Arthur Kahane
Clemens und seine Mädchen
Arthur Kahane

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2.

Plötzlich trat ein junges Mädchen auf ihn zu, legte eine weiche Hand unendlich zart auf seinen Arm und sagte: »Auf wen warten Sie?«

Es sagte dies mit einer ganz stillen, fast stockenden und doch irgendwie mutigen Stimme.

Ein Nicht-anders-Können vibrierte darin, zitterte in einem leisen Singen, stockte, hob sich, senkte sich wie in Scham, stieg an aus Gewalt und Fülle des inneren Müssens und wuchs zu einer so ernsten Festigkeit des Entschlusses, daß die vier gleichgültigen, banalen, fast frechen Worte sich zu einem heiligen Liede der Notwendigkeit zusammenschlossen, vor 12 dem jedes ferne Aufkeimen eines kecken Zweifels weitab und scheu verstummte.

Der junge Mann, im Innersten angerührt, riß sein Gesicht aus der Zerstreutheit seiner Träume, hob es und ward weiß vor Blässe.

Nie hatte er Lieblicheres gesehen. In Wirklichkeit nicht und nicht in Büchern oder Bildern und nie in Träumen. Ein ganz schmales, ganz junges Gesicht von rührender Mädchenhaftigkeit; eine Gestalt, zart und herb und schlank wie ein Reh, in scheues Weiß gekleidet, auch in den gelassenen Bewegungen die adlige Anmut eines jungen, schlankbeinigen Rehs; und große, dunkle Augen, voll Schatten und Traurigkeit; und Hände, zum Weinen schön. Denn dieses war das erste Gefühl, das ihn traf, das einzige, das er im ersten Staunen vermochte: wie ein Kind weinen zu mögen, über die Unbegreiflichkeit des Wunders, das ihm geschenkt war, und über die Schönheit, Zartheit und Weichheit des Menschenkindes, das vor ihm stand. Er konnte sie nur ansehen, verschwimmenden Auges, immer wieder die Zartheit und Weichheit in den Farben ihrer Haare, ihrer Stirne, ihrer Wangen, in den Linien ihres Gesichtes und ihres Körpers ansehen, anstarren, einsaugen, und er wußte nichts von sich, als daß er ganz traurig wurde vor Glück und Mitleid, Mitleid mit seinem allzu großen Glück und ihrem unbekannten Schicksal.

Er stammelte: »Ich weiß nicht. Auf nichts. Auf Sie.«

Sie sah ihn an, lächelte. Dann ward ihr Antlitz wieder dunkel, sie nahm ihn am Arm und führte ihn weiter. Schweigend gingen sie nebeneinander, ohne Blick.

13 Sie führte ihn vom Bahnhof weg, in stillere Straßen, über Brücken, an einem Flusse entlang.

Er fühlte oder eigentlich, er glaubte, ungefähr folgendes zu fühlen: Wie ist es möglich, daß ich das erlebe und nicht jauchze, nicht schreie, nicht brülle vor Glück? Daß ich wie ein Stock neben ihr gehe und mir die Kehle zu ist? Ja, fühle ich überhaupt etwas? Ist es möglich, daß einer das erlebt und weiterlebt? Ist es überhaupt möglich, daß einer das erlebt? Nein, es ist unmöglich. Es kann nicht sein. Oder nein, es ist das einzig Mögliche und nur dieses einen wegen bin ich auf der Welt. Aufgepaßt, in dieser Stunde erfüllt sich mein Schicksal. Und doch nützt alles nichts, reden muß ich doch, sonst glaubt sie, ich bin dumm und läuft mir weg, und ich habe mein Glück verpaßt, weil ich nicht das rechte Wort gefunden habe. Aber was ist das rechte Wort? Herr Gott, fällt mir denn gar nichts ein?!

Nun fing er zu reden an, und die Worte klangen ihm, als kämen sie von weither, gar nicht aus ihm heraus, mit einer ganz fremden Stimme, und ohne daß er eine Ahnung von ihrem Sinne hatte: »Das also ist . . .« und er nannte den Namen der fremden, großen Stadt.

Sehr originell ist es nicht, dachte er gleich, aber es ist ein Anfang.

Sie hemmte erstaunt den Schritt und sah ihn groß und fragend an.

»Ja so, das können Sie ja nicht wissen, ich bin nämlich fremd hier und war erst in dem Moment angekommen, als 14 Sie . . .« Er stockte. »Und Sie sind der erste und einzige Mensch, den ich hier kenne.«

»Das ist ja wunderschön«, jauchzte sie und ihr Antlitz wurde ganz hell. »Noch viel schöner als ich es mir geträumt hatte.« Jetzt war das Stocken bei ihr. Eine dunkle Röte stieg auf, als ob sie sich schämte, von einem Vorher zu sprechen.

»Ob das schön ist!« Er fiel ihr beinahe ins Wort, als ob er die Scheu bemerkt hätte, mit der sie ihre Träume erwähnte. »Es ist ein Wunder, ein Märchen. Nicht? Man kommt an, von weither, kennt niemand, weiß nicht aus und ein, freut sich, daß man da ist, fürchtet sich auch ein bißchen, weil alles so groß und viel ist, und ehe man noch zur Besinnung kommt, ist auf einmal das Allerschönste da, gibt einem die Hand, sagt: Guten Tag, und es ist genau so wie im Traum. Ich habe das nämlich auch geträumt, genau so. Und man fühlt sich gleich wohl, genau so wie zu Hause, nein, viel wohler, denn zu Hause war es zuletzt gar nicht schön, und ich habe es nicht mehr ausgehalten. Aber hier ist es schön, und hier werde ich eine Heimat finden, und hier werde ich glücklich sein, das fühle ich, das kann ja gar nicht anders kommen, nach dem, was mir in der ersten Stunde begegnete. Sehen Sie, und Sie sind mein Glück.«

Und er konnte nicht weiter und wieder überkam es ihn, diese Lust zum Weinen, und er preßte, ohne es zu wissen, ihren Arm und glitt ihn bis zur Hand hinunter und faßte diese und preßte sie, sinnlos vor Seligkeit. Sie ließ sie ihm, sah ihn an und sagte einfach: »Wie gerne bin ich Ihr Glück!«

15 »Und nun müssen Sie mir alles sagen«, drängte er. »Wie es gekommen ist. Und daß Sie gerade mich . . .?«

»Nein, nein«, wehrte sie ab, ängstlich. »Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Ich habe es müssen. Wie ich Sie so dastehen sah, habe ich müssen. Mir war es, als ob ich Ihr Gesicht schon seit immer gekannt hätte. Oder nein. Eigentlich war es gerade, weil es so ganz anders war als alle Gesichter, die ich je gesehen habe. Ich weiß es nicht. Aber ich habe nicht anders können. Sie standen so grenzenlos allein da. Und Sie sahen aus wie ein kleiner Junge, der sich auf etwas freut, was nicht kommt. Und da haben Sie mir so leid getan. Und ich habe Ihnen was Gutes sagen müssen. Ich weiß ja nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Aber nicht wahr, es war etwas Liebes, und es hat Sie gefreut?«

Er hob ihre Hand und küßte sie lange, innig, fast ehrfürchtig. »Gefreut?! Danke, danke, Sie Gute!«

Sie waren auf einsame Wege am Ufer des Flusses gelangt. Die Häuser blieben zurück. Baumreihen zeigten sich. Dunkel hing bereits der Abend über ihnen.

Es drängte ihn, ihr in Worten ganz nahe zu kommen. »Nun wollen wir uns alles sagen. Nicht wahr? Alles. Beide. Wie wir heißen. Und wer wir sind. Und was bis jetzt war. Und was kommen soll. Alles. Nicht wahr?«

Sie erschrak und zog den Arm zurück. »Nein, nein, nicht alles sagen! Dann ist das Geheimnis weg, und alles wird wieder so gewöhnlich und gesellschaftlich. Dann ist es gleich wieder, als wären wir uns irgendwo in der Gesellschaft begegnet und vorgestellt worden. Das ist doch das Schöne, 16 daß wir nichts voneinander wissen, und doch mehr voneinander wissen, als wir je von andern gewußt haben, und wenn wir sie noch so lange kennen. Wozu auch? Ja, das eine will ich Ihnen sagen, daß ich Eveline heiße. Denn ich habe meinen Namen gern, und er paßt zu mir, und ich will ihn von Ihnen hören. Und Sie sollen mir auch Ihren Taufnamen sagen, nur den, der ist doch der eigentliche und gehört zum Menschen, aber sonst nichts. Das andere bedeutet Familie und Herkunft und verrät Stellung und Nation, lauter gleichgültige Dinge, die nichts mit uns zu tun haben. Nicht wahr, Ihren Taufnamen werden Sie mir sagen, wenn ich Sie darum bitte, damit ich Sie nennen kann, wenn wir zusammen sind, und weiß, wie ich Sie rufe, wenn Sie nicht bei mir sind. Und sonst nichts, nicht wahr?«

Sie sagte es ängstlich, fast aufgeregt.

»Ich heiße Clemens«, sagte er sehr schüchtern und sah sie furchtsam von der Seite an, als hinge Tod und Leben an diesem Wort, und es ginge darum, das einzig Richtige zu sagen, weil mit dem falschen alles aus wäre und in Rauch und Dunst zerflösse. Nur sie jetzt um Gotteswillen mit dem Namen nicht enttäuschen: da wäre er lieber gleich gestorben.

Sie aber lachte, ja schrie hell vergnügt auf. »Clemens!« und es klang von demselben Gefühl erlöst, das ihn geängstigt hatte. »Das stimmt. Das paßt zu Ihnen und zu mir. Wundervoll fremd klingt das. Und weich und fast ein wenig fromm und sehr musikalisch, was die Hauptsache ist. Jetzt lachen Sie mich aus und finden mich kindisch, aber mir sind solche Dinge wichtig und ich wäre sehr enttäuscht gewesen, 17 und vielleicht sogar böse auf Sie, nein, böse nicht, aber sehr unglücklich, wenn Sie August oder Wilhelm geheißen hätten. Zum mindesten hätte ich ein böses Vorzeichen darin gesehen oder einen Wink des Schicksals. Aber Gott sei Dank heißen Sie nicht so, sondern wunderhübsch, und ich glaube, ich könnte den ganzen Tag »Clemens« zu Ihnen sagen und sonst nichts und wäre schon sehr glücklich.«

In diesem Augenblicke verliebte er sich in seinen Namen und war so stolz auf ihn wie noch nie auf etwas in seinem Leben. »Clemens und Eveline! Eveline und Clemens!« sagte er und wiederholte es innerlich immer wieder und einige Male auch laut, bis es ihm so vertraut klang wie Romeo und Julia, Hero und Leander. »Sie haben recht. Namen sind furchtbar wichtig und dieses Gefühl für das Mysterium geheimnisvoller Zusammenklänge habe ich schon immer gehabt.« Wenigstens glaubte er es in diesem Augenblick und sagte auf einmal ganz zärtlich, ganz weich: »Eveline!«

»Clemens!«

»Fräulein Eveline!«

»Herr Clemens!«

»Nein, nicht Fräulein: du Eveline! Du süße, schöne, wunderschöne Eveline! Eveline, du!«

»Clemens!« sagte sie unhörbar leise und senkte den Kopf tief. Er nahm ihn ganz behutsam in seine beiden, sich wie zum Beten schließenden Hände, zog ihn an sich und küßte sie langsam und voll auf den Mund. Einmal nur, und atmete tief auf. Sie hob das Auge, sah ihn an, lange und dunkel, strich ihm mit zärtlicher Hand über Stirne und Haar, nahm 18 seinen Kopf und küßte ihn, langsam und voll, auf den Mund. Und dann gingen sie, Hand in Hand gefügt, schweigend weiter zwischen den nachtdunklen Bäumen.

Leben, Leben! dachte er. Das bist du, Leben! Das ist die Wirklichkeit! Das ist des Lebens tiefste, holde Wirklichkeit! Und: jetzt reden dürfen! Jetzt mich vor ihr ausschütten! Ganz, bis auf den letzten Tropfen, daß sie mein Leben in ihren kleinen Händen hält und sein Herz schlagen spürt wie einen warmen, jungen Vogel! Und damit macht, was sie will, sie, von jetzt ab Herrin meines Geschicks, Königin meines armen Lebens!

Traum! Traum! sang es in ihr. Schöner als alles Leben, schöner als alle Wirklichkeit! Wenn es dich nur gäbe, und kein armseliges Leben und keine alltägliche Wirklichkeit! Wie wundervoll ist dieses Schweigen! O, wenn dieser Augenblick des Schweigens nur ewig währte! In ihm ist alles Glück der Ferne, alle Erfüllung der Sehnsucht. In ihm Vergessen, daß es eine Welt, daß es alles andere gibt. O, wenn nur das möglich wäre, dies Eine von allem übrigen zu lösen! Wenn nie ein Wort gesprochen werden müßte, das die Brücke schlägt von der häßlich-gleichgültigen Welt da draußen zum Erlebnis dieser Stunde!

Und aus der Angst, daß dieses Wort fallen, daß irgendwo plötzlich ein Bild auftauchen könnte, eine Vorstellung von fremden Menschen und er oder sie unter ihnen, daß irgendein Gleichgültiges oder Unwesentliches sich zwischen sie eindrängte; aus dem fiebrig glühenden Verlangen, dieses eine Erlebnis wie ein gehütetes Kleinod in köstlichen Samt 19 gehüllt aus dem ganzen übrigen Leben herauszuheben, begann sie zu sprechen und in zitternder Hast alle Schätze ihrer Innerlichkeit vor ihm auszubreiten, wie wenn sie den Becher dieser Stunde mit dem tiefsten Quell ihrer Seele hätte füllen müssen. Sie sprach von allem, was sie liebte: von der Einsamkeit früher Morgenwanderungen in der Taufrische erwachender Wälder; von dem Mittagsonnenglück, das auf den Wegen zwischen reifen Kornfeldern wie satte Erfüllung ausgebreitet liegt; von stillen Nachmittagen, mit dem Blick in sehnsüchtige Fernen am Fenster verbracht; von Sonnenuntergängen im Hochgebirge, wenn aus den Farbenwundern die reinen Linien der Berge in einer beglückenden Klarheit und Schärfe heraufwachsen; von Abenden am Meere und von den Nächten in stillen Gärten, wenn schwere Blumendüfte die Lieder des Herbstes mitzusingen scheinen. Sie erzählte von Reisen in fremden, alten, kleinen Städten, vom Glück der Ankunft an Abenden, sich von Bildern einer lieben Vergangenheit traumhaft einspinnen zu lassen, von dem nächtlichen Plätschern der alten Brunnen und dem fröhlichen Erwachen zwischen den kleinen Häusern, die sich munter die Augen zu putzen scheinen, den friedlich feierlichen Frühstunden in den uralten Kirchen; sie schilderte den Zauber ferner Städte und Länder mit dem geheimnisvoll erregenden Abenteuer der fremden Sprachen. Von einigen Bildern erzählte sie, die ihr mehr waren als anderen Freunde und Freundinnen; und sie sprach von den stillen Büchern, die sie liebte. Auch von Dingen und Gegenständen, die sie besonders liebte, sprach sie: von der ruhigen Freude, die von dem Fallen 20 mattschillernder Sammte ausgeht, oder von den farbigen Spielen seltener Marmore oder von der seidigen Fläche geschliffener Hölzer. Besonders aber erzählte sie ihm, wie die Musik sie am tiefsten rühre und erfasse; und wie sie ihr nicht bloß das Glück oder den Genuß einzelner Stunden bereite, sondern ihr ganzes Leben mit Rhythmus erfülle, ja dieses gewissermaßen in Musik verwandelt sei, so daß Musik ihr mehr als eine Zierde und Schönheit des Lebens, vielmehr dieses selbst und im tiefsten Sinne ihr Schicksal bedeute. Es war, als breitete sie vor ihm alles, was sie liebte, aus, um dadurch, daß sie ihm die Dinge nannte und sie mit ihm in Berührung brachte, ihnen ein neues Recht, von ihr geliebt zu werden, zu verschaffen und sie mit einem neuen Leben zu füllen. Nur von Menschen und von den Wirklichkeiten des täglichen Lebens sagte sie nichts, vermied sie die leiseste Andeutung. So baute sie vor ihm ein seltsames Mädchenleben, zeitlos und unwirklich, auf, aus Ahnung, Traum, Sehnsucht, Ferne, Schönheit und Einsamkeit köstlich gefügt, und schenkte es ihm mit der unendlichen Güte der unermeßlich Reichen, unerschöpflich Liebevollen.

Oft unterbrach sie und fragte, ob er dies kenne oder jenes; und manches kannte er; und vieles nicht. Aber er glaubte zu spüren, sie wolle nicht, daß er in sein Persönliches hinabsteige, und vermeide fast geflissentlich, an allzu Reales anzustoßen, wie sie ja auch von sich nicht mit einem Worte wirkliche Beziehungen oder Verhältnisse streifte, sondern nur Gefühle und Empfindungen aussprach, die allerdings ein persönlicheres und innerlicheres Bild von ihr gaben, als es die 21 vollständigste Aufzählung von Wirklichkeiten vermocht hätte. Und er stand staunend, ja fast ehrfürchtig in grenzenloser Dankbarkeit vor diesem bezaubernden Bilde einer reichen Mädchenhaftigkeit, und wie um sich selbst das Gefühl der Wahrhaftigkeit dieses Traumes wiederzugeben, sagte er selig, vor ihr stehenbleibend: »Eveline!« und immer wieder: »Eveline!«

Sie antwortete hell, lächelnd, glücklich: »Clemens!«

Und die jungen Lippen boten und fanden sich, willig, ohne Widerstreben und zitternd vor Glück, im zweiten Kusse und in vielen anderen.

Dann fing er zu reden an. Aber eigentlich war es kein Reden: es war ein Mittelding zwischen Jauchzen, Stammeln und Lachen, besonders Lachen. Er konnte nicht anders; er mußte lachen vor Glück. Jetzt brauchte er sich nicht mehr mit behutsamer Rücksicht auf ihre Wünsche zurückzuhalten, von den Greifbarkeiten seines bisherigen Lebens zu sprechen: er hätte es gar nicht mehr können. Vergessen war alles, verschwunden, von dieser Stunde verschluckt. Es gab keine Greifbarkeiten, es gab kein bisheriges Leben, es gab nichts als dieses hier: diese Stunde, diesen Augenblick, dieses Mädchen. Auch Zukunft gab es nicht: dieser Moment schloß sie ein. Er sah nicht rechts, nicht links, nur diesem Moment ins wunderschöne Gesicht. Und wollte ihn festhalten mit jedem leisesten Zucken seines Lebens. Mit jedem Wort, das er sprach, wollte er ihn festhalten. Er konnte nichts anderes denken, nichts anderes fühlen, nichts anderes sagen als das Glück dieses Augenblicks. Es füllte sein Blut mit einer unbändigen 22 Heiterkeit. Er schämte sich nicht, wie ein Kind zu spielen und zu scherzen. Er machte Witze vor Seligkeit, weil er sich gar nicht anders zu helfen wußte. »Glück macht dumm! Glück macht dumm!« lallte er. »Hast du eine Ahnung, kluge Eveline, wie dumm ich bin vor Glück? Sag': dummer Clemens! bitte, sag's!«

»Dummer Clemens!« sagte sie lachend. »Und glaubst du, ich nicht? Glaubst du, ich bin nicht auch ganz dumm vor Glück?« »Nein, du nicht!« erwiderte er streng, »du bist sehr klug und sehr gebildet und bleibst es!« »Ich will aber nicht. Ich will nicht weniger glücklich sein als du! Ich will auch dumm sein. Sag's, daß ich es bin.« »Also gut. Eselinchen!« sagte er. »Dummer Clemens!« sagte sie. Und küßten einander.

»Verzeih!« sagte er dann. »Auf die Gefahr hin, daß du mich indiskret findest, oder langweilig, oder konventionell, aber eine Frage drückt mich schon die ganze Zeit.« Sie erschrak. »Nicht fragen«, bat sie. »Nein,« meinte er energisch, »diese eine Frage kann ich nicht unterdrücken. Wie kann nur ein Mensch so unbändig schön sein? Ich finde dich nämlich hübsch, wenn ich es dir noch nicht gesagt haben sollte.« »Erstens«, antwortete sie, »siehst du es gar nicht, weil es stockdunkel ist.« »Gilt nichts! Ich fühle es aber. Und zweitens –?« »Und zweitens: wie kann nur ein Mensch so dumm sein?« »Frage die Rose, warum sie blüht!« erwiderte er. Aber statt die Rose zu fragen, fiel sie ihm um den Hals, und sie küßten einander.

Und wurden dann ganz still und gingen Hand in Hand 23 durch die schweigende Sommernacht, während weit, weitab von ihnen Stadt und Welt im ewigen Nichts versanken.

»Unsere erste Liebesnacht!« sang er. »Unsere erste Liebesnacht!« »Aber morgen,« sagte sie ganz leise, »aber morgen bin ich wieder bei dir. Genau um dieselbe Stunde wie heute erwartest du mich am selben Ort, und übermorgen wieder und alle Abende wird leise und heimlich dein Glück zu dir geschlichen kommen und schlingt seine Arme um deinen Hals, und du hältst es fest mit beiden Händen und läßt es nicht.« »Und bis dahin trägt jede Sekunde dein geliebtes Gesicht.« »Nein, nein, bis dahin ist alles Leben tot und gilt nichts, denn es weiß ja nichts von dir. Und doch ist das das Schöne, daß niemand ahnt, daß wir uns kennen, und etwas weiß von dir und mir und nichts in meinem anderen Leben weiß von dir und nichts in deinem anderen Leben von mir. Das hier, das Glück unserer Abende, gehört nur uns beiden und ist ganz für sich allein und hat nichts mit unserem übrigen Leben zu tun. Alles andere ist öde und grau und geht uns nichts an, nur das hier ist schön wie ein Traum, und wir beide sind es!« und schmiegte sich angsterfüllt an seinen Arm, wie wenn ein widerliches Ungeheuer seine Fänge nach ihr reckte. »Nur du bist wirklich, du mein schöner Traum!« sagte er und streichelte sie zärtlich, als wollte er sie gegen ein Unbekanntes schützen. »Sag' es, sag' es,« bat sie flehentlich, »daß du das genau so spürst wie ich, daß dies Geheimnis das Wunder unseres Lebens ist, das Allerschönste, um dessenwillen wir auf der Welt sind, und daß wir es für ewig vor jeder 24 Berührung mit anderen rein erhalten wollen. Schwöre es mir!« »Ich schwöre!« sagte er.

In diesem Augenblick begannen plötzlich zwölf Schläge einer ganz nahen Kirchenuhr zu fallen. Erschreckt fuhren sie auseinander. Sie war leichenblaß geworden.

»Um Gotteswillen!« schrie sie. »Ich hatte vergessen. Und Vater ist so strenge. Nun muß ich fort! Sonst ist alles aus«, und stürzte noch einmal an seinen Mund. Dann riß sie sich los. »Nicht nachsehen!« bat sie mit einem letzten Flehen und war im Dunkel der Bäume verschwunden, ehe noch die Schläge der Uhr ganz verhallt waren.

 


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