Arthur Kahane
Der Schauspieler
Arthur Kahane

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9.

Nichts konnte würdiger sein, als das Verhalten, das die Kleine des Abends während der Vorstellung im Theater gegen den 202 Schauspieler an den Tag legte. Sie vollzog die unvermeidliche Begegnung mit dem vollkommensten Anstande. Auch der vertrauteste Beobachter, auch der geschärfte Blick der argwöhnischesten Kollegin hätte nichts in ihrem Betragen bemerken können, was in ihrem wie immer kameradschaftlichen und alles über eine kameradschaftliche Vertraulichkeit Hinausgehende geschickt und geflissentlich nach außen verdeckenden Verhältnis auf die geringste Veränderung hinübergedeutet hätte. Und wenn sie, wo es anging, im Spiele sich seiner körperlichen Nähe und Berührung mit einer nur für ihn berechneten Deutlichkeit der Absicht entzog, geschah es jedem anderen Auge unauffällig und konnte weder von den Mitspielenden, die alles bemerken, noch von dem Publico, das nie etwas bemerkt, beobachtet werden. Ihn aber reizte der als sonst flüchtigere Kuß, die Lauheit der halben Umarmung, die durch eine geschickte Viertelsdrehung des Körpers ihm entzogene, dem Publico sichtbarer als sonst gegönnte Entblößung der Hüfte, die fehlende Berührung des nackten Armes mit der bloßen Haut des seinen auf eine seltsame Weise. Er begann ihre 203 Berührung zu suchen, die sich ihm weiter entzog, suchte ihr Auge, das ihm vorüberglitt. Ihr Gesicht blieb unbewegt und kalt, schwieg ihm. Er fand nicht einmal ein Lächeln des Triumphes darin, das ihm galt. Eine scheinbar sachliche Anmerkung, die er ihr zuwarf, beantwortete sie gleichfalls sachlich, eine zweite überhörte sie. Nach dem Ende der Vorstellung war sie, eine unauffällige Minute früher fertig umgekleidet als sonst, verschwunden, bevor er ihr, wie er pflegte, eine gute Nacht bieten konnte.

In der Gasse holte er sie ein, aber sie ging, lebhaft schwatzend, in der Gesellschaft einiger Kameraden, männlicher und weiblicher, denen sie sich, wie einer früheren Verabredung sich entsinnend, angeschlossen hatte.

Er wandte sich, etwas unbehäglicher Laune, nach Hause, nahm, nach dem Abendbrot, seinen Rinaldo vor und versuchte es, sich mit der Rolle zu beschäftigen.

Er begann mit der ersten Szene. Die Kreuzfahrer, unter ihnen Rinaldo, treten auf, sinken ins Knie, küssen den Boden und Rinaldo bricht in die Worte aus: 204

»Du Erde sei gegrüßt, die Christi heilges Blut –«

mit einer Stimme, die hell, schmetternd, jauchzend, unirdisch klingen sollte. Aber die Stimme kam dumpf, brüchig, rauh und leer. Der Schauspieler setzte ab und versuchte es noch einmal. Er hörte sich nicht. Eine verwaschene, alte Stimme, grau und tonlos, zerflatterte im Raum. Er faßte nach der Kehle, probierte die Stimmbänder. Sie schmerzten von der Anstrengung. Da hieß es, in Geduld abwarten, bis er sich hineinsprach, seine Stimme frei sprach. Des Wortlautes, das wußte er, war er inne. Aber nein, er war seiner nicht inne. Schon in der nächsten Zeile:

»Getrunken hat, du Land, auf dem sein Wort geruht,«

versagte er ihm. Ein Wort fehlte. Das Wort: Wort. Er sagte: Auge, Blick, Segen. Das Versmaß stimmte nicht. Der Sinn auch nicht. Er mußte in die Rolle blicken. Und er hatte doch die Wortfolge so genau gelernt, so sicher gehabt. Er war zerstreut, er war nicht bei der Sache. Ihm fehlte etwas. Jemand fehlte ihm. Jemand, der ihm hülfe, der ihm beistünde. Ein Echo. Ein Ohr, das seine Stimme auffinge, 205 daß sie ihm nicht im Nichts verwehe. Er überlegte, seine Hausfrau zu wecken, daß sie ihm die Rolle abhöre, die Stichwörter bringe. Aber er schämte sich vor ihr. Bei jeder anderen Rolle eher als beim Rinaldo. Und er stellte sich vor, daß die stets Verdrießliche die lockenden Worte der Armida sprechen sollte.

Er begann von neuem, nahm jeden Vers einzeln vor. Er fand für keinen den richtigen Ausdruck. Jedesmal einen beiläufig richtigen, aber für keinen jenen einzig richtigen, einzig möglichen. Manchmal glaubte er deutlich den richtigen zu hören, aber die äußere Stimme traf sein inneres Melos nicht. Und auch das nur selten. Meist blieben die Worte fern von ihm und er ganz fern von den Worten. Eine Brücke fehlte und ihm war, als spürte er dieses Fehlen wie ein Körperliches.

Die Brunnen in ihm versagten. Er pumpte, nach Leibeskräften, aber nichts stieg herauf, und die Wörter standen ihm trocken und leer in der Kehle.

Er nahm die Worte einzeln. Sprach sie sich vor, mit geschlossenen Augen, und versuchte, sich 206 an ihrem Klang zu berauschen. Schickte, hinter geschlossenen Lidern, seine Vorstellungskraft auf die Suche, aber sie kehrte mit leeren Händen zurück. Als hätte er nicht gewagt, ihr das erlösende Wort mitzugeben, und das Unausgesprochene, Ungewagte umschwamm ihn im Raume und legte sich bleischwer stockend auf die schaffenden Kräfte seines Innern.

Er nahm seine Spiegel zu Hilfe. Er holte ein Schwert, dessen er beim Lernen seiner Rollen sich öfter bediente, von der Wand, steckte es durch den Gurt der Hose, stellte sich vor einen der Spiegel, der ihm seine ganze Figur zeigte, breitete die Arme aus, hob sich in seinen Schuhen, warf den Kopf in den Nacken und rollte die Augen in jugendlichem Feuer. Und nachdem er seinen Körper mit allen sichtbaren Zeichen der Jugend getränkt hatte, begann er zu sprechen. Aber die Jugend blieb in seinen Bewegungen stecken und drang nicht in die Worte, nicht in den Ausdruck, nicht bis zu seiner Seele.

Die Seele blieb leer, und was sie hätte füllen können, fehlte.

Er trat an den Tisch und schüttete ein Glas 207 Wein nach dem anderen in sich hinein. Und dann wieder vor den Spiegel und begann dasselbe Spiel zum andernmal. Aber der Wein stieg ihm bloß zum Kopf, nicht in die Sinne. Der Rausch wollte sich nicht einstellen und das Gefühl auch nicht, und seine Stimme klang ohne Jugend, und Liebe war in den Worten, die er sprach, aber nicht in ihrem Klange und nicht in ihm. So viel er sich mühte, gelang es ihm nicht, ihre Musik aus seinem Erinnern heraufzuholen.

Ihm war, als sei ihm nichts so fremd wie Liebe und als hätte er nie von Liebe gewußt und als sei sie ein Geheimnis, zu dem es nur einen Schlüssel gebe und den hätte er auf ewig verloren. Als entsänne er sich nur ganz dunkel, ganz von Ferne, daß er ihn einmal gehabt und dann irgendwie auf ewig verloren habe.

Wütend trat er ganz nahe an den Spiegel heran und sah sich ins Gesicht. Die Lider hatten sich entspannt und hingen trüb und müde herab. Er sah die Ringe unter den Augen, kleine Fältchen um den Mund. Der boshafte zweite Spiegel in seinem Rücken malte ein lichtes 208 Fleckchen in den Lockenwald seines Hinterkopfes, verräterisch den schüchternen ersten Anfang einer kleinen Tonsur.

Heute war es nichts mit dem Arbeiten. Es wollte heute nicht. Weiß der Teufel, was ihm fehlte! Irgend etwas fehlte. Es kam nicht. Und vielleicht kam es nie wieder.

Er nahm Hut und Stock und ging, so spät es in der Nacht war, auf die Gasse. Irgend etwas trieb ihn. Sich den heißen Kopf auszulüften, sagte er sich.

In der Nebenstraße, in der die Kleine wohnte, lagen alle Häuser im Dunkeln. Auch die Fenster ihrer Wohnung waren unbeleuchtet, und kein Schatten zeigte sich hinter den Vorhängen. Sie schlief wohl schon längst. Lange blieb der Schauspieler in dem menschenleeren, stillen Gäßchen vor dem Hause stehen und starrte zu dem Fenster hinauf.

Es kamen Schritte und schreckten ihn auf. Einer torkelte des Weges. Ein kleiner, untersetzter Mann, mühselig schweren Ganges. Der Schauspieler drückte den Hut tiefer ins Gesicht, zog den Mantel fester an, und trat ins 209 Dunkel der Häuser, den Betrunkenen an sich vorbeizulassen. Da erkannte er ihn. Es war Rigolo.

Der Schauspieler dankte dem Zufall, daß er ihm den alten Clown und Komiker, den er liebte und der ihm manche üble Laune mit der freilich oft wüsten Lustigkeit seiner Späße verscheucht hatte, in den Weg trieb. Keiner konnte, in dieser Stunde, ihm gelegener kommen als der alte Bursche, trotz seinem Zustande, ja gerade in diesem. Er begrüßte den lange nicht Gesehenen herzlich, aber es dauerte eine Weile, bis der Andere ihn erkannt hatte. Viel zu sehr seiner wackelnden Kleinheit eine mühsame und steife Grandezza zu wahren beschäftigt, um über die Begegnung überrascht zu sein, nahm er den alten Zechkumpan mancher gemeinsame Nacht, wie einen, von dem er sich gestern erst getrennt hatte, unter den Arm, und zog ihn mit, als könne kein Zweifel sein, wohin, und als gebe es nur den einen Weg und das eine Ziel: ins »Einhorn«. Er nannte ihn Brüderchen, wie er sonst in solcher Laune und Lage zu tun pflegte, wobei sich die hundert Fältchen seines 210 viereckigen Gesichtes vertausendfachten. Brüderchen, lallte er, und fragte, wo in aller Welt er denn sonst hinwolle, zu nachtschlafender Zeit, da die Bürger bei ihren Weibern lägen und die Gasse den Geistern und dem Laster überließen und ruhlosem Gesindel gleich ihnen Beiden. Wo gäbe es noch ein solch gastfreundlich Wundertier wie das Einhorn, den späten Wanderer und Nachtbummelanten willfährig und bereit, ihn mit der süßesten Milch seiner Lefzen zu atzen? Was könnten zwei reife Männer Weiseres beginnen, als sich zu besaufen und zu berauschen? Wenn das Brüderchen Kummer hätte, sich besaufen und berauschen! Und wenn es keinen hätte und heiter wäre, sich erst recht besaufen und berauschen! In jedem Falle sich besaufen und berauschen! In Saufen und Rausch das Leben vergessen oder sich des wahren Lebens bewußt werden! Letzte Weisheit, setzte er mit einem geheimnisvollen Meckern hinzu, das durch die tausend Fältchen seines Gesichtes blitzte, liege immer in den Giften, letzte Weisheit und die tiefste Kunst.

Mit solchen Worten betraten sie, von 211 lautem Willkommen begrüßt, die Honoratiorenstube des »Einhorn«, in der sie den alten Kreis, Notar, Kaufmann und Apotheker, um den großen runden Tisch versammelt fanden. Die drei Bürger waren gerade im Begriffe gewesen, aufzubrechen und heimzukehren, aber teils, um den stets gerne und seit lange nicht mehr Gesehnen zu ehren, teils, weil die Neugierde, endlich das Richtige über die geheimnisvollen Gründe des rätselhaften Fernbleibens zu erfahren, gewaltig plagte, entschlossen sie sich, ausnehmender Weise einmal es auf das häusliche Ungewitter ankommen zu lassen und über die gewohnte Stunde dazubleiben. Wobei allerdings dem Kaufmann zu mindest, dessen Ehehälfte eine große Strenge nachgerühmt wurde, nicht ganz geheuer zu Mute schien.

Umso lauter und mutiger wurde die neue Lage Wein bestellt und als dieser, unter des Herrn Wirten selbsteigener Aufsicht, der von des verlorenen Sohnes Rückkehr gehört und herbeigeeilt war, um sich von der Wahrheit der Botschaft zu überzeugen und den beliebten und geehrten Gast persönlich zu empfangen, in 212 bester Beschaffenheit zur Stelle gebracht war, begannen die Plänkeleien.

Am liebsten wäre die bürgerliche Neugierde gleich auf ihr Ziel los und mit der Frage herausgeplatzt, was denn nun an dem Gerede das Wahre sei und ob der Herr Schauspieler wirklich, wie man sage, und wer und was und wie und wo, und nach Namen und Wohnung und allem Weiteren und Näheren, und es mag wohl auch nur an dem selbst ihrer Seelenkennerschaft nicht unbemerkt einsilbigen und zerstreuten Wesen, das der Meister, seiner sonstigen Art entgegen, heute an den Tag brachte, gelegen haben, wenn sie es zunächst bei unschuldigen und harmlosen Scherz- und Witzes-Worten, wie: Ei, ei! und na, na! und: der Schäker, der lose! und: der Teufel werde wissen, wo der Tausendsassa gesteckt habe, hinter seiner Hausfrau Schürzen wohl nicht, und: nun ja, die Herren Künstler, die hätten es gut! und: man wisse doch auch, was das Theater sei! und dergleichen bewenden ließen.

Aber nützte Alles nichts und der sonst so beredte Liebling blieb heute stumm, trank stumm 213 seinen Wein aus und wehrte mit einem Lächeln ab, das nicht ja und nicht nein besagte, und wenn nicht Rigolo, mit einigen so saftigen wie besoffenen Späßen dem Freunde zu Hilfe kommend, die Sache von der persönlichen Anspielung ins allgemein Zotige abgelenkt hätte, wäre die bürgerliche Neugierde nicht auf ihre Kosten gekommen. Vergebens seufzte sie neidisch: so ein Herr Schauspieler habe es eben bei der Hand und brauche nur den kleinen Finger auszustrecken, indessen sie, die anderen Bürger – – und leckte die fetten Lippen: und auch gleich wie! in Battisten und knisternden Seiden, mit Spitzenhöschen und Bändchen und Schleifen und verwirrend verwegenen Wohlgerüchen, nicht in bürgerlichem Flanell und Barchent – – und nahm kein Blatt sich vor den Mund, mit augenzwinkernden Fragen nach den anderen frommen Künsten, die doch nur der leichtgeschürzten Muse Priesterinnen so recht aus dem Grunde verstünden, wie der in Welt und Theater wohlbeschlagene Notar des Genaueren zu wissen versicherte: ein Liedchen, das Rigolo mit meckernder Stimme zum Besten gab, war die einzige Antwort: 214

Hoch in einem Weltbaumästchen
    baut die Liebe sich ihr Nestchen,
Und sie sitzt darin zu zweit,
    und sie piepst vor Seligkeit.
Aber naht sich ihrem Lager
    dreist ein unberufner Frager.
Der sie danach fragt, dann zeigt
    sie die Zunge ihm und schweigt.

Der vielerfahrene Notar verstand und lachte überlaut, die beiden anderen wußten nichts Rechtes mit dem Liedchen anzufangen und guckten verdutzt, während der Schauspieler, nach einem langen, fast erschreckten Blicke auf Rigolo, im nächsten Augenblicke mit einem seltsamen Aufschrei, der zwischen Lachen und Weinen stand, seinen Kopf auf den Tisch fallen ließ.

Die Bürger, unahnend, ob dieses Spiel oder Ernst sei, erhoben sich erschrocken und verlegen. Rigolo, schnell gefaßt, entschuldigte, derartiges sei die Folge des zurückgezogenen und tugendhaften Lebens, der Ärmste sei des Weingenusses entwöhnt, überdies durch eine neue Rolle in einem überreizten Zustande, in dem er, nicht anders als eine schwangere Frau, nichts vertrüge.

Der Kaufmann riet, ihn nach Hause zu 215 bringen, ohne daß die Hausfrau etwas merken könne, der besorgte Apotheker empfahl ein niederschlagendes Mittel, aber Rigolo meinte, es sei das Beste, den Freund in diesem Zustande sich selbst zu überlassen.

Die Bürger entfernten sich zögernd und nicht ohne Bedauern, daß der so vielversprechend begonnene Abend so überraschend und ohne die gewünschte Lösung des großen Geheimnisses gebracht zu haben, endete.

Nachdem Rigolo dem Wirte, der aufgerissener Ohren und Augen dem vorangegangenen Auftritt gefolgt war, ein unmißverständliches Zeichen, sich dünn zu machen, gegeben hatte, dem dieser schleunigst gehorchte, waren die beiden allein und der Alte begann, indem er dem Freunde, der noch immer den Kopf auf der Tischplatte liegen hatte, zärtlich über die Haare strich:

»Und nun zu dir, Brüderchen! Schrei dich aus, Brüderchen, weine dich aus an meinem Busen! Da doch grade kein anderer in der Nähe weilt.«

Der Schauspieler hob den Kopf und schüttelte ihn traurig. Es sei aus mit ihm. Mit 216 seiner Kunst sei es aus. Er könne nichts mehr. Er könne nicht mehr arbeiten. Er habe seine Begabung verloren.

Der Andere lachte. Wenn's weiter nichts wäre! Morgen komme sie wieder. Das kenne er. Wenn man anfange, an seiner Kunst zu verzweifeln, da fange die Kunst erst an. Erst, wenn man glaube, sie verloren zu haben, fange sie an. Die eigentliche. Alles Vorherige sei doch nur Leimruten für die Gimpel, Speck für die Gänse. Das, was nach außen dringe, seien ja nur die Nebengeräusche der Kunst. Aber ihr Eigentliches müsse man in sich selber erleben, in seinen eigenen Gedärmen rumoren hören. Angenehm sei es freilich nicht immer. Manchmal plage es wie üble Säfte, deren man los und ledig werden müsse. Umso wohler fühle man sich nachher.

Ja, sagte der Schauspieler düster, er fühle sich krank. Krank bis ins innerste Mark der Seele. Krank an seiner Kunst. Aber wenn jener recht habe, wenn Kunst Krankheit sei, dann verfluche er dieses freudlose Göttergeschenk, diese unselige Gabe, die ihm wie ein Nessushemd die Seele versenge. Dann fluche 217 er den Göttern, daß sie ihm diese unheimliche Aufgabe in die Wiege gelegt hätten. Warum gerade ihm, unter Tausenden ihm?

Warum gerade ihm? wiederholte der Clown. Er möge doch nicht undankbar sein. Wohl habe er gesagt, Kunst sei Krankheit, aber zugleich auch damit, daß Kunst Erlösung von der Krankheit sei. Ginge es ihm anders? Sei denn seine Komik etwas anderes als Ärger an den Menschen, Ekel vor dem Leben, schwarze Galle, kranke Leber? Aber während die anderen ihren Ärger und Ekel in sich hineinfressen, sich von ihrer Galle und ihrer Leber auffressen lassen müßten, sei es ihm gegeben, Ärger und Ekel, Galle und Leber den Menschen ins Gesicht zu speien. Und sie dankten es ihm noch. O, wie wohl werde ihm, wie befreit fühle er sich, wenn er den Menschen ihre eigene häßliche Fratze, in unerbittlich grausamer Verzerrung, zeigen dürfe! Und er ihr Lachen höre, ihr fröhliches dankbares Lachen, als merkten sie nicht, daß sein Haß und seine Verachtung gegen sie ihm ihr leibhaftiges Konterfei ins Gesicht gemalt hätten. Er aber werde so seine Galle und seine 218 kranke Leber los und fühle sich gesund wie nach einem kräftigen Schlammbade. Der Freund möge ihm glauben: nichts sei gesünder, mache Leib und Seele reiner als in Pfützen zu baden. Und je tiefer man hineinsteige, so tief, daß es einem manchmal über dem Kopf zusammen schlage, umso mehr gewinne der ganze Mensch dabei. Und nicht zum geringsten die Kunst. Ihre tiefsten Wurzeln lägen tief unten, versteckt und begraben in dem tiefsten Dreck der Menschenseele. Da hinunter müsse steigen, wer das Höchste in der Kunst erreichen wolle. Ja, das sei sein Rat, er möge hineinsteigen, und nicht ängstlich, nicht bloß mit der Fußspitze, wie in ein zu kaltes Wasser, sondern frisch und mutig hinein mit dem ganzen Körper und der ganzen Seele, in Laster, Sünde, Schlamm und Kot, und untertauchen, und er werde wieder emporkommen, gesund, frisch, rein, saubergeputzt und jung und stark, reicher an Wissen und Können als je zuvor, Wissen um das Menschlichste und Können in seiner Kunst. »Brüderchen,« schloß er und ein listiges Zwinkern ging durch seine Augen, ein Zucken durch die tausend Fältchen seines 219 Gesichtes, »folge mir, Brüderchen, schmeiß dich hinein, saug dich ein, friß dich voll, sauf dich voll und küß dich toll, und der Teufel soll mich holen, wenn du dann nicht jünger wirst als der Jüngste und weiser als der Älteste.«

Seine Augen wurden immer kleiner, das Gesicht immer verkniffener, der Riesenschädel schien zu wachsen, der Leib immer zwergigter einzuschrumpfen, aber der Weindunst schien aus seinem Hirne fortgeblasen, in so unheimlicher Klarheit spritzte er, mit einer Stimme, aus deren Bestimmtheit das Lallen von früher verschwunden war und die wie besessen aus dem Tiefton eines Basso alto in die höchsten Fistellaute hinüberhüpfte und, mit hexenhafter Geschwindigkeit, wieder in die Grundlage zurückfuhr, das langgehütete, dem einen Freunde aufgesparte Geheimnis seiner Weisheit diesem ins Gesicht. Der Schauspieler, allmählig zu völliger Berauschtheit gelangt, aber auch in dieser noch soweit Herr seiner Haltung, um es Niemanden, auch dem Nächsten nicht, zu verraten, wie tief der gegebene Rat in seine Herzensnöte hineingriff, und doch auch wieder von weinseligem 220 Mitleid mit sich übermannt, versuchte, Worte und Stimmungen von gestern aus der Erinnerung heraufzuholen, in die ihm zugedachte Dämonie, die er gerne entgegennahm, etwas von der früher geliebten Tugend und Grandezza herüberzuretten. »Bruderherz!« sagte er und er gab dem Bruderherzen recht: die Welt sei ekelhaft und die Menschen seien Schweine und alles sei Dreck. Und der Künstler müsse dies wissen und alles kennen, auch die dunklen Seiten des Lebens und dürfe vor nichts zurückschrecken, gewiß, aber er müsse drüberstehen und durch die ewig gültigen Vorbilder des Schönen, Großen und Edlen, die er zeigte, mit dem Häßlichen und Kleinen des täglichen Lebens versöhnen und durch seine Kunst den verloren gegangenen Glauben an Tugend und die Harmonie der Sphären wiederherstellen. Und fand in den Worten seine ganze Großartigkeit wieder, als welche durch die Kläglichkeit der Lage, in der ihn der Freund betroffen hatte, nicht minder als durch die Wirkung des Weines ihm ein weniges verschüttet gewesen war. Aber Rigolo blinzelte ihn verdächtig mit den Äuglein 221 an: ihm sei, als kenne er die Weise von anderswo her. Er glaube, einen Mund zu kennen, der ihm Ähnliches gepfiffen habe. Unsinn, Brüderchen, Redensarten, gut genug als Schminke für alternde Damen der großen Welt, kleine Lüstchen ihres Leibes mit großen Worten ihrer Seele zu übertünchen; gut genug, um sich vor schöngeistigen Weibertees ein putziges Heiligenscheinchen auf die Glatze zu setzen. Geschwätz, nicht gehauen und nicht gestochen, mit dem der Künstler im Grunde nichts anzufangen wisse. Viel tiefer, im Eigensinne des Wortes tiefer, sitze, was dem Künstler Not täte. Dort sei der Schlüssel zum innersten Geheimnis des Lebens, der Schlüssel zum Geheimnis der schaffenden Natur. Und das Geheimnis der schaffenden Natur sei auch das Geheimnis der schaffenden Kunst. Und mit einer unzüchtigen Gebärde, die einen möglichen Zweifel darüber, was er mit Schlüssel und Geheimnis meinen könne, zerstören mußte, begleitete er, faunisch grinsend, seine Rede.

Der Schauspieler lachte und schalt ihn ein altes Schwein, was der Komiker ohne jede Empfindlichkeit anzunehmen schien. Gewiß, er rühme 222 sich dieses Vergleiches mit dem natürlichsten, harmlosesten und ungezwungensten aller Tiere. Das Natürlichste sei auch das Wahrste, und das Wahre könne nicht unanständig sein. Und da das Wahre Quelle, Sinn und Wesen der Kunst sei, wäre das Natürliche, das die Verlogenheit der Tugendhaften als Schweinerei brandmarke, dem wahren Künstler viel geziemender und angemessener als ebendiese Verlogenheit und das schämige Getue der Heuchler und Unfähigen. Und so sei denn, grob herausgesagt, ohne eine Beimengung von Schweinerei, keine das Ganze umfassende Kunst und kein wahrer Künstler vorzustellen.

Im Übrigen, fuhr er fort, würde gerade in den Zirkeln der Verlogenen und Unfähigen lang und breit von der sogenannten geistigen Liebe und Seelenfreundschaft geschwatzt. Wenn sich auch diese seltsamen Worte in seinem Maule nicht wenig lächerlich ausnähmen, so sage er dies nicht aus seinem Berufe als Komiker, um der heiteren Wirkung willen; er wisse es auch nicht bloß vom Hörensagen: der Schauspieler möge ihm glauben, daß ihm so manches aus 223 eigener Erfahrung bekannt sei, und mehr als ihm mancher zutraue, wenn er auch zu schweigen wisse: er wisse einiges, wovon ihm keiner ansehe, daß er es wisse. Aber

          nah' sich seinem Lager
dreist ein unberufner Frager,
der ihn danach frage, zeige
er die Zunge ihm und schweige.

Seelenfreundschaft? Hi, hi! geistige Liebe? Hi, hi! den Schwindel kenne er. Wundervolle Mäntelchen, die sich umhinge, wer sich seines gar zu nackten Körpers zu schämen hätte! Seelenfreundschaft sei das Täfelchen, das im obern Stockwerke ausstäke, wenn unten, im Keller, was zu vermieten wäre. Dann lieber gleich in den Keller! Da sei man doch ganz anders bei sich zu Hause als oben, wo einem jeder Nachbar in den Topf gucken könne, so daß man schließlich mehr für den Nachbar äße als für sich selbst. Sei es denn im Keller nicht viel traulicher und heimlicher? Heimlicher und unheimlicher. Sei denn der Körper nicht um vieles geheimnisvoller als die Seele, die nur so tue, mit seinen Wundern und Heimlichkeiten, mit seinen 224 rätselhaften Wünschen und Launen, Begierden und Verhinderungen, Verwandtschaften und Affinitäten, Anziehungen und Abstoßungen, mit seinen lauschigen Verstecken, in denen all das teufelsmäßige Zeug niste, das Liebe genannt werde? Es gebe eben nur eine Liebe des Körpers, und geistige Liebe, Seelenfreundschaft seien nur zwei gelegentliche, die mindesten, von den hundert Masken und Verwandlungen, die sie, des größeren Genusses halber, manchmal annähme. Denn unter den Schicksalen des Menschen sei die Liebe der Schauspieler, der Proteus, der ewige Verwandler und ewig Verwandelte, Circe, die mit ihrem Zauberstab Menschen in Schweine und Schweine in Götter verwandle, Magier und Magie zugleich. Ja, Liebe des Körpers sei Magie, und ganz so selten wie diese, eine große, seltene Kunst, nur wenigen verliehen, ebenso wie die große Schauspielkunst nur wenigen gegeben sei. Alles andere sei nicht Liebe, nicht wert, Liebe genannt zu werden, sei ein Betrug der Natur, um ihren Zweck, die Gattung zu erhalten, durchzusetzen: erst wo der Einzelne, 225 geheimnisvoll vom Genius getrieben, jenseits von Zwecken und Zielen, über die Gattung hinaus, Liebe um ihrer selbst willen übe, mit einmaliger Gabe, erfinderisch, immer neu, immer eigen, ein Meister darin, auf zweien dieser himmlischen Instrumente: Körper zu spielen, erst da werde Liebe Musik, werde Liebe Kunst, öffne Liebe die Pforte in das Mysterium des Lebens.

Und der Schauspieler erinnerte sich, wie ihm zum erstenmal am nackten Leibe der Kleinen eine ähnliche Weisheit aufgegangen war. Lag das nicht Ewigkeiten zurück? Und hatte er mit der Kleinen wirklich sein Paradies verloren?

Rigolo aber, als habe er des Freundes Denken aufgeschlagen vor sich, fuhr fort: es läge nicht an der oder jener. Sei ihm Eine verloren, müsse er die Nächste suchen und werde sie finden. Bei den Wenigen, denen das Mysterium der Liebe, der körperlichen Liebe, geschenkt sei, bedürfe es der kindischen Verliebtheiten einer unwissenden Jugend nicht. Ja kaum der Zuneigung, kaum der Wahl mehr. Ihre wissende Kunst lächle über das alberne Getue 226 sympathetischer Gefühlchen. Sie erkennten einander auf den ersten Blick, wie die Epopten geheimer Ordensbünde. In einer unsichtbaren Kette würde das Geheimnis von einer Generation auf die andere vererbt, und jeder Neue, der dazu gehöre, wüßte es, erriete es, erfände es, als hätte er es von je gewußt. Die klugen Giftmischerinnen der Liebe glichen den anderen, die den Schatz uralter Geheimnisse aufbewahrten und weiter gäben.

Und er schloß: »Laß dir raten, Brüderchen! Gehe zu den Giftmischerinnen! In den Giften liegt letzte Weisheit und die tiefste Kunst.«

Dann verabschiedeten sie sich voneinander und der Schauspieler trug seinen langsam weichenden Rausch durch die fast schmerzliche Überhelle des beginnenden Morgens nach Hause.

 


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