Arthur Kahane
Clemens und seine Mädchen
Arthur Kahane

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6.

Da geschah es, daß ihn eines Tages, als er, gesenkten Kopfes, vor dem Ausgange eines Warenhauses stand und nur hier und da noch, gewissermaßen wie zur eigenen 41 Beruhigung, pflichtgemäß seine Augen verloren über die Scharen der herausströmenden Mädchen gleiten ließ, im Vorübergehen der Blick eines dunklen Auges streifte, anfangs von ihm unbemerkt, aber so merkwürdig und so deutlich nur zu ihm sprechend, daß er ihn nachträglich noch auf sich brennen fühlte, mit der ihn plötzlich durchzuckenden Gewißheit, daß nur sie, nur Eveline, ihn so angeblickt haben könne. Als er, sich dessen bewußt geworden, aufsah, waren Auge und Trägerin im Gewühle verschwunden.

Aber schon war er ihr nach. Mit einem nachtwandlerischen Gefühl, das ihm der bis in seine Fingerspitzen konzentrierte, fast zornige Wunsch: Diesmal nicht! Diesmal geht sie mir nicht verloren! Diesmal darf sie mir nicht verlorengehen! untrüglich gab, spürte er die Richtung, stieß durch die Menge, bog um die nächste Ecke und richtig! sah, wenn auch schon in der Ferne, die schlanke, zierliche, junge Figur mit dem schwebenden Gange, den leichten Schritten.

Mit ein paar Sätzen war er hinter ihr. Sie war es nicht. Ein Schritt nach vorwärts, und er sah ihr ins Gesicht. Keine Spur! Wo hatte er denn seine Augen gehabt? Nicht die mindeste Ähnlichkeit! Zwar war diese auch jung, auch schlank, auch zierlich, aber wo war das Unaussprechliche, das unsäglich Rührende, das Unirdische, Einmalige? Hier war alles erdenschwer, bewußter, gemeiner. Ja, gemeiner. Gegen jene gehalten: gemeiner und frecher. Das Mädchen sah auf, blickte ihn an, lächelte wissend; und wieder bog sie, nicht ohne Absicht, um eine nächste Ecke.

Seltsam. Etwas war da, was ihn erinnerte. Gewiß 42 keine Ähnlichkeit. Kein zweiter Mensch, der beide gesehen hätte, wäre durch die eine an die andere erinnert worden. Welten lagen dazwischen. Nicht bloß die soziale Kluft, die ein Blinder bemerken mußte! Nicht bloß Bildung, Erziehung, Geschmack! Und vor allem der Ausdruck! Und die Seele! Und das Auge! Alles, alles war anders. Was war es also nur, das ihn bei dieser an die andere denken machte? Was es war, konnte er nicht sagen: aber so stark war es, daß es für ihn bis an die Identität reichte, daß sich die Grenzen zu verschieben begannen, daß sie anfingen, in seinem Bewußtsein ineinander überzugehen, in eine Gestalt zu verschwimmen.

Und vor allem, wie sie da um die Ecke bog: nur das kein zweitesmal erleben, dieses Verlieren, diese Ohnmacht dem Schicksal gegenüber, ohne Möglichkeit, einzugreifen, ohne Anhaltspunkt. Nein, diesmal nicht. Die sollte ihm nicht wieder verlorengehen. Die wollte er nicht verlieren. Wenigstens die Möglichkeit wollte er sich retten. Was er dann damit begann, sollte seine Sache sein.

Er sprach sie gar nicht an. Er fürchtete sich davor. Hatte Angst, ihre Stimme zu hören. Er sah es dem Munde an, wie gewöhnlich ihre Sprache klingen mußte. An den Inhalt traute er sich gar nicht zu denken. Jedenfalls schien sie verwundert darüber und hatte das Lächeln allmählich aufgegeben.

So lief er hinter dem fremden Mädchen her. Er dachte daran, wie er keine halbe Stunde zuvor noch vor dem Warenhaus gestanden und traurig vor sich hingestiert hatte: 43 verzweifelter als je vorher von der Aussichtslosigkeit seines Wartens und Suchens überzeugt. Er dachte an die mutlose Leere, die in ihm hochgestiegen war, und wie er mit einemmal ganz verzagt schon mit dem Entschlusse gerungen hatte, jede Hoffnung und jeden weiteren Versuch ein für allemal abzuschneiden; und wie ihn ein einziger Blick erst aufs tiefste erschüttert, dann alle seine Kräfte und die ganze Fülle der holden Erinnerung wieder nach oben getrieben und ihn bis in die letzte Tiefe seines Wesens mit dem Bilde der entschwundenen Geliebten wieder erfüllt habe; und schritt fröhlich und zuversichtlich aus, wie wenn er sie bereits wieder gefunden hätte.

So lief er hinter dem Mädchen her, Straße auf, Straße ab, immer weiter, bis tief in das Gewirre der ärmeren Viertel hinein. Sie sah sich gar nicht mehr um, ging gleichmäßigen Schrittes weiter, bis sie weit draußen, in einer der gleichgültigsten Straßen vor einem der großen, häßlichen, grauen Häuser haltmachte, vor dem Haustor stehenblieb, wie zufällig einen Blick auf eine an der Türe befestigte Papptafel warf, aufschloß und die Türe angelehnt ließ. Dann verschwand sie im Hause. Er las an der Tafel: Zimmer, vorne vier Treppen, zu vermieten. Näheres zu erfragen bei Herrn Polizeikommissär Quadderbacke, öffnete die angelehnte Türe und ging ihr nach. Als sie im vierten Stockwerke angelangt war, wartete er einige Minuten im dritten, stieg hinauf, las an einem Schilde: Emil Quadderbacke, Polizeikommissär. Er stutzte: »Polizeikommissär? Und das muß gerade mir passieren? Schöne Nachbarschaft! Und ist es nicht 44 bedenklich, den Kopf so in den Rachen des Löwen zu stecken? Heißt das nicht Gott versuchen? Aber nein. Im Gegenteil. Gerade. Man kann gar nicht unverdächtiger wohnen. Nichts schützt besser vor jeder Entdeckung als diese Nähe. Und was man ihr auf die Nase bindet, bemerkt die Polizei am wenigsten. Ich kann es mir gar nicht besser wünschen.« Und klingelte. Ein mittelgroßer, kräftiger Herr in Hemdsärmeln, zwischen dreißig und vierzig, in dessen Gesicht ein mächtiger, hinaufgetriebener, blonder Schnurrbart jedes andere Symptom von Ausdruck, Charakter und Physiognomie im Keime erstickt hatte, öffnete: »Was wünschen Sie, mein Herr?« »Hier soll ein Zimmer zu vermieten sein?« »Bitte, mein Herr.« Er führte ihn hinein, nannte einen mäßigen Preis, mit einem mißtrauischen Schielen, das Clemens verstand. »Ich reise ohne Gepäck, aber ich zahle die Miete gerne im vorhinein.« »So ist's recht. Das genügt mir als Sicherheit.« Ein zweiter freundlicherer Blick auf die angenehm gefüllte Brieftasche, und Clemens, ohne hinzusehen, mietete das Zimmer.

 


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