Arthur Kahane
Clemens und seine Mädchen
Arthur Kahane

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9.

Lili war den ganzen folgenden Tag nicht zu sehen. Es war unerträglich heiß gewesen, der Stadtsommer brannte auf die Dächer, troff von den Mauern, die Sonne glühte 49 krankhaft grell und steil, die Luft stand dick und gläsern und dampfte. Schwer und träge hingen die Lider über den schmerzenden Augen, so daß der kaum abgekühlte Abend wenigstens diesen ein erfrischendes Dunkel brachte. Clemens war deshalb nach dem Abendbrot ein wenig in den Straßen auf und ab gelaufen und kam, etwas später als sonst, in der Nacht nach Hause; als er durch das stockdunkle Vorzimmer ging, um seine Bude aufzusuchen, fühlte er sich plötzlich an der Hand ergriffen, eine Tür ging leise auf, er wurde in ein Zimmer hineingezogen, die Türe schloß sich, er stand im Dunkeln, sah nichts als ein schimmerndes Gesicht, die Weiße eines Nachtgewandes, den funkelnden Glanz dunkler Augen, hörte das Keuchen einer jungen Brust, Lili. Er wollte sich losreißen und suchte die Türe, aber sie packte ihn mit beiden Händen und begann, fast unhörbar leise, mit Schluchzen in der erregungheiseren Stimme, stoßweise: »Nein. Bleiben Sie! Sie müssen bleiben! Sie können mir das nicht antun. Ich muß Sie sprechen. Ein einziges Mal nur. Sie müssen mich hören. Es ist mir alles gleich. Aber sprechen muß ich Sie. Ich halte das nicht länger aus. Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat. Warum behandeln Sie mich so? Was habe ich Ihnen getan? Ich fühle mich ja so blamiert. Das bin ich nicht gewöhnt. So bin ich noch nie behandelt worden. Von keinem. Bin ich Ihnen denn so gleichgültig? Reden Sie doch! Finden Sie mich denn so häßlich? Aber warum sind Sie mir dann nachgegangen? Warum haben Sie hier gemietet? Was bedeutet das alles? Wissen Sie etwas Schlechtes von mir? Haben 50 Sie etwas Schlechtes von mir erfahren? Hat man mich bei Ihnen verleumdet? Die Menschen sind ja so böse, so gemein. So reden Sie doch! So sagen Sie doch etwas! Nein, sagen Sie nichts, Sie werden mich ja doch nur wieder beleidigen. Glauben Sie, ich verstehe Ihren höhnischen Ton nicht? Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Sie sich über mich lustig machen? Womit habe ich das verdient? Ich bin nicht schlecht. Ich schwöre Ihnen, ich bin nicht schlecht. Ich bin ja so unglücklich!« Sie fing bitterlich zu weinen an.

Er stand da, die Lippen aufeinandergepreßt, die Zähne zusammengebissen und in den letzten Nerv hinein entschlossen, sich durch nichts rühren zu lassen. So war er nicht zu fangen. Er zweifelte gar nicht, daß die Tränen, die ihren jungen Leib erschütterten, echt waren. Aber auch echte Tränen sind billig. Nur jetzt kein kupplerisches Mitleid. Hier ging es für ihn um mehr, als um die leichtflüssigen Tränen einer erregten Mädcheneitelkeit. Hier galt es seiner Freiheit. Was hatte dieses Schicksal mit seinem zu tun? Und er freute sich fast, wie sehr er Herr seiner Sinne blieb.

»Fräulein Lili,« begann er, leise, mit tröstendem Zureden, »seien Sie nicht töricht! Machen Sie sich nicht unglücklich! Seien Sie gescheit, und wenn Sie es nicht können, dann muß ich es für uns beide sein. Ich kann nicht . . .!« Aber sie unterbrach ihn. »Ich will aber nicht gescheit sein. Ich will glücklich sein. Sie ahnen ja nicht, wie unglücklich ich bin. Sie ahnen ja nicht, wie schlecht die Leute zu mir sind. Ich bin ja so allein. Und ich habe mich ja so auf 51 Sie gefreut. Endlich ein Mensch, der dich verstehen wird, habe ich zu mir gesagt. Ich habe Ihnen gestern von meinem Bräutigam erzählt. Aber ich habe Ihnen nicht gesagt, daß ich die Verlobung gelöst habe, daß ich ihm den Laufpaß gegeben habe. Und wissen Sie warum? Weil er roh und brutal war, weil er zu mir nicht paßte, weil er mich nicht verstanden hat, weil ich mit ihm nicht sprechen konnte, weil ich mich mit ihm gelangweilt habe. Und nun kommt endlich ein Mensch, der fein und zart zu mir ist und mich verstehen könnte, und den soll ich gleich wieder verlieren? Warum denn? Mögen Sie mich nicht? Lieben Sie eine andere? Aber es ist ja nicht wahr. Ich habe alle Ihre Sachen durchsucht und nichts gefunden. Keinen Brief und kein Bild. Auch in Ihrer Brieftasche war nichts. Da – –« Sie lief zum Bett, holte etwas unter dem Kissen hervor und warf es auf den Tisch. »Ich habe sie gestohlen. Ich war ja närrisch vor Eifersucht. Und wenn du keine andere liebst, warum willst du mich nicht liebhaben?«

Da packte ihn der Zorn. »Weil ich nicht kann!« stieß er hervor. »Weil ich was anderes zu tun habe. Weil ich zu was anderem auf der Welt bin. Weil ich nicht will!« Er hätte Evelinens Namen vor ihr nicht herausgebracht, und wenn es um sein Leben gegangen wäre.

»Du mußt aber!« schrie sie. »Du bist meine einzige Rettung. Sonst gehe ich zugrunde. Du weißt ja nicht, was ich leide. Du weißt ja nicht, was das hier für eine Hölle ist. Du weißt ja nicht, wie sie mich hier quälen und peinigen. Ich habe ja sonst nichts als dich. Hörst du, du 52 mußt, ob du willst oder nicht! Du lieber, dummer Bub, du!«

Und sprang mit einem Satze an ihm herauf, schlang beide Arme um seinen Hals, preßte ihren ganzen jungen bebenden Körper fest an den seinen, preßte ihren Mund an seinen Mund und küßte ihn besinnungslos.

Er aber riß ihre Arme von seinem Hals, schüttelte ihren Körper ab, warf ihn ins Zimmer zurück und schrie: »Ich will aber nicht! Verstehen Sie mich? Ich will nicht!« riß die Türe auf und stürzte hinaus, während im selben Augenblick die Wohnungstüre mit großem Lärm und Geräusch geöffnet wurde. Draußen im dunklen Korridor überrannte er beinahe eine dunkle Gestalt, erreichte sein Zimmer, warf die Türe ins Schloß und riegelte sie ab. Dann schmiß er sich aufs Bett und hörte noch, wie aus weiter Ferne, ohne Näheres zu verstehen, das Echo heftig streitender Stimmen und Zufallen von Türen.

Zeitig am nächsten Morgen pochte es laut. »Hier Quadderbacke,« sagte eine grobe Stimme, »ich habe mit Ihnen zu reden.« Er warf schnell ein paar Kleidungsstücke über und öffnete. Quadderbacke, in voller Amtsuniform, trat ein. »Hier ist Ihre Brieftasche«, sagte er und warf sie auf den Tisch. »Ich habe das da hier im Zimmer meiner Schwägerin gefunden. Können Sie mir erklären, wie das Ding dorthin kam? Oder reden Sie lieber nichts, man weiß ja, wie so was ins Zimmer eines jungen Mädchens kommt, und lassen Sie sich von mir gesagt sein, daß ich mir derartige Besuche in Zukunft verbitte. Verstehen Sie mich? Das 53 Mädel sagt mir, daß Sie sie bereits wiederholt belästigt haben und daß sie sich Ihrer Annäherungsversuche nur mit Mühe erwehren kann. Nun hören Sie mal gut zu, junger Mann! Nämlich: Es gibt solche Mädchen und solche Mädchen. Dieses ist ein Mädchen zum Heiraten. Und ans Heiraten werden Sie doch wohl noch nicht gedacht haben. Würde mir auch gar nicht passen. Unterlassen Sie das also künftighin. Mit mir ist nämlich nicht zu spaßen.«

»Herr Quadderbacke, ich halte mich natürlich für verpflichtet, Fräulein Lili jede gewünschte Genugtuung zu verschaffen, und bin überdies jeden Moment bereit, das Zimmer zu verlassen, wenn Sie es wünschen.«

»I, wo werde ich denn? Das wäre ja noch schöner. Weil Sie ein Mädel nicht in Ruhe lassen können, soll ich das Zimmer leer stehen haben? Da wäre ich ja der Gestrafte. Im Gegenteil. Hübsch dageblieben. Einen zahlungsfähigen Mieter gibt man nicht so ohne weiteres auf. Und schließlich: ein junger Mensch versucht mal sein Glück. Da ist ja weiter nichts dabei. Nun wissen Sie, daß hier für Sie nichts zu holen ist und daß das Mädel, Gott sei Dank, nicht schutzlos dasteht in der Welt, sondern mich hat, der höllisch aufpaßt, und nun werden Sie künftighin die Finger davon lassen, denk' ich. Wo nicht, sollen Sie Quadderbacke kennen lernen. Guten Morgen.«

Quadderbacke klinkte mit Grandezza die Türe auf, im selben Augenblick wurde draußen rasch und leise eine zweite zugemacht, eine Sekunde später fiel mit Krachen die Wohnungstüre ins Schloß. Clemens dachte: Es scheint, hier wird 54 meines Bleibens nicht lange sein: Wurzel werde ich hier nicht schlagen. Aber wo sonst?

 


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