Verschiedenheiten. Der Sohn war schwerer, breiter, sozusagen substanzieller, also auch in diesem Sinne russischer; ließ sich einen, freilich nur einen melancholischen Moment einer nachdenklichen Selbstbesinnung nicht entgehen. Während der Vater, leichter, elastischer mit seiner quecksilbernen Springinsfeld-Beweglichkeit durch das Stück sauste. Der Sohn humorvoller, der Vater witziger. Beiden gemeinsam Liebenswürdigkeit und versöhnende Jugend.

Jene Ähnlichkeit mit dem Vater hatte längst aufgehört, für Hermann ein Problem oder gar eine innere Hemmung zu sein. Seine schauspielerische Substanz hatte sich so 91 gefestigt, und er fühlte sie als eine so völlig andere, daß er seinem Vater als ein Eigener gegenüberstand, immer noch mit der Dankbarkeit des Schülers für den angebeteten Meister, aber eines Schülers, der sich frei gespielt hatte. Was an Ähnlichkeit zurückblieb, das war die Gemeinsamkeit vererbter Charakterzüge, die kein Mensch aus seinem Wesen zu tilgen vermag, und einige Äußerlichkeiten der Bewegung, die noch fester sitzen als jene. Alles dessen, was ihn mit seinem Vater verband, vermochte Hermann lachend sich jetzt in Freiheit zu freuen, und nichts verschaffte ihm eine solche Genugtuung, als wenn sich die Gelegenheit einstellte, aus seiner Art heraus dieselben Rollen zu spielen, die dreißig Jahre vor ihm sein Vater gespielt hatte. Nicht aus der Eitelkeit eines Wettkampfes, Wetteifernwollens, denn er war immer geneigt, sich bescheiden vor der Überlegenheit seines Vaters zu beugen, auch wo dieser sie gerechterweise bestritt, sondern aus einer inneren Freude an beidem, am Anderssein und am Ähnlichsein, und aus einer gewissen Ergriffenheit über das seltene Geschenk des Schicksals, den Weg des Vaters genau dort fortsetzen zu dürfen, wo der andere ihn abgeschlossen hatte. Ähnlich wie bei den großen Meistern des Mittelalters und der Renaissance Kunst und Hantierung sich treu vom Vater auf den Sohn vererbte.

Als sein Meisterstück mag wohl der Truffaldino in Goldonis »Diener zweier Herren« anzusehen sein, der, wie er seinerzeit des Vaters Glanz- und Lieblingsleistung war, auch für das Können des Sohnes einen Höhepunkt bedeutete, der Mittelpunkt einer Aufführung voll Charme, Grazie, Farbe und Leben. Voll Charme, Grazie, Farbe und Leben er selbst. Die großen Vorzüge seines Vaters in dieser Rolle: das sichere Stilgefühl für den artistischen Reiz der Commedia dell' arte, die harlekinische Komik, die unglaubliche, fast atemraubende Geschicklichkeit in der Beherrschung aller 92 akrobatischen Künste, die den Bühnenraum mit einem unausgesetzt wirbelnden Leben erfüllten: alles das war auch in Hermanns Leistung vorhanden, aber nur in der Andeutung, nur als koloristischer Hintergrund, von dem sich eine ganz menschliche, unendlich sympathische Schelmenfigur fast rührend abhob, in ihrer drolligen Pfiffigkeit, mit einer so natürlichen Freude an allem Animalischen, an Essen und Küssen, eine so behaglich schmatzende Genießernatur, daß einem das Wasser im Munde zusammenlief. Kein Kasperle mehr, sondern der natürliche Trieb, in der natürlichen Grazie seiner Unschuld und Naivität. Auch der artistischeren Leistung des Vaters hatten die menschlichen Züge nicht gefehlt: nur die Dominanten haben sich verschoben. Und so stehen in der Erinnerung die beiden Schöpfungen von Vater und Sohn, jede in ihrer Art meisterlich, mit ihren Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten stilcharakteristisch und ebenbürtig nebeneinander.

Übrigens erlebte Hermann Thimig die Freude, grade in dieser Aufführung Vater und Schwester als Partner neben sich auf der Bühne stehen zu sehen, Hugo Thimig als Pantalone, Helene Thimig als Zofe Gmeraldina.

Dem Wiener Theater in der Josefstadt gelang es, alle vier Thimigs im Rahmen einer Aufführung zu vereinigen, in der Friedellschen Bearbeitung »Alles und Nichts« von Nestroys »Traum von Schale und Kern«. Solche gemeinsame Familienarbeit findet sich sonst am Theater selten, häufiger am Zirkus und im Varieté. Es hat auch etwas von guter, seriöser Artistenarbeit. Muß für den Vater ein merkwürdig gutes Gefühl sein vom Weiterleben seines Lebenswerks in der Arbeit seiner Kinder, für die Kinder von einem fast bürgerlichen Rückhalt und Zusammenhalt.

In vielen Lustspielen, namentlich französischer Provenienz, spielte Hermann Thimig in Berlin und Wien nicht 94 wie sein Vater die schüchternen Liebhaber – die Schüchternheit der Liebhaber ist ausgestorben – sondern die Bonvivants. Das heißt: früher hätte man sie in dieses Rollenfach eingereiht; so wie Thimig sie spielt, sind es keine Bonvivants mehr und haben alle ihre Typuseigenschaften verloren: die so unbeschreiblich überlegen lächelnde Überlegenheit, den eleganten Schmiß der Manschette, die aus allen Bügelfalten und Brillantknöpfen sprühende Selbstgefälligkeit, mit einem Worte: den Tausendsassanismus der Unwiderstehlichkeit. Thimig spielt jeden anders, aus der Besonderheit seines Erlebnisses heraus, und es gelingt ihm, auch diesen gesteiften Hemdbrüsten etwas wie eine individuelle Menschlichkeit einzuhauchen. Er nimmt jede Figur durchaus ernst und erzielt grade dadurch eine um so heitere oder komischere Wirkung. Das natürlich Liebenswürdige versteht sich von selbst, das muß auch ohne Drücken herauskommen. Es kommt in Thimigs ungesuchter Schlichtheit stärker heraus als in der Routine der professionellen Bonvivants. Thimig begnügt sich nicht damit, Eleganz einer Figur als ihre einzige seelische und geistige Qualität darzustellen, er verzichtet lieber darauf, elegant zu wirken und sucht statt dessen in der gegebenen Situation die Einfallstelle, die ihm den individuellen Zug ermöglicht, der die Figur von der typischen, nur durch Haltung definierten Gleichartigkeit ähnlicher Figuren abhebt. Und es ist merkwürdig: dadurch, daß er sie seriöser nimmt, werden diese leichten Stücke nicht weniger leicht, sie werden nur besser, als sie in der alles gleichmachenden Konvention zu sein schienen. Sie sind nämlich gar nicht schlecht, stellt sich heraus: sie sind nicht bloß, mit aller Beherrschung des technischen Handwerks, glänzend und mit leichter Hand gemacht, sie sind nicht bloß witzig und gesellschaftlich, sondern es steckt ein gut Teil Welt- und 95 Menschenkenntnis darin, nur eben leicht und witzig und ohne die schwitzende Prätention eines philosophischen Systems vorgetragen. Es lohnt, diese Menschenkenntnis, die eben mehr in der Situation als im Räsonnement steht, aus dem lustspielmäßigen Ambiente herauszufischen: Menschenkenntnis lohnt immer und ist immer amüsant, und es gibt keine Situation, sei sie noch so komisch, der sich nicht ein Menschliches abgewinnen ließe. Man muß sie nur so ernst und menschlich nehmen, wie Thimig sie nimmt, das Komische findet sich dann hinterdrein immer von selbst.

Selbst eine so typische Operettenfigur wie den Eisenstein in der »Fledermaus«, der sonst meist von Sängern mit allen Mitteln operettensängerischer Darstellungskunst gesungen wird, verwandelte er, ganz von der traditionellen Schablone des Schwerenöter mit tenoralem Niveau weg, in einen wirklichen Menschen mit menschlichen Schwächen, menschlichen Verlegenheiten und einer liebenswürdigen Hilflosigkeit. Er spielte ihn, übrigens im Sinne des ursprünglichen französischen Textes, ein wenig provinzial, mit einer nicht ganz stichfesten, nicht ganz sicheren Eleganz, in seiner Unsicherheit allzu sicher, ganz unbonvivanthaft keiner Situation gewachsen und ein wenig düpe einer jeden, der in allen Fallen, Netzen und Verführungen einer musik- und tanzverwirrten Nacht eigentlich Gefangene und zum Schlusse Blamierte, und wurde so viel interessanter, charakteristischer und buffonesker, als es je ein mit Stimmglanz und Elan schmetternder Buffo gewesen war. Und diente so, abgesehen von seiner immer sympathischen Persönlichkeitswirkung, dem Ganzen besser, weil er zum erstenmal die Situation der etwas verwickelten Fabel wirklich und verständlich brachte. Außerdem war er so wohltuend österreichisch, worauf man in der unmittelbaren Nähe der Straußischen Musik wirklich nicht leicht verzichten kann.

96 Denn ein Grundzug dieser festen Natur ist es, daß sie fest in einem bestimmten Erdreich wurzelt. Hermann Thimig muß Erde berühren und Boden treten, um ganz er selbst zu sein. Dann wachsen ihm auch die Schwingen, die ihn über sich selbst hinaustragen. Selbst in das Dynamische einer Tragik, die sich seinem gesunden, lebenbejahenden Wesen nur schwer abringt. Der eigentliche Hermann Thimig ist volkstümlich. In volkstümlichen Rollen wachsen ihm Kräfte nach oben und unten, eine volksliedhafte Poesie nach oben und Tiefen in seiner Seele, die von unten kommen. Wächst das Baumeisterliche in ihm und manches, was an Rudolf Rittner erinnert. Wie erschütternd und mit welcher letzten selbstverständlichen Schlichtheit gestaltete er die volkstümliche Tragik des Franzl in »Peripherie«, einem im Verbrecher- und Dirnenmilieu spielenden Stücke des tschechischen Dichters Frantisek Langer! Es gibt Menschen, die zur Tragik prädestiniert sind, heroische Menschen, die das Kainszeichen des tragischen Kampfes mit Welt und Schicksal weithin sichtbar auf der Stirne tragen, und es gibt Schauspieler, die zur Darstellung solcher tragischen Menschen prädestiniert sind. Auf mich wirken tausendmal erschütternder, tragischer als diese Professionals der Tragik die einfachen, scheinbar untragischen Menschen, die sich ahnungslos durch das feindliche Leben schleppen und auf die, ihnen unbegreiflich, unverständlich, das unsichtbare Schicksal Schlag auf Schlag loshaut, loshämmert. So einen Ahnungslosen, der sich immer wieder zu erheben versucht und immer wieder niedergetrampelt wird, von wem? warum? er weiß es nicht, er sieht den Feind nicht, gegen den er sich wehren soll, er schlägt um sich, blind, ins Ungefähre, es nützt ihm nichts, er muß zugrunde gehen, warum? sein Schicksal will es, was weiß er von seinem Schicksal? so einen spielte Thimig mit seiner ganzen 97 Ahnungslosigkeit, mit seiner ganzen Verzweiflung, ganz unsentimental, ganz sachlich, ohne Beschönigung, aber mit allen seinen Menschlichkeiten, mit einem Restchen Humor, der nur Selbsterhaltungstrieb ist, mit einem armseligen Restchen Eitelkeit, weil doch jeder Mensch nur Mensch ist, selbst der Verbrecher, mit seiner Liebesbedürftigkeit, weil es doch kein Leben geben darf, in dem nicht wenigstens einmal ein Atemzug Glück war. Kein lautes, kein pathetisches Wort, keine Träne, kein Schrei, kaum einmal ein Zucken im Gesicht, das war nicht mehr Theater, ein bloßes Sein rollte sich vor uns ab, automatisch, folgerichtig in seiner Sinnlosigkeit, eine Gestalt stand da, stumpf, fast stumm, animalisch in ihren ach! so verständlichen Lebensgieren, bettelte nicht um Mitleid, tat blind, was sie mußte, litt stumm, was sie nicht begriff, ließ mit sich geschehen und trug, bis sie nicht mehr tragen konnte. Ein armer Schächer. Ecce homo!

Eine solche Allgemeingültigkeit erzielt nur das in seinen Merkmalen Bestimmte, und wenn nur ein Glied in der Kette der Merkmale fehlt oder falsch oder beiläufig ist, dann stimmt das Ganze nicht. Die richtigen Merkmale aber kann einem nicht das Hörensagen und nicht die vage Vorstellung und nicht die subtilste Beobachtung sagen, sondern nur das eigene Erleben. Nur wer einen solchen Menschen erlebt in sich trägt, kann ihn mit solcher Wahrheit gestalten. Des Volkes Freud und Leid, Humor und Tragik kann nur ein in seines Wesens Urgrund Volkstümlicher gestalten. Wenn man's ist, bleibt man's, bis zu welchen Kulturgipfeln immer man sich entwickelt haben mag.

Woher er die Volkstümlichkeit hat? Wer ergründet die Geheimnisse des Blutes? Wer weiß, welcher Bauernahn sich in ihm wiederholt? Welche Elemente in seiner Wesensmischung vorbereitet liegen, das Österreichisch-Älplerische 98 williger aufzunehmen, stärker in seine Natur hineinzuverarbeiten, als es bei anderen, selbst bei seinen Nächsten der Fall sein konnte?

Dann die zweite Frage: wie wurde dieses bei allem Widerspruch Ungebrochene, Unkomplizierte Theater? Was reizte den Ernsten, Schweren an diesem luftigen Nichts, daß er seinen ganzen Ernst und seine Schwere in den Dienst eines wesenlosen Spiels stellte? Diesen Schamhaften, daß er, statt sich in sich selbst einzuhüllen und vor der Welt abzuschließen, seines Wesens Verstecktestes durch ein Spiel vor der Welt und für die Welt aufblätterte? Diesen gegen sich selbst unerbittlich Wahren, daß er sich freudig jeder Lüge der Verwandlung unterwarf, mehr noch, in der Lüge den einzigen Weg zur eigenen Wahrheit suchte und fand?

Ist dies nur Ansteckung durch die Familie, Gelegenheit, Erziehung durch die exklusive Tradition des Burgtheaters, das seine Schauspieler mit der Würde eines priesterlichen Berufes umgab, Ansteckung durch die bajuvarische Spielfreude ringsumher, wie sie sich in Bauerntheatern und Passionsspielen austobt und wie sie sich dermaleinst das bajuvarische Barocktheater schuf, das noch nicht tot ist und in Reinhardts Theater wieder auflebt?

Alles das mag wohl zusammengewirkt haben, um Hermann Thimig zum Theater zu bestimmen, und in manchen seiner Rollen, den Anzengruberschen Bauernburschen zum Beispiel, war etwas von der bajuvarisch-bäurischen Spielart mit ihrer naiven Unbekümmertheit noch zu spüren. Aber sein Verhältnis zum Theater ist zu ernst und zu schwer, um sich durch äußere Einflüsse allein erklären zu lassen.

War auch das noch einer seiner Widersprüche? Einer, dessen Wesen das Unkomödiantische war, und mußte dennoch Komödiant werden. Im Gegenteil: das Theater bot 99 ihm die einzige Gelegenheit, seine Widersprüche durch die Form zu lösen.

War es Flucht vor sich selbst? Im Gegenteil: das Theater war sein Weg zu sich selber.

Es wird wohl so sein, daß ein braver, natürlicher, einfacher, aufrechter und aufrichtiger, wahrer und guter Mensch, der gewohnt ist, alles was er tut, ernst zu tun, eines Tages spürt: das alles ist gut und schön; aber es kann noch nicht alles sein. Es muß noch etwas anderes geben. Es genügt mir nicht, daß ich weiß, so zu sein, genügt mir nicht, daß ich es für mich bin. Ich muß es auch in der Welt sein. Es muß sich auch auswirken. Sonst hat es keinen Sinn zu leben. Es muß aus meinem Bewußtsein hinaus in das wirkliche Sein. Das was ich bin, muß ich auch tun. Aber wo kann ich das, solange das Leben so arm ist und ohne Möglichkeiten und gewohnheitsmäßig abläuft wie eine Uhr? Es muß ein Leben geben, das größer ist und das einem gestattet, so zu sein, wie man wirklich ist. Und das zu gestalten, was man ist. Und dann wird sich vielleicht herausstellen, daß ich das alles wohl auch, aber außerdem vielleicht noch vieles andere bin. Was, das weiß ich selber noch nicht, aber ich weiß, daß es da ist. Und ich weiß, daß ich es loswerden muß, weil es mich sonst erwürgt. Und das in mir erwürgt, was brav, natürlich, wahr und gut ist. Ich werde es nicht los, indem ich es unterdrücke. Denn es ist ein Teil von mir und gehört zu mir, genau so wie das Brave und Gute. Und ich muß es sogar lieben, genau so wie das Brave und Gute und vielleicht mehr noch, wie man seine mißratenen Kinder manchmal mehr liebt als die geratenen. Aber ich werde es los, indem ich es von mir loslöse und ihm Auge in Auge gegenüberstehe. Indem ich es gestalte. Ich bändige es, indem ich es gestalte. Und das kann ich nur in jenem anderen, freieren, reicheren Leben, jenem Leben 100 der Gestaltung und des Spiels, jenem Leben des Traums, des Wunders und der reineren Wirklichkeit, das Theater heißt. Freilich nur auf meine Art, indem ich sein Spiel ernst nehme, indem ich seinen Traum und seine Lüge in Wahrheit verwandle. Ich kann auch mit meinen Dämonen nur auf meine Art fertig werden, wenn ich das bleibe, was ich sein muß, einfach und wahr.

So mag wohl die innere Stimme seines Dämons zu Hermann Thimig gesprochen haben, als er das Erbe seines Vaters antrat und zum Theater ging.

Es war halt sein Schicksal. Dagegen läßt sich nichts machen. 101

 


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