Arthur Kahane
Clemens und seine Mädchen
Arthur Kahane

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3.

Allein blieb er zurück in der leeren Welt. Begriff nicht, wußte nicht, was mit ihm geschehen war. Konnte vor Schreck sich nicht rühren und stand da, versteint: so überraschend plötzlich war dieser Abschied über ihn hereingebrochen.

Dann schrie es in ihm auf: Ihr nach! Erreiche ich sie nicht jetzt noch, ist sie mir für immer verloren!

Ein Gefühl durchzuckte ihn: Irrsinn! Mein verbrecherischer Irrsinn! Sein Glück in Händen zu halten und es fortflattern zu lassen, ohne den kleinsten Anhalt, der spürendem Willen schon genügt hätte, ohne Namen oder Straße zu wissen, irgend etwas, hinter dem die Energie hätte herjagen können! Nichts von ihr zurückzubehalten, kein Zeichen, an das meine Phantasie sich hätte klammern dürfen, nichts als diese fürchterliche Ohnmacht, mein Schicksal, das jetzt irgendwo in der Welt ist, je wieder einzufangen!

25 Und wollte, ohne Richtung und Ziel, nur dem ungewissen Gefühl folgend, ihr ins Ungewisse nach, auf Lichter zu, die irgendwo Nähe von Stadt und Straße verrieten, und hob schon den Schritt, da spürte er Finger an seiner Brust und sah ein mageres, blasses, unsäglich gemeines Gesicht dicht vor seinem aufblitzen, so nahe, daß er den wüsten Atem riechen mußte, und hatte auch schon mit der einen Hand blitzschnell die fremde Faust zurückgestoßen, die andere wuchtigen Schlags in die fremde Fratze geballt. »Verflucht!« brüllte es auf und eine dunkle Gestalt zerstob im Schatten der Nacht.

Clemens lachte. Mit einem Schlage – und nicht gerade bildlich genommen – war er vergnügt geworden. Er zog die verschobene Weste glatt, richtete den Körper stramm und sagte: »Immerhin. Man kann nicht sagen, daß dieser erste Abend ereignislos verläuft. Nun glaube ich an mein Glück in dieser Stadt.«

Festen Schrittes ging er auf die beleuchteten Punkte zu, dorthin, wo er Straßen vermutete. Er sah zurück. Lange dunkle Baumalleen, in denen von allen Seiten immer neue, noch dunklere zusammenliefen, schienen im Dunkel der Nacht sich ihm zu einem tiefen Wald zu verdichten, dessen er sich bis jetzt noch gar nicht bewußt geworden war und den er sich auf einmal hier gar nicht erklären konnte. »Seltsame Stadt! die in ihrer Mitte einen richtigen Wald umschließt.« So kam er ihm vor. »Ich habe noch nie davon gehört. Ganz unwirklich ist das. Wie alles übrige.«

»Eine Stadt der Abenteuer ist es jedenfalls. Das darf ich schon sagen nach dem heutigen Abend. Eine Stadt, 26 in der das Unmögliche möglich wird. Für mich sicherlich. Und darum glaube ich bestimmt, daß sie wiederkehrt. Ich sehe sie wieder. Natürlich hätte ich mich ihrer besser versichern sollen. Es war dumm, sie nicht nach Näherem zu fragen. Aber es wäre noch dümmer gewesen, nicht so dumm zu sein. Dumm und roh. Denn sie wollte nicht. Und es gab keine Wahl für mich, als mich einfach und demütig in den Willen des wundervollen Wesens zu fügen. Und es tat auch so wohl, diesen Willen zu spüren. Was sie gab, war ein so köstliches Geschenk ihrer Güte, daß jedes Vernünfteln dagegen ein dummes Verbrechen gewesen wäre. Undankbar. Und ich durfte nichts als knien und mich beschenken lassen und in wortloser Dankbarkeit hinnehmen.«

»Darum durfte ich auch von mir nicht sprechen. Es brannte mich ja, mich ihr ganz hinzugeben, mich vor ihr auszubreiten und mich ganz in ihre Hände zu legen, mein bisheriges Leben, mein Geheimnis und alles. Und dann kam mir alles wieder so klein, unwesentlich und gleichgültig vor, daß ich kein Wort herausbrachte. Und da hätte ich ihr mit Kleinigkeiten kommen sollen, ihr vielleicht noch erzählen, daß ich kein Gepäck bei mir habe und warum, und mir am Ende gar von ihr ein Hotel empfehlen lassen sollen! Lächerlich! Die Zunge hätte ich mir eher abgebissen.«

»Nein, nein! So war's schon das Beste. Ach was! sie kommt wieder. Ich fühle ja, daß ich Glück habe. Sie hat es mir gebracht: der Überfall des Strolches ist mir ein Zeichen dafür. Wer Glück hat, hat Kraft. Und wer Kraft hat, hat Glück. Ich brauche gar nichts dazu zu tun und mich 27 um nichts zu kümmern und nur ruhig zu warten, bis morgen das Glück wieder zu mir kommt und ich es mit diesen beiden Armen halte.«

Er ging jetzt in stillen, spärlich erhellten Straßen. Kein Mensch begegnete ihm. Er sah nach den Straßenschildern. Sie trugen Namen edler Künstler früherer Zeiten, und edel erschienen ihm, in den verschwommenen Tinten des Halbdunkels, die ruhigen Häuser mit ihren kleinen Vorgärten und den Umrißlinien ihrer Fassaden, fast wie Schlösser oder vornehme Landhäuser. Die meisten lagen gespenstisch im Dunkel. Aber unheimlicher noch waren die wenigen, aus deren Fenstern ein matter Lichtschimmer brach, und er hatte das seltsam aufregende Gefühl, als spielten sich hinter ihren Vorhängen gerade jetzt, während er vorbeiging, Schicksale ab, von denen er nichts wußte und nie erfahren sollte, Tragödien des täglichen Lebens, Kämpfe um Leben und Tod zwischen Menschen, die er nicht kannte, und er erlebte all dieses mit, unbewußt als ahnungsloser Zeuge irgendwie geheimnisvoll damit verkettet.

Er ging weiter und kam zu großen Brücken, von denen er in dicht mit Gebüschen bestandene Uferpartien sah, die seinem nachterregten Auge wie zauberhafte Märchenlandschaften erschienen. Er kam zu menschenleeren Plätzen, die ihm unübersehbar weit vorkamen, und von denen nach allen Seiten mächtige Straßenzüge ausstrahlten, in fürstlicher Breite im Unendlichen verlaufend. Ihre Häuser wirkten auf ihn wie ein toller Zauberspuk, in dem die Phantastik vergangener Jahrhunderte mit Erkern, Balkonen, Loggien, Türmen und 28 Säulen ihr Wesen trieb: er glaubte seinen Sinnen nicht, die ihm da plötzlich Renaissancepaläste und Ritterburgen, romanische Schlösser und antike Tempel vorgaukelten und ihn in bunter Jagd durch das Schnörkelspiel aller Zeiten wirbelten. Ganz aufgeregt ward er. »Seltsame Stadt!« sagte er immer wieder. »Das gibt es nicht, das ist unmöglich. Es muß eben doch ein Traum sein. Eine seltsame Stadt der unmöglichen Möglichkeiten!«

Er ging weiter. Die Straßen wurden belebter. Weiber tauchten auf, bald einzeln, bald paarweise. Er fand auch die schön und sah die Schminke nicht. Zwei streiften eng an ihm vorüber, und er hörte, wie die eine sagte:

»Schau doch! Der Kleine! Ist der nicht hübsch?«

Er sah sich um und quittierte, dankenden Blicks. Natürlich fand er sie auch hübsch.

»Merkwürdig,« bemerkte er weise und vergnügt, »geliebt werden macht gleich hübscher. Nicht nur einen selbst, sondern auch die anderen!«

Aber keine Untreue war in diesem Wohlgefallen, sondern erhöhte Weltfreude. Er spürte sich. Oder eigentlich das Neue, das in sein Blut gefahren war, und durch dieses Neue sich, gesteigert, erhöht, geschwellt. Er fühlte seine Muskeln gestreckt und gestrafft, Arm und Beine von Rhythmus gespannt, in allen Sinnen eine überklare Helligkeit, den Körper trug er so leicht, daß er zu schweben glaubte. Nicht um eine Welt hätte er jetzt schlafen gehen mögen, er fühlte keine Müdigkeit, kein Bedürfnis zu ruhen oder zu essen, nur Heißhunger auf diese Stadt, nur die 29 unersättliche Gier, sie ganz in sich hineinzuschlingen, heute noch, in allen ihren Teilen, als ob er sie diese erste Nacht noch um jeden Preis erobern müßte.

Aber über und unter allen seinen Empfindungen, wem sie auch galten, welchem Willen sie auch entsprangen, welches Gesicht sie auch trugen, schwebte bloß diese eine, unbewußt manchmal, unausgesprochen, aber stets vorhanden: Eveline.

Er folgte den Straßenzügen, ließ sich willig von den Menschenscharen treiben. Er geriet an andere große Plätze, wo das Leben dieser Stadt schrie. In ihrer sausenden Fülle schienen Tag und Nacht ausgeglichen, in solcher Helligkeit kreischten Farben und Formen, grellte das Brausen der Menge. Hier glaubte er das Herz dieser Stadt zu haben, den Mittelpunkt gefangen zu haben, in den sich alle ihre Ströme ergossen, ihre Kräfte vereinigten. Alles andere war also nur Vorbereitung, Exposition, Provisorium gewesen, hier war offenbar der Höhepunkt, das Eigentliche. Er hatte das Gefühl, im Mittelpunkte der Welt zu stehen. Fast etwas Geborgenes gab es ihm; die Sicherheit: hier geschieht das wichtigste der Welt und du bist mitten darin und brauchst nicht draußen zu stehen und läufst nicht Gefahr, es in einer Seitenstraße zu verschlafen. Und nur ganz leise schwang es im Unterbewußtsein mit: Eveline.

Er ließ sich weitertreiben. Durch neue Straßenzüge, schmäler als die früheren, aber noch belebter. Trotz der nächtlichen Stunde lärmte die Helligkeit über den Dächern, vor den Geschäften, in den Auslagen. Alles schrie: die Ausrufer, die Menge, die Lichter, die Warenhäuser, die 30 Waren in den Fenstern. In der tollen Hetzjagd der Sinne, dem bunten Wechsel der Eindrücke täuschte ihm die Nacht Bilder fabelhaften Reichtums, märchenhafter Fülle, blendender Eleganz vor. Dann wieder, wo diese Straßen sich kreuzten, neue Plätze, wo ihn dasselbe seltsam stolze Mittelpunktsgefühl emporriß. »Ja, wieviele Mittelpunkte hat denn diese Stadt eigentlich?« fragte er sich.

Er ließ sich in den dahinflutenden Menschenstrom hineingleiten, als wollte er darin untertauchen. Mit einer ungeheuren Neugier hing er sich an die Vorübergehenden, starrte ihnen in die Augen, prüfte Einzelheiten, Mund, Ohren, Stirnen, verfolgte den Gang, suchte aus Haltung und Rücken die Gesichter, den Stand, den Beruf zu erraten. Nichts ließ er sich entgehen, kein einzelnes in Kleidung und Aussehen. Er fing Fetzen der Gespräche auf und dichtete sie weiter, zu Dramen und Komödien. Er sah Vornehme und Zerlumpte, Greise und Kinder, Kraftstrotzende und Krüppel. Er sah die behäbigen Bürgerpaare, die ans den Wirtshäusern ins Ehebett strebten; er sah die Nachtschwärmer, die in der Gewohnheit allnächtlichen Vergnügens erst aufzublühen schienen; er sah die Arbeiter, bald einzeln mit gekrümmten Rücken eiligen Schrittes nach Hause eilend, bald in lautjohlenden Trupps die Straßen durchlärmend; er sah die Bummler, gemächlich promenierend, als begänne jetzt erst das Vergnügen des Tags; er sah Männer, im eifrigen Gespräch Geschäfte abwickelnd; Strolche, in deren grüne schmale Gesichter das Laster jedes seiner Zeichen vermerkt hat; er sah in todestraurige Antlitze Unglücklicher, 31 die ihre Einsamkeit in die Nacht und unter Menschen gehetzt hat; er sah die Knaben mit den frechen Augen, geschminkten Wangen und den überdeutlich allzu zierlichen Gesten. Er sah Leute, in denen, unbekümmert um die Nacht, sich eine fieberhafte Geschäftigkeit entwickelte; und zahllose andere, denen die Nacht ihr Gewerbe bedeutete. Die meisten schienen in atemloser Hast hinter einem Ungewissen herzujagen. Aber einige standen an den Straßenecken, höchst gemütlich, fast ohne sich zu rühren, als wären sie eben aufgestanden und warteten auf etwas, das sie mit dem angebrochenen Tag anfangen konnten. Andere drängten sich an ihn an und drückten ihm mit einem geheimnisvollem Lächeln Zettel in die Hand, die er wegwarf. Sein Blick umfing alle Klassen und alle Stände, alle Temperamente und alle Stimmungen, alle Laster und alle Verbrechen. Und er sah Weiber, Weiber, Weiber, mit ihren Männern, mit fremden, mit anderen Weibern, truppweise, paarweise, einzelne, häßliche, schöne, einfache, elegante, alte, junge, stehend, gehend, laufend, schleichend, schamlose und schamhafte, freche und schüchterne, solche, die wie aufgetakelte Fregatten majestätisch dahersegelten und ganz junge, ganz schmale, aber alle die Sünde im bald frechen, bald scheuen Auge tragend. Und alles schien ihm in dieser Nacht von einer ganz besonderen Bedeutung, so als wollte diese Stadt ihr Pandämonium vor ihm aufführen und, in den Repräsentanten aller ihrer Typen, ein vollständiges Bild aller ihrer Höhen und Tiefen, ihrer Kräfte und ihrer Geheimnisse vor ihm ausbreiten. Wie ein Fest war es, das ihm diese Stadt 32 bereitete und je weiter er hineingeriet, um so stolzer fühlte er sich und um so mutiger. Wie eine fröhliche Erregung war es über ihn gekommen, und nur ganz leise sang etwas in ihm: Eveline.

Einmal kam es ihm vor, als hätte er jenen Bahnhof wieder erkannt, auf dem er heute abend angekommen war. Er lag jetzt ganz im Dunkeln. Heiter winkte er ihm wie einem lieben, alten Vertrauten zu: »Du weißt doch? Morgen!« Und ging weiter.

Die endlose Straße, die ihn reizte und aufregte, immer weiter. Irgendwie mußte sie ihn doch an die Peripherie führen, die ihn lockte, denn es trieb ihn, die Stadt in ihrem ganzen Umfange zu umspannen und bis an ihr Äußerstes zu dringen. Allmählich schien nun ihr Leben doch abzuflauen und doch lag sie immer noch endlos vor ihm. Da bog er in stillere Seitenstraßen ein und gewahrte, in dem matten Lichte, das nun aufzudämmern begann, die unverkennbaren Zeichen der Armut. Die Häuser glichen öden Riesenkästen, deren langgestreckte uniforme Häßlichkeit kein Zeichen freundlicherer Gewöhnung unterbrach. Wieder ergriff ihn das aufregende Gefühl, welche Fülle unbekannten Schicksals diese grauen Mauern umschließen mochten. Jener seltsame Geruch verrufener Gegenden stieg ihm entgegen, der die Sinne aufpeitscht und die Phantasie mit vagen Vorstellungen des Geheimnisses und des Verbrechens füllt. Und der Infernoeindruck wuchs, wenn von Zeit zu Zeit der Schimmer einer roten Laterne geheimnisvoll die fahle Grauheit des Straßenbildes durchbrach und den Widerhall 33 unsäglich wüster Musikgeräusche, aus dem Gekreische der Grammophonplatten, dem rohen Marschrhythmus gehämmerten Klavierlärms und dem Durcheinander hineingröhlender Menschenstimmen widerlich gemischt, in die Stille der Nacht hinaustrug, um über die farblose Kläglichkeit der Formen, in die sich hier die Sünde kleidete, wegzutäuschen. Clemens aber nahm auch dieses mit Dank entgegen. Es war ihm, als wollte in dieser Nacht die Stadt die Ganzheit ihres Lebens, ihre Tiefen ebenso wie ihre Höhen vor ihm entschleiern, und auch dieses, das Häßliche ebenso wie das Schöne, das Dunkle wie das Helle, diente ihm, sein eigenes Lebensgefühl zu steigern. Und er empfand: auch dieses gehört irgendwie zu Eveline.

Aus einem der Lokale flogen, gerade als er daran vorbeiging, zwei Männer in weitem Bogen auf die Straße hinaus. Der eine stieß, absichtlich wohl, in ihn hinein, brummte Unverständliches, ohne weiter sehr erstaunt zu sein, als Clemens ihn zurückstieß. Er stolperte, fluchte, der andere riß ihn lachend am Arme mit sich, und sie torkelten, gerade, als Clemens in Kampfbereitschaft schon seine Ärmel geschürzt hatte, laut johlend weiter, die Straße mit ihrem Geschrei erfüllend.

Ein Paar Schritte weiter, vor einer beleuchteten Tür derselben Art standen wieder zwei Kerle, große, breite Männer, und sperrten seinen Weg. »Na, Junge,« sagte der eine, »du möchtest dich hier wohl amüsieren?« »Was ist, Kleiner,« mengte sich der andere dazu, »hast du Geld? Wie wär's mit einem kleinen Kümmelblättchen?« »Danke schön,« 34 erwiderte Clemens, »fange selbst Bauer.« Und ging ungeniert durch sie durch. »Grüß' Muttern«, riefen sie ihm nach.

»Es scheint, diese Nacht macht uns alle zu Brüdern«, philosophierte Clemens. »Eine wunderliche Republik, die Gemeinschaft derer, die nicht schlafen wollen! Aber was macht es? Gott schickt jedem seine Zimmerkameraden, und man kann sie sich nicht immer aussuchen. Und schließlich ist einer so viel und so wenig wert wie der andere.« Eine Lust überkam ihm, unterzutauchen und ganz zu versinken. So unbändig war er mit Leben gefüllt.

Die Stadt hörte nicht auf. Die Peripherie, die er suchte, schien es nicht zu geben; wenigstens fand er sie nicht in dieser Nacht. Der Morgen fahlte; die Luft färbte sich blau; im Schein der Fenster wich das stumpfe Grau einem rosigen Gelb. Und immer wieder fand er sich aufs neue auf neuen großen Plätzen, in denen das Leben dieser Stadt neu aufzubrausen schien, jeder ein neues Zentrum, jedesmal als wenn das hier das eigentliche wäre, noch lauter und lärmender scheinend als die früheren. Am lautesten fast in der Nähe der ärmsten Viertel der Stadt. Aber das Leben hatte hier schon etwas gespenstisch Verzuckendes bekommen wie das Aufkrampfen eines mühsam noch leben Wollenden, der sterben muß, und auf den letzten Spuren der Nacht sah man bereits die ersten Boten des neuen Tags, Milchwagen, Brotjungen, Zeitungsfrauen und größere Trupps noch verschlafen in die Fabriken hastender Arbeiter. Er war schließlich durch die malerischen Partien der alten 35 Stadtteile mit dem Winkelwerk ihrer menschenleeren kleinen Gassen, zu einer Stelle gekommen, auf der plötzlich ein Eindruck völlig anderer Art seine überraschten Sinne umfing. Als ob er nach langem Suchen, das Erlebnis dieser Nacht zu krönen, das Köstlichste zum Schlusse finden sollte, lag, im hellen Morgensonnenglanze, zu beiden Seiten einer prunkvoll weiten Straße, eine lange Reihe fürstlicher Schlösser vor ihm, wie ein Triumphweg edelster Baukunst, vor deren königlichen Schönheit und ruhigen Gelassenheit alle die tollen Gebilde des Gegenwartsbetriebs wie ein wüster Nachtspuk zurückwichen.

Wenige Schritte später fand er sich zum drittenmal vor jenem Bahnhof wieder, an der Stelle, wo für ihn das Herz der Erlebnisse dieser Nacht schlug. Die Spannung war von ihm gewichen. Noch war es nicht Müdigkeit, sondern Kraftgefühl, das er empfand, aber es war wie die Kraft eines Anderen. Durch die Ruhe, die über ihn gekommen war, hindurch spürte er, wie er das ganze Leben dieser Stadt, das er in sich hineingesogen hatte, in seinen Adern trug, und wie es ihn bis in die letzten Fingerspitzen füllte. Er war zum Bersten voll von dieser Nacht und reif zur Entladung. Und nur ganz von ferne noch, wie den letzten Abglanz eines wunderschönen Traums, wie den rosigen Abendschimmer über dunklen Wolken, fühlte er das Erlebnis: Eveline.

Er mußte dieser Nacht einen Schlußpunkt setzen. Er mußte einen Einschnitt machen zwischen dem, was heute war, und allem Künftigen. Und, außerdem, es graute ihn 36 plötzlich vor seiner Einsamkeit. Es graute ihn vor dem Gedanken, jetzt in einem Hotelzimmer zu schlafen. So folgte er denn der Ersten Besten, die ihm winkte, ohne viel Besinnen, um nicht allein sein zu müssen mit der Fülle seines Lebens.

 


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